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2.: Wer sich hier auf Rockmusik einlässt, wird an die Luft gesetzt

Brian Warner war einfach nur Durchschnitt. Er war immer dürr wie eine Vogelscheuche. Manchmal habe ich ihn bei sich zu Hause besucht, und dann haben wir zusammen Platten gehört, Sachen wie Queensryche, Iron Maiden, jede Menge Judas Priest. Ich wusste viel mehr, was angesagt war, als er. Ich fand nicht, dass er musikalisch was draufhatte, und möglicherweise ist das auch heute noch so. Vielleicht hatte er einfach Glück.

Neil Ruble, Heritage Christian School, Klasse von 1987

Brian Warner und ich sind an der Christian School von Canton, Ohio, in die gleiche Klasse gegangen. Wir beide, Brian und ich, haben uns gegen den religiösen Druck aufgelehnt, der hier auf uns ausgeübt wurde. Er vermarktet sich, natürlich, als Satan. Ich habe mich gegen diese Vorstellung, dass es einen Gott und einen Teufel gibt, immer gewehrt – erst als Agnostikerin und zuletzt als Hexe.

Kelsey Voss, Heritage Christian School, Klasse von 1987

Ich würde Marilyn Manson gern fragen: »Habe ich dich jemals in deiner Entscheidung für diesen Lebensstil beeinflusst?« Ich frage mich immer wieder: »Gibt es irgendetwas, das ich hätte anders machen sollen?«

Carolyn Cole, ehemalige Schuldirektorin, Heritage Christian School

Jerry, manchmal glaube ich, wir bewegen uns jetzt sehr schnell auf ein Armageddon zu.

Ronald Reagan, im Gespräch mit Reverend Jerry Falwell

Der Weltuntergang trat nicht ein, so wie es uns prophezeit ­worden war.

In den Seminaren, die jeden Freitag an der Heritage Chris­tian School stattfanden, hatte man uns eingetrichtert, dass alle Anzeichen schon zu sehen waren. »Ihr werdet spüren, dass sich die Bestie aus dem Boden erhoben hat, denn das Knirschen ihrer Zähne wird über­all zu hören sein«, pflegte Miss Price ganze Stuhlreihen ängstlich geduckter Sechstklässler in ihrer drohend­sten, unnachgiebigsten Stimme zu warnen. »Und alle, Kinder und Eltern gleichermaßen, werden leiden. All jene, die keine Markierung bekommen haben, die nicht die magische Ziffer tragen, werden vor den Augen ihrer Familien und Nachbarn enthauptet.«

An diesem Punkt machte Miss Price eine Kunstpause, zog eines ihrer Schaubilder hervor und hielt die vergrößerte Fotokopie des Symbols UPC in die Höhe, wobei die Zahl am unteren Rand in die Ziffer 666 umgeschrieben worden war. Daran konnten wir erkennen, dass die Apokalypse unmittelbar bevorstand: Das UPC, so hatte man uns gelehrt, war das Zeichen der Bestie, von der die Offenbarung des Johannes sprach. In den Supermärkten seien bereits Maschinen installiert worden, die diesen Code entziffern und das Bewusstsein der Menschen kontrollieren könnten. Schon bald, warnte man uns, werde dieser satanische Preiscode unser Geld ersetzen, und jeder von uns müsste das Zeichen der Bestie auf der Hand tragen, um noch irgendetwas kaufen zu können.

»Wenn ihr Christus verleugnet«, pflegte Miss Price fortzufahren, »und diese Tätowierung auf eurer Stirn oder euren Händen tragt, dann wird es euch erlaubt sein, weiterzuleben. Aber dann werdet ihr auch« – und an diesem Punkt hielt sie eine Tafel mit einem vom Himmel herabsteigenden Jesus in die Höhe – »das ewige Leben verloren haben.«

In anderen Seminarstunden zeigte sie uns eine Tafel mit Zeitungs­ausschnitten. Sie dokumentierten den Attentatsversuch auf Ronald Wilson Reagan, den kurz zuvor John Hinckley jr. begangen hatte. Wieder hielt sie eines ihrer Schaubilder in die Höhe und las aus dem dreizehnten Kapitel der Offenbarung vor: »Wer Verstand hat, der überlege die Zahl des Tiers; denn es ist eines Menschen Zahl, und seine Zahl ist 666.« Die Tatsache, dass Ronald Reagans Vorname, Mittelname und Nachname aus jeweils sechs Buchstaben bestanden, musste einmal mehr dafür herhalten, dass unsere letzte Stunde geschlagen hatte, dass sich der Antichrist hier auf der Erde befand und dass wir uns innerlich auf die Ankunft Christi und den Freudentaumel vor­bereiten mussten. Meine Lehrer stellten das alles nicht so dar, als hätten wir es mit einer Meinung zu tun, die für Interpretationen offen steht, sondern als handelte es sich um ein unleugbares Schicksal, das uns durch die Bibel auferlegt worden ist. Sie brauchten keine Beweise; sie hatten den Glauben. Und die Erwartung der herannahenden Apokalypse erfüllte sie mit einer geradezu frivolen Vorfreude, denn sie waren davon überzeugt, dass sie gerettet würden – tot, aber im Himmel und von allen Leiden befreit.

Das war die Zeit, in der ich meine ersten Albträume bekam – Albträume, die mich bis auf den heutigen Tag verfolgen. Die Vorstellung eines nahenden Weltuntergangs und des Antichristen versetzte mich in Angst und Schrecken. Ich war davon regelrecht besessen, schaute mir Filme wie Der Exorzist oder Das Omen an und las prophetische Bücher wie die Briefe des Nostradamus, 1984 von George Orwell und die Romanfassung des Films A Thief In The Night, die sehr anschaulich beschreibt, wie Menschen geköpft werden, weil sie keine Tätowierung mit der Ziffer 666 auf der Stirn tragen. Das alles, nicht zuletzt unter dem Eindruck der Predigten, die jede Woche an der Christian School gehalten wurden, ließ die Apokalypse so wirklich, so greifbar er­scheinen, dass ich ständig von quälenden Träumen und Sorgen heimgesucht wurde, was geschehen würde, wenn ich herausfände, wer der Antichrist ist. Würde ich mein Leben aufs Spiel setzen, um die anderen zu retten? Vielleicht trug ich das Zeichen der Bestie schon irgendwo auf meinem Körper – unter meiner Kopfhaut oder an meinem Hintern, wo ich es nicht sehen konnte? Was wäre, wenn ich selbst der Antichrist bin? Ich war verängstigt und verwirrt, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass ich zu jener Zeit auch ohne den Einfluss der Christian School eine Aufwallung der Gefühle durchlebte, denn ich befand mich in der Pubertät.

Ein sicherer Hinweis darauf war, dass ich Miss Price trotz der Furcht ein­flößenden Seminare, in denen sie detailliert den unmittelbar bevor­stehenden Weltuntergang beschrieb, irgendwie sexy fand. Wenn ich sie so beobachtete, wie sie über die Klasse gebot, dann kam sie mir mit ihren geschürzten Lippen, dem perfekt gekämmten Haar, dem Seidenhemd, das nur notdürftig ihren Schlafzimmerkörper und einen Gang kaschierte, der »Steck ihn mir in den Arsch« zu sagen schien, wie eine siamesische Katze vor, und ich konnte erkennen, dass etwas sehr Lebendiges und Menschliches und Leidenschaft­liches in ihr darauf wartete, aus der unterdrückten christlichen Fassade auszubrechen. Ich hasste sie, weil sie mir während meiner ganzen Teenagerzeit diese fürchterlichen Angstvorstellungen bereitete. Aber ich glaube, ich hasste sie noch mehr wegen der vielen feuchten Träume, die sie in mir auslöste.


Ich gehörte der Episkopalkirche an, einer Art Katholizismus light (das gleiche Riesendogma, aber jetzt mit weniger Regeln). Die Schule selbst war nicht konfessionsgebunden, aber das konnte Miss Price von gar nichts abhalten. Manchmal begann sie den Religionsunterricht mit der Frage: »Sind hier irgendwelche Katholiken im Raum?« Wenn niemand antwortete, zog sie über Katholiken und Episkopalisten her und lehrte uns, dass diese die Bibel falsch auslegen und auch die falschen Idole verehren, weil sie den Papst und die Jungfrau Maria anbeten. Ich saß stumm auf meinem Stuhl, fühlte mich wie ausgestoßen, und war mir unsicher, ob ich nun auf Miss Price wütend sein sollte, oder ob ich es meinen Eltern übel nehmen musste, dass sie mich als Epis­kopalisten aufgezogen hatten.

Weitere persönliche Erniedrigungen brachten die Freitagsversamm­lungen, bei denen ehemalige Prostituierte, Drogensüchtige und Anhänger schwarzer Magie als Gastredner auftraten und über ihr sündiges Leben sprachen, bevor sie Gott und seinen Pfad der Tugendhaftigkeit gefunden hatten und auf diese Weise neu geboren worden waren. Es war wie ein Treffen anonymer Satanisten. Wenn sie mit ihrem Vortrag fertig waren, beugten alle ihre Köpfe zum Gebet nieder. Wer jetzt noch nicht neu geboren worden war, wurde von dem abgehalfterten Pfarrer, der das Seminar leitete, zum Händchenhalten und Gerettetwerden auf die Bühne gebeten. Jedes Mal wusste ich, dass ich eigentlich da oben hin gehörte, aber ich war viel zu verängstigt, um mich vor der ganzen Schule auf die Bühne zu stellen, und ich schämte mich zu sehr, um in aller Öffentlichkeit zuzugeben, dass ich in moralischer, geistiger und religiöser Hinsicht hinter allen anderen zurück war.

Der einzig positiv besetzte Ort war für mich die Rollschuhbahn. Aber selbst die war bald unauflöslich mit der Apokalypse verbunden. Es war mein größter Traum, einmal Champion im Rollschuhlaufen zu werden, und um dieses Ziel zu erreichen, nörgelte ich so lange herum, bis meine Eltern eine Summe, die sie für einen Wochenendausflug gespart hatten, für professionelle Rollschuhe im Wert von mehr als vierhundert Dollar verplemperten. Meine regelmäßige Partnerin beim Rollschuhfahren war Lisa, ein kränkliches Mädchen mit ständig auf­geschwemmtem Gesicht. Trotz dieser Makel gehörte sie zu den ersten Mädchen, in die ich richtig verknallt war. Sie kam aus einer strengen, religiösen Familie. Ihre Mutter war die Sekretärin von Reverend Ernest Angley, einem der be­kanntesten Gesundbeter, die damals im Fernsehen zu sehen waren. Nach den Übungen auf der Rollschuhbahn begannen unsere Pseudo-Dates üblicherweise damit, dass wir uns am Erfrischungsstand sogenannte »Suicides« mischten, farblose Kombinationen aus Cola, 7-Up, Sunkist und Root Beer, und meistens beschlossen wir den Nachmittag mit einem Besuch in Reverend Angleys extrem opulenter Kirche. Der Reverend war einer der unheimlichsten Menschen, die ich je getroffen habe. Seine perfekt gewachsenen Zähne leuchteten ihm wie Ballhauskacheln aus dem Mund; er hatte ein zerknautschtes Toupet, und es hing ihm wie ein Hut aus nassen Haaren auf dem Kopf, die irgendjemand in einer leergelaufenen Badewanne aufgelesen hatte; dazu trug er einen puderblauen Anzug mit einer minzgrünen Krawatte. Alles an ihm wirkte künstlich, allein schon dieser plastikartige, überkandidelte Name, bei dem man wohl an den Ausdruck »earnest angel« (»aufrichtiger Engel«) denken sollte.

Jede Woche rief er eine bunte Schar von Krüppeln auf die Bühne, um sie vor einem Millionenpublikum von Fernsehzuschauern zu heilen. Meistens bohrte er einem Tauben seinen Finger ins Ohr oder langte einem Blinden ins Auge, schrie Sätze wie »Böse Geister, kommt heraus« oder »Sagen Sie mal Baby« in die Kamera und popelte so lange mit seinem Finger in ihren Kör­per­teilen herum, bis seine Opfer auf der Bühne zusammensanken. Seine Pre­digten hatten den gleichen Inhalt wie die Seminare auf der Schule, denn der Reverend malte die Schrecken der Apokalypse in den grellsten Farben aus. Der einzige Unterschied bestand darin, dass überall um mich herum die Leute schrien, in Ohnmacht fielen und in Zungen redeten. An einem bestimmten Punkt warfen sie alle Geld auf die Bühne. Es regnete Hunderte von 25-Cent-Stücken und Dollarmünzen und bündelweise Banknoten, während der Re­­ve­rend unbekümmert seine Verkündigungen vom Firmament und der heiligen Raserei fortsetzte. An den Kirchenwänden hingen zahlreiche Lithographien, die er zum Kauf anbot und auf denen makabre Szenen dargestellt waren. Eine zeigte, wie die vier Reiter der Apokalypse durch eine kleine, meinem Heimat­ort Canton nicht unähnliche Stadt galoppieren und eine Spur aufgeschlitzter Kehlen hinter sich lassen.

Die Gottesdienste dauerten drei bis fünf Stunden. Wenn ich zwischen­durch einschlief, wurde ich gemaßregelt und in einen anderen Raum gebracht, wo man Seminare speziell für Jugendliche abhielt. Hier bekamen ich und noch ein Dutzend Kinder so lange und intensive Verwünschungen von Sex, Drogen, Rockmusik und der materiellen Welt zu hören, bis uns schlecht wurde. Es war fast wie bei einer Gehirnwäsche: Wir waren müde, und man gab uns ab­sichtlich nichts zu essen, damit wir hungrig und verletzbar wurden.

Lisa und ihre Mutter hatten sich der Kirche mit Haut und Haaren ver­schrieben, vor allem, weil Lisa halbtaub zur Welt gekommen war. Angeblich hatte der Reverend seine Finger in ihr Ohr gesteckt und während eines Gottes­dienstes ihr Hörvermögen wieder hergestellt. Da ihre Tochter regelmäßig zur Kirche ging und ihr ein göttliches Wunder zuteil geworden war, wurde ich äußerst herablassend behandelt, als seien sie bessere und rechtschaffenere Menschen als ich. Jedes Mal, wenn mich die beiden nach dem Gottesdienst zu Hause absetzten, stellte ich mir vor, wie Lisa von ihrer Mutter ermahnt wurde, ihre Hände zu waschen, weil sie mich berührt hatte. Das war ein quälender Gedanke, aber ich ging trotzdem mit zum Gottesdienst, denn neben den Übungen auf der Rollschuhbahn war das die einzige Gelegenheit, mit ihr zu­­sam­men zu sein.

Unsere Beziehung ging trotzdem bald in die Brüche. Manchmal gesche­hen einfach Dinge, die deine Meinung über eine Person verändern, die das Wunschbild, das man sich von jemandem gemacht hat, unwiederbringlich zerstören und einen zwingen, in einer solchen Person jenes fehlbare mensch­liche Wesen zu erkennen, das sie nun einmal ist. Es geschah, als wir eines Tages im Auto von Lisas Mutter vom Gottesdienst zurück nach Hause fuhren und auf dem Rücksitz herumalberten. Lisa machte sich über meine dünne Figur lustig, bis ich ihr die Hand auf den Mund legte, um sie zum Schweigen zu bringen. Als sie wieder zu lachen begann, spuckte sie plötzlich einen rie­sigen Propfen dickflüssigen, limonengrünen Rotzes auf meine Hand. Es war ein irrealer Anblick, und das machte die Angelegenheit noch widerlicher. Als ich meine Hand zurückzog, hing ein langer Faden, der wie ein zerquetschter Bratapfel aussah, zwischen meinen Fingern und ihrem Gesicht. Lisa, ihre Mutter und ich, wir alle waren entsetzt und peinlich berührt. Danach ging mir die Erinnerung an ihren Schleim, der sich gewebeartig zwischen meinen Fingern ausgebreitet hatte, nicht mehr aus dem Kopf. In meiner Vorstellung hatte sie sich entwürdigt und mir ihr wahres Gesicht gezeigt, sich als das Monster hinter der Maske offenbart, das ich in ihrem großen Retter, Re­verend Angley, schon immer erkannt hatte. Sie war kein bisschen besser als ich, auch wenn mir ihre Mutter das Gegenteil einreden wollte. Ich sprach kein Wort mehr mit ihr – weder damals noch irgendwann später.

Auch an der Schule hatte ein Prozess der Ernüchterung eingesetzt. Als ich die vierte Klasse besuchte, brachte ich eines Tages ein Foto mit in den Unter­richt, das Großmutter Wyer auf einem Flug von West Virginia nach Ohio geschossen hatte. Auf diesem Bild war eine Gestalt mit den schemenhaften Umrissen eines Engels zu sehen. Es war eines der Besitztümer, die mir am meis­ten ans Herz gewachsen waren, und ich war ganz aufgeregt, es meinen Lehrern zeigen zu können, denn ich glaubte immer noch alles, was sie mich über den Himmel gelehrt hatten. Ich wollte ihnen beweisen, dass meine Großmutter tatsächlich eine übersinnliche Erscheinung gesehen hatte. Aber sie sagten, das sei nichts als Unfug, schimpften mich aus und suspendierten mich wegen Blasphemie vom Unterricht. Das war mein aufrichtigster Versuch, in ihrer Vorstellung von Christentum einen Platz zu finden, ihnen zu beweisen, dass ich mit ihren Überzeugungen eine Ver­bindung spüre, und dafür wurde ich bestraft.

Das bestätigte nur, was ich immer schon ­­­ge­ahnt hatte – dass ich nicht, wie alle anderen, gerettet wer­den würde. Jeden Tag, wenn ich mit schlot­tern­den Knien zur Schule ging, weil ich mich vor dem Weltuntergang fürch­tete, wusste ich ganz ge­nau, dass ich nicht in den Him­mel kommen und auch meine Eltern nie wiedersehen würde. Aber als die Jahre ver­strichen, erst eins, dann noch eins, und die Welt und Miss Price und Brian Warner und die wieder ge­borenen Prostituierten immer noch da waren, fühlte ich mich betrogen und verarscht.

Allmählich begann ich mich gegen die Schule aufzulehnen und an allem zu zweifeln, was man mir dort beibringen wollte. Mir wurde klar, dass sie das Leiden, von dem sie mit ihren Gebeten erlöst werden wollten, sich selbst auferlegt hatten – und es nun an uns weitergeben wollten. Die Bestie, vor der sie sich so fürchteten, das waren in Wahrheit sie selbst. Es war der Mensch, nicht ein mythologischer Dämon, der sich am Ende selbst zerstören würde. Und die Bestie war nichts anderes als ein Produkt unserer Angst.

Die ersten Samen dessen, was ich heute bin, waren gesät.

»Narren werden nicht geboren«, schrieb ich eines Tages während des Ethik-­Unterrichts in mein Notizbuch. »Sie werden von Institutionen wie dem Chris­tentum gezüchtet und umhegt.« Noch am gleichen Abend offenbarte ich mich meinen Eltern. »Hört mich an«, sagte ich. »Ich will auf die Public School, denn ich gehöre nicht hierhin. Alles, was mir wichtig ist, wird von ihnen bekämpft.«

Meine Klagen stießen auf taube Ohren. Nicht so sehr, weil meine Eltern unbedingt darauf erpicht waren, dass ich religiös erzogen werden würde, son­dern weil sie wollten, dass mir die bestmögliche Ausbildung zuteil werde. Die Public School in Glen Oak East, dem Bezirk, in dem wir wohnten, hatte ein­fach einen zu schlechten Ruf. Und deshalb war ich wild entschlossen, genau diese Lehranstalt zu besuchen.

Das war der Punkt, an dem meine Rebellion begann. An der Christian Heri­­tage School gestaltete es sich nicht weiter schwierig, sich durch wider­spenstiges Verhalten aufzulehnen. Alles lief nach strengen Regeln und Ritu­alen ab und beruhte auf der Forderung nach bedingungsloser Konformität. Das fing schon mit dieser merkwürdigen Kleiderordnung an. Montags, mittwochs und freitags mussten wir blaue Hosen, ein weißes Button-Down-Hemd und etwas Rotes anziehen, wenn wir mochten. Dienstags und donnerstags standen dunkelgrüne Hosen und wahlweise ein weißes oder gelbes Hemd auf dem Pro­gramm. Wenn unser Haar so lang geworden war, dass es die Augen berühr­te, mussten wir es abschneiden. Niemandem war es erlaubt, besser oder anders zu sein als die Klassenkameraden. Diese Form der Erziehung war natürlich keine besonders hilfreiche Vorbereitung auf die wirkliche Welt. Jedes Jahr wur­de eine neue Generation von Absolventen mit der Erwartung auf die Welt losgelassen, dass alles im Leben gerecht verteilt und jeder gleich behandelt würde.

Der Krieg, den ich als Zwölfjähriger begann und der in meiner Jugend immer weiter eskalieren sollte, hatte zunächst das simple Ziel, dass ich von der Schule geworfen werden wollte. Es fing – ziemlich unschuldig – mit Süßig­keiten an. Ich hatte immer eine Art innerer Verwandtschaft mit Willy Wonka verspürt. Schon damals war mir klar, dass er so etwas wie ein Antiheld und ein Symbol des Verbotenen ist. In seinem Fall ging es nur um Schokolade, aber für mich war das eine Metapher für jede Art von Völlerei, für alles, was man nicht machen, besitzen oder zu sich nehmen darf, ob Sex, Drogen, Alkohol oder Pornografie. Jedes Mal, wenn Willy Wonka und die Schokoladenfabrik auf Star Channel oder in unserem heruntergekommen Stadtteilkino lief, schaute ich mir den Film bis zum Abwinken an und schaufelte tütenweise Bon­­bons in mich hinein.

Auf der Schule waren Bonbons und andere Süßigkeiten – mit Ausnahme der Little-Debbie-Kuchensnacks, die auf der Karte im Speisesaal angeboten wurden – verbotene Schmuggelware. Also machte ich mich regelmäßig zu Ben Franklin’s Five And Ten auf, einem Laden in der Nachbarschaft, der wie ein altes Sodageschäft aussah, und bepackte mich mit Pop Rockz, Zotz, Lik-M-Stix und diesen pillenähnlichen Pastellstreifen, die immer an der Verpackung festkleben und die man deshalb kaum zu sich nehmen kann, ohne nicht auch kleine Papierfetzen mitzuessen. Wenn ich es recht bedenke, fühlte ich mich besonders von Bonbons angezogen, die drogenähnliche Effekte produzierten. Das waren nicht einfach Süßigkeiten, denn sie erzeugten zusätzlich eine che­mi­sche Reaktion, sei es, dass sie im Mund zischten oder deine Zähne schwarz verfärbten.


So wurde ich zum Bonbondealer, der seine Ware zur Mittagessenszeit unter die Leute brachte. Ich konnte so viel verlangen, wie ich wollte, denn niemand sonst kam während der Schulstunden an Süßigkeiten heran. Schon im ersten Monat machte ich ein Vermögen und verdiente mindestens fünfzehn Dol­lar in 25-Cent- und 10-Cent-Münzen. Dann hat mich jemand verpfiffen. Ich musste meine ganzen Süßigkeiten und das Geld, das ich verdient hatte, bei der Schulleitung abgeben. Leider wurde ich nicht gefeuert, sondern nur für eine gewisse Zeit vom Unterricht suspendiert.

Mein zweites Projekt war eine Zeitschrift. Sie trug, ganz im Geist von Mad oder Cracked, den Namen Stupid. Ihr Wahrzeichen war ein Kind mit hervor­stehenden Zähnen, großer Nase, Akne und einer Baseballkappe auf dem Kopf, das mir nicht ganz unähnlich sah. Ich verkaufte jedes Heft für fünfundzwanzig Cents. Da ich die Seiten bei Carpet Barn, dem Teppichgeschäft, in dem mein Vater arbei­tete, kostenlos kopieren durfte, war das alles Reingewinn. Das Gerät, mit dem ich das Heft vervielfältigte, war billig und abgenutzt und strömte einen beißen­den, kohlenstoffartigen Geruch aus, aber wenn es darum ging, alle sechs Seiten mit Druckerschwärze vollzuschmieren, ließ es mich nie im Stich. An einer Schule, in der alle nach Schweinereien und dreckigen Witzen nur so darbten, schlug Stupid sofort wie eine Bombe ein – bis ich wieder aufflog.

Carolyn Cole, die Schuldirektorin, eine große, nachlässig wirkende Frau mit Brille, gekrümmter Haltung und braunem, gekräuseltem Haar, das sich über ihrem vogelartigen Gesicht in die Höhe türmte, rief mich in ihr Zimmer, wo bereits eine größere Abordnung des Verwaltungspersonals auf mich wartete. Sie drückte mir das Magazin in die Hand und verlangte von mir, dass ich ihnen die Cartoons über Mexikaner, die Kotstudien und ganz besonders die »Kuwatch«-Sex-Spielzeug-Abenteuer-Ausrüstung erklären sollte, die laut einer im Heft abge­druckten Anzeige aus einer Peitsche, zwei XXL-Dildos, einer Angelrute, zwei Brustwarzentroddeln, einer Schweißerbrille, Fischnetzstrümpfen und einer Hals­kette mit einem Hundepenis aus Bronze bestand. Ganz ähnlich, wie es mir als Musiker später immer wieder passieren sollte, wurde ich einem Verhör unter­zogen – ihnen war unklar, ob es sich bei meiner Arbeit um Kunst, Unterhaltung oder Satire handelte – und aufgefordert, meine Persönlichkeit zu erklären. Ich explodierte vor Wut und warf die Seiten in die Luft. Bevor das letzte Stück Papier wieder zu Boden geflattert war, befahl mir Miss Cole mit hochrotem Gesicht, mich an die Knöchel zu fassen. Aus der einen Ecke schnappte sie sich eine Schau­fel, die ein Freund im Heimwerkerunterricht so sadistisch konzipiert hatte, dass sie mit Löchern durchsetzt war, damit sich der Luftwiderstand vermindert. Mir wurden drei harte, christliche Prügel auf den Hintern versetzt.

Zu jener Zeit war ich für die Menschheit wahrlich verloren. Während der Freitagsseminare legten die Mädchen ihre Geldbörsen unter die Holz­stühle. Sobald sie ihre Köpfe wegbeugten, hangelte ich mich auf den Boden hin­unter und stahl ihnen das Geld für das Mittagessen. Wenn ich Liebesbriefe oder sonstige Notizen entdeckte, ließ ich das auch mitgehen, denn ich hielt es für ein Gebot der Fairness und der freien Meinungsäußerung, diese Zettel den Leuten zugänglich zu machen, um die es darin ging. Mit ein bisschen Glück konnte man so für ein bisschen Streit, Zwietracht und Terror sorgen.

Ich hörte schon seit Jahren Rockmusik, aber nun wollte ich – und das war mein vorletztes Projekt – damit auch Geld verdienen. Die erste Person, von der ich mir die entsprechenden Platten auslieh, war Keith Cost, ein trotte­liges Riesenbaby, das wie dreißig aussah, aber tatsächlich in die dritte Klasse ging. Nachdem ich zum ersten Mal Love Gun von Kiss gehört und mit dem Kinder­gewehr gespielt hatte, das der Platte beilag, wurde ich ordnungsgemäßes Mit­glied der »Kiss Army« und stolzer Besitzer zahlloser Kiss-Puppen, Comics, ­T-Shirts und Lunchdosen, die ich natürlich nicht mit in die Schule nehmen durfte. Mein Vater nahm mich sogar zu einem – meinem ersten – Konzert im Rahmen der 1979er-Kiss-Tournee mit. Ungefähr zehn Teenager fragten ihn nach einem Autogramm, denn er hatte sich wie Gene Simmons auf dem Album­cover von Dressed To Kill verkleidet – komplett mit grünem Anzug, schwarzer Perücke und weißem Make-up.

Die Person, die mich dazu brachte, mich unwiderruflich der Rockmusik und dem damit einhergehenden Lebensstil zu verschreiben, war jedoch Neil Ruble. Er rauchte Zigaretten, trug einen richtigen Schnurrbart, und angeblich hatte er bereits seine Jungfräulichkeit verloren. Ich musste ihn einfach ver­ehren. Er war für mich halb Freund, halb Tyrann, und er öffnete bei mir die Schleusentore für Dio, Black Sabbath, Rainbow – also eigentlich für alle Bands, bei denen Ronnie James Dio jemals gesungen hat.

Meine andere unfehlbare Quelle für Plattenempfehlungen war die Chris­tian School. Zur gleichen Zeit, als Neil mich in die Welt des Heavy Metal einführte, wurden wir mit Seminaren über verschlüsselte Botschaften in der Pop­musik bedacht. Unsere Lehrer brachten Platten von Led Zeppelin, Black Sabbath oder Alice Cooper mit in die Schule und ließen sie über die Ver­stär­keranlage dröhnen. Sie stellten sich abwechselnd vor die Plattenspieler, dreh­ten die Scheiben mit dem Zeigefinger in die umgekehrte Richtung und erklärten uns die auf ihnen verborgenen Botschaften. Die extremste Musik mit der satanischsten Message war gerade gut genug für mich, allein schon deshalb, weil sie verboten war. Wenn sie Fotos der einschlägigen Bands in die Höhe hielten, um uns Angst einzuflößen, erreichten sie damit erst recht das Gegenteil: Ich wollte lange Haare und einen Ohrring tragen, genau wie die Rockmusiker, die auf diesen Bildern zu sehen waren.

Ganz weit oben auf der Feindesliste meiner christlichen Lehrer standen Queen. Sie mochten ganz besonders »We Are The Champions« nicht, denn das war eine Hymne für Homosexuelle, und wenn man den Song rückwärts laufen ließ, konnte man Freddie Mercury mit der blasphemischen Liebkosung »my sweet satan« (»mein süßer Satan«) hören. Sicher, sie hatten uns schon erzählt, dass Robert Plant in »Stairway To Heaven« das Gleiche tut. Aber als das Gerücht, dass Freddie Mercury diese Worte spricht, in die Welt gesetzt war, mussten wir einfach das Stück immer wieder laufen lassen. In ihrer sata­ni­schen Plattensammlung waren auch das Electric Light Orchestra, David Bowie, Adam Ant und vieles mehr vertreten, was mit schwulen Themen zu tun hatte und ihnen wieder einmal die Gelegenheit gab, Homosexualität in eine direkte Verbindung mit der Sünde zu bringen.

Bald waren die Holzvertäfelungen und die Dachbalken in meinem Keller­zimmer mit Bildern aus Hit Parader, Circus und Creem vollgehängt, so dass ich jeden Morgen, wenn ich aufwachte, als erstes in die Gesichter von Kiss, Judas Priest, Iron Maiden, David Bowie, Mötley Crüe, Rush und Black Sab­bath schaute. Ihre geheimen Botschaften hatten mich erreicht.

Ein Großteil dieser Musik hat viel mit Fantasy zu tun, und das brachte mich wenig später mit dem Rollenspiel »Dungeons & Dragons« in Berührung. Wenn jede Ziga­rette einen Menschen sieben Sekunden seines Lebens kostet, dann ver­zögert jede Runde »Dungeons & Dragons« den Verlust der Jungfräulichkeit um sieben Stunden. Ich war dermaßen ein Verlierer, dass ich mit meinen zwanzig­eckigen Würfeln in der Tasche auf dem Schulgelände herumlief und sogar meine eigenen Module entwarf. Ich nannte sie Maze Of Terror, Castle Tene­mouse und Caves Of Koshtra; in meinem späteren Leben wurde der letztge­nannte Name ein Slangausdruck für den Zustand, in dem man sich befindet, wenn man zu viel Koks genommen hat.

Da ich »Dungeons & Dragons« spielte, auf Heavy Metal stand und mich weder an den Aktivitäten einschlägiger Jugendgruppen beteiligte, noch mich für politische Tätigkeiten wie das Verbrennen von Rockplatten engagierte, war es nicht weiter erstaunlich, dass mich keiner meiner Mitschüler ausstehen konnte. Genauso wenig passte ich zu den Kids von der Public School, die mich fast jeden Tag verprügelten, weil ich ein Waschlappen von der Privatschule war. Seitdem mich Lisa vollgeschleimt hatte, war ich auch nicht mehr oft zum Rollschuhlaufen gegangen. Der einzige Ort, an dem ich sonst neue Freunde hätte finden können, war eine Spiel- und Lerngruppe für Kinder von Eltern, die während des Vietnamkriegs mit Agent Orange in Berührung gekommen sind. Mein Vater Hugh war Hubschraubermechaniker und Mitglied der Ranch Hands gewesen, einer Geheimtruppe, die dafür verantwortlich war, dass über­all in Vietnam gefährliche Pflanzen­ver­nichtungsmittel abgeladen wurden. Vom Tag meiner Geburt bis zum Ende meiner Teenagerzeit brachte die Regierung meinen Vater und mich regelmäßig in ein Untersuchungszentrum, wo wir jähr­lich auf physische und psycho­logische Spätschäden durchgecheckt wurden. Ich glaube, dass bei mir bis heute nichts dergleichen aufgetreten ist, auch wenn meine Feinde vielleicht anderer Meinung sein mögen. Für meinen Vater jedoch hatte die Sache mit den chemischen Substanzen zumindest eine gravierende Kon­sequenz. Nachdem er seine Informationen über Agent Orange an die Öffent­lichkeit weitergegeben hatte, was unter anderem zu einer Titelgeschichte über ihn im Akron Beacon Journal führte, wurden seine Steuerzahlungen von ­seiten der Regierung und der Finanzbehörden ungewöhnlich hart überprüft.

Da ich keinerlei Missbildungen vorzuweisen hatte, gab es mit den Kids in der Studiengruppe kaum Gemeinsamkeiten; das Gleiche traf auf den in regelmäßigen Abständen eingerichteten Hort für Kinder zu, deren Eltern gegen die Regierung klagten, weil sie mit chemischen Schadstoffen in Berührung gebracht worden waren. Alle anderen trugen Prothesen, wiesen körperliche Unregelmäßigkeiten auf oder litten unter degenerativen Er­krankungen. Zu der Tatsache, dass ich vergleichsweise normal war, kam erschwerend hinzu, dass mein Vater nun einmal derjenige war, der ihre Väter, größtenteils Soldaten der amerikanischen Infanterie, mit diesem Zeug be­sprüht hatte.

Da ich ganz versessen darauf war, die Liste meiner Straftaten zu ­erweitern und meine ständig wachsende Geldgier zu befriedigen, weitete ich mein Tätig­keitsfeld vom Kleinhandel mit Süßigkeiten und Zeitschriften auf Musik aus. In meiner Gegend gab es nur noch zwei weitere Kids, die auf die Chris­tian He­ritage School gingen. Es handelte sich um zwei dünne, durch und durch ame­rikanische Mormonenbrüder mit den entsprechenden Rasier­mes­ser­schnitten. Jay, der ältere von den beiden, und ich hatten nichts gemeinsam. Er interessierte sich nur für die Bibel, ich mich nur für Rockmusik und Sex. Tim, der jüngere Bruder, war da schon rebellischer. Neil Ruble hatte mich ge­ra­de erst richtig auf Rockmusik angeturnt, da machte ich Tim auch schon mit Heavy Metal bekannt, und verbrachte die restliche Zeit damit, ihn ein­zu­schüch­tern. Da er zu Hause keine Musik hören durfte, verkaufte ich ihm ­einen billigen, schwarzen Kassettenrecorder mit großen, rechteckigen Druck­knöpfen und einem Haltegriff an der Seite. Als nächstes brauchte er nun ein wenig Musik, die er mit seinem neuen Gerät unter die Bettdecke nehmen konnte. Deshalb fuhr ich mit dem Fahrrad zu einem Laden namens »Quonset Hut«. Der Zutritt war für Minderjährige verboten, da sich in dem Platten­geschäft auch ein Headshop befand. Mein Aussehen entsprach genau meinem Alter, ich war fünfzehn, aber niemand hielt mich auf. Das hat mir keinen wei­te­ren Schaden zugefügt, denn die dort herumstehenden Pfeifen, Joint-Pinzetten und Bongs waren für mich ein komplettes Mysterium.

Als Tim anfing, mir die Tapes zu den überhöhten Preisen abzukaufen, die ich angeblich dafür gezahlt hatte, wurde mir klar, dass es auf der Schule min­destens hundert weitere potenzielle Kunden gab. Ich begann, alle Platten zu erwerben, die während der Seminare über verschlüsselte Botschaften zum Ein­satz gekommen waren, und verkaufte sie an alle möglichen Schulkids, von Dritt­klässlern bis hin zu den Jungs aus den oberen Jahrgängen. Ein Album von W.A.S.P., das ich für sieben Mäuse bei »Quonset Hut« erstanden hatte, war an der Christian Heritage School zwanzig Dollar wert.


Anstatt den Profit für meine eigenen Tapes zu verschwenden, fasste ich bald den Entschluss, die Musik, die ich gerade erst verkauft hatte, wieder zurück­ zu stehlen. Da es an der Schule einen Ehrenkodex gab, blieben die Schließ­fächer stets unverschlossen. Und weil es niemandem erlaubt war, Rock­musik zu hören, hätte sich jeder, der mich verpfiffen hätte, auch selber mit­belastet. So verschaffte ich mir während der Unterrichtszeit den Zugang zur Garderobe und stahl die Kassetten aus den Umkleideschränken.

Es war ein perfektes System, aber trotzdem ging die Sache nicht lange gut. Tim hatte beschlossen, dass es ihm, auch auf die Gefahr hin, selber be­straft zu werden, die Sache wert war, mich anzuzeigen. Wieder einmal saß ich im Büro der Schulleitung und sah mich mit Miss Cole und einer Schar von Verwaltungsangestellten und Zuchtmeistern konfrontiert. Aber dieses Mal musste ich ihnen nichts von der Musik erklären – sie glaubten zu wissen, um was es ging. Man hatte mich dabei erwischt, wie ich Tapes mit Rockmusik erworben, sie meinen Schulkameraden verkauft und sie ihnen wieder weg­genommen hatte; sie wussten, dass ich immer noch meine Magazine heraus­gab und meinen Handel mit Schweinkram auf Kassetten ausgedehnt hatte (sie enthielten jede Menge Ulk-Anrufe und dreckige Lieder über Selbstbefrie­digung und anderes hohles Zeug, die ich mit meinem Cousin Chad unter dem Namen Big Bert And The Uglies aufgenommen hatte). Während der letzten Monate war ich schon mehrfach im Büro der Schuldirektorin bestraft wor­den. Beim ersten Mal hatte ich versehentlich meine Musiklehrerin, Miss Bur­dick, mit einer Schleuder in den Schritt getroffen, die ich aus strapazier­fähigem Gummiband und einem Holzlineal gebastelt hatte; als Munition war ein Klumpen geschmolzener Kreidestifte zum Einsatz gekommen, den ich im Kunstunterricht gestohlen hatte. Das zweite Mal war fällig, nachdem ich Miss Burdicks Hausaufgabe, ein Album mitzubringen, bei dem die ganze Klasse mitsingen konnte, auf meine Weise gelöst hatte und mit Highway To Hell von AC/DC zurückgekommen war. Aber das alles zusammengenommen war offen­bar immer noch kein ausreichender Grund, für einen Rausschmiss.

Mein letzter, verzweifelter Streich bestand darin, dass ich noch einmal in den gefürchteten Keller meines Großvaters ging und den Dildo aus dem Ge­heim­fach in der Werkbank stahl. Diesmal trug ich Handschuhe, damit ich bloß nicht mit der verkrusteten Vaseline in Berührung kam. Am nächsten Tag schlichen Neil Ruble und ich uns nach der Schule in den Klassenraum von Miss Price und klemmten ihre Schreibtischschublade auf. Darin stießen wir auf ihre intimsten Geheimnisse, und sie waren an einer christlich geführten Schule min­destens genauso verpönt wie die Verkommenheiten meines Großvaters in der Welt der Vorstädte: Sie las halberotische Liebesromane. Wir fanden auch einen handlichen Kosmetiktaschenspiegel, was uns nicht weiter wunderte, denn Miss Price legte sehr viel Wert auf ihre Erscheinung. Zu jener Zeit versuchten Chad und ich auch die Aufmerksamkeit zweier Schwestern zu erregen, die in der Nähe meines Großvaters wohnten, indem wir die vorbeifahrenden Autos mit Steinen bewarfen, um einen Unfall zu provozieren und sie so nach draußen zu locken. Auf die gleiche kranke, verdrehte Weise war der Dildo, den wir in die Schublade von Miss Price gelegt hatten, die einzig mir zur Verfügung stehende Möglichkeit, mein verborgenes, frustriertes Verlangen nach ihr auszudrücken.

Zu unserer Enttäuschung wurde in der Schule am folgenden Tag kein Wort darüber verloren. Aber ich war definitiv der Hauptverdächtige, das wurde mir klar, als Miss Cole meine Eltern in die Schule bestellte. Der Dildo fand keine Erwähnung; stattdessen hielt sie ihnen lange Vorträge darüber, dass der jugendliche Kriminelle, den sie aufgezogen hatten, zur Disziplin gebracht und ihm die nötige Ehrfurcht vor Gott eingeimpft werden müsse. Das war der Punkt, an dem ich erkannte, dass sie mich niemals von selbst rauswerfen würden. Die Hälfte der Kids, die auf die Heritage Christian School gingen, kamen aus einkommensschwachen Familien, und die Regierung zahlte der Schu­le eine lächerliche Summe, damit sie dort aufgenommen werden. Ich war eines der Kinder, deren Eltern zahlen konnten, und dieses Geld wollten sie haben – selbst wenn das hieß, dass sie sich mit meinen Dildos, Heavy-Metal-Kassetten, Süßigkeiten, Schundmagazinen und schmutzigen Tonbandauf­nahmen herumschlagen muss­ten. Ich begann einzusehen, dass ich meinen eigenen freien Willen entwickeln musste, um dieser Lehranstalt zu entkommen. Zwei ­Mo­nate, nachdem ich in die zehnte Klasse versetzt worden war, setzte ich genau diesen Plan in die Tat um.

The Long Hard Road Out Of Hell

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