Читать книгу Als Vagabund in Uruguay, Paraguay und Argentinien - Nemo Niemann - Страница 5
ОглавлениеProlog
Unternimmt man heutzutage eine von Neu- und Wissbegier motivierte, untouristische Erkundungsreise in so europaferne Länder wie die des Cono del Sur – Lateinamerikas südlichen Zipfel –, möchte man gerne von sich glauben, dass man sich auf ein einmaliges Erlebnis und Abenteuer einlässt, sozusagen einen Bonsaihumboldt abgibt. Was für das reisende Individuum und seine eigene Lebensgeschichte so zutreffen mag und tatsächlich ja ein privater Luxus ist, scheint hingegen für das Kollektiv – die Familie, den Bekanntenkreis, die Gesellschaft und des Reisenden »globales Dorf« – ein Konsumartikel zu sein, den zu kaufen und zu geniessen jedermannsundfraus gutes Recht ist. Reisen als Konsumartikel jedoch, so empfindet der Autor es im Einklang mit H.M. Enzenzberger1, ist Selbstbetrug: Das Reisen von Anstrengungen, von Unbequemlichkeiten, unerwarteten Hürden und eigenen Erfahrungen zu trennen infantilisiert den Reisenden.
Seit Herodot haben kosmopolitische Reisende nicht nur Antworten für ihre Zuhörer und Leser von ihren Reisen mitgebracht, sondern auch Fragen. Und sie haben sich das Recht auf Subjektivität herausgenommen, die bei den Daheimgebliebenen häufig auf kritische Ablehnung, skeptischen Unglauben oder gar feindliche Gegnerschaft stiessen. Liest man heute A. Humboldts »Kosmos« und seine Schriften über Kuba, Venezuela usw., können seine naturwissenschaftlichen Funde und wissenschaftliche Objektivität darüber hinwegtäuschen, dass er in der Beurteilung der soziopolitischen Gegebenheiten jener Zeit subjektiv war, das heisst er nahm Partei, schrieb, redete und handelte schon damals wie einer, der sich heute wohl in Menschenrechtsbewegungen wiederfände.
Diese Tatsache findet noch heute ihren Reflex in der sogenannten »Humboldtisierung des Westens«2. Es meint einen Universalismus, der transkulturelle und teilweise interkulturelle Wissensgrundlagen für das Verständnis Lateinamerikas aus westlicher Sicht geschaffen hat. Diese bis heute nicht zu unterschätzende Arbeit Humboldts lässt aber leicht vergessen, dass der Privatgelehrte Humboldt als preussischer Staatsdiener, der er zeitweise auch war, ein preussisches Staatsverständnis zugrundelegte. Der Humboldt-Kult in Lateinamerika entstand, blühte und gedeiht bis heute denn auch konsequenterweise bei den lateinamerikanischen Eliten. Zwischen 1890 und 1920 und bis 1950 wurde Humboldts Universalismus in Europa fast ganz vergessen, – vor allem während und wegen der unglückseligen Phase des deutschen Imperialismus – während er in Mexiko, Venezuela und Kuba als angeknabbertes Standbild lebendig blieb.
Es war im 19. Jahrhundert, dass die liberalen Eliten Lateinamerikas sich selbst als politisch fortgeschrittener empfanden als Europa, denn sie hatten schon »ihre« Staaten, »während die Mehrzahl der europäischen Liberalen noch immer unter dem Joch der tyrannischen Monarchien litten«. Auf diese historische Wurzel heute lebendiger Ideologien trifft der Reisende allenthalben im Cono de Sur. Anders als im Europa dieser Tage, wo selbständig Denkende – wieder einmal – schnell als Kommunisten abgestempelt und zum Schweigen gebracht werden sollen, ist das kritische Denken in der Tradition Humboldts quicklebendig. Auch dort, wo Humboldt nicht war, nämlich in den Ländern des amerikanischen Südzipfels.
Der seit einem Jahrzehnt beobachtbare Monsun linksorientierter Regierungen in Lateinamerika hat unter anderem auch seine Wurzeln in Humboldts Schriften und den Kult um ihn. Ohne dass ich darauf ständig penetrant hinweisen und dem Leser die Lesefreude verderben möchte, wird der Leser dies selbst entdecken.
Anders als Humboldt hatte der Autor keine salvoconductos – Empfehlungsschreiben, und ist auch kein journalistischer Tänzer auf diplomatischem Parkett. Mir haben die Zeitungen, Bücher, Alltagsbeobachtungen und Gespräche gereicht, um mir ein subjektives Bild auf objektivem Malgrund zu malen. Meine Arbeit bestand darin, durch möglichst viele Astlöcher zu gucken, damit eine aktuelle und vielleicht in einigen Aspekten allgemeingültige Collage entstehen konnte, die andere dazu anregen mag, ähnlich zu reisen.
1 H.M.Enzenberger, Einzelheiten
2 Michael Zeuske, ¿Humboldeanización del mundo occidental?, Humboldt im Netz, ISSn º1617-5239