Читать книгу Woanders am Ende der Welt - Natascha N. Hoefer - Страница 9

Оглавление

3. Unterwegs

Es führte zu nichts, länger im Bett zu bleiben und zur Decke zu starren. Überhaupt, dieses schreckliche Bett! Nach ihrer ersten Nacht im Garten war Marie doch in Elodies Schlafzimmer eingezogen. Nur, bei jedem Herumwälzen, und Marie schlief unruhig, quietschten die Federn der alten Matratze wie eine Katze, der man auf den Schwanz tritt, und das ganze Bett geriet ins Wanken wie eine Boje auf hoher See.

Wie eine Greisin schob Marie in Zeitlupe erst das linke, dann das rechte Bein von der Matratze. Sie griff sich an den Kopf. Schon wieder Kopfschmerzen, nach einer weitgehend durchwachten Nacht. Aber sie hatte sich vorgenommen, keine Schlaftabletten mehr einzuwerfen. Und jede zweite oder dritte Nacht gelang es ihr doch, vor Übermüdung zu schlafen.

Sie tappte hinunter ins Erdgeschoss und öffnete die Fensterläden. Aus dem linken Fenster beugte sie sich weit hinaus, um ihre Hortensien zu bewundern. Seitdem sie in Mengleuff war, hatte sie sie Tag für Tag und Woche für Woche mit viel Wasser und Liebe und gutem Zureden vor dem Vertrocknen gerettet. Sie liebte die zwischen rosa und hellblau changierende Farbe der prächtigen Blüten, den Duft, den sie verströmten. Sie liebte die den Pflanzen innewohnende Kraft, die eine solche Wiederauferstehung ermöglicht hatte. Die Hortensien sahen wieder prächtig aus, keine Fragen. Und wie ihre Hortensien, so würde auch sie selbst, Marie Cadiou, aus ihrem Tief wieder herauskommen, schwor sie sich – wie jeden Morgen, beim Öffnen der Läden. Aber leicht war das nicht.


Licht drang durch Florians geschlossene Augenlider. Dann die Erinnerung, der Schlag in die Magengrube. Langsam öffnete er die Augen.

Eine Weile starrte er nur an die Decke, versuchte zu verdauen, dass das alles kein bloßer Alptraum war, sondern die Realität. Katharina. Wie konnte sie ihm das antun?

Endlich rappelte er sich auf und kam am Bettrand zum Sitzen. Wie hässlich das primitive Hotelzimmer bei Tageslicht war. Die großgeblümten Tapeten wiesen in den Ecken des Raumes Risse auf und ihr weißer Grund war vergilbt. Eine leichte Übelkeit überkam Florian, er musste aufstehen und zum Fenster gehen, er brauchte Luft. Doch als er die alte Gardine beiseite zog, schreckte er zusammen. Sein Blick fiel auf schier endlose Reihen von weißen Kreuzen.

Er rieb sich die Augen. Das war doch ein Alptraum. Er musste weg hier. Duschen, frühstücken, weg hier. Halt, seine Tasche. Ans Auto musste er zuerst.

Draußen roch es nach Seeluft. Das tat gut, Florian sog begierig die salzige Luft ein. Auch den Cayenne vor dem Hotel vorzufinden, hatte etwas Beruhigendes. Er holte sein bescheidenes Gepäckstück aus dem Kofferraum und ging zurück in das Hotel, das bei Tageslicht auch von außen noch trostloser aussah.

Er fand die Dusche am anderen Ende des Korridors auf der Etage seines Zimmers; und keine halbe Stunde später saß er mit feuchten Haaren in dem kleinen Frühstücksraum. Es war gerade neun Uhr. Wortlos stellte die alte Frau, deren Bekanntschaft er in der Nacht

gemacht hatte, einen Korb mit Baguettestücken vor ihn. Dazu stellte sie einen Teller mit verpackten Butterstücken und kleinen Plastiktöpfchen mit Marmelade. Schade, keine Nutella. »Du café ou du thé?«, fragte die Alte dann, und nachdem Florian Kaffee bestellt hatte, schlurfte sie aus dem Raum.

Während Florian auf den Kaffee wartete, sah er durch das Fenster auf die unbelebte Straße. Vielleicht lag es daran, dass der Himmel bedeckt war, aber die verwitterten Fassaden der Häuser und das halb verrottete Schild »A vendre« im Ladenhaus gegenüber wirkten auf ihn bedrückend. Dieser Ort sah aus, als wäre er vom Aussterben bedroht. Aber vielleicht sah er das nur so, weil es ihm selbst so schlecht ging.

Die alte Frau kam mit dem Kaffee. Eine große Tasse voll, er roch gut, eine dünne Schicht Milchschaum lag auf der Oberfläche. Neben die Tasse stellte die Frau eine Dose Zucker.

Der Kaffee schmeckte ausgezeichnet, stark, aber nicht bitter, und die Baguette war frisch und eben so, wie französische Baguette sein sollte. Erst beim Essen merkte Florian, dass er Hunger gehabt hatte. Während er auf einen zweiten Kaffee wartete, sah er schon munterer durch den Frühstücksraum. Erst jetzt fiel ihm das Tischchen in der Ecke neben der Eingangstür auf, auf dem verschiedene Prospekte lagen. Er schlenderte hin und überflog den Flyer eines »D-Day-Museums«. Jaja, so war das. Der Zufall hatte es so gewollt, dass er hier gelandet war, an diesem Ort, der direkten Bezug zum zweiten Weltkrieg hatte und zur Westfront – einen Bezug zu seiner eigenen Oma … Florian seufzte und legte den Flyer zurück. Das D-Day-Museum im benachbarten Arromanches würde er nicht besichtigen; aber vor der Abreise würde er noch einen Blick auf den Friedhof werfen, dessen Anblick ihn nach dem Aufstehen so erschreckt hatte.

Sechzehntausend amerikanische Soldaten seien hier beerdigt, las Florian auf einem Informationsschild, ehe er nach dem Auschecken den Friedhof durch ein breites Tor betrat. Er sah um sich. Parallele Reihen von weißen Kreuzen, ein riesiges Feld davon. Er begann, aufs Geratewohl eine Reihe abzuschreiten, las beiläufig Namen und Geburtsdaten, begann, im Kopf zu rechnen. Hier waren nur junge Männer beerdigt. Richard Brown, knappe zwanzig geworden; Euston McCullom, einundzwanzig; Jeffrey Pendleton, zwanzig … Ich lebe schon fünfzehn Jahre länger als Jeffrey Pendleton; in fünf Jahren habe ich doppelt so lange gelebt wie dieser junge Mann, der 1944 in das Abwehrfeuer der Deutschen gelaufen ist.

»Hey, guys, come here!«

Florian fuhr herum. Zwei Kreuzreihen weiter sah er sie, die drei Männer. Sie waren mittleren Alters, trugen Armeehosen, Baseballkappen und große Fotoapparate in den Händen. Jetzt lichteten sie sich gegenseitig vor einem Grab ab. Lachend, laut und aufgeregt durcheinander redend.

Irritiert wandte Florian sich ab. Was waren das für merkwürdige Typen? Touristen, die die »D-Day-Küste« life erleben wollten? So etwas gefiel ihm gar nicht. Er verließ den Friedhof und stieg in den Cayenne.


Jeden Tag machte Marie sich ein straffes Programm; es gab immer genug zu tun, in Mengleuff, und sich abrackern war der beste Weg, um die Trauer abzuarbeiten; oder fortzuschieben, zumindest. Die Trauer um den Mann, an den sie nicht mehr denken durfte und nicht mehr denken wollte; denn er hatte nicht vor – nach fast drei Wochen ohne Lebenszeichen von ihm hatte er wirklich nicht vor, um sie zu kämpfen. (Aber die Hoffnung stirbt leider immer zuletzt; und dieses allmähliche Absterben tat weh, so weh …) Wenn Marie aber einmal Pause machen und mit einem Menschen reden wollte, der ihr ein kleines Gefühl der Geborgenheit gab, dann ging sie zu Yvonne Le Roux.

Yvonne war mittlerweile die Dorfälteste und gehörte für Marie untrennbar zu Mengleuff. Sie war »schon immer« da gewesen; nämlich soweit Maries Erinnerung an Mengleuff reichte. Yvonne strahlte eine unglaubliche Ruhe und gewitzte Weisheit aus; und sie hatte den schönsten Garten des Dorfes. Die alte Dame liebte Blumen. Sie hatte ein Meer verschiedenster Sorten davon, dazu aber auch nutzbare Pflanzen: Gemüse, Himbeer- und Stachelbeerbüsche und alte Apfelbäume. Dazwischen gackerten freilaufende Hühner. Deshalb hatte das Haus mit dem idyllischen Garten ein Gartentor, das niemals offenstehen durfte.

Marie lehnte sich über dieses Tor und rief: »Bonjour! Darf ich reinkommen?«

Yvonne saß auf dem Bänkchen neben der Haustür und schälte Kartoffeln. Die Schalen ließ sie in ihre karierte Schürze fallen, die geschälten Kartoffeln plumpsten in einen zerbeulten Eimer aus Blech. »Komm nur, Marie Cadiou, aber schließe das Törchen, wegen der Hühner!«

Marie tat es und setzte sich auf eine Geste der alten Dame hin neben diese auf die Bank.

»Na, hast du dich inzwischen gut eingelebt?«, erkundigte sich

Yvonne. Sie konnte schälen, fast ohne hinzusehen.

»Ich komme gut voran mit dem Renovieren«, antwortete Marie ausweichend. »Den Dielenboden musste ich gar nicht abschleifen, ölen genügte. Meinen Teppich aus der alten Wohnung habe ich in das Schlafzimmer gelegt, ein Berber in warmen Farben, sieht gleich ganz anders aus. Die Tapeten im Schlafzimmer sind cremeweiß, unten habe ich weiß mit einem Hauch von gelb gestrichen. Ist wirklich schön. Aber die Plackerei mit dem Entleeren und Verschieben aller Möbel! Und dann gibt es noch ein Zimmer komplett zu renovieren, in dem hat früher mein Großvater geschlafen, als Kind …« Marie musste gähnen.

»Du arbeitest zu viel. Warum hilft dir niemand? Hast du keinen Freund?«, fragte Yvonne geradeheraus.

Marie wollte aufspringen. Die Vernunft hielt sie davon ab. »Ich habe einen besten Freund, er heißt Pierre, der wird mir bei den noch ausstehenden Möbeltransporten helfen«, brachte sie hervor.

»Und deine Eltern?«

»Bloß nicht!«

Verblüfft hielt Yvonne mit dem Schälen inne, und Marie erklärte müde: »Sie wissen vielleicht, dass mein Vater Elodies Patensohn war. Da dachte er … oder besser, meine Eltern dachten beide, sie würden ihr Haus erben. Wie ich mittlerweile erfahren habe, sind sie die letzten zehn Jahre lang, als Elodie nicht mehr kam, regelmäßig hierher gefahren, um das Haus instand zu halten. Ich wusste davon nichts; und überhaupt, ich kann nichts dafür, dass Elodie mir das Haus vermacht hat – warum auch immer!«

Yvonne Le Roux legte den Kopf schief. »Hauptsache ist, dass das alte Haus der Cadious wieder bewohnt ist. Es stehen so viele Häuser leer. Auch das neben deinem. Wie schade. Früher lebte die Familie Lévénès darin. Fünf Kinder. Was aus denen allen geworden ist? Der Vater war Dachdecker.«

»Dann ist es aber lange her, dass die Familie Lévénès nicht mehr in dem Haus wohnt! Ein Dachdecker hat sich dem Dach ewig nicht mehr genähert. Die losen Schieferplatten fallen herunter wie Regen.«

»Siehst du, schade. To pa ri ti, Pa ri ti to1, sagt das Sprichwort. Dein Haus braucht ein Dach, und solange das Dach hält, kannst du dein Haus retten. Ist das Dach futsch, hast du bald eine Ruine.«

»Wem gehört das Haus denn inzwischen?«

»Einem deutschen Monsieur. Aber den habe ich nur einmal vor Jahren gesehen. Ab und zu kommt ein Mann, der ein bisschen Rasen mäht und Efeu zurückschneidet. Aber das genügt nicht. Das Haus verfällt, wenn nicht bald etwas geschieht. Der deutsche Monsieur müsste kommen. Schade, schade.« Yvonne zuckte die Achseln.

Schade? Im Gegenteil! Marie war erleichtert. So hatte sie im Garten ganz ihre Ruhe, und wenn sie nur daran dachte, dass sie einen männlichen Nachbar hätte haben können, kamen heftige Abwehrgefühle in ihr auf. Sie hatte die Nase voll von Männern; jedenfalls hatte sie keinen Bedarf an einem fremden Mann, der sie über die Grenzbüsche zwischen beiden Gärten hinweg anglotzen, anlabern oder im schlimmsten Fall anmachen könnte!

Nach ihrer Rückkehr von Yvonne machte Marie sich den Spaß, einmal um das leere Nachbarhaus herumzuschleichen. In gewisser Hinsicht hatte Yvonne natürlich recht: Es war ein altes Haus wie ihres und der Garten war ähnlich groß, ohne knorrige alte Apfelbäume allerdings, dafür mit einigen interessanten Felsblöcken, die aus dem hohen Gras ragten. War das Natur oder hatten einmal die keltischen Vorfahren Hand angelegt? Das war oft schwer zu sagen. Einer der Felsen sah nach menhir aus; ein anderer nach dem flachen Deckstein eines dolmen.

Marie ging bis zu den gelb blühenden Grenzbüschen und schaute hinüber in ihren eigenen Garten. Die Büsche waren hoch, aber natürlich gab es Sichtlücken. Nein nein, es war wirklich ein Glück, durch keine neugierigen Blicke gestört zu werden!

Gedankenverloren zupfte sie eine Blüte ab, die wärmer gelb war als die des Ginsters: eine verlorene Stechginsterblüte. Sie hielt sich die Blüte an die Nase, schloss die Augen und sog ihren Duft ein, der herb und süß zugleich war, ein wenig wie der von Kokos.

Sie würde jetzt hochgehen, in papys altes Schlafzimmer. Sie würde sich überlegen, was sie daraus machen würde – ein Gästezimmer? Ein Arbeitszimmer mit Leseecke und Schreibtisch? Oder beides kombiniert?

Oben im Zimmer war es warm und stickig. Marie öffnete Fenster und Dachluke. Dann wandte sie sich um, zu dem Bettgestell, das wirklich nicht mehr zu gebrauchen war, und seufzte. Noch etwas, das entsorgt werden musste. Aber der Schrank? Besonders schön war er nicht, aber stabil, aus Massivholz.

Sie drehte am Schrankschlüssel, um hineinzusehen, doch der Schlüssel drehte sich nur zur Hälfte. Ungeduldig ruckelte und drückte sie daran herum, bis er doch knackend nachgab. »Mit dem klemmenden Schloss kommst du doch weg«, beschimpfte Marie den Schrank, während sie die schweren Türen aufzog. Sie stieß einen leisen Schrei aus und sprang zurück, dann begriff sie: Die Augen, die sie aus dem Schrank heraus anstarrten, gehörten einer Figur aus bemaltem Holz.

»Was machst du denn im Schrank?«, fragte Marie laut in das leere Zimmer, um auch den letzten Rest ihres Schreckens loszuwerden. »Du bist mir ja eine schöne Heilige, mit der Oberweite«, grinste sie dann. Die dargestellte Heilige war eine junge Frau mit langem blondem Haar und stattlichem Dekolleté. In den Händen hielt sie einen kleinen Turm; ihre Miene hatte einen leidenden Ausdruck. Marie legte den Kopf schief. Es war eine Figur, wie sie in Kapellen stehen, nicht in Wohnhäusern und schon gar nicht in Schränken. Wo die beiden Schranktüren rechts und links der Heiligen zurückgeschlagen waren, sah das allerdings ein wenig wie ein Altar aus. Ein Haus-Altar?

Marie sah von der Figur zu ihrem Sockel; aber es war gar kein Sockel, es war eine Truhe. Eine hölzerne Truhe, mit Eisen beschlagen. Was war darin? Sofort wollte Marie es wissen! Sie hatte keine Lust, die Heilige anzufassen, hob sie aber doch aus dem Schrank, um den Deckel der Truhe zu öffnen. Sie sah hinein. Ha, da waren sie also, die alten Fotoalben! Sie hatte sich schon gefragt, wo Elodie ihre persönlichen Dinge aufbewahrt hatte.

Marie griff nach dem obersten Album. Es enthielt jedoch keine Fotos, das Album entpuppte sich als Mappe mit Zeichnungen.

Auf dem Rand des alten Bettgestells sitzend, blätterte Marie langsam die Zeichnungen durch. Sie waren alle datiert und signiert; Marie konnte den Namen »Elodie Cadiou« entziffern. Es waren Modezeichnungen aus den sechziger Jahren, und Marie hatte ja gewusst, dass ihre Großtante Modemacherin gewesen war, und keine unbekannte. Trotzdem hatte sie nicht gewusst, dass Elodie so gut, so künstlerisch zeichnen konnte. Marie ließ sich Zeit zum Bewundern jedes einzelnen Blattes, bevor sie sich die nächste Mappe holte. Es gab davon in der Truhe, soweit sie es im Halbdunkel des Schrankes erkennen konnte, zwei dicke Stapel.


Marie hatte alles um sich herum längst vergessen. Fasziniert war sie Mappe für Mappe durchgegangen und hatte nebst den Modeentwürfen aus verschiedenen Jahrzehnten die Zeichnungen von Menschen entdeckt – Portraits, die Elodie von Freunden oder Geliebten gemacht hatte, und Aktzeichnungen (die eine oder andere erotische Zeichnung hatte Marie in Verlegenheit gebracht). Aber das, was sie jetzt in den Händen hielt, war anders. Ganz unten aus der Truhe hatte sie diese grün-schwarz eingebundene, an den Kanten beschabte Mappe gehoben. Und die enthielt Bilder von – Heiligenfiguren! Lauter akkurat und aus mehreren Perspektiven gezeichnete Heiligenfiguren! Das fiel nun wirklich aus dem Rahmen. Und dann sah Marie auf das Datum unterhalb einer Signatur. 1943. Sie blätterte weiter. 1943, 1943 … Und da jetzt, 1944 … Aber da war doch Krieg gewesen! Elodie hatte im Krieg Heiligenfiguren gezeichnet? Warum? Und wo? Die stammten garantiert nicht aus einer Kirche, nicht einmal aus einer sehr großen!

Immer erstaunter über die Anzahl der Figuren und die große Präzision der teils mit Aquarellfarbe kolorierten Bilder blätterte Marie den ganzen Stapel durch, war nun fast unten. Da fiel ein kleineres Blatt ihr in die Hände. Sie zog eine Augenbraue hoch. Eine Liste der gezeichneten Figuren. Nach Monaten sortiert. Wie ein Heiligenkalender. Merkwürdig, wirklich merkwürdig.

Sie ließ die Liste sinken und schaute auf die unterste Heiligenzeichnung – heho, das war die Heilige, die vor ihr stand! »Wenn du reden könntest«, warf Marie der Blonden mit der Märtyrermiene bedauernd zu. Dann hob sie die Zeichnung hoch, um sie ins Licht zu halten. Da entdeckte sie, dass doch noch ein letztes Blatt unter ihr verborgen gewesen war. Mit spitzen Fingern nahm sie das Werk aus der Mappe und sah es sich mit gerunzelter Stirn an.

Das war kein Heiliger gewesen. Helle Augen, eine klassisch-gerade Nase, hohe Wangenknochen, ein energisches Kinn. Ja, der Portraitierte war regelrecht schön gewesen – nur – die militärische Mütze mit dem Adlerzeichen darauf, die war doch die eines Deutschen! Marie las hastig das Datum unter der Signatur: 25. Dezember 1943. Weihnachten. Im Krieg! Was hatte Elodie Weihnachten 1943 bei diesem deutschen Offizier gemacht? Hatte er sie gezwungen, ihn zu portraitieren? Aus einer Ahnung heraus wandte Marie das Blatt um. Und da stand es: »Pour mon amour.« Für meinen Geliebten.

Erschrocken ließ sie das Blatt los. Es glitt zu Boden, von wo aus der deutsche Offizier sie höhnisch anzusehen schien. »Nein, das ist unmöglich«, wies Marie sich zurecht und bückte sich nach der schockierenden Zeichnung. Sie verglich die Signatur mit der Schrift auf der Rückseite. Doch ja, dieselbe Schrift, kein Zweifel. Pour mon amour.

»Hier stimmt etwas nicht. Dafür gibt es eine andere, sinnvolle Erklärung«, sagte Marie sich laut, legte fast böse das Portrait zurück in die Mappe, schlug diese zu, warf sie in die Truhe auf den bereits durchgesehenen Stapel, wuchtete die Heiligenfigur darauf, schloss die Schranktüren und drehte den klemmenden Schlüssel. »Nicht zu fassen«, murmelte sie befremdet und beschloss, im Garten Unkraut mit Wurzel auszugraben, anstatt den zweiten Stapel Mappen durchzusehen, der ruhig länger in der Truhe vor sich hinmodern sollte!


Florian hatte die kleinen Straßen genommen. Er hatte die normannische Schweiz kennengelernt, eine Gegend mit sanft geschwungenen Hügeln, weidenden Kühen und Pferden und weiten Aussichten. In der Bucht von Avranches hatte er die berühmte Silhouette des MontSaint-Michel erspäht, jener beeindruckenden Klosteranlage, die auf einer Flutinsel aus Granitfelsen errichtet war und deren höchster Turm wie ein Pfeil in den lichtdurchfluteten Himmel geragt hatte. Dann war er entspannt die Bucht von Cancale entlang gefahren, hatte die alten Windmühlen an den Straßenrändern ebenso bestaunt wie in den kleinen Badeorten die phantasievollen Villen mit ihren Aussichtstürmchen und den großen Balkons. In Saint-Malo hatte er auf der hohen Altstadtmauer gesessen und ein riesiges Eis gegessen, mit Blick auf das glitzernde Meer mit den kleinen Granitinseln darin, bis – und das war ein Schock gewesen – eine große Sturmmöwe ihn attackiert und einen Teil seiner Eiswaffel erbeutet hatte. Zwei äußerst hübsche Bretoninnen hatten ihn gefragt, ob alles »bien« sei; und er hatte die Hürden der Sprachlosigkeit empfunden und kein vernünftiges Wort den beiden Schönen gegenüber herausgebracht.

Später am Tag hatte es dann noch einen Schrecken gegeben, als er die – zumindest kostenfreie – bretonische Autobahn benutzt hatte, aber dafür mit mehr als hundertzehn Kilometern pro Stunde über der Schlucht von Saint-Brieuc geblitzt worden war. Sorry nochmals, Boris. Seitdem fuhr er wieder auf kleinen Straßen; zu weit nördlich, er wusste es, aber er hatte ja Zeit; und die Aussichten, die er soeben genoss, waren atemberaubend. Die ganze Steilküste und die ihr vorgelagerten Inseln, alles war aus rosa Granit! Im goldenen Abendlicht erglühte der Stein fast orangefarben. Die Versuchung auszusteigen, sich auf einen der orange-rosa Felsen zu setzen und den Sonnenuntergang zu erwarten, war schon groß. Aber er widerstand ihr; er wollte nicht erst spät in der Nacht in Mengleuff ankommen.

Andererseits hatte er Zeit genug, um die Eindrücke auf sich wirken zu lassen. Fortan fuhr Florian langsam, langsamer als erlaubt, und den einen oder anderen Fahrer hinter ihm nervte das. Die meisten überholten ihn einfach und gut war’s. Aber irgendwann war da dieser eine, der sich auf das Lichthupen versteifte. Florian war empört und fuhr erst recht nicht schneller. Da setzte der Hintermann im großen Renault endlich zum Überholen an. Shit. Der Renault blinkte nach rechts, als Signal, auch Florian solle an den Rand fahren. Es war ein Auto der Gendarmerie. Florian blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Er hielt hinter dem Polizeiwagen, und prompt stiegen aus dem gleich zwei Gendarme aus. Florian ließ resigniert die Seitenscheibe herunter.

»Vos papiers!« Der eine der beiden war an sein Fenster getreten und streckte fordernd die Hand aus.

»Sorry, but I wasn’t too fast«, stellte Florian klar, beugte sich aber trotzdem zu seiner Tasche, die auf dem Beifahrersitz lag. Durch das Beifahrerfenster schaute nun der zweite Gendarm in den Cayenne, mit verschränkten Armen, in einer selbstgefälligen Pose. Florian konnte nicht umhin, den Mann halb amüsiert, halb verächtlich anzugrinsen – was der überraschenderweise erwiderte.

Florian reichte dem Gendarm an seiner Seite des Autos seinen Führerschein. Der nahm sich Zeit, das Dokument zu studieren, oder zumindest so zu tun, als täte er das. Dann verkündete er endlich:

»Quatrevingt-dix. Vous pouvez rouler à quatrevingt-dix, pas à soixante. Ninety, d’accord? Bonnes vacances«, der Gendarm nickte und ging tatsächlich zurück zum Streifenwagen.

Florian atmete auf. Der andere Gendarm mit dem unerwarteten Grinsen nickte Florian seinerseits zu, grinste nochmals breit und unwiderstehlich und folgte seinem Kollegen. Florian schüttelte den Kopf und musste lachen.

Wenig später lachte er nicht mehr, denn er hatte sich hoffnungslos verfahren und fand die bretonische Ausschilderung miserabel.


Marie streckte sich und massierte sich den unteren Rücken. Nur noch die Hortensien gießen, dann war es mit der Gartenarbeit genug. Mit beiden Gießkannen ging sie zu der quietschenden Wasserpumpe. Die vollen Kannen schleppte sie um das Haus herum zu ihren geliebten Blumen, die sie reichlich begoss. Kurz begrub sie die Nase zwischen den duftenden Blütenblättern. Eine leichte Brise schien direkt vom Meer hochzuziehen und fuhr ihr durch das verschwitzte Haar. Marie beschloss, noch hinunterzugehen, in ihre kleine Lieblingsbucht am Fuße der Steilküste, und zu baden.


»Plouescat« stand auf dem Ortsschild, an dem Florian vorbeifuhr. Er stoppte und studierte die Landkarte. Verdammt, wo war das? War das Kaff zu klein, um in der Karte verzeichnet zu sein? Im Zentrum von Plouescat wendete Florian und fuhr die Strecke, die er gekommen war, zurück.

Cléder. Kurz darauf passierte Florian die Stelle, an der ihn die Gendarme gestoppt hatten. Saint-Pol-de-Léon, las er einige Zeit später, aber hier hatte er nicht hinfahren wollen. Dann eine Kreuzung. Links ging es nach Santec, rechts nach Plouénan, geradeaus nach Roscoff. Florian entschied sich für Roscoff. Als er das Städtchen erreicht hatte, wusste er, dass er noch falscher war als zuvor. Er war auf einem Zipfel ganz im Norden gelandet; vom Hafen aus meinte er fast, Großbritannien am Horizont zu erahnen. Das konnte aber nur Einbildung sein, das Licht der Abendsonne auf dem Meer blendete ihn.

An einem Restaurant in Hafennähe pries eine Tafel in ungelenken Buchstaben ein Menu touristique für zehn Euro an. Immerhin, das kam gut; Florian hatte großen Hunger und Durst. Er parkte den Cayenne vor dem Restaurant und betrat es.

»Tiens, bonsoir, Monsieur«, begrüßte ihn laut eine Stimme. Der Gendarm, der vorhin seinen Führerschein kontrolliert hatte!

»Bonsoir«, gab Florian perplex zurück.

»Sit down, s’il vous plaît«, forderte der Gendarm ihn auf, und der andere, der mit dem ansteckenden Grinsen, schaute kurz von seinem Teller auf und nickte ihm zu. Sollte er wirklich? Im Grunde hatte er keine Wahl, denn der laute Gendarm winkte schon der Bedienung, die vor Florian ein weißes Papierdeckchen ausbreitete. »Le plat du jour, c’est très bon«, verkündete der Mann dann, bevor Florian etwas sagen konnte.

Achselzuckend fügte Florian sich. Was würde als nächstes passieren? Während er auf sein Essen wartete, entlockte der Laute ihm mit Gesten und einer Mischung aus Französisch und Englisch sein Reiseziel und amüsierte sich köstlich darüber, dass der Deutsche sein Navigationsgerät nicht beherrschte. Dass der Porsche nicht ihm gehörte, wollte Florian nicht erklären. Dann kam die Bedienung mit zwei Gläsern, einem für Wasser und einem für Wein. Prompt bot der Laute Florian Wein an, aber der schüttelte dankend den Kopf und griff nach der Wasserkaraffe.

»Sie trinken unter Polizeischutz, da kann Ihnen nichts passieren.«

Das war plötzlich der andere Gendarm gewesen, und er hatte wieder dieses breite Grinsen im Gesicht.

»Sie sprechen Deutsch?«, stieß Florian aus.

»Ah, lui! Il adore tous ce qui est allemand«, rief der laute Polizist aus.

»Er sagt, ich liebe alles Deutsche. Olivier Rivoal.« Rivoal legte das Messer beiseite und hielt Florian die Hand hin.

Es wurde ein überraschend unterhaltsames Abendessen. Olivier Rivoal erwies sich als zuverlässiger Übersetzer und amüsanter Unterhalter. Es war seine Idee, sie sollten sich nach Feierabend alle (einschließlich Florian) mit den Vornamen ansprechen. Dass sie dabei trotzdem beim »Sie« blieben, belustigte Florian insgeheim. Der andere Gendarm hieß André; und Florians Namen sprachen die Bretonen französisch aus, mit Nasal am Ende.

Nachdem sie bezahlt hatten, fragte Florian Olivier verlegen, ob der ihm helfen könne, das Navigationsgerät des Porsches zu bedienen.

»Warum, Sie können das wirklich nicht?«, fragte Olivier ungläubig.

»Nein. Für gewöhnlich lese ich lieber Landkarten.«

Olivier verkniff sich eine weitere Bemerkung und kam zum Cayenne mit, um im Handumdrehen »Mengleuff« in das Navi einzuprogrammieren.

»Vielen Dank«, sagte Florian erleichtert, nachdem das gemacht war. In diesem Moment überquerte eine Frau mit Hund nahe bei ihnen die Straße.

Es war noch nicht ganz dunkel, das letzte Rot des Sonnenuntergangs am Himmel zu sehen, und Florian konnte erkennen, dass die Frau lange Haare hatte und figurbetonend gekleidet war. Sie warf ihnen, oder dem Auto, über die Schulter hinweg einen neugierigen Blick zu.

»Seien Sie vorsichtig«, tuschelte Olivier.

»Wie bitte? Was meinen Sie?«, fragte Florian laut.

»Ich meine die bretonischen Frauen. Sie sind sehr schön und flirten gern, aber viele sind Zicken«, raunte Olivier.

»Ich will ganz bestimmt nicht flirten«, wehrte Florian ab und wollte schon erklären, dass er verheiratet sei – da durchfuhr ihn die schmerzliche Erkenntnis, dass er im Grunde ja ein Anrecht auf Flirten hatte, da Katharina einen anderen liebte. Was für ein Blödsinn, wies er sich sofort innerlich zurecht. Er war Katharina niemals fremdgegangen, er würde es auch jetzt nicht tun.

Olivier zuckte die Achseln. »Sie wollen nicht flirten? Aber das liegt nicht in Ihrer Hand, Florian, das entscheiden die bretonischen Zicken! Glauben Sie mir, ich weiß Bescheid, ich war mit einer verheiratet!«

Florian lachte gezwungen. Olivier war also ein geschiedener Mann. Armer Kerl.

Sie verabschiedeten sich herzlich voneinander, und Florian ließ sich vom Navi auf die richtige Landstraße leiten.


Die viele Gartenarbeit, das Schwimmen und ein reichhaltiges Abendessen hatten Marie so müde gemacht, dass sie schnell in einen Halbschlaf fiel. Doch in diesem Zustand zwischen Wachen und Träumen tauchte plötzlich das markante Gesicht des deutschen Offiziers auf, den Elodie Weihnachten 1943 portraitiert hatte. Das Gesicht wurde lebendig, die hellen Augen sahen Marie spöttisch an, der Mund bewegte sich zu einem Flüstern. »Mon amour«, hauchte der Offizier Marie zu, die die Augen aufriss und für einen Moment wieder hellwach war. Dann wälzte sie sich im Bett herum und versuchte, an nichts mehr zu denken.


Mengleuff. Erleichtert las Florian den winzigen Wegweiser, der nach rechts in die unbeleuchtete Nacht wies. Zuletzt war er durch Telgruc gefahren, ein Nest, von dem Boris gesagt hatte, Mengleuff sei fast ein Teil davon, so nahe liege es dabei. Von wegen! Aber gut, er hatte sein Ziel trotz allem gefunden. Der Cayenne holperte in eine Senke. Erste links, Rechtskurve, dann links auf den Hof einbiegen und du stehst vor dem Haus, hatte Boris gesagt. Das Navi war bereits am Ziel angekommen; einen Straßennamen und eine Hausnummer hatte Olivier nicht eingeben können, weil es in Mengleuff beides nicht gab.

Müde lenkte Florian den breiten Wagen in ein Gässchen, das immer enger wurde. Dann kam die angekündigte Rechtskurve und Florian fühlte sich stark beengt, als er zwischen dichten Büschen hindurchfuhr. Er sorgte sich um die Rückspiegel und lauerte auf die Hofeinfahrt, die er endlich erahnte, hinter einem weiteren großen Busch. Erleichtert zog er daran vorbei, registrierte aber erschrocken, dass die Pflanzen an dem Cayenne kratzten. Hoffentlich war der Lack nicht beschädigt, Boris würde ihn sonst killen! Florian parkte direkt vor dem kleinen Bruchsteinhaus, das im Scheinwerferlicht angestrahlt wurde, ehe es in der Nacht versank, als er den Motor ausmachte.


Hatte sie das tiefe Brummen eines Motors gehört? Mitten in der Nacht? Unmöglich. Marie wälzte sich auf die andere Seite und versuchte, endlich zu schlafen.

1 Setze ein Dach, wenn du baust, wenn du baust, setze ein Dach.

Woanders am Ende der Welt

Подняться наверх