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Kapitel 1

Quebraderos – Kopfzerbrechereien

Deine mexikanischen Reisepläne und Vorbereitungen zerplatzten wie eine Seifenblase. Statt ins lateinamerikanischste Land mit dem höchsten Anteil an Indios sollte es nun in das Land mit dem geringsten Anteil an indigener Bevölkerung gehen. Nicht in das surrealste Land, wie dein spanischer Schriftstellerfreund Mexiko nannte, würdest du reisen, sondern in das unaufgeregte Uruguay, das Land der Wasser der bunten Vögel«, » wo die Vögel rückwärts fliegen «.

In der touristisch erschlossenen Welt und ihrer Beschreibung in Reiseführern herrscht der Superlativ vor. Wer kann sich ihm schon entziehen? Nun, jemand der aus freundschaftlichen Pflichtgefühlen eine eher traurige Aufgabe übernimmt. Und die bestand für dich darin, deine langjährige Freundin M. nach Montevideo zu ihrer Tochter N. zu begleiten. Es würde der letzte der vielen Lebensorte ihres langen Wanderlebens sein, denn M. gehört zu jener Spezies angelsächsischer Kosmopolitinnen, die überall und nirgends zu Hause sind.

Nie wärst du ohne diesen Anlass auf dieses Reiseziel verfallen. Du zerbrichst dir den Kopf, wie du das Beste aus diesem teuren Flug machen kannst. Als verrentneter Zeitmillionär kannst du großzügig planen. Du studierst also Landkarten und Reiseführer, liest Literatur. Zwei Wochen für die kosmopolitischen Montevideaner, sechs Wochen für seine zurückgebliebenen Hinterländler. (Ja, so wird der Tourist a priori von Reiseführern tatsächlich vorgeimpft!)

Vagabundierendes Reisen mit Bus und Bahn bis Iguazú und weiter nach Potosi, der tragischen Silberminenstadt im südlichen Bolivien? Von dort zurück über Salta im nördlichen Argentinien und mit der Bahn über Cordoba, Tucamán, Santa Fé nach Buenos Aires und zurück nach Montevideo. Eine Rundreise? Doch noch attraktiver wäre eine Flussfahrt von Montevideo bis Salto mit einem Frachter auf dem Río Uruguay. Die Landkarte ließ das möglich erscheinen. Die Reiseführer nicht. Ebensowenig auf dem fast parallel verlaufenden Río Paraná. Nun, du würdest dich schon durchfragen und die Reiseliteratur um eine Attraktivität reicher machen. Schließlich hattest du schon vor 49 Jahren im Alter von 16 Jahren bewiesen, dass es immer ungewöhnliche Wege gibt und warst auf dem Bananendampfer Hornkap der Hornlinie nach Kolumbien gefahren. Du traust ganz einfach den Reiseführern nicht (vergisst aber, dass die Welt eine andere geworden ist…).

Du bist zufrieden mit deinem halboffenen Reiseplan und als du M. mitteilst, dass du sie bei ihrem Umzug nach Montevideo begleiten willst, ruft sie spontan aus: »That would be great!«

Dasselbe sagt dein schwedischer Freund T., als er von Euren Plänen hört. Er hat ganz andere Gründe, weshalb er sich der Reise gerne für zwei Wochen anschließen würde. Seine amerikanische Frau ist von dem Bericht eines gewissen Lee Harrison enthusiasmiert, der Uruguay im Internet als Paradies für Investoren und Rentner anpreist1. Zweihundert Seiten ausdruckbare insider information mit ach so perfekten Fotos und detaillierten Beschreibungen sprechen von niedrigen Lebenshaltungskosten, sagenhaft preiswerten Immobilien für jedermanns Geschmack, ein gesundes Klima und stabile politische Verhältnisse.

Mit diesen Angelhaken hofft Harrison die »Rentnermassen« Europas und der USA zu ködern. T. möchte wissen, wieviel daran ist und will hinter diese Paradieskulisse schauen und die Atmosphäre schnuppern, eventuelle Tätigkeitsfelder erkunden.

Also zwölf Stunden fliegen! Von Madrid nach Montevideo. Es ist ein Nachtflug und die Ankunft um neun Uhr morgens täuscht vor, man habe nur acht Stunden gebraucht. Einmal gefangen in dieser Zigarrenhülle aus zwölf Zentimetern künstlicher Haut, die vom unheimlichen Draussen trennt, versuchst du von einer langsamen Schiffsreise zu träumen. Es funktioniert nicht. Auch nicht bei geschlossenen Augen. Alles spricht dagegen: das Ablenkungs- und Beruhigungstheater des Flugpersonals, das monotone Brummen der Triebwerke, M.‘s Unruhe. Die blöden Bordvideos. Und alles, was dich zu sehen interessiert, verschluckt das nächtliche All: Wie lange fliegen wir über Afrika? Über welchem Ort, welcher Landschaft sind wir abgeschwenkt, überfliegen den Atlantik? Wie ist das Wetter über dem Ozean? Wann kommt der lateinamerikanische Kontinent in Sicht? Fliegen wir über den Amazonas? Kann man Rio de Janeiros Lichter sehen? Wo sind wir?

Für dein Unbehagen an solchem Fliegen findest du keine Erklärung. Erst später liest du bei einem, der mehr Erfahrung als du mit Fernflügen hat: »Die Zeit ist »wie im Fluge« vergangen, aber ich ziehe nicht automatisch Gewinn daraus. Ich habe die Zeit zwar »übersprungen«, aber nicht überwunden. Ich kann mir das etwa so vorstellen, als würde ich in einem Buch »springen«, indem ich Seiten überspringe, also nicht lese, und den Anschluss an die Geschichte verliere.«

Es ist die Erfahrung, philosophiert Klaus Kufeld in seinem lesenswerten Buch »Reisen, Ansichten und Einsichten« , dass wir Zeit als Qualität, als Erlebniszeit auffassen. Und dann zitiert er Albert Einstein, der sagt: »Wenn man mit einem netten Mädchen zwei Stunden zusammen ist, hat man das Gefühl, es seien zwei Minuten; wenn man zwei Minuten auf einem heissen Ofen sitzt, hat man das Gefühl, es seien zwei Stunden. Das ist Relativität.«

Aber es gibt immer noch so tellurische Menschen wie dich, die sehen müssen, wo sie sind. Die auch nicht von einer Reise durch das Weltall träumen.

1 www.escapeartist.com

Als Vagabund in Uruguay, Paraguay und Argentinien

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