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Die Sucht geht weiter

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April 2018

Der Schulleiter meiner Journalistenschule gibt das Reiseziel für unsere Recherchereise bekannt: San Francisco. Sofort denke ich an die Golden Gate Bridge, die bunt bemalten Häuser, das Hafenviertel Fisherman’s Wharf. Nicht weil ich selbst schon dort war, sondern weil mir dank Instagram die Stadt bereits bestens bekannt ist. Diese Fülle an traumhaften Kulissen möchte ich auch nutzen.

Bereits auf dem Hinflug, eingequetscht in der letzten Reihe der Economy Class, recherchiere ich nach den Instagram-Hotspots in San Francisco. Zum Glück gibt es WLAN: Wo fotografieren sich die Bloggerinas? Welche Cafés eignen sich für Instagram? Ich entdecke eine Schaukel im Wasser, Chinatown, eine hübsche Bäckerei und die typischen bunten Häuserfronten. Fleißig tippe ich die Ergebnisse meiner Recherche als Notizen in mein Handy. Der Sitznachbar neben mir schnarcht.

Nach der mir so ungeliebten Einreiseprozedur fahren mein Lieblingskollege Marius und ich in unser Hotel. Wir checken ein, treffen uns danach in der Lobby, laufen zu einer typisch amerikanischen Bar. Marius bestellt sich einen Burger. Und ein Bier. Ich bestelle ein Glas Wein. Wir besprechen unseren Plan für den nächsten Tag. Unsere Kollegen kommen erst am nächsten Abend an. Wir zwei haben frei. »Marius, würdest du morgen ein paar Bilder von mir für mein Instagram-Profil machen? Ich habe da so tolle Locations gefunden«, frage ich ihn beiläufig, während ich an meinem Wein nippe.

Marius, zu gutmütig für diese Welt, sagt sofort zu. Er ahnt an dieser Stelle noch nicht, was ihm blüht. Am nächsten Tag stiefeln wir los. Unser Ziel: Chinatown. Kaum angekommen drücke ich Marius mein iPhone in die Hand und posiere in meinem Pünktchenkleid, gepaart mit schwarzen Stiefeln und meiner Elefantentasche der Marke Loewe. Mitten auf der Straße. Die vorbeifahrenden Autos stören mich nicht. Ich lache in die Kamera. Und versuche, den Gesichtsausdruck meiner Schwester zu kopieren. Sie hat ein richtiges Fotogesicht. Und Marius: fotografiert emsig.

Die Minuten verstreichen, ich bitte ihn um mein iPhone, da ich meine Bilder kontrollieren möchte. Und es kommt, wie es kommen muss: Die Fotos sind schrecklich. Sehe ich in der Realität etwa auch so schrecklich aus? Wahrscheinlich. Ein neuer Plan muss her: Dann soll Marius mich eben von hinten fotografieren. Während ich laufe, schüttele ich meine Haare, lasse sie durch meine Finger gleiten, damit Bewegung entsteht. Das sorgt für mehr Volumen.

Als Marius mir das fertige Bild zeigt, bin ich begeistert, falle ihm um den Hals. »Danke. Danke. Danke. Was für ein Foto. Soll ich dich auch mal fotografieren?« Marius wirkt verwundert, als habe er mit dieser Frage gar nicht gerechnet. Aber er will. Er posiert für mich, wirft seine Lederjacke nach links und nach rechts. Nach wenigen Schüssen ist er bereits zufrieden. Sein Shooting hat vielleicht zwei Minuten gedauert. Meines bestimmt zwanzig. Eher mehr.

Danach schlendern wir durch die Straßen San Franciscos. Unsere Handys stecken jetzt in unserer Jackentasche. Aus Marius’ Tasche erklingt das Lied Señorita von DSDS-Gewinner Pietro Lombardi. Wir grölen mit. Tanzen. Ein echter, purer, wahrer Glücksmoment. Nach unserem ausgiebigen Bummel durch San Francisco treffen wir abends auf die anderen Volontäre, erzählen von unserem Instagram-Tag. Ich registriere, wie mitleidig meine Kollegen Marius anschauen und betone, dass man durch die Instagram-Spots die schönsten Ecken San Franciscos entdecken könne. Marius nickt. Das sei wirklich so, bestärkt er mich.

Am nächsten Tag geht es weiter. Zunächst besichtigen wir die Nachrichtenredaktion von Bloomberg. Danach brechen Marius und ich zur Golden Gate Bridge auf. Nach einer langen kostspieligen Taxifahrt und einer noch längeren Suche finden wir endlich die ersehnte Schaukel. Das Panorama ist noch schöner als auf den Fotos der Bloggerinas. Flink schwinge ich mich auf die Schaukel, strecke meine Beine vor und zurück. Und Marius fotografiert. Es entstehen über achtzig Fotos von mir. Immer in derselben Position. Die einzige Variation: Mal lache ich in die Kamera, mal schaue ich weg. Danach fotografiere ich meinen Kollegen. Kurz. Nach dem Shooting brechen wir auf, hören Musik und tanzen. Mitten auf der Straße. Momente wie diese sind das, was man Sekundenglück nennt.

Am Abend liegen meine Mitvolontärin Hannah und ich in unseren Betten. Ich bearbeite fleißig meine Bilder, strecke ihr mein Handy hin, präsentiere ihr fröhlich die Auswahl:

»Hannah, was meinst du? Welches Foto ist das beste?«

Leicht genervt nimmt Hannah mein Handy entgegen. Sie ist kein Instagram-Girl. Stirnrunzelnd schaut sie sich die Fotos an, entgegnet: »Nena, du wirkst immer so verdammt selbstbewusst. Warum machst du plötzlich deinen Wert von Instagram-Likes abhängig? Das ist traurig. Wir erleben hier gerade so eine Wahnsinnsreise, und anstatt dass wir uns jetzt über unsere Erlebnisse austauschen, zwingst du mich aus Bildern, die alle gleich aussehen, das schönste auszusuchen.«

War ja klar, dass Hannah so denkt. Aber ich gebe noch nicht auf: »Du hast ja recht, aber welches ist denn nun das schönste? Oder meinst du, ich soll einen anderen Filter verwenden? Vielleicht ist das Bild in Schwarz-Weiß noch eindrucksvoller?«

Hannah gibt mir mein iPhone zurück: »Nena, echt keine Ahnung. Nimm doch einfach das zweite.«

Verunsichert blicke ich sie an: »Wirklich? Na gut, dann nehme ich das zweite.«

Nachdem ich es hochgeladen habe, überprüfe ich meine Likes. Minütlich. Mein Bild erzielt 186 Likes. Und 19 Kommentare. Ich bin hochzufrieden. Ein guter Tag.

Am nächsten Morgen stehe ich extra früh auf. Zu dem Besuch einer entfernten Bäckerei mit beeindruckender Instagram-Leuchte konnte ich niemanden aus meinem Team überzeugen. Nicht einmal Marius. Dafür nehme ich ihm das Versprechen ab, am Nachmittag mit mir die Häuserfronten San Franciscos abzuklappern. Mein Navi zeigt fünfzig Minuten an. Kein Problem. Spazieren gehen mochte ich schon immer gerne.

Die Gegend wird ärmer. Und ärmer. Immer mehr Obdachlose kampieren am Straßenrand. Eine betrunkene Frau rempelt mich an. Ich fühle mich unwohl, aber gehe stoisch weiter. Ich möchte unbedingt diese Bäckerei finden. Nach unzähligen Verirrungen erreiche ich sie. Endlich. Eine riesige Schlange hat sich vor dem Laden gebildet. Macht nichts. So kurz vor dem Ziel gebe ich nicht auf. Ich drängele mich vorbei und betrete den winzigen Laden.

In der Auslage liegen Donuts, Croissants und Brötchen. Das war’s. Völlig unspektakulär. Egal, ich bin ja nicht zum Essen hier. Ich betrachte die Wände, blicke mich suchend um: Wo ist denn nur diese rosa Wandleuchte mit den ausgestreckten Fingern? Ah, da ist sie. Die Farbe stimmt: Neonrosa. Doch in der Realität ist sie viel kleiner als auf den Instagram-Fotos der anderen. Ich bin enttäuscht. Das war’s? Das soll alles sein? Dafür bin ich jetzt so früh aufgestanden? So eine Art Wanddekoration gibt es doch überall. Auch in Düsseldorf, meiner Heimatstadt.

Und die Bäckerei? Könnte nicht weniger glamourös sein. Ohne ein Foto zu machen, verlasse ich den Laden und laufe zurück. Was für ein Reinfall. Beim Frühstück erzähle ich nur ausgewählten Kollegen von meinem missglückten Instagram-Morgen. Dass ich eine knappe Stunde lang durch düstere Viertel auf der Suche nach einem Instagram-Hotspot lief: viel zu peinlich für die große Runde.

Die Tage vergehen. Ich gewinne Eindrücke, die meine zukünftige journalistische Arbeit prägen werden. Und es entstehen Erinnerungen, die nachhaltig mein Herz berühren. Die wichtigste berufliche: die Besichtigung der Headquarter von Google und Facebook. Die schönste private: eine Nacht ohne mein Handy. Mit Blick auf die funkelnde Bay Bridge. Und Wein. Viel zu viel Wein.

September 2019

Generell empfand ich meine San-Francisco-Reise als sehr gelungen. Bis zu einem denkwürdigen Abend in München. Hannah, die mittlerweile nicht mehr meine Kollegin, aber immer noch meine Freundin ist, ist angereist. Um ein Event zum Thema Female Empowerment zu besuchen. Sie übernachtet bei mir. Bei einem Glas Wein sitzen wir in meiner winzigen Küche zusammen, schwelgen in Erinnerungen, und ich erzähle ihr von meinem Buchprojekt. Und wir sprechen über San Francisco. Hannah gesteht: »Nena, weißt du, keiner der Volontäre, außer vielleicht Marius, wollte mit dir auf Tour gehen. Wir hatten einfach keine Lust, für dich den Fotografen zu spielen. Ich fand unseren Abend heute echt schön, weil du überhaupt nicht an deinem Handy warst. Das war während unserer San-Francisco-Reise leider echt anders.« Hannah muss es wissen: Wir haben uns neun Tage lang ein Doppelzimmer geteilt.

Notiz an mich selbst:

•Keine Instagram-Spots mehr recherchieren.

•Aufhören, mir die Welt durch die Instagram-Posts der anderen anzuschauen.

•Städte ohne Instagram erkunden.

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