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Als 14-Jährige aus Niederschlesien vertrieben

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Von Marcus Alwes

Nahezu 70 Jahre ist es her, doch viele Einzelheiten ihrer Vertreibung aus Frankenstein, einem 15.000-Einwohner-Städtchen in Niederschlesien, kann Dorothea Hiller immer noch mit großer Präzision wiedergeben: der Verlust der Familienwohnung unweit von Breslau. Die Flucht in einem Güterzug. Ein nächtlicher Überfall auf ihre Gruppe während des Bahntransports. Die mehrtägige Reise quer durch ein zerstörtes Deutschland. Schließlich am 9. April 1945 die Ankunft in einer Sammelstelle in Hilter im Kreis Osnabrück.

Dorothea Hiller war damals 14 Jahre alt und schon als Jugendliche politisch interessiert. „Ich habe das sehr bewusst mitgekriegt“, sagt die heute 83-Jährige. Drei ihrer vier älteren Brüder waren zuvor als Soldaten nicht aus dem Krieg zurückgekehrt. Während der eigentlichen Vertreibung war die Gymnasiastin mit ihren Eltern allein. „Dass man Verpflegung für eine Woche und Handgepäck mitnehmen kann“, stand auf den Plakaten in Frankenstein, die die Zwangsumsiedlung zum 2. April ankündigten, erinnert sich Hiller. „Dazu 500 Reichsmark für eine Familie. Eine Uhr pro Familie. Und keine Sparbücher.“ Es gab scharfe Kontrollen, „bis aufs Hemd.“ Dennoch wurde geschmuggelt. Manchmal mit Erfolg. Der jungen Frau gelang es, ihre Lieblingsuhr in einer Jackentasche unentdeckt mitzunehmen. Sie habe das alles „noch vor Augen“, schildert sie: „Morgens um drei Uhr wurden die ersten aus Frankenstein rausgeworfen.“ Hiller und ihre Eltern hatten etwas mehr Zeit.

Es war eine Reise ins Ungewisse. Entwurzelt. Über die Sammelstelle in einer alten Ziegelei in Hilter ging es nach nur einer Nacht nach Belm weiter. Nahe an Osnabrück. Nahe am städtischen Mädchen-Gymnasium, das sie später besuchen sollte. Auf einem Bauernhof in Alt-Belm werden sie untergebracht. In der Siedlung Astrup bei Familie Hempen. Zunächst über einer Werkstatt, später kommt ein zusätzliches Zimmer hinzu.

„So schwer es war, in Belm neu anzufangen – mit den Jugendlichen in der Gemeinde hatte ich kein Problem.“ Über die katholische Kirche findet Hiller schnell Anschluss, knüpft in mehreren Gruppen erste Kontakte und singt regelmäßig im Flüchtlingschor. Auf dem Bauernhof hilft sie beim Melken. „Ich bin da im Grunde genommen sehr schnell reingekommen. Gott sei Dank.“ Dorothea Hiller ist aktiv, gelegentlich auch kess und forsch. Sie kämpft. Im achten Schuljahr ist sie Klassensprecherin. Sie steckt dabei im Dorf manche verbale Beleidigung („schon wieder so ein Polen-Gesocks“) besser weg als ihre Eltern. „Meine Mutter und mein Vater haben Kontakte nicht so gesucht wie ich. Sie zogen sich eher zurück, sie wurden immer stiller“, schildert sie die erste Zeit nach der Vertreibung. „Meine Mutter trug inzwischen Kopftuch statt Hut. Wir seien doch jetzt arm, sagte sie. Als Kind oder Jugendlicher hatte man dagegen nicht so ein Unterlegenheitsgefühl, wie es die erwachsenen Flüchtlinge hatten.“

Später zieht die Familie in eine etwas größere Wohnung. „Meine Eltern lebten dadurch ein bisschen auf.“ Dass ihr Bruder, der 1946 aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war, zwei Jahre danach im Ort heiratet und bleibt, vergrößert die Zahl der Kontakte der gesamten Familie. Bei Dorothea Hiller selbst folgt trotz eines schmaleren Geldbeutels auf das Abitur das Studium. Sie wird Lehrerin – in Rieste bei Bramsche. In der kleinen Gemeinde wird Hiller auf Dauer sesshaft. Sie engagiert sich im Sport, im Kirchenvorstand und in der Kommunalpolitik.

Als schließlich der Ostblock zusammenbricht, entscheidet sich Hiller 1994, für ein Jahr zurück nach Schlesien zu gehen. Dort gibt sie als Pensionärin mit einer befreundeten Lehrerin tagsüber Deutschunterricht an Schulen und abends Sprachunterricht für Erwachsene, die der deutschen Minderheit angehören. Häufiger macht sie in jenen Tagen Ausflüge von Oberschlesien nach Frankenstein, das heute Zabkowice Slaskie heißt. „Das war gut“, sagt Hiller. „Ich konnte das gut haben“, beschreibt sie ihre Gefühle. Die Erinnerungen berühren sie merklich.

Und trotz aller Freunde und glücklichen Momente („Ich fühle mich hier ja wohl“) in Belm und Rieste, stellt sie bei sich selbst einen bemerkenswerten Prozess fest. „Je älter ich werde, desto weniger würde ich sagen, ich bin angekommen.“ Die Entwurzelung – mag sie auch fast 70 Jahre zurückliegen – hat bei ihr Spuren hinterlassen. Wie hatte Dorothea Hiller noch am Anfang unseres Zusammentreffens über die Tage der Vertreibung gesagt? „Die Empfindungen kommen später. Im Moment der Flucht ist man so damit beschäftigt, alles hinzukriegen. Da überlegt man nicht lange. Und als Kind hat man nicht diese Trauer.“


70 Jahre nach der Vertreibung blickt Dorothea Hiller zurück. „Je älter ich werde, desto weniger würde ich sagen, ich bin angekommen“, sagt die 83-Jährige Riesterin. (Marcus Alwes)

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