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1.: Der Mann, den ihr fürchtet

Von allen Dingen, die unter der Krümmung der Firmamente vor das Auge treten können, gibt es nichts, das den menschlichen Geist mehr in Erregung versetzt, das auf schändlichere Weise die Sinne entzückt, das noch mehr Entsetzen, mehr Schrecken oder Bewunderung auslöst, als jene Ungeheuer, Wunderwesen und Greuelgestalten, in denen wir die Kräfte der Natur in ihr Gegenteil verkehrt, verstümmelt und beschnitten sehen.

Pierre Boaistuau, Histoires Prodigieuses, 1561


Die Hölle, das war für mich der Keller meines Großvaters. Es stank dort wie in einer öffentlichen Toilette, und es war genauso schmutzig. Der nasskalte Betonboden war mit leeren Bierdosen übersät, und alles war von einem fettigen Film überzogen, der wahrscheinlich seit der Kindheit meines Vaters nicht mehr weggewischt worden war. Man konnte diesen Keller nur über wackelige Holzstufen erreichen, die lose an der rauen Steinwand befestigt waren, und außer für meinen Großvater war der Zutritt allen verboten. Das war seine Welt.

Von der Wand baumelte gut sichtbar eine abgenutzte rote Klistierspritze herab, ein Zeichen seines völlig unberechtigten Vertrauens darin, dass nicht einmal seine Enkel es wagen würden, diese Räume zu betreten. Weiter rechts stand ein verzogener, weißer Medizinschrank; in ihm lag ein Dutzend alter Schachteln mit Mailorder-Kondomen, die sich hart an der Grenze zur Auflösung befanden; eine gefüllte, rostige Dose mit Deospray für Frauen; eine Hand voll Latexhandschuhe, die Ärzte gewöhnlich bei Darmuntersuchungen verwenden; und eine Friar-Tuck-Spielzeugpuppe, aus der ein steifer Schwanz hervorsprang, wenn man ihren Kopf herunterdrückte. Hinter den Stufen verbarg sich ein Regal mit ungefähr zehn Farbdosen. Wie ich später entdeckte, enthielt jede von ihnen zwanzig Pornofilme im 16-Millimeter-Format. Das alles wurde gekrönt von einem schmalen, quadratischen Fenster. Es sah aus wie gefärbtes Glas, tatsächlich aber war es von grauem Ruß bedeckt, und wenn man da hindurch spähte, hatte man das Gefühl, als würde man aus der Dunkelheit der Hölle hinaufschauen.

Am meisten jedoch faszinierte mich die Werkbank. Sie wirkte alt und primitiv, als sei sie vor Jahrhunderten gezimmert worden. Darauf befand sich ein dunkeloranger zerfranster Läufer, der dem Haar einer Struwwelpeter-Puppe glich, nur mit dem Unterschied, dass er von den Werkzeugen, die jahre­lang auf ihm herumgelegen hatten, völlig verschmutzt war. In die Bank war ziemlich ungeschickt eine Schublade eingebaut worden, die immer verschlos­sen blieb. Oben an dem Dachsparren hing ein billiger, lebensgroßer Spiegel mit einem hölzernen Rahmen, der nicht an der Wand, sondern an der Decke festgenagelt worden war – aus welchem Grund, darüber konnte ich nur spekulieren. Hier fingen mein Cousin Chad und ich an, jeden Tag auf immer riskantere Weise in das Doppelleben meines Großvaters einzudringen.

Ich war ein dürrer Dreizehnjähriger mit Sommersprossen und einem Suppentopfschnitt, den mir meine Mutter mit der Blechschere verpasst hatte; er war ein dürrer Zwölfjähriger mit Sommersprossen und Hasengebiss. Während wir aufwuchsen, war es unser sehnlichster Wunsch, später einmal als Geheimpolizisten, Spione oder Privatdetektive zu arbeiten. Um unserem Ziel näherzukommen, wollten wir uns in den entsprechenden Observationstechniken schulen – bis wir zum ersten Mal mit diesem Abgrund konfrontiert wurden.

Eigentlich hatten wir nur die Treppen hinunterschleichen und Großvater ausspionieren wollen, ohne dass er davon etwas merken sollte. Als wir aber erst einmal die Dinge entdeckt hatten, die dort verborgen waren, änderten sich unsere Motive. Wenn wir nach der Schule unsere Ausflüge in den Keller machten, waren wir Teenager-Jungs, die nach Pornografie suchten, um darauf abspritzen zu können. Zugleich aber empfanden wir für unseren Großvater auch eine morbide Faszination.

Fast jeden Tag machten wir neue und groteske Entdeckungen. Ich war nicht sehr groß, aber wenn ich vorsichtig auf dem hölzernen Stuhl meines Großvaters balancierte, konnte ich gerade in die schmale Lücke zwischen dem Spiegel und der Decke fassen. Dort fand ich einen Stapel bestialischer Schwarzweißbilder. Es waren keine Zeitschriftenfotos: Ganz offenbar handelte es sich dabei um einzeln nummerierte Aufnahmen, die sorgfältig aus einem Mailorder-Katalog ausgewählt worden waren. Darunter befanden sich Fotografien aus den frühen Siebzigern, auf denen Frauen mit gespreizten Beinen die Schwänze riesiger Hengste ritten und Schweineschwänze saugten, die wie weiche, fleischige Korkenzieher aussahen. Ich hatte schon einmal in Playboy oder Penthouse geblättert, aber das hier spielte in einer ganz anderen Liga. Das war nicht einfach nur obszön, sondern surreal – diese ganzen Frauen strahlten mit dem wirklich unschuldigen Lächeln von Blumenkindern in die Kamera, während sie den Tieren einen bliesen und sie fickten.

Hinter dem Spiegel waren auch Fetischmagazine wie Watersports oder Black Beauty versteckt. Anstatt die kompletten Hefte zu stehlen, nahmen wir eine Rasierklinge und schnitten bestimmte Seiten aus. Dann falteten wir sie in kleine Quadrate und versteckten sie unter den großen, weißen Felsen, die an der Auffahrt zur Garage meiner Großmutter standen. Jahre später, als wir an der gleichen Stelle nach ihnen suchten, waren sie noch immer da – verwittert, zerfranst, voller Schnecken und Regenwürmer.

An einem Herbstnachmittag, als Chad und ich nach einem besonders ereignislosen Schultag am Esszimmertisch meiner Großmutter saßen, wollten wir endlich herausfinden, was sich in der verschlossenen Schublade an der Werkbank befand. Stets darauf bedacht, ihre Brut zu mästen, stopfte uns Großmutter – sie hieß Beatrice – andauernd mit Fleischklößen und einem widerlichen Fruchtsirup voll, der größtenteils aus Wasser bestand. Sie stammte aus einer reichen Familie und hatte haufenweise Geld auf der Bank liegen, aber sie war so geizig, dass bei ihr eine Flasche Sirup monatelang ausreichen musste. Meistens trug sie kniehohe Strümpfe, die bis zu den Fußknöcheln heruntergerollt waren, und merkwürdige graue Perücken, die ihr offenkundig nicht passten. Die Leute haben mir immer gesagt, dass ich ihr ähnlich sehe, denn wir waren beide dünn und hatten den gleichen schmalen Gesichtsschnitt.

Solange ich hier ihr ungenießbares Essen in mich hineinzwängte, hatte sich in dieser Küche nie etwas verändert. Über dem Tisch hing ein vergilbtes Bild vom Papst, das in einen billigen Messingrahmen eingefasst war. Ein imposant wirkender Stammbaum, der die Wurzeln der Familie Warner nach Polen und Deutschland zurückverfolgte (wo sie noch die Wanamakers genannt wurden), klebte direkt daneben. Im Zentrum der Aufmerksamkeit aber stand ein großes, hohles, hölzernes Kruzifix mit einem goldenen Jesus. Das Holzgestell war mit einem toten Palmenzweig umwickelt. Unter einem kleinen Schiebedach verbargen sich eine Kerze und eine Schale mit Weihwasser.

Gleich unter dem Küchentisch lief ein Heizungsschacht entlang, der direkt zu der Werkbank im Keller führte. Durch diesen Hohlraum hindurch konnte man das trockene Aufhusten meines Großvaters hören. Er ließ den CB-Funk laufen, aber er sprach nie in das Gerät hinein, sondern hörte nur zu. Als ich noch sehr jung war, hatte er wegen Krebs im Krankenhaus gelegen, und solange ich mich erinnern kann, bekam ich niemals seine wirkliche Stimme zu hören, nur dieses schartige Keuchen, das er durch seinen Luftröhrenschnitt presste.

Wir warteten, bis wir hören konnten, dass er den Keller verlassen hatte, ließen unsere Fleischbällchen stehen, schütteten den Sirup in den Heizungsschacht und wagten uns nach unten. Wir konnten hören, wie unsere Großmutter vergeblich hinter uns herrief: »Chad! Brian! Macht eure Teller leer!« Wir hatten Glück, dass sie an diesem Nachmittag nur schrie. Normalerweise, wenn sie uns beim Essenstehlen erwischte, wir eine freche Antwort gaben oder sonst irgendeinen Mist bauten, mussten wir in der Küche fünfzehn bis sechzig Minuten lang vor einem Besenstiel in die Hocke gehen, was uns ständig zerschundene und verschorfte Knie einbrachte.

Chad und ich arbeiteten schnell und ruhig. Wir wussten, was zu tun war. Nachdem wir uns einen verrosteten Schraubenzieher geschnappt hatten, stemmten wir die Schublade der Werkbank weit genug auf, um gerade so hineinspähen zu können. Das Erste, was wir sahen, war Zellophan, jede Menge davon, das um irgendwas herumgewickelt war. Wir konnten es aber nicht genau erkennen. Chad schob den Schraubenzieher tiefer in die Schublade. Nun waren Haare und Bänder zu sehen. Er zwängte das Werkzeug noch weiter hinein, und ich zog an, bis die Schublade endlich nachgab.

Was wir nun entdeckten, waren Bustiers, Büstenhalter, Slips und Höschen – sowie mehrere verhedderte Frauenperücken mit hart gewordenem, bunt geflecktem Haar. Wir fingen an, das Zellophan auszuwickeln, aber als wir erkannten, was darin verborgen war, ließen wir das Päckchen auf den Boden fallen. Keiner von uns beiden wollte es anfassen. Es waren mehrere Dildos mit Saugnäpfen unten dran. Vielleicht war ich einfach noch zu jung, aber sie kamen mir riesig vor. Und sie waren mit einem getrockneten, dunklen Schleim überzogen, fast wie die gelatineartige Kruste, die sich um einen Truthahn herum bildet, wenn er im Ofen gebacken wird. Später kamen wir zu dem Schluss, dass es sich um altes Vaseline handeln musste.

Ich überredete Chad, die Dildos wieder einzupacken und sie in die Schublade zurückzulegen. Für diesen Tag hatten wir genug geforscht. Genau in dem Moment, als wir die Lade verschließen wollten, drehte sich der Knopf an der Kellertür. Für einen Moment erstarrten Chad und ich vor Schreck, dann griff er hastig nach meiner Hand und zog mich unter einen Sperrholztisch, auf dem mein Großvater seine Spielzeugeisenbahn aufgebaut hatte. Das war gerade noch rechtzeitig genug, denn seine Fußschritte waren fast schon auf der untersten Stufe zu hören. Der Boden war mit Zubehör für seine Spielzeugeisenbahn übersät, größtenteils Kiefernnadeln und Kunststoffschnee, was ungefähr wie Krapfen mit Puderzucker aussah, die im Dreck zertrampelt worden waren. Die Nadeln pieksten an unseren Ellbogen, ein Ekel erregender Geruch lag in der Luft, und unser Atem ging schwer. Aber Großvater schien weder uns noch die halbgeöffnete Schublade zu bemerken. Wir hörten, wie er in dem Raum herumschlurfte und trocken durch das Loch in seinem Hals hustete. Es machte »Klick«, und die Spielzeugeisenbahn begann über die großen Schienen zu rattern. Seine schwarzen Lacklederschuhe traten direkt vor uns auf dem Boden auf. Wir konnten bis zu seinen Knien hinaufsehen, aber glück­licherweise wussten wir, dass er auf einem Stuhl saß. Seine Füße fingen langsam an, gegen den Boden zu schaben, als würde er gewaltsam in seinem Stuhl umhergeschaukelt werden, und sein Husten übertönte langsam das Rattern der Züge. Mir fällt einfach keine Beschreibung für die Geräusche ein, die sein nutzloser Kehlkopf machte. Der beste Vergleich, den ich anbieten kann, ist ein alter, vernachlässigter Gartenrasenmäher, der stotternd wieder zum Laufen gebracht wird. Aus dem Körper eines menschlichen Wesens klang das einfach monströs.

Nach zehn äußerst unangenehmen Minuten tönte eine Stimme von den Stufen herab. »Du treuloser Gottesverräter!« Es war meine Großmutter, offenbar hatte sie schon eine ganze Zeit lang nach ihm gerufen. Der Zug hielt an, und seine Füße kamen zur Ruhe. »Jack, was machst du da unten?«, kreischte sie.

Mein Großvater bellte verärgert durch sein Loch im Kehlkopf zurück.

»Jack, kannst du zu Heinies’s laufen? Wir haben schon wieder keine Limonade mehr.«

Erneut bellte mein Großvater zurück, diesmal noch verärgerter. Er rührte sich kein bisschen, schien aber zu überlegen, ob er ihr nun helfen soll oder nicht. Dann stand er langsam auf. Wir waren in Sicherheit, wenigstens für dieses Mal.

Nachdem wir unser Bestes versucht hatten, um den Schaden zu beheben, den wir an der Schublade in der Werkbank hinterlassen hatten, stiegen Chad und ich die Stufen hinauf und gingen zu dem Entlüftungsschacht, in dem wir unser Spielzeug versteckten – wobei wir mit Spielzeug natürlich unsere beiden Luftgewehre meinten. Außer der Möglichkeit, meinen Großvater auszuspionieren, verfügte das Grundstück meiner Großeltern über zwei weitere Attraktionen: den nahegelegenen Wald, in dem wir auf Tiere schossen, und die Mädchen in der Nachbarschaft, denen wir nachstellten, leider ohne Erfolg, das mit dem Sex sollte erst sehr viel später klappen.

Manchmal gingen wir in den Stadtpark hinter dem Wald und versuchten, auf Football spielende Kids zu schießen. Bis auf den heutigen Tag hat Chad eine Luftgewehrkugel im Brustkorb stecken, die sich zwischen der Haut und dem Knochen eingegraben hat. Denn wenn wir keine anderen Opfer finden konnten, zielten wir einfach gegenseitig auf uns. Dieses Mal blieben wir in der Nähe des Hauses und wollten die Vögel in den Bäumen abknallen. Das war böse und gemein, aber wir waren jung, und uns war alles scheißegal. An diesem Nachmittag war ich besonders blutrünstig, und unglücklicherweise lief uns ein Hase über den Weg. Der Prickel, den ich darüber empfand, dieses kleine Tierchen getroffen zu haben, stand in keinem Verhältnis zum Objekt. Ich ging trotzdem hin, um mir das Resultat meiner Heldentat anzusehen. Der Hase lebte noch, das Blut floss aus ­seinem Auge und sickerte auf das weiße Fell. Er klappte sein Mäulchen gutmütig auf und zu und schnappte in einem letzten, verzweifelten Überlebensversuch nach Luft. Zum ersten Mal fühlte ich Mitleid mit einem Tier, auf das ich geschossen hatte. Ich nahm einen großen, flachen Stein und beendete sein Leiden mit einem schnellen, lauten, nachlässigen Schlag. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich nicht wissen, dass ich bald eine noch härtere Lektion darüber lernen würde, wie jämmerlich ein Tier zugrunde gehen kann.

Wir rannten zum Haus zurück, wo meine Eltern bereits in einem braunen Cadillac Coupe de Ville – dem ganzen Stolz meines Vaters, nachdem er einen Job als Manager eines Teppichgeschäfts bekommen hatte – auf uns warteten. Wenn er mich abholen kam, setzte er nie seinen Fuß über die Türschwelle, es sei denn, es war absolut unvermeidbar. Überhaupt sprach er äußerst selten mit seinen Eltern. Meistens blieb er im Auto und wirkte auffällig unruhig, als würde er sich davor fürchten, dass ihm noch einmal das widerfahren würde, was er als Kind in diesem alten Haus erlebt hatte.

Unsere Wohnung lag nur ein paar Minuten entfernt, sie befand sich in einem Doppelhaus, und dort war es kein bisschen weniger klaustrophobisch als bei Großmutter und Großvater Warner. Statt nach ihrer Hochzeit das Elternhaus zu verlassen, hatte meine Mutter ihre Erzeuger mit nach Canton, Ohio, genommen. So lebten die Wyers (meine Mutter wurde mit dem Namen Barb Wyer geboren) gleich eine Tür weiter; das waren gütige Leute vom Land, und sie stammen aus West Virginia, weshalb mein Vater sie Hillbillies nannte. Ihr Daddy war Mechaniker und ihre Mutter eine übergewichtige, Pillen schluckende Hausfrau, die von ihren Eltern ständig in eine Kammer gesperrt worden war.

Chad wurde krank, so dass ich eine Woche lang auf meine Besuche bei den Großeltern Warner verzichten musste. Obwohl ich mich vor ihm ekelte und es mir eiskalt den Rücken herunterlief, wenn ich an ihn dachte, war meine Neugierde in Bezug auf meinen Großvater und seine Verkommenheit noch lange nicht befriedigt. Um die Zeit totzuschlagen, bis ich meine Untersuchungen weiter fortsetzen konnte, spielte ich im Hof mit Aleusha, die neben Chad eigentlich mein einzig richtiger Freund war. Aleusha war ein Malamut aus Alaska, so groß wie ein Wolf, und man konnte sie an ihren verschiedenfarbigen Augen leicht erkennen: Das eine war grün, das andere blau. Trotz meiner Liebe zu Aleusha jagte mir die Vorstellung, zu Hause bleiben zu müssen, einige Angst ein – denn zum Erntedankfest war mein Nachbar Mark von der Militärschule zurückgekommen.

Mark war ein pummeliger Junge mit fettigen, blonden Haaren und einem Suppentopfschnitt, aber ich schaute zu ihm auf, weil er drei Jahre älter und viel wilder war als ich. Oft beobachtete ich, wie er Steine nach seinem Schäferhund warf oder ihm Stöcke in den Arsch schob. Wir fingen miteinander zu spielen an, als ich acht oder neun war – nicht zuletzt, weil er Kabelfernsehen hatte und ich so gern Flipper sah. Das Fernsehzimmer befand sich im Erdgeschoss, in dem auch ein Lastenaufzug für dreckige Wäsche eingebaut war. Wenn wir die Sendung zu Ende gesehen hatten, erfand Mark abwegige Spielchen wie »Gefängnis«. Dabei musste man sich in den Aufzug quetschen und so tun, als wäre man im Knast. Natürlich handelte es sich nicht um ein normales Gefängnis: Die Wächter waren so streng, dass die Insassen kein Eigentum haben durften – nicht einmal Kleidung. Wenn wir also nackt im Aufzug saßen, ließ Mark seine Hand an meiner Haut entlanggleiten und versuchte meinen Schwanz zu betatschen und zu liebkosen. Nachdem ich ihn ein paar Mal hatte gewähren lassen, traute ich mich endlich, mich zu verweigern und erzählte alles meiner Mutter. Sie ging sofort zu Marks Eltern, und wenig später wurde er von seiner Familie, obwohl sie mich zuvor als Lügner bezeichnet hatte, auf die Militärschule geschickt. Von da an waren unsere Familien verfeindet, und ich konnte spüren, dass Mark mir vorwarf, ihn verraten und auf diese Weise dazu beigetragen zu haben, dass er weggeschickt wurde. Seit seiner Rückkehr hatte er nicht ein einziges Wort mit mir gewechselt. Er starrte mich heimtückisch durch das Fenster oder über den Zaun hinweg an, und ich lebte in der Furcht, dass er versuchen würde, sich an mir, an meinen Eltern oder an meinem Hund zu rächen.

Insofern war es eine Erleichterung für mich, als ich in der folgenden Woche zurück bei meinen Großeltern war und mit Chad wieder Detektiv spielen konnte. Diesmal waren wir wild entschlossen, das Geheimnis meines Großvaters ein für allemal zu lüften. Nachdem wir einen halben Teller vom Essen meiner Großmutter heruntergewürgt hatten, entschuldigten wir uns und begaben uns in den Keller. Schon auf den Stufen konnten wir die Züge hören. Er war da unten.

Wir hielten den Atem an und spähten in den Raum. Sein Rücken war uns zugewandt, und wir konnten sein blaugraues Flanellhemd sehen, das er immer anhatte, den ausgestreckten Hals, den gelbbraunen Ring, der unter dem Kragen zu erkennen war, und sein schweißbeflecktes Unterhemd. An ­seiner Kehle haftete ein weißes, ebenfalls verdrecktes Gummiband, das den Metallkatheterschlauch über dem Adamsapfel in der richtigen Stellung hielt.

Ein angespanntes, langsam aufsteigendes Gefühl der Angst ließ unsere Körper erschaudern. Das war es. Wir schlichen die knarrenden Stufen so leise wie möglich herunter und hofften, dass unsere Geräusche von der Spielzeugeisenbahn übertönt würden. Unten angekommen, drehten wir uns herum und versteckten uns in einer stinkenden, direkt hinter den Stufen gelegenen Nische, darum bemüht, nicht zu spucken oder zu schreien, als die Spinnweben an unseren Gesichtern kleben blieben.

Von unserem Versteck aus konnten wir die Eisenbahnanlage gut überblicken. Es gab zwei Gleise, auf beiden fuhren Züge, und während die Waggons die planlos verlegten Schienen herunterrasselten, entstand ein stechender, giftiger Geruch, als würde das Metall auf den Gleisen brennen. Mein Großvater saß in der Nähe des Transformators, in dem sich die Regler für die Züge befanden. Sein Nacken hat mich immer an eine Vorhaut erinnert. Das Fleisch hing runzlig von den Knochen herab, es war alt und ledrig wie Alligatorhaut und vollkommen rot. Sein restliches Gesicht war grauweiß wie Vogelscheiße, nur seine Nase war nach jahrelangem Trinken sichtlich verfallen und mit geplatzten Äderchen durchsetzt. Ein Leben, das von körperlicher Arbeit geprägt war, hatte Hornhaut und Schwielen an seinen Händen hinterlassen. Seine Fingernägel waren dunkel und brüchig wie Insektenflügel.

Großvater schenkte den Zügen, die wild um ihn herumkreisten, keine Aufmerksamkeit. Seine Hose war bis zu den Knien heruntergezogen, auf seinen Beinen lag ein aufgeschlagenes Magazin, und unter trockenem Husten rubbelte er mit der rechten Hand in seinem Schoß herum. In der anderen hielt er ein gelb verkrustetes Taschentuch, mit dem er den Schleim an seinem Luftröhrenschnitt wegwischte. Wir wussten, was er tat, und wir wollten sofort gehen. Aber wir waren hinter der Treppe gefangen und fürchteten uns zu sehr, um uns ins Freie zu wagen.

Plötzlich hörte das Husten stotternd auf. Großvater drehte sich in seinem Stuhl herum und starrte geradeaus auf die Treppe. Das Blut gefror uns in den Adern. Er stand auf, seine Hose rutschte bis zu den Fußknöcheln herunter, und wir pressten unsere Körper gegen die schimmelige Wand. Wir konnten nicht mehr erkennen, was er gerade tat. Mein Herz bohrte sich wie eine zerbrochene Flasche in meinen Brustkorb, und ich war zu paralysiert, um noch schreien zu können. Tausende von perversen und gewalttätigen Dingen würde er uns nun antun, schoss es mir durch den Kopf. Dabei hätte er mich nur berühren müssen, und ich wäre vor Angst auf der Stelle tot umgefallen.

Das Husten, Wichsen und Scharren setzte wieder ein, so dass wir ein wenig durchatmen konnten. Es war nun nicht mehr ganz so gefährlich, hinter der Treppe hervorzuspähen. Nicht, dass wir darauf noch große Lust gehabt hätten, aber uns blieb nichts anderes übrig. Nach mehreren quälend langen Minuten machte sein Kehlkopf ein grausiges Geräusch. So klingt sonst nur ein Auto, wenn jemand den Zündschlüssel dreht, obwohl der Motor schon an ist. Ich wandte meinen Kopf ab, aber es war bereits zu spät, um mir nicht den weißen Eiter vorzustellen, der wie das Innere einer zerquetschten Kakerlake aus seinem gelben, runzeligen Penis herauspresst wurde. Als ich wieder hinschaute, hatte er bereits sein Taschentuch gezückt – natürlich dasselbe, mit dem er den Schleim am Hals weggewischt hatte – und saugte damit die ganze Bescherung auf. Wir warteten, bis er gegangen war, kletterten mühsam die Stufen hoch und schworen uns, niemals wieder einen Fuß in den Keller zu setzen. Falls Großvater wusste, dass wir da unten gewesen waren, oder die kaputte Schublade an der Werkbank bemerkt haben sollte, dann hat er uns jedenfalls nie darauf angesprochen.

Auf der Heimfahrt erzählten wir unseren Eltern, was passiert war. Ich hatte das Gefühl, dass meine Mutter uns das meiste – wenn nicht sogar alles – glaubte. Mein Vater musste schon deshalb Bescheid wissen, weil er selber in dem Haus aufgewachsen war. Er sagte kein einziges Wort, aber meine Mutter erzählte uns, dass mein Großvater vor Jahren, als er noch als Lastwagenfahrer gearbeitet hatte, in einen Unfall verwickelt war. Als die Ärzte ihn im Krankenhaus auszogen, fanden sie Frauenwäsche unter seiner Oberbekleidung. Das war ein Familienskandal, über den niemand reden durfte, und auch wir wurden zu äußerster Geheimhaltung verpflichtet. Nach außen hin wurde alles entschieden abgestritten – und das bis auf den heutigen Tag. Chad muss­te seiner Mutter erzählt haben, was er gesehen hatte. Jedenfalls war es ihm auf Jahre hinaus verboten, sich mit mir zu treffen.

Als wir in unsere Auffahrt einbogen, suchte ich nach Aleusha, um mit ihr zu spielen. Ich fand sie am Gartenzaun, sie lag kotzend im Gras und krümmte sich vor Schmerz. Als der Tierarzt eintraf, war Aleusha tot, und ich brach in Tränen aus. Der Veterinär sagte, jemand habe sie vergiftet. Ich hatte das komische Gefühl zu wissen, wer dieser jemand war.

The Long Hard Road Out Of Hell

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