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Manche Sachen ändern sich nie VON KÖLN NACH PRAG

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In Köln kam ich erst mal zur Ruhe. Wie immer wohnte ich bei meinen lieben Freunden Markus und David. Die beiden waren in jeder Lebenslage für mich da, und egal wie spontan ich meinen Besuch auch ankündigte, gab es immer Platz für mich in ihrer Wohnung, und wenn mal kein Platz war, wurde Platz gemacht. Sie gaben mir ein Gefühl von Sicherheit in meinem strukturlosen Leben.

Da ich länger in Köln gewohnt hatte, hatte ich hier eine Art Base. Neben Markus und David zählte dazu auch meine liebste Katja, die für alle meine verrückten Ideen immer Verständnis hatte. Trotzdem wurde ich immer wieder gefragt, ob ich denn wirklich vorhätte, bis nach Australien zu reisen. Die Frage war für mich einfach zu beantworten, die letzten Tage waren nur ein kleiner Vorgeschmack auf das gewesen, was mich da draußen erwarten würde. Jeden Tag neue Herausforderungen. Jeden Tag neue Gesichter, neue Sprachen, neue inspirierende Geschichten. Wie könnte ich da noch einen Rückzieher machen? Verdammt, selbstverständlich wollte ich nach Australien, und in erster Linie wollte ich die Wege dahin beschreiten und mich durch den Dschungel des Lebens kämpfen.

Als ich den Abschied in Köln hinter mich gebracht hatte, kam der nächste und schwerste Schritt: München, mein vermeintliches Zuhause. Am meisten lag es mir nun am Herzen, meinen besten Freund Marcel noch einmal zu sehen. Tatsächlich waren wir jahrelang zusammen gewesen und hatten nach unserer Trennung eine tiefe, unvergleichliche Freundschaft aufgebaut, und es gab niemanden, der mir so nahstand wie er.

Wir verbrachten ein paar Tage miteinander, und ich hatte das Gefühl, er war nervöser und besorgter wegen meines Vorhabens, als ich es war. Er begleitete mich zum russischen Konsulat, um mein Visum zu beantragen, und half mir, alle anderen Dinge zu regeln. Er hatte sogar Geld als Notpolster für mich gespart. Schon immer haben wir alles füreinander getan und uns gegenseitig geholfen, wenn es brenzlig wurde. Während unserer Beziehung konnten wir immer aufeinander zählen, und danach wurde dieses Vertrauen fast noch stärker. Ungerne lasse ich mir bei meinen Plänen oder Aufgaben unter die Arme greifen, doch bei Marcel machte ich eine Ausnahme und war froh, so eine Stütze in meinem Leben zu haben.

Am Tag meiner Abreise standen wir schweigend in seiner kalten, dunklen und verstaubten Küche. Das Licht kam kaum durch die Fensterscheibe, da diese seit Jahren nicht mehr geputzt worden war. Marcel strich seine langen Haare aus dem Gesicht und zündete sich nervös zum wiederholten Mal seinen Joint an. Seine blauen Augen glitzerten, und ich war nicht sicher, ob es am Joint oder an unserem Abschied lag. Er hatte Angst um mich, das war unübersehbar. Quer durch den Raum blickte er mich an. »Sag mal, machst du dir wirklich gar keine Sorgen?«, nuschelte er und beendete den Satz mit einem Räuspern.

Um seinem Blick auszuweichen, sah ich aus dem Fenster und beobachtete, wie ein paar Sonnenstrahlen versuchten, gegen die dicken, grauen Wolken zu kämpfen. »Nein, ich habe keine Angst. Ich will nur, dass es endlich richtig losgeht. Ich will weg hier und spüren, dass ich lebe, weit weg von jeglicher Art von Sicherheit.«

Marcel lächelte mit einer Seite des Munds, aber sein restliches Gesicht konnte nicht verbergen, dass meine Antwort seine Sorgen nicht zerstreute. »Ich würde mir in die Hose scheißen«, sagte er nervös lachend. Für einen kurzen Moment ließ er die Stille den Raum füllen, und dann fügte er hinzu: »Ich bin stolz auf dich!«

Am nächsten Morgen war es so weit. Meine Kleidung hatte ich frisch gewaschen und in Vakuumtüten in meinem Backpack verstaut. Ein letztes Mal für eine lange Zeit stand ich in dieser Wohnung. Hier roch es für mich nach Vertrautheit, hier war bis jetzt immer zu Hause gewesen.

Noch einmal forderte Marcel mich auf, mich jeden Tag zu melden. Noch einmal bat er mich, vorsichtig zu sein. Noch einmal checkte er, ob ich denn auch wirklich alles Nötige dabeihatte. Noch einmal nahm er mich in den Arm, und ich konnte mich kurz in seinem Nacken vergraben, um seine Wärme zu spüren. Ich versuchte, mir seinen Geruch einzuprägen, den Moment aufzusaugen, damit wenigstens dieser für immer mit mir reiste.

Wir verabschiedeten uns, diesmal auf unbestimmte Zeit. Ich fühlte mich, als sollte ich trauriger sein. Als sollte ich vielleicht die eine oder andere Träne vergießen. Aber noch nie hatte sich etwas in meinem Leben so richtig angefühlt. Noch nie war ich mir meines Weges so sicher gewesen. Ich befand mich in einem Zustand, in dem Traurigkeit nicht möglich war. Natürlich lag etwas Sentimentales in der Luft, und auch das Gefühl, bald völlig allein zu sein, weckte eine gewisse Unruhe in mir. Aber ich wollte mich nicht auf Zweifel einlassen, dafür war es auch definitiv zu spät. Ich blickte nicht mehr zurück und machte mir auch keine Sorgen über die Zukunft – ich war einfach nur im Moment, und der Moment war mein Ticket in die Freiheit.

In den paar Tagen in München hatte ich es noch geschafft, meinen gesamten Freundeskreis zu sehen. Keiner wollte mich ohne eine Umarmung ziehen lassen. Roxy, Mandy und Kathi gehörten in München, neben Kau, zu meinem inneren Kreis. Die meisten meiner Freunde freuten sich für mich, da sie wussten, dass mich nichts glücklicher machte, als mein Vagabundinnenherz mit Abenteuern zu füttern.

Mittags, kurz vor meinem Aufbruch, lud ich noch meine Mutter zum Essen ein. Es blieb mir nicht mehr viel Familie übrig, seit mein Vater uns, als ich klein war, verlassen und mein Bruder sich vor ein paar Jahren das Leben genommen hatte. Die Familie, die ich noch hatte, bestand aus meiner Mutter und Marcel. Sie waren das Einzige, was in meinem Leben konstant war und mir Halt gab.

Meiner Mum hatte ich viel zu verdanken, denn sie hat mich immer unterstützt und nie gezweifelt, dass ich meinen Weg finde. Als ich 14 Jahre alt war, stand ich mit gepacktem Rucksack vor der Haustür auf dem Weg nach draußen. Es war unter der Woche, und theoretisch hätte ich am nächsten Tag in die Schule gemusst. Meine Mutter sah mich verwirrt an und fragte, wo ich hinwolle. Ich sagte selbstbewusst: »Ich fahr mit den Mädels für ein paar Tage per Anhalter nach Berlin.« Meine Mutter erwiderte: »Ähm, nein, das tust du nicht!« Ich schnaufte und wandte mich ihr zu. »Schau mal, Mama, wir haben hier nun zwei Möglichkeiten: Entweder du verbietest es mir, und ich bleibe heute da, werde aber früher oder später mal bei einer Freundin übernachten und es trotzdem tun, ohne dass du es weißt. Oder du lässt mich jetzt gehen, ich werde dich jede Stunde anrufen, mein Versäumtes von der Schule nachholen und nie Geheimnisse vor dir haben.« Stille ließ den Moment unendlich erscheinen, in dem meine Mutter ratlos nach einer Antwort grübelte und letztendlich sagte: »Okay, ich möchte, dass du mich jede Stunde anrufst, und schick mir die Kennzeichen aller Autos, in die du einsteigst, per SMS. Pass auf dich auf.« Ich umarmte sie, triumphierend über diesen kleinen Sieg, und erzählte ihr von diesem Moment an absolut alles, was in meinem Leben vor sich ging. Bis zum heutigen Tag hat sich das nicht geändert. Sie war nicht nur meine Mutter, sondern auch meine Freundin, und diese Verbindung konnte nichts mehr brechen.

Wir saßen uns gegenüber am Tisch bei unserem Lieblingsinder, führten Gespräche übers Leben und über die Welt. Wir philosophierten über meine Reise und all die Orte, die ich sehen würde. Es war ein Mittagessen wie viele andere, auch wenn sich von heute an alles ändern würde. Wie immer bestellten wir zu viel und versuchten mühsam, alles aufzuessen. Ich war meiner Mutter sehr dankbar, dass sie mich nicht mit Sprüchen wie »Sei vorsichtig« nervte, denn sie wusste, dass ich immer vorsichtig war. Stattdessen gab sie mir noch mit ihrem sympathischen polnischen Akzent, den ich bis heute nicht nachmachen kann, eine Motivationsrede mit auf den Weg: »Weißt du, Eltern sagen immer, sie möchten, dass ihre Kinder glücklich sind. Doch am Ende machen sie ihnen Druck wegen Schule, wegen Job, weil sie sich verkehrt anziehen und, und, und. Mir ist wirklich – Hand aufs Herz, besonders seit dein Bruder gegangen ist – nichts wichtiger, als dass du glücklich bist. Deswegen macht es mich stolz zu sehen, dass du alles tust, um das zu sein.«

Ich versprach, mich zu melden, jedenfalls so oft es ging. Mir war bewusst, dass ich an Orte kommen würde, an denen es kein Netz und keinen WLAN-Anschluss gab, aber sobald ich irgendwo genug Zeit hatte und das Internet einigermaßen funktionierte, waren sie und Marcel die ersten Menschen, bei denen ich mich rühren wollte.

Ich wartete abfahrbereit auf meine Freundin Kau. Der Plan war, dass sie mich abholte und nach einem Abstecher nach Österreich, wo wir eine Nacht verbringen wollten, am ersten Rastplatz auf dem Weg nach Prag rausließ, sodass ich von da per Anhalter weiterkonnte. Früher waren wir immer zusammen auf Reisen und unzertrennlich gewesen. Heute hatte sie eine Tochter, die zu diesem Zeitpunkt erst ein paar Monate alt war. Das hinderte Kau daran, zu großen Reisen aufzubrechen. Aber wenn die Kleine ein wenig älter wäre, wollten wir alle zusammen reisen, das stand fest.

Wir spielten unsere Lieblingssongs, wie I’m Like a Bird von Nelly Furtado oder Budding Trees von Nahko Bear, dazu sangen wir laut mit und ließen alte Reisegeschichten Revue passieren. Zum Beispiel erinnerten wir uns an die Zeit, als wir gemeinsam in Brüssel lebten, in einem Apartment, das nicht größer war als ihr heutiges Badezimmer, sagte sie lachend. Unsere Nachbarn waren Junkies, und das ganze Stockwerk hatte nur ein Badezimmer und eine Küche, die sich alle teilten. Regelmäßig fanden wir benutzte Spritzen und leere Tütchen auf den Toiletten. Die Küche war so dreckig, dass sich der Boden bewegte, wenn das Licht aus war. Die Zustände dort waren ekelerregend, aber wir mussten keine Miete zahlen, also beschwerten wir uns nicht. Am Anfang des damaligen Sommers hatte ich auf einem französischen Musikfestival ein paar Jungs aus Belgien kennengelernt, und einer von ihnen hatte dieses Apartment als Studentenwohnung gemietet, doch in den Semesterferien war er bei seinen Eltern in der Heimat, und so konnten wir die Bude für uns nutzen. Wir hatten so unglaublich viele gemeinsame Erinnerungen und Geschichten, aber nach unserem kleinen Roadtrip stand diese Reise nur mir allein bevor.

Als wir uns am nächsten Tag dem tschechischen Rastplatz näherten, bemerkten wir eine riesige Baustelle, die sich kilometerweit in die Ferne zog. Den Rastplatz, von dem aus ich Abschied nehmen und lostrampen wollte, schien es nicht mehr zu geben. Der nächste war eine halbe Stunde Fahrt entfernt. Kau sah mich einen Moment lang an und fragte: »Wie weit ist Prag noch mal von hier? Ich fahr dich einfach bis dahin und fahre morgen zurück.« Einen kurzen Augenblick lang herrschte Stille, da ich sie ungläubig ansah, und dann brachen wir beide synchron und hysterisch in Gelächter aus. Kau rechtfertigte ihre Spontanität damit, dass ihre Kleine sicher bei ihrem Papa war und sie ja nicht wusste, wann sie mich wiedersehen würde. Also wollte sie noch so viel Zeit wie möglich mit mir verbringen.

Ich erinnerte mich an das bisherige Motto meiner Reise, einfach mit dem Flow zu gehen, und willigte ein. Kurz klärte Kau die eine oder andere Sache am Telefon ab, bevor wir wie selbstverständlich und voller Freude gemeinsam weiterfuhren.

Einer der interessantesten Aspekte daran, per Landweg zu reisen, ist, dass man sofort merkt, wenn man die Grenze zu einem anderen Land überquert. Nehmen wir Tschechien als Beispiel: Der Boden der Autobahn ist hier wesentlich rauer und holpriger als der in Deutschland. Die Tankstellen sehen anders aus, die Snacks dort sind ungesünder, und die Menschen haben eine aggressivere Fahrweise.

Es war bereits dunkel, als wir den Stadtrand durchquerten und in die prall gefüllten Großstadtstraßen Prags eintauchten. Es war mein erstes Mal in der tschechischen Hauptstadt, zumindest seit ich mich erinnern kann. Als ich jünger war, waren meine Eltern ab und zu mit uns dorthin gereist, aber davon weiß ich nur durch unsere zahlreichen Familienfotos. Jene klassischen family portraits, auf denen alle glücklich wirken, auf denen Momente eingefangen sind, die in Realität meistens völlig anders waren, und durch die auch die eigene Erinnerung getrübt und verfremdet wird. Sagen wir mal so: Ich war das erste Mal bewusst und gewollt in Prag – diesmal würde ich Erinnerungen schaffen, die echt sind.

Wir parkten das Auto in einem labyrinthartigen Parkhaus im Zentrum Prags. Im Inneren des zugehörigen Shoppingcenters befand sich ein Supermarkt, in dem wir ein paar Kleinigkeiten für die Nacht kaufen wollten. Wir merkten uns genau, auf welchem Weg wir das Parkhaus verließen: Links die Fahrbahn runter und an drei Autos vorbei, schlenderten wir rechts um zwei Säulen herum, um geradeaus den gelblich leuchtenden Eingang des Ladens zu sichten. Kaus alten grauen BMW konnte man nicht mal abschließen, aber um ehrlich zu sein, war nichts drinnen, was man, würde es gestohlen, als Verlust bezeichnen könnte.

Ich liebe es, in fremden Ländern durch Supermärkte zu bummeln. So viele Dinge, die man nicht kennt, und es würde Jahre dauern, alles auszuprobieren.

»Die stehen hier voll auf Waffeln, scheint hier so ein Ding zu sein«, sagte Kau, als sie ein riesiges Regal erblickte mit – ungelogen – um die hundert verschiedenen Schokoriegelsorten. Davon war so ziemlich jede mit einer knusprigen Waffel gefüllt. Direkt daneben waren Regale voller getrockneter Früchte und Nüsse, die an einen türkischen Bazar erinnerten. Als wir etwas weiter gingen, entdeckten wir unzählige Gläser, gefüllt mit eingelegtem Gemüse aller Art.

Wir verließen den Supermarkt mit sechs trüben Gurkengläsern, einem Karton voll Schokoladenriegel, natürlich mit Waffeln als Füllung, und einer Familienpackung getrockneten Früchten. Zufrieden mit unserer Ausbeute betraten wir wieder das Labyrinth, um zu unserem hässlichen Auto zurückzukehren. Wir gingen den gleichen Weg zurück, den wir gekommen waren. Geradeaus, nach der zweiten Säule links, an drei Autos vorbei, rechts die Fahrbahn hoch und da … da, äh, sollte es doch eigentlich stehen. Verwirrt kratzten wir uns am Kopf und glotzten auf den leeren Parkplatz. Wir versuchten, den Weg nochmals zu rekonstruieren, leider ohne Erfolg.

Über unseren Köpfen entdeckten wir eine Kamera, und so beschlossen wir, einen Wachmann aufzusuchen, um unser Auto eventuell gestohlen oder zumindest vermisst zu melden. Wir gingen den ganzen Weg zurück zum Erdgeschoss, und da ich die ganze Zeit die Leckereien mit mir herumtrug, die wir im Supermarkt ergattert hatten, begannen meine Schultern langsam zu schmerzen. In einer offenen Tür stand ein kleiner Wachmann und stritt sich laut mit jemandem am Telefon. Er hatte eine selbst gedrehte Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger klemmen, die aussah, als würde sie jeden Moment in der Mitte auseinanderbrechen. Als wir uns näherten, bemerkte uns der kleine Mann, sagte etwas auf Tschechisch, was nach einem abrupten Ende des aufbrausenden Gesprächs klang, und schob sein altes Nokia in eine der Ledertaschen, die an seinem Gürtel befestigt waren. Er setze seine Mütze auf, um seine fettigen, kurz geschorenen Haare zu verdecken, und grüßte uns mit »Ahoj!«.

»Hello Sir, sorry to interrupt your phone call, but I think, we lost our car!«

Der Mann zeigte keinerlei Reaktion. Ein paar Sekunden lang starrten wir uns alle einfach nur an. Dann zog er ein letztes Mal an seiner filterlosen Zigarette, drückte sie in den überquellenden roten Plastikaschenbecher und fummelte sein Handy wieder aus dem Beutelchen. Er wählte eine Nummer, und bei jeder Zahl erklang ein lautes Piepsen. Ich verstehe nicht, wieso Menschen den Tastaturton nie ausschalten – bei einer langen SMS klingt es bestenfalls wie die Melodie, die in den Achtzigern aus einem Gameboy kam. Als am anderen Ende jemand dranging, drückte der Wachmann mir das kleine Plastikding in die Hand und drehte sich zum Schreibtisch, um sich eine weitere vorgedrehte Zigarette anzuzünden.

»Ahoj Ledi, how I can help you?«, ertönte am anderen Ende der Leitung eine heitere Stimme mit unüberhörbarem tschechischem Akzent.

Das ganze Szenario brachte mich kurz aus dem Konzept, und ich vergaß beinah, wieso wir überhaupt hier waren. Kau war keine große Hilfe und erwiderte mein Starren genauso ausdruckslos wie der kleine Wachmann.

»Äh, hi … I think we lost our car!«

Stille. »You lost your card? Which card?«

»No, I lost my car. Brumm. Brumm … You know, CAR!«

»Car?«

»Car!«

»How can you lose car?«

»Well, I don’t know … It is not where we left it.«

»You lose car …« (Tschechisches Nuscheln und Gelächter folgten.)

Ich runzelte die Stirn und sah Kau fragend an, als ob sie Teil der Unterhaltung gewesen wäre. Kau drehte sich zu dem Wachmann und gab meinen Blick an ihn weiter, woraufhin der Mann ihren Gesichtsausdruck imitierte und sich wieder zu mir wandte.

Unterdessen bat mich die Stimme am Telefon, dem Wachmann den Hörer zu reichen. Dieser hörte nun konzentriert zu und nickte immer wieder wortlos, als ob sein Gesprächspartner ihn sehen könnte, drehte sich dann zu uns und winkte uns zu sich ins Zimmer. Als wir uns seinem Schreibtisch näherten, erblickten wir Monitore auf dem Tisch, die vermutlich für die Überwachungsaufnahmen da waren, nur leider waren sie alle ausgeschaltet. Der Mann zeigte demonstrativ mit ausgestreckten Fingern und Zigarette auf einen Monitor, sagte etwas auf Tschechisch und machte eine unkontrollierte Bewegung mit seinen Händen. Ich blickte ihm in die Augen und versuchte, aus seiner Geste schlau zu werden. Dann drückte ich bei dem einen Bildschirm auf den An-Knopf, doch nichts passierte. Der kleine Wachmann fasste sich an den Kopf, zeigte noch mal auf den Bildschirm, wiederholte seine Handbewegung und gab einen genervten Ausruf von sich. Und auf einmal verstand ich. Er versuchte mir zu sagen, dass die Bildschirme alle kaputt seien. Ich rollte mit den Augen und ging rückwärts aus dem Zimmer. Der Gestank der billigen Kippen hatte sich mittlerweile in meine Klamotten und Haare gefressen.

Als wir uns gerade ratlos auf die Suche nach unserem verlorenen Auto machen wollten, hörten wir in der Ferne Schritte herbeieilen. Es war ein weiterer kleiner Wachmann, der nahezu genauso aussah wie der andere. Er kam uns mit einem Riesenlächeln und weit aufgerissenen Kulleraugen entgegen. Seine Backen waren so aufgeschwollen, dass sie glänzten, und eine ungesunde lila Färbung war kaum zu übersehen. Auf einmal standen die zwei kleinen Wachmänner vor uns und diskutierten miteinander.

Der neue Wachmann wandte sich uns endlich zu und sagte: »Ahoj … Hello … We help you finding lost car!«

Ich lächelte, und wir stiefelten zu viert durch das mittlerweile fast leere Parkhaus. Wir gingen in den Eingang des Supermarkts, um unseren Weg zu rekonstruieren. Auf einem Handyfoto zeigten wir den beiden Männern unser Auto. Sie musterten es so genau, dass ihre Köpfe aneinanderstießen, als sie sich dem Handybildschirm näherten.

Der Englisch sprechende Kollege sagte beeindruckt: »Wow, nice car.«

Ich war mir nicht sicher, ob er das ironisch meinte oder ob er eine Brille brauchte. Kaus grauer BMW sah nicht so aus, als könne er noch fahren, geschweige denn den TÜV-Test bestehen. So langsam waren wir mit der Geduld am Ende, und Hunger hatten wir auch. Also beschlossen wir, uns durch die Waffel-Schokoriegel zu futtern. Die Wachmänner machten auch mit und kommentierten jeden Bissen mit einem »Mhh, very good«.

Wir gingen hoch in das fragliche Stockwerk und gingen denselben Weg wie vorher auch. Geradeaus, nach der zweiten Säule links, an drei Autos vorbei, rechts die Fahrbahn hoch und da … Da stand unser Auto wieder?! Wie konnte das sein? Kau und ich sahen uns fragend an. Hatte sich jemand unser Auto ausgeborgt und es einfach wieder zurückgestellt? Der eine Wachmann sah irritiert unseren hässlichen BMW an, während der andere triumphierend drauf zeigte und so tat, als wäre es sein Verdienst gewesen, dass wir ihn wiedergefunden hatten. Beim Blick nach oben bemerkte ich, dass sich keine Kamera mehr darüber befand. Konnte es sein, dass es dasselbe Parkhaus zweimal gab, oder waren wir verrückt geworden?

Wir fragten den englischsprachigen Wachmann, und dieser beantwortete die Frage so, als hätten wir es die ganze Zeit wissen müssen: »Yes, ledi, two parking.«

Wir hatten also eine Stunde vergeudet, weil wir geglaubt hatten, unser Auto wäre gestohlen, dabei waren wir einfach zu blöd gewesen, ins richtige Parkhaus zurückzufinden.

Unser nächster Stopp sollte eine Kneipe werden. Nach dem ganzen Stress hatten wir einen Durst, den nur Bier stillen könnte. Wir fuhren durch die warm beleuchteten Straßen und tauchten ein in ein hip aussehendes Viertel. Viele kleine Bars, modern gekleidete junge Menschen und unterschiedliche Musikrichtungen trafen hier aufeinander und erzeugten ein einzigartiges Getöse. Wir betraten die erste Bar, und wie schon in der Stube des Wachmanns stieg mir sofort der Zigarettenrauch in die Nase. Da saßen sie in der kleinen, nicht durchlüfteten Kneipe und pafften genüsslich eine Zigarette nach der anderen, als hätten sie das Wort Nichtraucherschutz noch nie gehört. Hatten die nicht dieselben Gesetze wie der Rest Europas?

»Hey Kau, ich muss hier raus. Ich kann kaum atmen … Suchen wir eine andere Bar, wo nicht geraucht wird!«

Anscheinend hatte ich laut genug gesprochen und war nicht die einzige deutschsprachige Person in dem Raum, denn ein Mann mit Topffrisur wandte sich zu mir mit den Worten: »Eine Bar, in der nicht geraucht wird? In diesem Viertel? Dann wünsch ich euch mal viel Glück.«

Sein Kommentar brachte uns einen kleinen Augenblick lang zum Innehalten, hinderte uns aber nicht daran, das zugerauchte Lokal zu verlassen. Ohne uns weiter Gedanken zu machen, wechselten wir die Straßenseite und steuerten guter Dinge auf die nächste Bar zu. Sie war außen mit kleinen Laternen geschmückt und wirkte warm und einladend. Aber sobald wir die Tür öffneten, wiederholte sich das Szenario und bestätigte, was der Topfkopfjunge uns zugeraunt hatte: Anscheinend gab es hier keine Bar ohne Krebs. Wir gingen zur Theke, bestellten zwei Prager Pils und setzen uns raus in die Kälte. Doch der Metallhocker vor der Tür fühlte sich kälter an als die Lufttemperatur und war auch ein wenig instabil. Wir hatten keine andere Wahl, als zu stehen. Nach der langen Autofahrt war mir aber sowieso nicht nach Rumsitzen zumute.

Ich hatte mir eigentlich angewöhnt, überall hinzulaufen, wenn ich schon per Anhalter unterwegs war. Sonst liegt man am Ende des Tages im Bett – jedenfalls wenn man Glück hatte in einem Bett –, versucht sich auszuruhen, ist aber körperlich völlig unausgelastet. Der Kopf ist erschöpft, man war schließlich den größten Teil des Tages damit beschäftigt, andere Menschen zu amüsieren und zu unterhalten, der Körper allerdings ist unausgelastet und braucht Auslauf wie ein junger Hund. Als wir noch gemeinsam per Anhalter Europa unsicher machten, haben Kau und ich uns oft als Scherz erlaubt, den Leuten zu erzählen, dass wir in der »Entertainment-Branche« tätig seien. Wir hatten damals oft das Gefühl, dass wir in den Autos all dieser fremden Menschen eine Art Job ausübten: Viele wollten uns mitnehmen, weil ihnen langweilig war und weil sie unterhalten werden wollten. Hin und wieder fühlten sich Menschen in unserer Gegenwart so wohl, dass sie sich öffneten und die privatesten Geschichten offenbarten. Nicht selten wurden sie richtig emotional und führten lang aufgestaute Gespräche mit uns. Ich denke, das ist auch das Prinzip eines Psychologen. Man kann einem Fremden einfach besser erzählen, was in einem vorgeht und einen beschäftigt als jemandem, der voreingenommen den Geschichten lauscht.

An diesem Abend vor der Bar fühlte ich mich allerdings bereit, in Richtung Bett zu steuern. Um diese Uhrzeit wollte ich auch keinen langen Spaziergang mehr anstreben, denn morgen würde ein langer Tag werden. In 24 Stunden wollte ich schon in Polen angekommen sein, und Kau musste wieder nach München, in ihre Realität zurück. Wir beobachteten die jungen Menschen um uns herum und fühlten uns dabei alt. Mit großen Schlucken tranken wir unser Bier aus. Die Müdigkeit stand uns ins Gesicht geschrieben: saftige blaue Augenringe, und wir gähnten um die Wette.

Kau buchte uns eine kleine, niedliche Ferienwohnung im Herzen der Stadt. Die Wohnung war mit einer Dachterrasse ausgestattet, von der aus man fast die ganze Stadt betrachten konnte. Wir gönnten uns noch ein heißes Bad und jede eine weitere Flasche Bier, während die Lichter der alten Stadt lebendig und unerschöpflich flackerten. Ich saß noch eine Weile allein am Fenster, das sich über die ganze Wand zog, und träumte wach vor mich hin. Es war schön, die verrückten Partynächte, für die Prag bekannt ist, in diesem Moment nur in meiner Vorstellung mitzuerleben. Mit einem Lächeln knipste ich die tief hängende Deckenleuchte aus und ging ins Schlafzimmer. Kau lag eingekuschelt in der kitschig bezogenen Bettdecke, und die Melodie ihres Schnarchens wog mich ein letztes Mal in den Tiefschlaf.

Der nächste Morgen begann hektisch. Check-out sollte um 10 Uhr sein, und wir schliefen bis 9:53 Uhr. Um 10:27 Uhr verließen wir endlich das Apartment und entschuldigten uns aufrichtig bei der Putzhilfe, die geduldig und tatsächlich auch noch lächelnd vor der Tür gewartet hatte.

Das Wetter war mild, und das nahmen wir uns zum Anlass, länger die kleinen Straßen zu durchforsten als geplant. Schließlich war es an der Zeit, aufzubrechen: Als wir uns der Autobahnauffahrt näherten, von der aus wir in verschiedene Richtungen weiterfahren wollten, flachte die Stimmung im Auto ab. Uns wurde bewusst, dass ein Wiedersehen erst mal nicht in Aussicht war. Ich würde auf unbestimmte Zeit in die entgegengesetzte Richtung reisen, ans andere Ende der Welt. Immer wieder blickte ich rüber zu Kau und sah, wie sie mit den Tränen kämpfte. Mittlerweile war auch die Sonne komplett vom Himmel verschwunden, und die graue Umgebung heiterte den emotionalen Moment kaum auf. Kau war schon immer nah am Wasser gebaut gewesen, doch diesmal zerriss es mir das Herz, sie so zu sehen. Ich konnte sehen, wie gerne sie einfach mitgekommen wäre. Doch bei ihr ging es mir ähnlich wie bei Marcel vor ein paar Tagen: Selbstverständlich war ich ein wenig traurig, meine Liebsten so hinter mir zu lassen, und besonders berührte es mich, meine Freunde und Familie traurig oder besorgt zu sehen. Aber auf der anderen Seite blickte ich voll Vorfreude und Aufregung auf die Zukunft und auf jeden Kilometer dieser Reise, der vor mir lag. Pures Glück tanzte in mir, und die einzigen Tränen, die zu vergießen ich mir vorstellen konnte, waren Tränen der Freude. Etwas in mir versprühte Ruhe und die Gewissheit, dass alles gut werden und ich an einem unbestimmten Tag in ferner Zukunft zurückkehren und allen meinen Liebsten von meinen Abenteuern berichten würde. Es war natürlich nur eine Vermutung, denn ungefährlich war mein Vorhaben nicht, und ich wusste auch nicht wirklich, was mich erwarten würde, welche Gefahren da draußen tatsächlich lauerten und welche Steine sich mir in den Weg legen würden.

Während ich Kau in der Nähe der Autobahnauffahrt im Arm hielt, saugte mein Schal ihre Tränen auf. Sie schluchzte laut und drückte mich fest an sich. Meine Augen waren geschlossen, und in dem Moment fiel mir auf, dass ich selten so eine Umarmung von ihr erhalten hatte. Ich genoss es, diese Art von Liebe zu spüren, und hatte das Gefühl, dass sie mich auf meinem Weg begleiten und nicht loslassen würde. In meiner Vorstellung waren ihre Tränen, die sich in den Fasern meines Schals verteilten, wie ein Schutzschild: Sie blieben an mir haften und ließen mich guten Gewissens zur Raststätte laufen, um mein erstes Auto in Richtung Polen anzuhalten.

aWay

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