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Lechzen nach Veränderung LONDON

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Ich hatte nicht viel zu verlieren. Ich meine, was war das Schlimmste, was passieren konnte? In der Theorie musste man etwas haben, woran man festhalten möchte, um Angst vor Verlust zu spüren, und ich hatte momentan nicht das Gefühl, dass es in meinem Leben so etwas gab. Meine ungesunde Beziehung war vor ein paar Monaten in die Brüche gegangen und zog einen Schleier aus Selbstzerstörung und Traurigkeit mit sich. Warum sollte ich mir über Risiken Gedanken machen? Ich wollte einfach mal wieder etwas fühlen. Ich wollte mich auf den nächsten Tag freuen, mal wieder lächelnd durch die Straßen laufen, weil eine Erinnerung vom Vortag mich einholte oder einfach nur weil ich mich freute, am Leben zu sein.

Nach einem Jahr, in dem ich zum ersten Mal verstanden hatte, was ›Depression‹ bedeutete, hatte ich das Verlangen nach Freiheit und nicht nach Flucht. Geflohen war ich schon mehrmals, und bis auf eine kurzfristige Veränderung meiner äußeren Welt hatte sich sonst nie viel getan. Diesmal wollte ich nicht mehr weglaufen und fliehen, nein, diesmal wollte ich auf die Suche gehen. Auf die Suche nach was? Hmm, da war ich mir noch nicht so ganz sicher, um ehrlich zu sein. Aber ich wusste, dass es mehr da draußen gab. Mir war bewusst, dass ich mich nicht für immer meinen Ängsten hingeben konnte, um bequem, umgeben von Langeweile, vor mich hinzuvegetieren.

Ich wollte Wunden der Vergangenheit heilen lassen und sie nicht nur sporadisch abdecken. Ich wollte mal wieder genug Energie haben, um mich kopfüber ins Leben zu stürzen und neue Wunden zu erlauben. Jede Narbe ist eine Lektion, ein Geschenk und ein Schritt nach vorne. Allerdings war die letzte, die mir zugefügt worden war, so tief, dass mir nicht ganz klar war, was ich daraus lernen sollte. Meine Sicht war verschwommen, als würde ich durch eine verschmierte Brille schauen. Fast so, als hätte ich eine Extrarunde auf dem Karussell gedreht, und der Schwindel wollte nicht schwinden.

Beziehungen hatten mich jahrelang davon abgehalten, richtig auszubrechen und mich einfach mal um mich selbst zu kümmern. Paradoxerweise war es irgendwie immer ›Liebe‹, nach der ich mich sehnte und vor der ich zugleich fortlief. In dieser Zeit vergaß ich komplett die wichtigste Liebe von allen, nämlich die zu mir selbst.

Die Beziehungen, die ich führte, waren fast wie ein Vorwand, den ich mir selbst gab. Der Vorwand, nicht zu weit weg zu können, und im selben Moment gab ich ihnen die Schuld dafür, dass ich mich unbeweglich fühlte. Ich denke, das ist oft ein Fehler, den Menschen im jungen Alter machen: Sie fesseln sich an Dinge, um sich nicht zu sehr herauszufordern und um am Ende einen Schuldigen zu haben, wenn sie aus eigener Feigheit doch nicht glücklich werden.

Ich hatte wie die meisten Menschen in der westlichen Welt einen routinierten Alltag, der mich genug ablenkte, um nicht den Verstand zu verlieren. Mein Kellner-Job in einer Restaurantkette hielt mich auf Trab, auch wenn ich ehrlich zugeben muss, dass ich eigentlich alles daran hasste. Kennen wir das nicht alle, dass wir für Geld einem Job nachgehen, der sämtlichen unserer Grundvorstellungen widerspricht? Täglich zwang ich mich aufs Neue in die knallenge weiße Uniform und servierte mit einem aufgesetzten Lächeln double bacon, und das definitiv nicht aus artgerechter Haltung. Das Einzige, was mich vorantrieb, war der schwere, mit Geld gefüllte Kellnergeldbeutel, den ich jeden Tag erschöpft nach Hause trug. Ich war mir ganz sicher, dass ich das angesparte Geld für irgendetwas Großes verwenden würde. Jede Münze wurde von mir zur Seite gelegt. Ich lebte so sparsam wie möglich für einen Plan, der bis jetzt noch nicht mit einer Idee gesegnet war.

Ich zahlte zu viel Geld für ein Zimmer, das sich wie ein Schuhkarton anfühlte. Zwar hatte ich es mir gemütlich gemacht, und es war in dieser Zeit mein Zufluchtsort, aber da sind wir auch wieder bei dem Wort ›Flucht‹. Ich wollte gerne wissen, wie es sich anfühlt, diesen Ort gar nicht mehr zu haben und irgendwo zu sein, wo man auch nicht mal eben kurz bei Freunden und Familie unterkommen kann. Das Gefühl des kompletten ›Alleinseins‹ machte mir Angst. Ich meine die Art von Alleinsein, wenn nichts in deiner Nähe bekannt ist und komplette Stille herrscht, dein Handy nicht funktioniert und du dir einfach selbst helfen musst. Ich konnte nur darüber fantasieren, was es hieß, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Und damit meinte ich nicht Selbstständigkeit an sich, diese beherrschte ich. Im Alltag war ich schon immer selbstständig gewesen.

Als die Schule kein Thema mehr war, war ich nach Spanien gereist, um auf eigenen Füßen zu stehen und in der Sonne zu leben. Das waren meine ersten richtigen Schritte in ein langes, leicht unstrukturiertes, zugegeben auch sehr impulsives Vagabundenleben gewesen. Diese ständigen Reisen und Ortswechsel hatten mich zu dem geformt, was ich heute war. Auf Reisen und in der Sonne ging es mir immer gut, ich war zufrieden, anonym und frei.

Was machte ich eigentlich schon wieder in London? Hier war es kalt, laut und dreckig. Ich war zwar anonym, aber Sonne, Zufriedenheit und Freiheit gab es hier definitiv nicht.

Ein weiterer Tag in der Londoner Underground auf dem Weg zum Green Park, um mal wieder meine Zeit mit Arbeit zu füllen. Auf der Scheibe in meinem Blickfeld schien sich jemand künstlerisch ausgelebt zu haben, hatte mit einem dicken Filzstift ein Bild von einer nackten Frau gemalt und darübergeschrieben ›Love yourself‹. Immer wieder las ich das Wort ›Selbstliebe‹, jeder schien damit um sich zu werfen. Auf Bildern mit Yogis und Buddha drauf sah man es fast täglich auf irgendwelchen Social-Media-Kanälen. Wussten all diese Menschen denn tatsächlich und wahrhaftig, was es bedeutet, sich selbst zu lieben? Ich wusste noch nicht mal, wer zur Hölle ich überhaupt war. Also noch mal, was hatte ich schon zu verlieren?

Ich hatte ja schon mal den ›kleinen Plan‹ gehabt, nach Australien zu reisen, um diesen Ort, Byron Bay, zu suchen, von dem mir dauernd erzählt worden war. All die coolen, langhaarigen Reisenden sagten »Da musst du hin!« und »Da wirst du dich wohlfühlen!«. Besonders da ich in all den europäischen Orten, in denen ich gelebt hatte, immer ein Unikat gewesen war, ohne richtiges Zuhause, immer auf Reisen, nicht nur ein Jahr zwischen Abi und Uni, bevor ›der Ernst des Lebens losgeht‹. Ich hatte es weder bis zum Abi geschafft, noch hatte ich eine Ahnung, wieso sich Menschen hingezogen fühlen zu etwas, das sich ›der Ernst des Lebens‹ nennt.

An sich ist das alles nichts Schlechtes, doch es kam mir so vor, als liefen die Menschen immer in die entgegengesetzte Richtung. Auf Dauer ließ mich mein Lebensstil sehr einsam werden. ›Einsamkeit‹, was bedeutete das eigentlich? Wieso hatte ich immer dieses zerreißende Gefühl der Einsamkeit, obwohl ich durchgehend von Menschen umgeben war? Wenn ich so darüber nachdachte, stellte sich mir die Frage, ob es vielleicht nicht mehr so wäre, wenn ich mal wirklich allein wäre? Das alles ließ sich nur herausfinden, indem ich den Absprung wagte und meine Idee in die Realität umsetzte. Meine Idee von einer Reise. Einer richtig großen Reise … Doch wohin? Wie lange? Erst mal einfach nach Australien?

Es war Dienstag, und ich hatte frei. Einer von wenigen Tagen, an denen ich mir eine Auszeit gönnte und nicht versuchte, mich mit Sport oder anderen Aktivitäten von meiner Unzufriedenheit abzulenken. In unserer kleinen chaotischen Wohnküche saß ich am Laptop. Emily, meine italienische Mitbewohnerin, hatte mir ihren geborgt, da ich selbst keinen besaß. In dieser Zeit wohnte ich mit drei Mädels zusammen in einem typisch englischen zweistöckigen Haus im Norden Londons. Meistens jedoch verkroch ich mich in meinem Zimmer oder war arbeiten.

An besagtem Tag wollte ich einen Flug nach Australien buchen. Ich war stolz auf mich, dass ich mich wenigstens dazu entschlossen hatte. Es hatte eine Weile gedauert, bis ich gesagt hatte: ›Ich mache das jetzt.‹ Es war eher eine Art Ich-weiß-nicht-was-ich-sonst-machen-soll-Plan. Ich saß also konzentriert vor dem Laptop und wollte einfach nur einen Flug buchen, wie man das eben macht, wenn man ins Ausland möchte. Ganz normal mit einer Suchmaschine nach ›Schnäppchen‹ stöbern oder so. Zuerst einmal kratzte ich mich am Kopf, ich war gnadenlos überfordert von all den Flugangeboten, Airlines und verschiedenen Seiten im Netz. Bis jetzt hatte ich immer nur Kurzstreckenflüge gebucht, die nicht mehr als 100 Euro gekostet hatten. Hier wurde ich nun mit Preisen zwischen 600 und 2.000 Euro erschlagen und schnaufte erst mal gestresst auf.

Worauf musste ich denn überhaupt achten? Ich meine, wenn ich keinen Zeitdruck hatte, war ich sonst immer per Anhalter durch die Gegend gereist. Dabei sieht man auch am meisten und überfliegt nicht einfach all die kleinen Orte, die die meisten Touristen nie zu sehen bekommen.

Ich sah mir eine Weltkarte an und ging in meinen Gedanken all die magischen Orte durch, von denen ich mein Leben lang schon träumte. Das lag wohl alles zwischen hier und Australien. Wie wenig ich bislang von der Welt gesehen hatte, und jetzt würde ich mit dem Flugzeug über all die Länder drüberfliegen … es sei denn … ich … fuhr per Anhalter …?

Einen Augenblick lang starrte ich erstaunt und fast schon ein wenig erschrocken von meinem Gedanken auf die Weltkarte, die auf dem Bildschirm so winzig wirkte. Plötzlich lachte ich laut auf. Würde ich das wirklich bringen? Den Daumen ausstrecken und quasi ans Ende der Welt reisen? Meine Gedanken wie auch mein Blick verweilten eine Zeit lang auf der Karte. Vielleicht waren es Sekunden oder auch Minuten, in denen ich dasaß und einfach nur starrte.

Die Realität des englischen Wetters riss mich mit peitschenden Regentropfen gegen mein Fenster aus meiner Traumwelt. Ich ging rüber zum Wasserhahn und füllte mein Glas auf. Das Leitungswasser in London schmeckte übrigens nach Schwimmbad, was gerade nicht relevant war, aber mir in dem Moment wieder auffiel, weil ich beim ersten Schluck mein Gesicht verzog. Während ich da am Waschbecken herumstand, kehrte der Gedanke, nach Australien zu trampen, wie ein penetrantes Echo in meinen Kopf zurück und zwängte meiner Fantasie die ersten Bilder auf. Ich musste schmunzeln, und mein Blick wanderte zum Fenster. Man konnte vor lauter Regen kaum noch etwas sehen.

Mit einem klirrenden Geräusch stellte ich das halb volle Glas Wasser ab und ging wie hypnotisiert zurück zum Bildschirm, auf dem mir immer noch die Weltkarte farbig entgegenleuchtete, setzte mich davor und fing an, jeden Ort zu vergrößern, an den ich theoretisch gerne reisen wollte. Ich musste mir nun Gedanken machen, ob es in der Praxis überhaupt möglich war.

Meine erste Wahl fiel auf Skandinavien, doch den Gedanken verwarf ich beinah direkt wieder, als mir bewusst wurde, dass ich da wohl im Winter wäre, und im Winter war es da verdammt kalt und dunkel. Weiter südlich wäre die Überquerung in Richtung Asien allerdings wesentlich gefährlicher und auch schwerer. In diesem Moment stellte ich fest, dass ich bereits dabei war, meine total irre Idee in die Realität umzusetzen …

»Wieso eigentlich nicht«, nuschelte ich vor mich hin, während mein Cursor wieder nach Skandinavien flitzte. Eben hatte ich mir noch vorgenommen, Ängste zu überwinden und mich Herausforderungen zu stellen, um zu wachsen, und nun wollte ich Skandinavien nicht besuchen, weil es da kalt war? Nein, ich würde durch Skandinavien reisen und dann durch Russland, was bedeutete … Schluck. Sibirien! Was wusste ich schon über Sibirien? Wer ging denn schon mal einfach so nach Sibirien? Was konnte man in Sibirien überhaupt machen? Und vor allem: Fuhr da jemand Auto?

Das verrückte Schmunzeln von vorhin machte sich wieder auf meinen Lippen bemerkbar. ›Ich! Ich werde nach Sibirien gehen!‹, beschloss ich in diesem Moment. Ich stellte mir vor, wie sich die Kälte dort anfühlte und wie lang die Mauer in China wohl ist, wie es wäre, im Indischen Ozean zu schwimmen, und wie still es in finnischen Wäldern werden kann. Ich malte mir aus, wie ich in Moskau auf dem Roten Platz stehe und mich die ganzen prachtvollen Gebäude klitzeklein aussehen lassen. Ich konnte fast schon den Fahrtwind spüren, wenn ich in Bali mit dem Fahrrad zwischen Reisfeldern herumdüse, am besten mit einem Strohhut auf dem Kopf auf der Suche nach frischen Früchten, die von lächelnden Menschen am Straßenrand verkauft werden. Meine Fantasie arbeitete gerade auf Hochtouren. Jedes dieser Bilder fühlte sich klar und echt an, fast so, als hätte ich diese Reise schon einmal gemacht.

Ich traf die Entscheidung schnell und tatsächlich unüberlegt, wusste aber in dieser Sekunde des Leichtsinns auch, dass mich kaum etwas noch davon abhalten konnte. Ich würde auf die andere Seite der Welt reisen, einmal per Anhalter nach Australien.

Ich ging nach oben und lief in meinem knapp zehn Quadratmeter großen Zimmer auf und ab. Der Blick aus dem Fenster ließ mich wie immer die Stirn runzeln. Ein Meer aus Grautönen!

Der penetrante Regen hatte mittlerweile eine Pause eingelegt. Die Wolken zogen schnell vorbei, und dahinter kamen nur noch mehr graue Wolken zum Vorschein. Vor den Häusern auf der gegenüberliegenden Seite beobachtete ich, wie die Bäume in den Londoner Mini-Vorgärten sich fast schon lustlos im Wind bewegten.

Weder Winter noch Frühling, das spiegelte auch meinen Gemütszustand perfekt wider. Ich hatte beinah vergessen, dass ich quasi etwas zu feiern hatte. Das Grau da draußen konnte mich heute nicht beeindrucken und auch nicht meine Stimmung töten. Ganz im Gegenteil, je mehr Grau meine Augen erblickten, desto farbiger wurde meine Gedankenwelt. Aus dunkelgrauen Häuserwänden zauberte meine Vorfreude saftig grüne Reisfelder. Und aus der nass-grauen Straße einen bunt bepflasterten Pfad in einer schönen, unbekannten Altstadt.

Begeisterung und Aufregung flossen wie eine Droge durch meine Venen, und alles um mich herum wurde von neuem Licht geflutet. Und siehe da, ich hatte ein Lächeln auf den Lippen! Ein echtes Lächeln! Ich hatte fast schon vergessen, wie es sich anfühlte, wenn mein Gesicht sich vor Freude verzog. Es war das erste Mal seit Langem … ein Licht am Ende des Tunnels. Des verdammt langen Tunnels!

Ich hielt es für eine gute Idee, mein Vorhaben so vielen Leuten zu erzählen wie möglich. Damit wollte ich bewirken, dass es unmöglich wäre, einen Rückzieher zu machen. Ich wollte auf Nummer sicher gehen. Wer wusste schon, wie weit ich letztendlich kommen würde? Aber das war auch nicht wichtig. Es wäre fast ein Wunder, wenn ich das überlebte und tatsächlich in Australien ankäme. Aber eines wusste ich mit Sicherheit: dass jeder Kilometer es wert wäre und mich mit Erinnerungen füllen würde, die die letzten farblosen Monate auch tatsächlich verblassen lassen könnten.

Ich riss meine klemmende Zimmertür mit einem lauten Quietschen auf, schlüpfte in meine Stiefel und ging nach draußen. Aufregung pochte durch meinen Köper und brachte mich in Bewegung. Mein Spaziergang führte mich durch zahlreiche kleine, mit dreckigen Pfützen übersäte Straßen in Camden. Zwar merkte ich, wie ich vorankam, aber ich war in einer anderen Welt versunken, irgendwo tief in der neu entdeckten bunten Welt in meinem Kopf. Ein Auto hupte mich beim Überqueren einer Straße an, beinah hätte es mich wegen meiner Tagträumerei überfahren. Viel Kraft für Negativität hatte ich nicht, also lachte ich dem Fahrer einfach ins Gesicht. Auch ein Radler war kurz davor, mich in einer Seitenstraße umzufahren, und auch er bekam nur ein müdes Lächeln als Antwort auf: »For fuck’s sake, watch the road and don’t fucking daydream, mate.« Beinah belog ich mich vor Glücksgefühlen selbst und dachte: ›Ach, ich werde diese Briten vermissen.‹ Kopfschüttelnd versuchte ich den Gedanken wieder loszuwerden.

Stattdessen wollte ich über all die anderen wichtigen Dinge nachdenken, zum Beispiel wo ich das Visum für China herbekam? Wann musste ich was beantragen? Passte alles, was ich brauchte, in meinen Rucksack? Wie kalt war es an den meisten Orten tatsächlich? Ich trabte die Gassen entlang, und nicht mal meine mittlerweile nassen Socken störten mich.

Eine Graffiti-überzogene Wand nach der anderen zog an mir vorbei. Von Amy Winehouse über die Beatles bis hin zu Che Guevara waren allerlei Motive hundertfach und in allen Farben mühsam auf die Hauswände gesprüht worden.

›Einen Drink, ich brauche einen Drink‹, dachte ich und steuerte zu dem veganen Café, in dem ich einst gearbeitet hatte. Mit Sicherheit würde ich hier auf jemanden treffen, dem ich von meinem verrückten Vorhaben erzählen konnte.

Mein ehemaliger Boss Christian stand, wie erwartet, an der Theke und musterte mich misstrauisch: »You look different! What is it? Hmm, let me see. You look kinda happy today.«

Ich lächelte und fühlte, wie meine Augen strahlten. Christians Aussage machte mir gute Laune, weil er bemerkt hatte, dass ich etwas Großes plante. Eine Idee muss bei ihrer Geburt so viel Energie ausstrahlen wie eine werdende Mutter. Man weiß nicht genau, was anders ist, aber man fühlt eine gewisse Veränderung, die unerklärlich scheint. Es platzte aus mir heraus: »I will leave London soon. I am going to hitchhike to Australia.« Triumphierend plusterte ich mich auf wie ein Gockelhahn.

Doch das erwartete Staunen blieb aus. Christian sah mich einen kurzen Moment reaktionslos an und lachte nur kurz auf. »Why does it not surprise me coming from you? So when are you leaving?«

Seine Gelassenheit verdutzte und nervte mich zugleich. Wieso fiel er nicht aus allen Wolken? Warum war er nicht total aus dem Häuschen? Er gab mir das Gefühl, entweder nicht ernst genommen zu werden oder sogar, dass meine Idee nicht ganz so verrückt und außergewöhnlich war, wie sie für mich schien. Mit einem leicht unterdrückten eingeschnappten Unterton berichtete ich weiter: »Well, I will save some money in the next six months and leave. I mean like for real. I will hitchhike once across the globe and maybe I will not survive this crazy adventure.« Damit hatte ich klar genug dargelegt, wie ernst ich es meinte, und mir offiziell ein Zeitlimit gesetzt, das ich wohl einhalten musste. Sechs Monate also!

Christian brachte mich zum Nachdenken, als er fragte, ob ich denn in sechs Monaten genug Geld ansparen könnte und wie ich es denn mit den Visa machen würde. Gute Fragen, zugegeben, mit denen ich mich aber zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich auseinandersetzen wollte. Ich wollte meine Euphorie nicht bremsen lassen.

Auf dem Weg zurück in meinen Schuhkarton in Camden holte ich dennoch mein Handy raus und fing an zu recherchieren. ›Man muss in China die Ein- und Ausreise bestätigen, wenn man sich um ein Visum bewirbt, und dazu muss man eine Unterkunft nachweisen für die Zeit, die man dort verbringt.‹ Mein Herz legte in diesem Moment einen Zahn zu, denn ich hatte keine Ahnung, wie das zu meiner Freiheits-Tramper-Theorie passen sollte. Würde ich schon bei den ersten Vorbereitungen scheitern? Und ich hatte gerade erst ein Land recherchiert. Was waren wohl die Bestimmungen in Russland und Südostasien?

Die nächsten Tage setzte ich mich dann doch noch genügend mit all den Themen auseinander. Die wenigsten würden von mir behaupten, besonders deutsch zu sein, aber was organisatorische Sachen angeht oder Dinge wie Reiseversicherungen, war ich dann doch sehr effizient und wollte immer auf Nummer sicher gehen. Und das ist bei Deutschen wohl eine Art Klischeeeigenschaft.

Langsam wuselte ich mich Schritt für Schritt durch zahlreiche Webseiten und Foren. Mit dem Ziel, die perfekte Route zu finden und alles Bürokratische vorab zu klären, durchforstete ich das World Wide Web länger als je zuvor und fühlte mich ein wenig stolz. Richtig organisiert kam ich mir vor! Es war das erste Mal, dass ich so viel Zeit aufwendete, um mich auf eine Reise vorzubereiten. Man muss dazu sagen, dass ich mich tatsächlich nur um den bürokratischen Teil kümmerte. Ich verschwendete keinerlei Zeit damit, ›die schönsten Strände in Thailand‹ oder ›Was isst man in China?‹ zu googlen.

Mein Kopf glühte und meine Augen brannten, nachdem ich stundenlang klein gedruckte, mir entgegenleuchtende Informationen auf trist aussehenden Einwanderungsseiten studiert hatte. Das Ergebnis? Bis auf mein Visum für Australien konnte ich mich vorerst um nichts Weiteres kümmern. Das Visum für Russland musste ich in München beantragen, wo ich selbstverständlich seit meiner Geburt bei Mama gemeldet war. Und das für China durfte ich erst einen Monat vor Anreise beantragen, was meine ganze Planung ein wenig riskant werden ließ. Was würde ich tun, wenn mir aus irgendeinem Grund das Visum nicht genehmigt werden würde? Ich müsste es in einer Vertretung in Finnland beantragen und hoffen, dass ich all die nötigen Papiere bis dahin zusammenhätte. Bislang hatte ich außer einem Reisedokument keine einzige der Informationen, die China von mir haben wollte.

Gestresst rieb ich mir übers Gesicht mit beiden, vom Tippen angespannten Händen. Obwohl ich theoretisch bis auf ein paar Infos, die ich in mein rosafarbenes Notitzheft geschmiert hatte, nicht sehr viel weitergekommen war, fühlte ich mich bereit und hatte keine wirklichen Zweifel daran, dass ich das rechtzeitig schaffen würde. Allgemein hatte ich nicht das Gefühl, dass an diesem total irren Plan irgendetwas schiefgehen könnte. Jetzt musste ich wohl nur die sechs Monate abwarten, bis es endlich losging.

aWay

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