Читать книгу Woanders am Ende der Welt - Natascha N. Hoefer - Страница 11

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5. Gute Freunde

Florian ging auf die Rückseite des Hauses. Das Gras durchnässte ihm Schuhe und Strümpfe. Die Hände in die Seiten gestemmt, sah er nach oben und meinte zu erkennen, wo das Problem lag: Zwei Schieferplatten des Daches hatten sich gelöst und waren heruntergerutscht. Er fand sie unweit seiner nassen Füße im Gras. An einer der Platten war eine Ecke abgebrochen, die andere war unversehrt. Wenn er auf das Dach kletterte, konnte er versuchen, sie an ihren Platz zurückzuschieben. Unter der oberen Schieferschicht verkantet, würden beide Platten vorläufig halten; wenn er Glück hatte …

In der Gerümpelkammer des Hauses hatte er eine Leiter entdeckt, er ging sie holen. Wieder im Garten, stellte er die Leiter an die Hauswand, nahm die Schieferplatten an sich und stieg hinauf.

Die Stelle mit dem Loch lag höher, als es von unten ausgesehen hatte. Florian musste bis auf die oberste Sprosse der Leiter steigen. Nicht nach unten sehen, beschwor er sich; er hatte Höhenangst. Das Dach war glitschig. Nun lag er bäuchlings darauf und spürte, wie die Nässe in seine Kleider kroch. Vorsichtig streckte er sich, so weit es ging, er wollte nicht durch falsche Bewegungen weitere Schieferplatten zum Fallen bringen. Die Platten waren in gebogene Nägel geschoben, aber diese Nägel waren verrostet. Behutsam schob er die erste Schieferplatte an ihren Platz. Sie hielt. Dadurch motiviert, schob er die zweite daneben. Prompt fiel ihm die erste entgegen und schlitterte an ihm vorbei das Dach hinunter. »Mist«, knurrte Florian zwischen den Zähnen und fing zumindest die andere auf. Er schob sie wieder nach oben, drückte – sie schien zu halten. Oder doch nicht? Aber sie musste! Mit einem Ruck stellte Florian sich auf die Zehenspitzen und drückte den rechten Arm durch, um die Platte mit etwas Gewalt unter die darüber liegende zu zwingen. Da rutschten seine Zehen von der Leiter; er suchte vergeblich Halt, stürzte …

Nach dem Aufprall auf dem nassen Erdboden fragte er sich kurz, ob seine bisherige Reparatur funktioniert hatte und wo die vom Dach geschlitterte Platte lag. Dann erst spürte er einen stechenden Schmerz im Handballen.


Marie hielt sich die Ohren zu, es half nicht. Das Bollern hörte nicht auf. Dann war sie wach genug, um zu verstehen, dass das Geräusch von der Tür kam. War das schon Pierre? Der wollte erst um zehn kommen. So spät konnte es noch nicht sein?

Sie raffte sich auf und ging nach unten. Müde öffnete sie dir Tür – kein Pierre. Aber sie sah gleich, was los war. Sie wollte nicht, aber es musste sein. Sie ließ den Deutschen hinein.

Der humpelte zum erstbesten Stuhl am Esstisch und ließ sich darauf fallen. »Yvonne Le Roux hat gesagt, ich soll zu Ihnen gehen«, erklärte er matt, wie zur Entschuldigung.

Ohne ein Wort zu verlieren, füllte Marie eine Schüssel mit warmem Wasser und griff sich ein sauberes Tuch. Sie schüttelte den Kopf, als sie das bakterienverseuchte Ding sah, das er sich um die blutende Hand gewickelt hatte, und entfernte den blutgetränkten Lappen mit geschickten Fingern. Aïe. Das sah schmerzhaft aus. Prüfend sah sie dem Deutschen in das Gesicht, es war weiß wie ein Laken. »Sie können kein Blut sehen«, stellte sie fest.

»Zumindest nicht meines.« Er stöhnte auf, als sie seine Hand bewegte, um den langgezogenen Schnitt durch den Handballen aus einem anderen Winkel zu untersuchen.

»Es ist nicht tief«, murmelte sie.

Florian zwang sich, auf seine Hand zu sehen. Alles voller Blut, er konnte da gar nichts erkennen. »Haben Sie das gesehen, ja?«, fragte er skeptisch.

Einen Moment lang sahen sie sich in die Augen. Abwesend bemerkte Florian, wie groß und dunkel Maries waren, mit langen, gebogenen Wimpern.

Marie lächelte grimmig. »Nicht weinen, das ist nicht tödlich. Ich wasche es aus… Et voilà. Nicht tief, sehen Sie?«

»Lieber nicht.«

Wortlos ließ sie seine Hand los und ging ins Badezimmer, um Desinfektionsmittel, Klammerpflaster und Verbandszeug zu holen. Das würde genügen, zu nähen war nichts. Das deutsche Ekel hatte wirklich Glück. Es war ihr Vater, der leidenschaftliche Arzt, der seinen Töchtern eingebläut hatte, man müsse stets Klammerpflaster und Verbandszeug im Haus haben.

Als Marie aus dem Bad zurückkehrte, hing der Deutsche buchstäblich in den Seilen, genauer über der Stuhllehne. Der wollte jetzt nicht auch noch ohnmächtig werden? Der musste reden, damit er bei der Stange blieb! Also wusch Marie die Wunde nochmals aus und begann dabei mit einem kleinen Verhör. »Was ist passiert?«

»Da war … Au! Da waren Schieferplatten herausgerutscht … Wasser im Haus … Ich bin hochgestiegen, um das zu reparieren … Aber ich bin abgerutscht und habe mich an etwas geschnitten, an einer scharfen Schieferplatte oder einem rostige Nagel oder was weiß ich … Alles ging so schnell. Ist die Verletzung schlimm?«

Er sah sie an, wie … Irgendwie hatte dieser erwachsene Mann etwas von einem kleinen Jungen. Pah, geschah ihm ganz recht. Marie setzte ein strenges Gesicht auf. »Die Hand muss – wie sagt man für amputer?«, fragte sie.

»Amputieren?! Ach so, kleiner Scherz, ja?« Florian versuchte, tapfer zu lächeln, auch wenn er Maries Humor etwas morbide fand.

Grimmig sah sie von den blauen Kinderaugen zurück auf die Wunde. »Ich tue das darauf«, sie hielt ihm die Flasche Desinfektionsmittel vor die Nase. »Achtung, das brennt«, kündigte sie mit einer gewissen Genugtuung an.

Die Hand in der ihren zuckte bei dem Kontakt des Wattestäbchens mit der Verletzung, aber der Deutsche gab keinen Laut von sich. Marie griff zum Klammerpflaster.

»Es tut mir wirklich leid mit Ihren Hortensien«, murmelte er jetzt und schaute sie treuherzig an.

Was war nur los mit ihr? Sie würde doch jetzt nicht auf diese Jammerlappennummer reinfallen und weich werden? Energischer als nötig klammerte Marie die Wunde zusammen, wobei der Verletzte zischend die Luft ausstieß.

»Sie denken vielleicht, wir sind nun Freunde, weil ich Sie verbinde, aber das ist nicht wahr! Sie haben meine Hortensien getötet und das ist Ihnen egal, in Wahrheit! Sagen Sie nicht das Gegenteil. Leuten mit solchen Autos glaube ich nicht! Und ich will sie nicht als Nachbar. C’est clair? Die Hand! Für den Verband!« Marie streckte wütend ihre Hand nach seiner aus; er hatte sie ihr vor Schreck entrissen.

»Die Hand«, wiederholte sie ungeduldig. Weil er sie ihr nur zögerlich reichte, berührten ihre Fingerspitzen sich plötzlich ganz leicht – und beide zuckten zurück. Verwirrt sahen sie sich in die Augen, dann beide gleichzeitig weg. Keiner der beiden kommentierte das durchkribbelnde Gefühl bei der Berührung. Kein Schmerzgefühl; damit hatte es nichts zu tun gehabt.

»Also, die Hand?«, fragte Marie vor Schock extra patzig.

Florian reichte sie ihr noch einmal. Beide atmeten auf. Vielleicht, weil Marie gleich kräftig zugegriffen hatte, kam es nicht noch einmal zu unpassenden Nebenwirkungen.

Was war das eben, fluchte Marie innerlich und konnte nicht umhin, beim Bandagieren zu bemerken, wie groß seine Hand in ihrer war, aber dennoch feingliedrig, mit für einen Mann merkwürdig zarten Fingern. Nicht die Hände eines Mannes, der damit arbeiten muss, folgerte sie – und ärgerte sich sofort über sich: Was ging es sie an, ob dieser Mann Bauarbeiter oder kein Bauarbeiter war? Marie schnaubte und zog den Verband allzu fest zu.

»Hey, geht das etwas behutsamer?«, brachte Florian heraus. Wie konnte jemand mit so kleinen Händen und geradezu zart aussehenden Fingern dermaßen brutal zupacken?!

Wütend funkelte sie ihn an, lockerte den Verband aber.

»Ist doch wahr. Eine deutsche Ärztin hätte mich vorsichtiger verbunden«, murmelte Florian entnervt. Warum konnte sie ihn immer nur böse anstarren?

Marie grinste und sagte sanft: »Ich bin Veterinär.«

Sie wechselten kein Wort mehr, bis der Verband befestigt war. Endlich stand der Deutsche auf und ging zur Haustür. Er hielt

schon die Klinke, wandte sich aber noch einmal um. »Hören Sie«, begann er, »Sie haben mir geholfen, dabei wissen Sie gar nicht, wer ich bin. Mein Name ist Florian Reinart. Und Sie heißen Marie, nicht wahr?« Er wartete auf eine Antwort, aber Marie verschränkte nur die Arme und sah ihn schief an.

»Na gut. Dann Entschuldigung für gestern und nochmals danke für heute. Ich meine es ernst. Aufrichtigen Dank.«

Marie nickte ganz leicht, das musste ihm wohl genügen. Also nickte auch er und ging.

Sobald der Deutsche aus dem Haus war, stöhnte Marie auf. Zu viel Aufregung für einen Morgen. Und bald kam Pierre! Hastig räumte sie das Verbandszeug weg und ging duschen.

Draußen, im Hof vor Boris’ Haus, standen zwei alte Clios, einer weiß, der andere rot. Ein Mann und eine Frau warteten vor der Haustür. Nun kam der Mann, untersetzt und grauhaarig, auf Florian zu. »Monsieur Reinart?«, rief er. »Bonjour. Monsieur Rapp m’a téléphoné.«

Der Verwalter, es gab ihn wirklich! Er stellte sich als Monsieur Le Guern vor und die Frau als Madame Tanguy. Madame Tanguy würde putzen. Florian atmete auf. Zumindest etwas, das sich von selbst regelte.

»A propos, the roof is damaged«, Florian zeigte auf das Dach.

Der Verwalter und die Putzhilfe sahen sich an, dann ihn; dann ließ Le Guern etwas von »téléphoner« und »Monsieur Rapp« fallen. Na gut, das Dachproblem würde sich offenbar nicht so schnell und schon gar nicht von allein lösen. Florian senkte den Kopf und ging voran in das Haus.


»Salut, Marie!« Pierre Manac’h strahlte sie an und beugte sich hinunter, um ihr die bises zu geben. Er roch stark nach Aftershave.

»Du bist früh«, stellte Marie fest und schob ihn weg. »Willst du einen Kaffee?«

Pierre lachte. »Na, das ist ja eine schöne Begrüßung dafür, dass wir uns das letzte Mal vor einem Monat gesehen haben und ich zum ersten Mal in deinem Haus bin!«

Marie seufzte. »Ich weiß, ich weiß. Isabelle hat gestern auch schon die Gekränkte gespielt. Aber ich musste eben mal ganz allein sein.«

»Jetzt entschuldige dich bloß nicht. Ich versteh’ schon, was mit dir los war.« Er lächelte sie mitfühlend an.

Marie lächelte leise zurück. Das liebte sie so an ihrem besten Freund: Er zickte nie lange rum und war immer für einen da, wenn man ihn brauchte.

Sie führte ihn durch das Haus, erklärte ihm, welche Möbel zum Schrottplatz mussten und welche aus Brest zu holen waren und kochte ihm einen Kaffee. Er hatte sich extra frei genommen, ließ er beiläufig fallen; sie sah ihn dankbar und schuldbewusst und ein wenig forschend an. Manchmal wusste sie nicht genau, ob Pierre aus Freundschaft allein so immer für sie da war.


Florian fragte sich, was er mit seinem Vormittag machen sollte. Weggehen, solange die Putzfrau da war, wollte er nicht. Im Tagebuch seiner Oma lesen? Aber bei dem Brummen des Staubsaugers konnte er sich doch nicht konzentrieren, und er war obendrein hundemüde. Nun stoppte das Geräusch des Saugers und Madame Tanguy erschien, um vielsagend einen zum Bersten vollen Staubsaugerbeutel in die Höhe zu halten.

»Verstehe. Sie brauchen einen neuen«, interpretierte Florian die Geste. »Wait, please – attendre, s’il vous plaît!«

»Attendez«, korrigierte Madame Tanguy.

»Attendez«, murmelte Florian verlegen und huschte an der Putzfrau vorbei die Treppe hoch. Irgendwo in der Rumpelkammer hoffte er Staubsaugerbeutel zu finden.

Nachdem er tatsächlich fündig geworden war, verließ er mit dem vollen Beutel das Haus, um nach einer Mülltonne zu suchen. Er ging einmal um das Haus herum, aber da war keine. Als er mit seinem Beutel ratlos inmitten des Hofes stand, rollte ein schrottreifer VWBus Baujahr 1970 oder so langsam an ihm vorbei. Das Fenster auf der Fahrerseite war heruntergekurbelt, Florian konnte nicht anders, als hineinzusehen. Sein Blick kreuzte den eines Womanizers mit Locken und Dreitagebart. Auf dem Beifahrersitz saß Marie.

War ja klar, dass so eine Frau einen Freund hatte; aber so einen? Das war ganz klar einer von denen, die sich selbst am meisten lieben. Nun, was regte er sich auf? Konnte ihm doch egal sein, mit wem die sich abgab …


»Wer war der Typ mit dem Müllbeutel und dem bohrenden Blick?«, wollte Pierre wissen, nachdem er um die Kurve gebogen war.

»Der Nachbar. Ein Deutscher.« Marie zuckte die Achseln. Etwas hielt sie davon ab, mehr ins Detail zu gehen.

»Ist der okay?«, hakte Pierre nach. »Der guckte so komisch.«

»Ich kenne ihn kaum«, gab Marie ausweichend zurück.

»Ich mag keine Typen mit solchen Protzautos«, verkündete Pierre.

»Ich auch nicht«, sagte Marie entschieden, und das ließen beide so stehen.

»Schön ist Brest nicht«, stellte Pierre dann fest, als sie eine Dreiviertelstunde später durch das Zentrum der Großstadt fuhren. Elodies muffige Couch hatten sie unterwegs entsorgt; sie waren auf dem Weg zu Maries Wohnung.

»Nein, schön ist Brest nicht«, stimmte Marie zu. »Aber es ist voller Leben. Eine echte Studenten- und Arbeiter- und Hafenstadt, da langweilt man sich nie.«

»Soll die Rue de Siam nicht etwas verrucht sein?«, raunte Pierre.

»Unbedingt. Eine echte Hafenstraße. Wenn du brav bist, nehme ich dich mal mit.«

»Ist das ein Versprechen?«

»Wenn du darauf bestehst …« Marie lachte. Aber etwas störte sie heute an seinen Blicken, seinem Tonfall.

Sie hatten Glück, direkt vor dem Eingang des Häuserblocks, in dem Marie gewohnt hatte, fanden sie einen Parkplatz.

Das Gebäude sah von außen heruntergekommen aus, von innen war es in Ordnung gewesen. Marie hatte ihre Wohnung sowieso nur als Zwischenlösung angesehen (das allerdings seit Jahren). Die Wohnung aufzugeben, war jetzt nur schwer wegen der Erinnerungen an Sylvain. Wie oft war er heimlich bei ihr gewesen … Etwas von seiner Präsenz haftete noch an den fast gänzlich entleerten Räumen. Deshalb hatte Marie Angst davor, die erinnerungsgeschwängerte Wohnung nochmals zu betreten. Aber mit Pierre würde es gehen.

Mit Pierre und mit Kev, ihrem durchgeknallten Ex-Nachbarn. Der half ihnen, ihre Couch – ihre eigene, geliebte Kuschelcouch! – die drei Stockwerke hinunter zu schleppen. Die Couch war so groß, dass sie gerade mal so in den VW-Bus passte, Kühlschrank und Bett würden sie in einer Extrafahrt holen müssen. Aber damit hatte Pierre schon gerechnet.

»Dein Ex-Nachbar war komisch«, bemerkte er auf dem Weg aus der Stadt hinaus.

Marie lockerte sich Schulter- und Nackenmuskulatur und meinte: »Kev ist okay. Der lebt nur in zwei Welten gleichzeitig, ein bisschen in unserer und viel mehr in einer virtuellen. Der bräuchte eine Freundin. Jemanden, der ihn erdet und ihm einen Schubs in die richtige Richtung gibt«, analysierte Marie.

»Ja. Die richtige Frau an seiner Seite ist für jeden Mann wichtig, lebenswichtig«, betonte Pierre und sah Marie dabei durchdringend an.

Leicht irritiert hob sie eine Braue und gab ihrem besten Freund keine Antwort.


Florian sah auf die Uhr. Fast zwölf, er hatte schon den Eindruck gehabt, das Putzen würde niemals ein Ende nehmen. Doch nun war Madame Tanguy endlich fort, und er hatte Hunger. Er musste dringend einkaufen. Das Beste war, er fuhr dazu nach Telgruc. Und ja, dann konnte er dort auch nach dem Haus suchen, in dem die junge Marlene einst gewohnt hatte … Eine merkwürdige Aufregung überkam ihn bei dem Gedanken, das von seiner Oma Beschriebene, das bislang nur als Bild in seiner Vorstellung existierte, bald mit dem leibhaftigen Auge zu sehen.

Er wollte schon in den Porsche steigen, da rollte ein anderes Auto auf den Hof. Ein schwarzer VW Golf, nicht neu, aber gewienert. Wer war das? Irgendwie kam ihm der Fahrer bekannt vor.

»Bonjour, Florian Reinart!«, rief der Ankömmling aus, zog die

Sonnenbrille ab und zeigte ein unwiderstehliches Grinsen.

»Olivier Rivoal!«, erkannte Florian jetzt den freundlichen Gendarm, »heute nicht in Uniform?

»Nein, ich habe Urlaub. Da dachte ich, ich sehe nach, ob die Porsche den Weg nach Mengleuff gefunden hat.«

Sie schüttelten sich die Hände, wobei Olivier erschrocken auf Florians verbundene Linke sah. »Was haben Sie, eine Verletzung?«, erkundigte er sich sofort.

»Ich bin vom Dach gefallen, aber gut verarztet worden, es ist nicht so schlimm«, winkte Florian tapfer ab. »Ich wollte eben nach Telgruc, etwas essen. Wollen Sie mitkommen?«

»Gut, aber wir nehmen die Porsche, nicht wahr?«

»Den Porsche? Na gut.«

»Der Porsche, d’accord – die Artikel in Ihrer Sprache sind sehr, sehr schwer zu lernen! Aber die deutschen Autos sind wirklich die besten«, begeisterte Olivier sich dann beim Anschnallen.

Florian startete den Wagen. »So? Boris, der Besitzer des Hauses, würde Ihnen zustimmen. Das hier ist nämlich sein Auto. Er hat es mir geliehen.«

»Warum?«, fragte der Gendarm, beinahe ungläubig.

Florian musste lächeln. »Weil mein Auto in der Werkstatt ist. Boris wird es morgen abholen. Wir haben getauscht, sozusagen.«

»Dann ist er ein sehr guter Freund von Ihnen, Boris?«

Du fragst gar nicht, was ich für ein Auto habe, dachte sich Florian, verkniff sich aber eine Bemerkung. Stattdessen antwortete er: »Boris ist jedenfalls ein sehr guter Kollege. Und ihm gehört, wie gesagt, das Haus, das Sie gesehen haben.«

»Tiens?« Olivier zog ungläubig die Augenbrauen hoch.

»Warum erstaunt Sie das jetzt?«

»Ich dachte, die Deutschen sind ordentlich.«

»An dieses Vorurteil würde ich nicht unbedingt glauben«, gab

Florian schmunzelnd zurück.

Sie fanden einen Terrassenplatz in einer Brasserie am Kirchplatz. Das war günstig; hier ganz in der Nähe musste das einstige Quartier seiner Oma sein. Sie hatte von ihrer Kammer aus direkt auf den

Kirchturm gesehen, hatte sie geschrieben.

Sie bestellten beide das Tagesgericht, ein Meeres-Cassoulet mit verschiedenen Fischsorten. »Und was haben Sie vor, in Ihren vacances?«, fragte Olivier und schenkte Florian Weißwein ein.

»Wollen wir uns nicht einfach duzen?«, fragte Florian zurück und probierte den Wein. »Hm, nicht zu herb, nicht zu fruchtig; sehr gut.«

Olivier legte den Kopf schief. »Très bien, mein Freund«, sagte er langsam. »Aber du musst aufpassen. Wenn du einen Franzosen zu schnell anredest mit du, findet er das aufdringlich. Wenn du einen Bretonen zu schnell anredest mit du, findet er das aufdringlich und er wird misstrauisch. Die Bretonen waren Jahrhunderte auf ihrer Halbinsel unter sich. Sie misstrauen den Fremden.«

»Also, bretonische Frauen sind zickig und Bretonen insgesamt sind misstrauisch gegenüber Fremden. Gibt es sonst noch etwas, was ich wissen sollte?«, fragte Florian amüsiert.

»Ah, du hast dir behalten, dass Bretoninnen Zicken sind. Das ist gut. Bretonen sind außerdem stur und rebellisch«, versicherte Olivier.

»Misstrauisch, stur und rebellisch; wenn weiblich, dann außerdem zickig. Warum bist du noch nicht ausgewandert?«, schmunzelte Florian und lehnte sich zurück.

»Ich weiß nicht«, Olivier schien nachzudenken. »Ich liebe das

Meer«, sagte er dann. »Und ich bin einer von ihnen.« Er grinste.

»Also, was hast du vor, in deinen vacances?«

Florian mochte diesen Mann, den er kaum kannte. Plötzlich verspürte er ein starkes Bedürfnis danach, ihm alles über Katharina anzuvertrauen. Aber dass er Olivier mit dem Duzen überfallen hatte, war wohl vorerst genug.

Sie unterhielten sich über belanglose Dinge, genossen ihr Cassoulet und ihren Wein. Es war erst gegen Ende des Essens, dass Florian schweigsam und nachdenklich wurde, bis der Gendarm, dem nichts entging, ihn fragte, was los war. Und so erklärte Florian ihm, dass seine Großmutter im Krieg auf Crozon stationiert war und dass sie hier, in Telgruc, gewohnt hatte.

»Wie interessant«, rief Olivier aus. »Du weißt, wo?«

»In etwa. Es muss hinter dieser Brasserie liegen, gegenüber vom Kirchturm.«

»Ah ça …« Der Gendarm sah auf die Tischplatte, auf die seine Finger trommelten.

»Wollen wir nachher nach dem Haus suchen?«, fragte Florian.

»Aber zuerst, ein Kaffee!«


Der Kirchplatz war umfasst von einer niedrigen Mauer mit einem höheren Rundbogentor, durch das sie traten. Florian musterte die Kirche vor sich. Sie war relativ groß und langgestreckt, mit schlankem Turm. Sie bestand ganz aus Granit; aber etwas damit stimmte nicht. Florian fing einen Seitenblick Oliviers auf. »Was denkst du, als Architekt?«, fragte der Gendarm, dem Florian beim Essen gesagt hatte, was sein Beruf war.

»Etwas stört mich. Diese Kirche ist nicht genügend verwittert. Entweder, man hat sie zu gründlich gereinigt, alle Patina entfernt; oder …«

»Oder?«, fragte Olivier, während sie das Eingangsportal fast erreicht hatten.

Da fiel Florians Blick auf eine Informationstafel. Er studierte die Reproduktion des alten Fotos und er nickte. »Diese Kirche ist nach dem Krieg neu aufgebaut worden«, sagte er. »Sie war ja fast komplett zerstört … und alles um sie herum auch. Aber das würde ja heißen …«, Florian wandte sich nach links.

Der Gendarm folgte seinem Blick und zuckte die Achseln. »Ich wollte es nicht sagen. Ich befürchtete schon, dass das Haus, das du suchst, nicht mehr existiert.«

Florian nickte enttäuscht. Da, wo er das Haus vermutet hätte, auf der Rückseite der Brasserie und einer angrenzenden Bäckerei, erstreckte sich ein Parkplatz. »Schade«, sagte er. »Sehr schade.«

»Es gibt andere Orte mit vielen Spuren des Krieges, weißt du«, hob Olivier an. »Wenn du Hilfe brauchst, für deine Recherchen, rufe mich an. Ich gebe dir die Nummer von meinem Handy.«

»Recherchen? Ich hatte nicht vor … Andererseits, warum nicht …« Florian verstummte. Aber ja, natürlich. Katharina drohte ihm mit der Scheidung; seit gestern Abend trug er diese Last mit sich herum, die ihn lähmte. Aber er würde nicht zu ihr zurückfahren, um seinen Teil dazu zu tun, die Scheidung noch zu beschleunigen. Vielleicht wollte Katharina keine Auszeit; aber er wollte genau das, für sich selbst und für sie! Er würde hierbleiben, für eine Weile, sich und Katharina Zeit geben, alles gründlich zu durchdenken. Überstürzt handeln war niemals gut. Nein; er würde in der Bretagne bleiben, und die Suche nach den Orten, an denen seine Oma gewesen war, würde ihm eine Aufgabe geben. Denn verdammt, er konnte nicht immer und ununterbrochen gedanklich um seinen Liebesschmerz kreisen! »Was für Spuren des Krieges hast du konkret gemeint?«, fragte er Olivier.

»An den Küsten findest du überall Kriegsanlagen der Deutschen. Ich kenne sogar welche, die heute geheim sind. Versteckt, unter der Erde«, das letzte hatte Olivier mehr geflüstert.

Ein Anflug von Misstrauen überkam Florian. »Olivier, warum sprichst du eigentlich so gut Deutsch?«, fragte er wie beiläufig.

»Oh, meine Schwester lebt in Essen, seit vielen Jahren. Ich habe sie oft besucht.«

»Ach so. Und was dein Kollege gesagt hat, stimmt das wirklich? Begeisterst du dich für alles, was deutsch ist?«

»Für alles? Nein. Aber für deutsche Autos!« Olivier lachte. »Und ich interessiere mich auch für deutsche Bunker etcetera, denn Geschichte fasziniert mich. Wenn ich studiert hätte, ich hätte Geschichte studiert. Aber mein Abitur war nicht gut genug, wegen Mathe …« Olivier schnitt eine Grimasse.

»Dann freue ich mich darauf, mit dir diese unterirdischen Bunker anzusehen, wenn du sie mir zeigen willst. Und deine Idee mit den Recherchen, die finde ich überhaupt gut. Ich habe gesehen, dass der Mann am Nachbartisch mit seinem Notebook im Internet war; offenbar gibt es in der Brasserie Internetzugang …«

»WIFI, ja, es stand an der Wand über den Fenstern.«

»Schön. Mein Notebook in Gießen ist uralt; ich denke, ich könnte ein neues gebrauchen. Ich muss ohnehin einkaufen. Wo finde ich ein Notebook, am besten in der Nähe von Lebensmitteln?«

»Du hast Glück, mein Freund, mich getroffen zu haben«, verkündete Olivier.

»Das denke ich auch.«


Wieder in Mengleuff, luden Marie und Pierre mit einiger Mühe die Couch aus dem Bus und stellten sie an ihren künftigen Platz. Außer Atem, aber glücklich ließ Marie sich auf ihr Kuschelmöbel fallen – jetzt war die Wohnecke am Kamin wirklich ihre! Als Pierre sich neben sie plumpsen ließ, sprang sie schnell wieder auf. »Komm, lass uns Elodies Bett abbauen und die Sache hinter uns bringen, ja?«

»Sklaventreiberin«, lachte Pierre, folgte Marie aber ins Schlafzimmer.

Später entsorgten sie Elodies auseinandergenommenes Bett und den brummenden Kühlschrank und fuhren danach zum zweiten Mal zu Maries alter Wohnung. Ihr Bett dort war bald auseinandergebaut; neben die Einzelteile passte noch gerade der große Kühlschrank in den VWBus. Damit war die Wohnung bereit für die Rückgabe.

Es war merkwürdig, noch einmal zum Abschied durch die leeren Räume zu wandeln. Sie wirkten ohne die Einrichtung kleiner. Da war das Bücherregal gewesen, da der marokkanische Couchtisch; da die Couch selbst, bis noch vor kurzem. Auf der Couch hatten sie, Sylvain und Marie … Sie hatten eigentlich überall mal. Es war so eine leidenschaftliche Liebe gewesen. Affäre. Liebe – Marie ging zur Balkontür und öffnete sie. Sie brauchte Luft. Pierre trat hinter ihr auf den engen Balkon und stellte sich neben sie an das Geländer.

»Das sind aber keine harmlosen Küchenkräuter, die dein Kev da unten anbaut«, bemerkte er.

»Ich weiß«, sagte Marie und sah gleichfalls auf Kevs mit Topfpflanzen vollgestellten Balkon. Sie sah wieder auf – und erstarrte. Sylvain. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Er stand da und schaute zu ihr nach oben. Der Wind strich ihm die rebellische Haarsträhne in die Stirn. Ihre Blicke fanden sich. Marie zwinkerte. Der Gehweg dem Haus gegenüber war leer. – Was sollte sie tun, wenn Sylvain sie jetzt schon als Halluzination verfolgte?! Marie sah plötzlich nichts mehr. Heiß rann es ihr die Wangen hinab. »Marie«, hörte sie Pierre erschrocken flüstern und sie spürte seinen Arm um ihre Schulter. Sie ließ sich gegen seine Brust fallen und verlor gänzlich die Fassung.


Florian und Olivier landeten in einer Mall bei Quimper. Dort fanden sie alles, was Florian brauchte, vom Notebook zu Lebensmitteln und vom Französisch-Deutsch-Wörterbuch bis zu wander- und schwimmtauglicher Kleidung. Das Tüpfelchen auf dem i war für Florian aber das Gartencenter.

»Du musst Hortensien in der Bretagne nicht düngen, wirklich nicht! Sie wachsen hier ganz alleine. Und warum arbeitest du in deinen vacances? Es ist nicht dein Garten!«, protestierte Olivier noch immer, als sie den großen gelben Sack schon im Auto verstaut hatten. Aber Florian lächelte nur stumm vor sich hin.

Bis sie in Mengleuff vor Maries Haus standen. Hier kamen sie nicht weiter, denn der schrottreife VW-Bus des Womanizers versperrte die alte Straße und damit den Weg zu Boris’ Hof. Florian hupte. Niemand kam, um den Bus wegzufahren. Hoffentlich war das Teil nicht liegengeblieben. Aber dann sah Florian, dass die seitliche Schiebetür offen stand. Das sah eher nach einer Ausladeaktion aus. Da kam endlich der Womanizer aus Maries Haus gesprungen und zerrte ein sperriges weißes Objekt aus dem Bus – eine Matratze. Ehebettformat, deutlich über eins vierzig breit.

»Wer ist das?«, wollte Olivier wissen. Nun war Marie herausgekommen, um dem Womanizer tragen zu helfen.

Florian zuckte entnervt die Achseln. »Die Nachbarin, sie heißt Marie. Wie er heißt, weiß ich nicht.«

Olivier sah ihn scharf von der Seite an, dann lachte er leise.

»Was?«, fragte Florian gereizt.

»Was habe ich dir gesagt, hein? Schön, aber zickig. So sind die Bretoninnen. Und oft schon vergeben.«

»Ich will nichts von der, keine Sorge.« Er drückte nochmals auf die Hupe.

»Er fährt schon, er fährt«, sagte Olivier beschwichtigend, und wirklich hatte der Womanizer die Karre gestartet und blies ihnen stinkendes Abgas zu.

Auf Boris’ Hof bremste Florian scharf und stoppte den Motor.

»Du willst wissen, wie du mit ihr umgehen musst?«, fragte Olivier.

»Nein.«

Olivier grinste breit. »Hör zu, mon ami. Ich gebe dir Unterricht. Du musst lernen de draguer. Kennst du das Wort? Draguer. Merke es gut. Es ist wichtig.«

»Für mich nicht, danke.«

Doch Olivier fuhr unbeirrt fort: »Draguer, es heißt herangehen an die Frau, du verstehst?«

»Du meinst anmachen; aber dazu hat sie schon einen, der kann das sicher super gut.«

»Hör zu, so machst du es: Du siehst sie an, du sprichst sie an, und du berührst sie. Nicht zu viel, sonst wird sie böse. Eine Hand hier hin«, Olivier zeigte auf Florians Hüfte, »eine Hand an die Schulter, und die Finger natürlich, nur un peu, du verstehst?«

»Sag mal, geht’s dir zu gut? Und überhaupt, gleich berühren? So ein Blödsinn, wenn man jemanden kaum kennt!«

»Si, si, die Franzosen machen das so. Die Frauen erwarten das. Sonst sehen sie nicht, dass du sie willst«, raunte Olivier verschwörerisch.

»Klasse. Das ist noch atemberaubender als Boris’ übliche Ratschläge.«

»Wichtig ist: Der Mann muss ergreifen die Initiative!«, schärfte Olivier ihm nun auch noch ein.

Florian verdrehte die Augen, dieser Mann hier war jedenfalls nicht zu stoppen. »Wieso überhaupt der Mann?«, protestierte Florian aus Prinzip, »kann das nicht auch mal die Frau tun? Was ist denn das für eine veraltete Vorstellung, die ihr habt, in der Bretagne?«

»Bien sûr der Mann! Es geht nicht anders!«

»Ach.« Florian hob ironisch eine Augenbraue. Damals hatte Katharina die Initiative ergriffen. Aber das war nicht das richtige Thema. »Wollen wir die Sachen ausladen und das Notebook ausprobieren?«, fragte er.

»D’accord, on y va, aber ich habe heute nicht mehr viel Zeit«, antwortete Olivier überraschend bereitwillig und sprang aus dem Porsche.

»Gut, ich habe nachher auch noch etwas zu erledigen«, murmelte Florian für sich.


Marie ließ sich auf ihre Kuschelcouch fallen. Ihre bequeme Herumlümmelcouch!

Pierre setzte sich neben sie. »Na, wie haben wir das gemacht?«

»Perfekt«, lächelte Marie. Der Kühlschrank stand an seinem Platz; das Bett oben war aufgebaut, danach hatte sie Pierre schnellstmöglich aus dem Schlafzimmer gelotst, er war ja heute so seltsam … Obwohl Pierre natürlich ein Gentleman war. Er würde ihren Schwächeanfall vorhin auf dem Balkon bestimmt nicht ausnutzen, um später … Nein, nein. Zufrieden dehnte und reckte sie sich. Und fing einen intensiven Seitenblick von Pierre auf, allzu intensiv. Schnell fragte sie: »Einen Kaffee?«

»Nein«, Pierre schüttelte den Kopf. Er sah sie noch immer unverwandt an.

»Ein Glas Wein?«, fragte Marie. »Wir könnten uns auch etwas zu essen machen. Ich hasse es, das Mittagessen zu überspringen, und sterbe vor Hunger!«

Pierre sagte nichts. Er sah sie nur an. Dann war sein Gesicht plötzlich vor ihrem, seine Hand an ihrer Wange, seine Lippen drückten sich auf ihren Mund, seine Zunge drängte sich zwischen ihre Zähne, doch das war genug!

Sie wusste nicht, wie sie sich aus seiner Umarmung befreit hatte, aber als sie wieder klar denken konnte, stand Marie bebend vor der Couch, auf der Pierre saß und schuldbewusst zu ihr hochsah. »Was sollte das?«, fuhr sie ihn an.

»Entschuldige Marie, aber ich dachte …«

»Du dachtest was? Weißt du, was das für ein Schock war? Das war Vertrauensbruch, verdammt!«

Pierre war blass geworden.

»Entschuldige«, Marie strich sich fahrig die Haare zurück. »Entschuldige, Pierre«, sagte sie noch einmal, setzte sich wieder und legte ihre Hand an seine Wange. Pierre ließ den Kopf auf ihre Schulter sinken. Er tat ihr ja leid. Doch die tröstliche Geste war ein Fehler gewesen. Pierres Lippen suchten ihren Hals.

»Nein«, sagte Marie erschrocken und drückte seinen Kopf mit beiden Händen von sich.

»Warum nicht?«, fragte Pierre mit sehnsüchtigem Blick.

Marie konnte es ihm nicht sagen. Diese Welle des Widerwillens, die sie eben überkommen hatte, als seine Zunge nach der ihren suchte. Jetzt überkam sie diese Regung erneut. Sie ging schnell zum Wasserhahn und trank ein paar Schlucke. Sie wischte sich über den Mund. Pierre sah sie an. Er erwartete eine Antwort.

»Du bist mein bester Freund«, hob Marie an, »ich habe immer den besten Freund in dir gesehen, verstehst du?«

»Ich weiß, du hast Jahre lang nicht viel anderes gesehen als Sylvain und deine hoffnungslose Liebe für ihn. Sonst hättest du es bestimmt bemerkt. Dass ich dich liebe.« Pierre verstummte.

Oh nein. Er hatte es gesagt. Marie ging nervös im Raum auf und ab. Pierre fuhr fort. »Ja, ich liebe dich, und nicht erst seit gestern. Aber weil ich dich liebe, wollte ich dein Glück. Und wenn Sylvain dich glücklich gemacht hätte, hättest du niemals ein Wort von mir über meine Gefühle gehört. Die ganze Zeit, solange du darauf gehofft hast, dass ihr noch einmal offiziell zusammenkommt, habe ich durchgehalten, war einfach nur als Freund für dich da, obwohl ich davon überzeugt war, dass es mit euch nichts würde. Der Mann hat dich nicht verdient, Marie. Ich weiß, wie sehr du jetzt leidest, aber es war Zeit, dich von Sylvain zu befreien.«

»Aber wenn du weißt, wie es mir jetzt geht, dann musst du auch wissen, dass ich mich nicht von heute auf morgen neu verlieben kann. Auch nicht …« Sie verstummte. Die Finger des Deutschen, die sanfte Zufallsberührung, das geradezu elektrische Kribbeln … Für den Bruchteil eines Augenblicks war das plötzlich wieder da gewesen, im Gedächtnis ihres Körpers. Verwirrt sah sie um sich, wie jemand, der aus einem déjà vu erwacht. Ihr Blick fiel auf Pierre.

»Dann werde ich warten«, sagte er schlicht.

Marie sah ihn betroffen an. Sie konnte ihm keine Hoffnung machen. Etwas sagte ihr, dass sie ihn niemals lieben könnte – nie anders als einen Freund. Aber sie fühlte sich erschöpft, dermaßen erschöpft … Dann klopfte es an der Tür. Schicksalsergeben ging sie hin und öffnete.

»Hallo«, grüßte Florian, und als er den Womanizer hinter Marie sah, zu diesem: »Bonjour!«

Pierre zog die Augenbrauen hoch und deutete ein Nicken an; Marie schaute entnervt vom einen zum anderen.

»Ich wollte nur etwas abgeben«, wandte Florian sich an Marie und reichte ihr einen schweren, gelb-grünen Sack. »Für Ihre Hortensien.« Perplex nahm Marie den Sack entgegen. Düngemittel, las sie. Auf

so eine Idee konnte auch nur dieser Deutsche kommen. »Et bien, vielen Dank«, sagte sie hastig. Sie spürte förmlich, wie Pierres Blicke sich ihr in den Nacken bohrten. »Wie geht es der Hand?«, fragte sie trotzdem.

»Ganz in Ordnung soweit. Sie tut weh, aber der Verband hält.«

»Wenn sie anschwillt, können Sie sie kühlen. Mit Eiswürfeln in einem Tuch. Nicht zu lange, vielleicht zehn Minuten, zwei-, dreimal am Tag.«

»Okay, alles klar. Nochmals vielen Dank. Und schönen Abend noch, Ihnen beiden.« Er nickte, hob linkisch die verbundene Hand und ging schnell nach draußen.


»Schönen Abend noch, Ihnen beiden. Klasse Spruch. Fein gemacht, Florian, ganz hervorragend. Wollen Sie nicht das Ehebett ausprobieren? Peinlich, peinlich hoch zehn«, beschimpfte Florian sich selbst, während er langsam in Boris’ Haus zurückging. Er war nur froh, dass Olivier nicht mehr da war, um die Schmach als Zeuge mitzuerleben.


»Du hast gesagt, du kennst den Typ kaum«, brach es aus Pierre heraus, kaum dass die Haustür hinter dem Deutschen geschlossen war.

»Das stimmt auch«, trumpfte Marie auf. »Er hat meine Hortensien angefahren, wir haben uns gestritten und jetzt kauft er mir Düngemittel, na und?« Sie ließ den Sack Dünger neben der Tür auf den Boden fallen.

»Und seine Hand? Hast du die verbunden?«

»Dir ist klar, Pierre, dass man dazu verpflichtet ist, erste Hilfe zu leisten? Natürlich habe ich ihn verarztet. Er ist vom Dach gefallen und hat einen miesen Schnitt im Handballen!«

Pierre holte tief Luft. Dann stieß er hervor: »Mal ehrlich, Marie –

macht er dich an, der schöne boche

Entgeistert starrte Marie ihren Freund an. »Dass du, mein bester Freund, solche Ausdrücke in den Mund nimmst, das hätte ich nie gedacht! Boche! Das ist Kriegsvokabular! Ich meine, unsere Großeltern haben den Weltkrieg mitgemacht; wenn noch jemand aus deren Generation verbittert gegen die Deutschen ist – aber wir, wir sind doch eine andere Generation! Ich bin mit dem Schulaustausch in Deutschland gewesen, mehrere Male, ich fand es schön da und immer wurde ich herzlich aufgenommen!«

Pierre war blass geworden. »Scheiße, du hast was mit diesem Deutschen«, stieß er aus.

»Was?« Marie meinte, sich verhört zu haben.

»Ja, klar, wenn du die Deutschen so verteidigst.«

»Was ist das denn für eine Logik, das ist ja absurd!« Marie kochte vor Wut.

»Na gut, das ging zu weit«, räumte Pierre ein, »aber warum regst du dich dann so auf? Das mit dem boche ist mit nur so rausgerutscht. Außerdem beschönigst du die Tatsachen. Die Leute, die dich in Deutschland aufgenommen haben, mochten Franzosen, na gut; aber es gibt auch andere. Hast du nie von diesem Kriegstourismus gehört, der gerade boomt? Da kommen Touristen in die Bretagne und in die Normandie, nur weil sie scharf darauf sind, Nazi-Bunker und so etwas zu sehen! Zu sehen, und zu filmen, und zu fotografieren …« Marie schüttelte unwirsch den Kopf. »Ich habe davon gehört, ja. Soweit ich weiß, gibt es verrückte Engländer und Amerikaner, die so etwas machen. Von Deutschen habe ich so etwas noch nicht gehört, und diesen Florian zu so einem abzustempeln, geht zu weit, auch wenn ich ihn nicht leiden mag. Pierre, du hast mir heute enorm geholfen, aber ich bekomme gerade Kopfschmerzen und es ist besser, du gehst.«

Pierre sah sie ungläubig an. »Du wirfst mich raus?«

»Nicht böse gemeint, aber ja.«

Pierre stand auf. »Darf ich dich noch einmal in den Arm nehmen?«, bat er, als er schon an der Tür stand.

Es war Marie, die Pierre an sich zog. Sie hasste Streit, auch wenn manchmal ihr hitziges Temperament dazu führte, dass sie damit anfing. Sie standen eine Minute da, eng umschlossen, dann beendete Pierre abrupt die Umarmung. Marie ließ die Tür hinter ihm in das Schloss fallen. Ihr Blick fiel auf den Sack Blumendünger. Sie hob die Hand an den schmerzenden Kopf.

Woanders am Ende der Welt

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