Читать книгу aWay - Nic Jordan - Страница 11

Wurzeln und Wunden VON KATOWICE NACH ŚWINOUJŚCIE

Оглавление

Eine lange graue Betontreppe überbrückte die Autobahn. Unter der Brücke versteckte sich eine kleine, nicht gut besuchte Tankstelle. Bevor ich mich auf den Weg dorthin machte, beobachtete ich von oben die vorbeirasenden Autos und Lkws. Um mich herum bestand die Szenerie aus Plattenbauten und Industriegebäuden mit heftig rauchenden Türmen. Das Meer aus Grau ließ mich die Stirn runzeln. ›Ich sollte mal langsam los‹, dachte ich nach einem Blick in Richtung Himmel. Es sah nach baldigem Regen aus.

Ein Auto fuhr auf den Tankstellenparkplatz, und ich lief los. Unten angekommen, bemerkte ich auf dem Beifahrersitz einen kleinen Jungen, vielleicht neun Jahre alt. Der Fahrer, von dem ich vermutete, dass er der Vater des Kindes war, sah ziemlich spießig aus: Regenjacke, Brille, Bürohaarschnitt, kleine Lederschühchen mit dünnen Schnürsenkeln und diese Art von Jeans, von der man weder Farbe, Modell noch Schnitt definieren konnte. Ich öffnete meine Übersetzungs-App und prägte mir ein, wie man ›Wo fahren sie hin?‹ fragt.

»Kam jdeš?« Unsicher war ich um das Fahrzeug herumgeschlichen und hatte den Mann mit der Frage überrascht, während er etwas in seinem Kofferraum suchte. Dreimal musste ich die Frage wiederholen, da er mich nicht verstand. Mit jedem Mal wurde ich leiser und unsicherer, weil ich nicht wusste, ob das Übersetzte richtig war. Nach dem letzten Versuch sah er mich an und begann, mir etwas auf Tschechisch zu erzählen. An dem Punkt versuchte ich ihn zu bremsen, da ich natürlich kein Wort verstehen konnte. Etwas beschämt fragte ich: »English?«

Er lächelte und antwortete: »Yes, not very good, but okay.«

Ich war erleichtert. Hier fand man nicht viele Menschen, die Englisch sprachen, und manche waren auch einfach nicht willens, in einer anderen Sprache zu kommunizieren. Zu meinem Glück musste der Mann – sein Name war Bartek – in meine Richtung und war bereit, mich mitzunehmen.

Sein kleiner Sohn hielt sich anfangs mit der schüchternen Unschuld eines Kindes zurück, aber wie die meisten taute er nach kurzer Zeit auf und bat seinen Vater, seine Fragen an mich zu übersetzen. Erst wollte er Banales wissen, wie alt ich war oder wo ich herkam. Die Fragen wurden aber immer spezifischer und klangen für ein Kind in dem Alter fast tiefsinnig: »Wirst du dich nicht einsam fühlen, wenn du so lange allein sein wirst? Du wirst nichts sehen, was du kennst?!«

Das brachte mich zum Nachdenken, und ich antwortete: »Bin ich denn jetzt gerade allein? Um ehrlich zu sein, kann ich mir nichts Schöneres vorstellen, als die nächsten Monate nur Dinge zu sehen, die mir neu sind. In deinem Alter entdeckt man doch auch immer wieder etwas Neues, fühlt sich das nicht schön an?«

Bartek schenkte mir über den Rückspiegel ein bestätigendes Lächeln und übersetzte geduldig meine Antworten. Ihm und seinem Sohn schien die Unterhaltung Spaß zu machen, und die Zeit verging schnell.

Wir kamen an eine Raststätte, an der die beiden mich rausließen, da wir in unterschiedliche Richtungen weitermussten. Bartek wollte noch tanken, und die Zeit wollte ich nutzen, um meine nächste Mitfahrgelegenheit zu finden. Mir wurde auf einmal bewusst, dass wir kurz vor der polnischen Grenze waren.

Den Weg durch Polen hatte ich bewusst gewählt, weil dort meine Wurzeln lagen. Meine Eltern stammen aus Katowice, einer mittelgroßen, nicht besonders schönen Stadt, circa eine Stunde von Krakau entfernt. Früher gehörte Katowice zu Schlesien, und man stritt sich lange Zeit darüber, ob man es wirklich zu Polen zählen konnte oder ob es eher zu Deutschland gehörte. Der Gedanke, am Anfang meiner Reise noch mal mit meinen Wurzeln in Berührung zu kommen, gefiel mir, und zudem lebte mein Vater in Polen. Mit ihm hatte ich allerdings seit fünf Jahren nicht mehr gesprochen. Damals hatte ich den Kontakt ganz bewusst abgebrochen, denn ich war unfassbar wütend und verletzt.

Als mein Bruder sich vor einigen Jahren das Leben genommen hatte, bekam ich den Anruf von meiner Mutter genau in der Zeit, in der ich dachte, dass es ihm besser ging. Didi und ich waren uns seit seinem ersten Suizidversuch damals sehr nahgestanden, und ich wusste als Einzige in der Familie, dass es den Versuch gegeben hatte und es nicht auszuschließen war, dass er es noch mal probieren würde. Dieses Wissen hatte ich nie mit jemandem geteilt, und es sollte bis zu seinem Tod unser Geheimnis bleiben. Am Tag seiner Beerdigung teilte ich dieses Geheimnis mit dem Rest meiner Familie. Ich wollte, dass sie verstanden, was in ihm vorgegangen ist und wer er wirklich war. Mein Vater verwendete es damals aus Wut gegen mich und behauptete, ich hätte ja »etwas tun können«. Die Vorwürfe, die ich mir selbst machte, waren schon Ballast genug, und seine Schuldzuweisung empfand ich als unfair.

Mittlerweile war mein Bruder seit Jahren weg, und ich hatte damit Frieden geschlossen, soweit man mit so etwas eben Frieden schließen konnte. Dass mein Vater einen Schuldigen suchte, zeigte nur seine eigene Verzweiflung, was ich damals nicht so hatte sehen können, da ich selbst erschüttert war. Die ersten Jahre nach Didis Selbstmord hatte ich mir immer wieder selbst die Schuld gegeben, und deswegen reagierte ich umso allergischer auf die Anschuldigungen meines Vaters. Es war nicht, als hätte er Salz in meine Wunde gestreut, sondern als hätte er Essigsäure drübergeschüttet und versucht, sie in Brand zu setzen. Das Feuer hatte ich gelöscht und die Wunde verarztet, so gut es möglich war.

Ich war das Küken in der Familie und war es nicht gewohnt, Verantwortung zu übernehmen und allein zu sein. Doch nach dem Tod meines Bruders kümmerte ich mich um die Bestattung, den Papierkram und die Kosten. Meiner Mutter ging es unfassbar schlecht, und ich wollte nicht, dass jemand in meiner Familie sich mit all den Dingen rumschlagen musste. Tief in mir wusste ich, dass mein Bruder das so gewollt hätte. Ich war davor das sorglose jüngste Kind der Familie gewesen und wurde über Nacht mit dem Schicksalsschlag erwachsen. Zum wiederholten Mal hatte mein Bruder mein Leben verändert und mir auf brutale Art und Weise gezeigt, wie man erwachsen wird.

Wieso ich trotz der furchtbaren Anschuldigungen meines Vaters nach Polen wollte, um mit ihm zu sprechen? Mich hatte vor einem halben Jahr das Gerücht erreicht, dass mein Vater verstorben sei. Dieses war von Bekannten in die Welt gesetzt worden, die nicht weit weg von ihm wohnten. Sie hatten in einer Nacht beobachtet, wie ein Krankenwagen kam und meinen Vater mitnahm, und kurz darauf war seine Wohnung verkauft worden. Als ich damit konfrontiert wurde, löste es eine Welle von Emotionen in mir aus. Ich hatte in der Vergangenheit aus Wut Sachen gesagt wie »Soll er zur Hölle fahren« und »Es ist mir egal, was mit ihm ist und wie es ihm geht«. Aber in dem Moment, in dem es angeblich so war und ich dachte, nie wieder mit ihm sprechen zu dürfen, fühlte ich Trauer, und jedes Fünkchen Wut, das immer wieder in mir aufgeblitzt war, war erloschen. ›Wie schön es doch gewesen wäre, mich noch einmal mit ihm auszusprechen‹, dachte ich mir damals.

Mein Vater ist ein sehr spezieller und unfassbar schwieriger Mensch, dessen Erziehungsmethoden aus Gewalt bestanden. Ich erinnerte mich an viele Situationen, in denen ich Angst hatte. Angst vor meinem Vater und davor, etwas zu tun, was ihn wütend machte. Es waren immer Kleinigkeiten, die ihn aus der Fassung brachten. Ich habe als Kind nicht verstanden, was ich falsch gemacht habe und wieso ich immer so bestraft wurde. Oft waren es banale Momente, in denen ich zum Beispiel mit meinem älteren Bruder rumalberte und mein Vater zur gleichen Zeit die Nachrichten sehen wollte. Wir störten ihn, und Gewalt oder Schreie waren seine Art und Weise, uns das du zeigen. Doch über die Jahre habe ich aus der Ferne mehr und mehr gesehen. Durch Selbstreflexion und Beobachtung bekam ich das Gefühl, auch meinen Vater ein wenig besser zu verstehen. Wenn ich an meine Kindheit zurückdachte, verspürte ich viel Liebe für ihn. Ich war bereit, ihm in die Augen zu sehen, auch wenn ich mir nicht ganz sicher war, wie er reagieren und was sich aus meinem Friedensangebot ergeben würde.

Bartek unterbrach meine immer tiefer rutschenden Gedanken, als er von der Tankstelle zurückkam und bereit war, weiterzufahren. Er rief euphorisch: »I have a new car for you to go to Poland.«

Sein Sohn hing an seiner Hand und freute sich mit ihm.

Drei junge Menschen standen vor einem roten Sportwagen, zwei Männer und eine blonde Frau musterten mich neugierig. Ich bemerkte das polnische Nummernschild und fragte auf Polnisch, bis wohin sie fuhren. Die drei sahen mich verdutzt an, weil sie nicht erwartet hatten, dass ich ihre Sprache beherrschte.

»Katowice«, antwortete die Blondine. »Sicher willst du woanders hin, aber wir können dich bis dahin mitnehmen.«

Katowice hatte nicht viel zu bieten, was man als Tourist sehen wollen würde. Die Jungs und Mädels waren völlig aus dem Häuschen, als ich ihnen erklärte, dass ich genau dorthin wollte.

Ich verabschiedete mich von meinen lieb gewonnenen tschechischen Freunden und kletterte in das nächste Fahrzeug.

Wenn ich Polnisch spreche, habe ich einen sehr seltsamen Akzent, wird mir oft gesagt. Meine Mutter hatte immer mit mir Deutsch sprechen wollen, um selbst besser zu werden, und so fehlte mir die Übung. Die Fahrt nach Katowice dauerte nicht lange, und allgemein waren die Insassen zwar gesprächig, aber viele gemeinsame Themen ließen sich nicht finden. Sie nahmen sich andauernd gegenseitig auf die Schippe, und wenn sie nicht verstanden, was ich ihnen zu sagen versuchte, reagierten sie einfach mit Lachen. Dieses Verhalten brachte mich irgendwann auf die Palme, und mir verging die Lust, zu erzählen. Dass man sich nicht mit jedem Menschen versteht, mit dem man ein Auto teilt, ist selbstverständlich. Manchmal sitzt man stundenlang mit einem Fremden im Auto, der entweder deine Sprache nicht spricht oder der dich einfach nicht verstehen kann. Aber aus jeder Begegnung konnte man etwas lernen, und in diesem Fall waren es wohl Geduld und Akzeptanz.

Ich schloss einen Moment lang meine Augen und versuchte, mich an das Gefühl zu erinnern, das ich als kleines Mädchen hatte, wenn ich mit meinen Eltern nach Polen fuhr. Ich hatte mich zwar immer gefreut, mal wieder unterwegs zu sein, aber Polen gehörte damals nicht zu meinen Lieblingszielen. Im Nachhinein betrachtet, hing das wohl damit zusammen, dass mein Bruder Polen nicht mochte und er immer eine Vorbildfunktion für mich hatte.

Wir näherten uns dem Ziel, und ich wurde nervös. Eine seltsame Melancholie unterbrach meine Fähigkeit, im Moment zu sein, und ich versank in einer Mischung aus Kindheitserinnerungen und Zukunftstheorien. Konzentriert starrte ich aus dem Fenster und betrachtete jedes einzelne Haus. Immer wieder dachte ich: ›Daran kann ich mich gar nicht erinnern … Oder doch?‹ Es war, als wäre meine Erinnerung tief in mir verschüttet.

Wir kamen an einer kleinen Tankstelle am Stadtrand zum Stehen. Von hier aus musste ich laufen. Oder besser gesagt: Von hier aus wollte ich laufen. Ich verabschiedete mich von meinen Mitfahrern und machte mich auf den Weg. Eigentlich wusste ich nicht wirklich, in welche Richtung ich musste, aber ich folgte meinem Instinkt, der mich zu einem Friedhof führte. Wie angewurzelt blieb ich vor dem Eingang stehen, und meine Gedanken wurden überflutet mit Bildern aus der Vergangenheit. Mit einem Mal war meine Erinnerung freigelegt, als hätte jemand einen Knopf gedrückt. Es war der Friedhof, an dem meine Großeltern begraben liegen. Links vor dem Eingang war immer noch derselbe Blumenstand wie damals und auf der rechten Seite ein Laden, der Friedhofskerzen in allen Größen und Formen verkaufte. In Polen wird sehr viel achtgegeben auf die Gräber der Verwandten. Man zelebriert es als gemeinsame Familienaktivität, in regelmäßigen Abständen die Gräber der Verstorbenen zu besuchen, zu pflegen und zu schmücken.

Ein kleines Kind rannte gegen mein Bein und holte mich zurück in die Gegenwart. Der Kleine sah mich irritiert an, kratzte sich am Kopf und lief dann beschämt zu seiner Mutter. Mein Handy vibrierte in diesem Moment, eine Nachricht von meiner Mutter. Sie wollte sich vergewissern, dass ich gut angekommen bin, und schickte mir die Adresse meiner ciocia Ula Spiegel.

Ciocia bedeutet Tante, auch wenn Ula nicht wirklich meine Tante ist. Meine Mutter und Ula waren zusammen zur Schule gegangen und sind seit fast 50 Jahren befreundet. Regelmäßig war sie mit ihrem Sohn und ihrem Ex-Mann nach München gekommen und hatte uns mit ihrem riesigen Wohnwagen auf lange Ausflüge in die Natur entführt. Wir stellten uns dann an Seen oder Flüsse und grillten. Das hatte sich so eingebürgert und war für mich immer ein Highlight. Schon damals wollte ich in so einem Ding leben und reisen, vielleicht war das der Beginn meiner Reiselust. Ich kann mich noch genau erinnern, wie wir in den Maisfeldern rumalberten, und an den Tagen, an denen sie zu Besuch waren, hielt sich mein Vater immer zurück, und es gab wenig Streit.

Für mich war Ula immer wie eine Tante. Wärme und Liebe erfüllten mich, wenn ich an jene Tage dachte. Ich folgte freudig der Wegbeschreibung zu ihrer Wohnung, die mich einmal durch die ganze Stadt führte. Überall erkannte ich Orte wieder, sogar bestimmte Cafés und Restaurants, die wir bei besonderen Events besucht hatten und die sich anscheinend immer noch erfolgreich hielten. Es war wie eine Reise in die Vergangenheit, nicht viel hatte sich hier verändert. Die Häuser hatten alle einen grauen Schleier, da man bis heute in den meisten Haushalten mit Kohle heizt – dementsprechend lag das ganze Jahr über ein bestimmter Geruch in der Luft. Die Straßen waren genau wie früher mit Schlaglöchern und Unebenheiten versehen, die aufgrund von mangelnden Geldern teilweise seit der Kriegszeit nicht berichtigt worden sind.

Das GPS führte mich zu einem großen Plattenbau. Das Haus war eine Art Betreutes Wohnen für Senioren. Hier lebt Ula mittlerweile mit ihrer Mutter zusammen in einer 1,5-Zimmer-Wohnung. Vor einigen Jahren hatte sie sich von ihrem Mann scheiden lassen. Als mir meine Mutter davon erzählte, brach es mir das Herz. Ula und ihr Mann waren für mich als Kind immer das perfekte Beispiel für eine heile Familie gewesen.

Im achten Stock öffnete sich mein Fahrstuhl, und dahinter kam Ula zum Vorschein, die mich mit einem Aufschrei der Freude und einer unfassbar festen Umarmung begrüßte. Meine geliebte ciocia war immer noch wunderschön. Mittlerweile waren ihre Haare nicht mehr blond gefärbt, sondern naturweiß. Ihre Stimme war immer noch so hoch und quietschig wie damals, und auch den großen goldenen Ohrringen hatte sie nicht abgeschworen. Ihr kleines Apartment war liebevoll eingerichtet mit alten Holzmöbeln und Textilien mit Blümchenmuster; auf dem Boden war ein weicher Teppichboden verlegt. Der Blick aus dem Fenster war von einer weißen Rüschengardine verdeckt, und im Zentrum des Raumes stand ein alter Röhrenfernseher vor tiefen weißen Sesseln und einer Glasvitrine voller Schwarz-Weiß-Fotos. Ich musste kurz daran denken, wie halbherzig ich meine Wohnungen immer eingerichtet hatte, mit dem Hintergedanken, dass ich eh nicht lang bleiben würde. Der Gedanke an ein Zuhause beruhigte und beängstigte mich zugleich.

Wir ließen den Abend bei einem gemeinsamen Abendessen ausklingen. Ciocia Ula verwöhnte mich mit einer traditionellen polnischen Gurkensuppe aus fermentierten Dillgurken, Gemüse und Kartoffeln. (Normalerweise gab man auch Sahne dazu, aber auf diese verzichtete ich meistens.) Jedes Mal wenn ich fast aufgegessen hatte, ging meine ciocia ihrem Job als gute Tante nach und legte mit dem Schöpflöffel nach. Im Anschluss schwatzte sie mir noch ein Stück Beerenkuchen auf, und hier kam ich um das Häufchen Sahne nicht herum. Mit einem Kuss auf die Wange bedankte ich mich für den Tag und das Essen und ging in mein gemachtes Bett. Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich es schaffte, zu schlafen. In einer Welt aus Fragen, Erinnerungen, Liebe und Angst kreisten meine Gedanken mit dem Mond durch die Nacht.

Ein Rascheln und unverständliches Getuschel weckten mich am nächsten Morgen. Verschlafen schlenderte ich in die Küche. Ula überforderte mich direkt nach Betreten des Raumes mit einem Meer an Fragen zu meinen Plänen. Ich rieb mir die Augen und versuchte alles zu beantworten, ganz oben auf meiner Liste stand ja der Besuch bei meinem Vater. Besonders schwer konnte es nicht sein, ihn ausfindig zu machen, da Katowice eine kleine Stadt und mein Vater nicht gerade unbekannt war.

Meine ciocia half mir bei der Suche und telefonierte systematisch durch ihren Bekanntenkreis. »Hallo, meine Liebe, lang nichts mehr gehört. Du, eine Frage, hast du die Telefonnummer von Leszek? … Nein, der ist nicht tot. … Ja, ganz sicher! … Alles klar, trotzdem danke.«

In dieser Art verliefen die ersten Gespräche. Viele Leute hatten ihn seit einer halben Ewigkeit nicht gesehen, wussten angeblich nicht, wer er sei, oder wollten ihn nicht mehr kennen. Die Suche gestaltete sich schwerer als vermutet, doch auf einmal änderte sich der Klang von Ulas Stimme. Sie quietschte mehr als üblich, und ihr Gesicht leuchtete. Sie lief ins Nebenzimmer und kritzelte etwas auf die Ecke einer alten Tageszeitung.

»Ich habe die Nummer von deinem Onkel, der kann uns sicher mehr Auskunft darüber geben, wo sich dein Vater aufhält.«

Ich wusste nicht, ob ich mich darüber freuen sollte. Insgeheim hatte ich Angst, meinem Vater zu begegnen, und ein Teil von mir hatte gehofft, dass ich ihn nicht ausfindig machen würde und mir die Konfrontation erspart bliebe. Jetzt musste ich mich der Situation stellen. Ich ging zögernd auf meine Tante zu, sie streckte mir ihr Telefon und das Stück Papier entgegen und blickte mir unterstützend in die Augen. Das Telefonat mit meinem Onkel war sehr schön, ich hatte ihn seit circa 15 Jahren nicht mehr gesprochen oder gesehen. Er war sofort bereit, mir zu helfen, und obwohl er schon länger keinen guten Kontakt mehr zu meinem Vater hatte, wollte er ihn für mich anrufen.

Es dauerte keine zehn Minuten, bis mich das schrille Klingeln des alten Telefons aus meinen Tagträumen riss. Ich nahm den Hörer in die Hand, atmete noch mal tief durch und ging ran: »Hallo?«, hauchte ich unsicher.

»Ciao, Nicola, warum sagst du mir nicht vorher, dass du zu Besuch kommst? Muss ich es wirklich von anderen erfahren? Und außerdem: Wieso übernachtest du bei Fremden wie Ula und nicht bei deinem Vater?«

Wow … was für ein Einstieg! Der erste Kontakt begann genau wie der letzte damals geendet hatte: mit einem Vorwurf. Ich hielt einen Moment lang inne, weil ich sonst das Feuer wieder eröffnet hätte. Es war seltsam, seine Stimme zu hören. Sie hatte sich nicht verändert und war so vertraut, aber in den letzten Jahren hatte ich vergessen, wie sie klang. Ich erklärte ihm, wieso ich mich meldete. Ich erzählte von meinem Vorhaben und bat ihn um ein Treffen.

Er lud mich ein, und wir vereinbarten, dass ich heute noch zu ihm fahren würde. Im Taxi bereitete ich mich innerlich auf unser Gespräch vor. Die Reise, die mir bevorstand, brachte gewisse Gefahren mit sich, und es war unabsehbar, wie lange ich reisen würde. Es wäre eine riesige Erleichterung, wenn ich mich davor mit meinem Vater versöhnen könnte.

Wir bogen in die Straße ein, die er dem Taxifahrer am Telefon genannt hatte, und da stand er. Alt war er geworden. Mein Herz stockte. Er war kleiner als in meiner Erinnerung und trug einen Hut und eine Brille. Ein dichter, langer weißer Bart verdeckte den größeren Teil seines Gesichts.

Als ich ausstieg, reichte er dem Taxifahrer Geld und sah mich zunächst nicht an. Dann drehte er sich zu mir und nahm mich wortlos in den Arm. Seine Arme fühlten sich schwach an um meinen Hals, und er roch immer noch wie damals. Ich verspürte ein Zittern und Tränen auf meiner Schulter, dann drückte er mich noch einmal fester, bevor er sich losriss und den Moment abrupt beendete, als schämte er sich dafür, die Fassung verloren zu haben. Mit seinen faltigen Händen wischte er sich schnell die Tränen unter der Brille weg. Seine Hände weckten Erinnerungen. Damals waren sie stark und furchterregend, heute wirkten sie schwach, und die Altersflecken erinnerten mich daran, wie viel Zeit verstrichen war.

Er lief voraus in ein altes schönes Haus mit Marmortreppe. Hinter der großen hölzernen Wohnungstür kam ein kleines, circa vierjähriges Mädchen mit rosa Brille und glatten blonden Haaren zum Vorschein.

»Sag hallo, Nicole, das ist deine Schwester Nicola.«

Ich blieb wie versteinert stehen. Meine Schwester? Ich habe eine kleine Schwester? Ich war sprachlos, aber versuchte mir ein Lächeln aufzuzwingen. Die Kleine musterte mich neugierig aus der Ferne.

»Was ist denn mit euch?«, fragte mein Vater. »Nehmt euch in den Arm oder so! Ihr seid Schwestern.«

Ich war mir nicht sicher, was mich gerade am meisten verstörte. Das Mädchen und ich trugen fast den gleichen Namen. Wieso wusste ich nichts von ihr? Wieso tat er so, als wäre es völlig normal, dass wir gerade aufeinandertrafen?

Nicole folgte der Anweisung unseres Vaters und ging auf mich zu, um mich, oder sagen wir: um meine Beine zu umarmen. Sie wollte mich gar nicht mehr loslassen. Obwohl sie mich nicht kannte, schien sie Liebe für mich zu empfinden. Gerührt blickte ich auf sie herunter und streichelte zaghaft ihren Kopf, der sich gerade mal auf Höhe meiner Hüfte befand. Ich war es nicht gewohnt, mit Kindern umzugehen – bis auf Kaus Tochter gab es keine in meinem Leben –, doch als die Kleine mich noch einmal fester drückte, lösten sich meine Berührungsängste in Luft auf.

Sie sah zu mir herauf und musterte mich durch ihre dicke Brille. »Bist du wirklich meine Schwester?«

Mein Blick wanderte fragend zu meinem Vater, und er nickte. Unsicher sagte ich: »Ja. Ich denke, ich bin deine Schwester.«

Wenig später klingelte es an der Tür, und die Freundin meines Vaters kam dazu. Ala kannte ich noch von vor ein paar Jahren, sie war wesentlich jünger als mein Vater, und ich habe sie eigentlich immer sehr gemocht. Oft fragte ich mich, was sie dazu brachte, so lange bei meinem Vater zu bleiben. Irgendwas schien er ja zu haben, wenn er wunderschöne Frauen wie sie und meine Mutter so lange an sich binden konnte.

Die darauffolgenden Tage verbrachten wir viel mit Reden und Erklären. Wir sprachen über mein Vorhaben und darüber, was in den letzten Jahren auf beiden Seiten so passiert war. Das Einzige, worüber wir kein Wort verloren, war der Grund unseres Kontaktabbruchs. Ich wollte alte Wunden nicht öffnen und gab ihnen die Chance, mit neuen Erinnerungen überpflastert zu werden. Auch wenn es mir nicht leicht fiel, las ich zwischen den Zeilen, dass es ihm leidtat.

Am Tag meiner Weiterreise fuhren wir zusammen ein paar Stationen mit dem Zug. Er musste wegen eines Geschäftstermins in die gleiche Richtung wie ich und bestand darauf, dass wir gemeinsam fuhren. Er saß mir gegenüber, und zwischen uns befand sich ein grauer Tisch. Plötzlich durchbrach er die Stille und fing an, von meinem Bruder zu sprechen. Seine Tränen überforderten mich. Mit leiser Stimme flehte er um Vergebung. Ich reichte ihm ein Taschentuch und sah zu, wie er sein nasses Gesicht trocknete und dann schlagartig versuchte, weitere Tränen zu unterdrücken, um keine Schwäche zu zeigen. Das nasse Taschentuch zerdrückte er in seinen unbeweglich aussehenden Händen.

Ich empfand Mitleid für ihn. Das Empfinden war so stark und so wichtig, dass ich lächelte. In diesem Augenblick hatte sich etwas in mir verändert: Der Mann, der mir als Kind immer Angst gemacht hatte, der mir immer groß, stark und mächtig vorkam, war auf einmal ein alter, schwacher Mann, der mit zitternder Stimme um Vergebung bat. Ich schwieg und akzeptierte auf diese Weise seine Entschuldigung. Zum ersten Mal in meinem Leben legte ich meine Hand auf seine. Es war der Augenblick, in dem ich für mich entschieden hatte, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Es war der Augenblick, dessentwegen ich hergekommen war.

Wir erreichten unseren Zielbahnhof. Unsere Verabschiedung war kurz und ließ den Gefühlsausbruch wenige Minuten zuvor fast unwirklich erscheinen. Hier trennten sich unsere Wege auf unabsehbare Zeit wieder.

Hundemüde und völlig überfordert von der unerwarteten Größe der Stadt kam ich in Warschau an. Ich machte mich auf die Suche nach etwas zu essen und einem Ort mit WLAN, wo ich spontan nach einem Schlafplatz schauen konnte. Für diesen Zweck nutzte ich schon seit vielen Jahren immer wieder die Couchsurfing-Webseite, eine Plattform für Reisende, die gerne bei Einheimischen übernachten. Teilweise aus Neugier der anderen Kultur gegenüber, aber manchmal auch aus finanziellen Gründen.

Ich muss zugeben, dass ich diesen Teil der Reise nicht besonders gut vorbereitet hatte. Es fing bereits an zu dämmern, und ich hatte noch kaum etwas von der Stadt gesehen. Glücklicherweise war eine weibliche Couchsurf-Gastgeberin bereit, mich spontan aufzunehmen. Ihre Wohnung lag ein wenig außerhalb des Zentrums, und so musste ich noch eine kleine, zweistündige Wanderung unternehmen. Das letzte Stück führte mich durch einen Plattenbaudschungel, der um diese Uhrzeit ausgesprochen einschüchternd wirkte. Das Echo meiner Schritte hallte durch die langen, breiten Straßen. Die meisten Straßenlaternen funktionierten nicht, die restlichen flackerten mühsam und machten mich auf den Nieselregen aufmerksam.

Gerade als ich abbiegen musste, gab die Lampe, die mir den Weg leuchten sollte, den Geist auf. In der Ferne hörte man Hunde bellen und Paare streiten. Plötzlich überraschte mich ein Geräusch aus nächster Nähe. Neben mir ertönte ein lautes Räuspern aus einer dunklen Ecke unter einem großen Baum. Alles in mir erstarrte. Ich kniff meine Augen zusammen, um etwas erkennen zu können. Die Silhouette eines Mannes zeichnete sich in der Dunkelheit ab, doch selbst mit Mühe konnte ich kein Gesicht erkennen. Er saß auf einer kaputten Holzbank und rauchte einen Joint. Den nächsten Zug spülte er mit einem großen Schluck aus einer kleinen weißen Glasflasche runter, die im Laternenlicht glänzte. Aus Angst, er könnte sich provoziert fühlen, sah ich schnell weg.

Nach dieser unerwarteten Begegnung wurde die Nachbarschaft etwas freundlicher: Zahlreiche beleuchtete Fenster bildeten ein Meer aus Lichtern um mich herum. Sie erstreckten sich bis in den funkelnden Nachthimmel und wirkten an solch einem hoffnungslosen Ort sogar romantisch. Jeder Eingang sah gleich aus, nur die Türen waren mit anderen Buchstaben gekennzeichnet, aber laut Google war ich an der richtigen Adresse angekommen.

Um die Zigarettenstummel und den Plastikmüll auf den Betonstufen stieg ich leichtfüßig herum und ging zum Aufzug. Sehr stabil wirkte die Kiste zwar nicht, aber 16 Stockwerke wollte ich heute nicht mehr nach oben laufen, und immerhin passte ich mit meinem Backpack gerade so hinein. Es stank nach Urin und kaltem Rauch, die Wände waren vollgeschrieben mit Beleidigungen und Liebesschwüren. Das Gekritzel lenkte mich ab von den knirschenden und pfeifenden Geräuschen, die der Fahrstuhl machte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit war ich hoffentlich vor der richtigen Tür angekommen. Zweimal musste ich klopfen, bis ich ein paar Sekunden später Schritte und das metallische Klirren des Sicherheitsriegels hörte. Die Tür öffnete sich einen Spalt, und zu meiner Überraschung fiel mein Blick nach unten, da abgesehen von einem aufgeregten schwarzen Hund auch ein wunderhübsches kleines Mädchen zum Vorschein kam. Sie lächelte mich verschmitzt mit schmalem, geschlossenem Mund an. Dass ihre beiden Zähne vorne fehlten, fiel mir erst auf, als sie den Mund öffnete, um nach ihrer Mutter zu rufen. Mit einem Mal war die Tür komplett offen, eine schlanke Frau Mitte 20 kam dahinter zum Vorschein und umarmte mich herzlich. Ehrlich gesagt hatte ich nicht damit gerechnet, so liebevoll begrüßt zu werden an einem so lieblos wirkenden Ort. Doch gleich darauf nahmen mich noch zwei weitere Bewohner in Empfang: Ein Kaninchen hüpfte mir auf dem Boden entgegen, darauf folgte ein weiteres kleines Mädchen, vielleicht zwei Jahre jünger als ihre circa zehnjährige Schwester, die mir die Tür aufgemacht hatte.

Es roch nach frisch gekochter Hausmannskost, und das Wohnzimmer sah aus wie ein Dschungel. In der Ecke standen zwei Terrarien, eins mit einer kleinen Schlange, das andere mit einem Chamäleon. Das Sofa war ausgezogen und zum Bett umfunktioniert worden, es sah gemütlich aus mit einer flauschigen Decke und mehreren Kissen.

Meine Gastgeberin Maria sprach mit sanfter Stimme und ging rührend mit ihren Mädels um. Beim Abendessen, mit dem sie extra auf mich gewartet hatten, erzählte sie mir, dass sie einen gewalttätigen Ex-Mann hat, der sie und die Kinder immer wieder bedroht hatte, wenn er betrunken nach Hause gekommen war. Sie war mit ihm seit der Schulzeit zusammen gewesen, und der Umzug und die Trennung hatten sie viel Kraft gekostet, insbesondere weil es über Nacht geschehen musste und ohne ihm zu verraten, wohin sie flohen, aus Angst vor einem seiner Wutausbrüche. Nervös spielte sie an ihrem dezenten goldenen Ring, während sie mir davon erzählte. »Ich bereue aber nichts, weil er mir diese zwei wundervollen Kinder geschenkt hat«, sagte sie und blickte verliebt in Richtung der beiden.

»Hast du denn keine Angst, dass er euch irgendwie findet?«, fragte ich vorsichtig.

»Nein, es ist ihm wahrscheinlich lieb, dass wir weg sind. Jetzt kann er in Ruhe trinken und muss sein Geld nicht mit den Kindern teilen.«

Es war in meinen Augen sehr ungewöhnlich, dass eine Frau, die in solchen Verhältnissen lebte, bei Couchsurfing einen Schlafplatz anbot. Die meisten Mütter mit jungen Kindern würden sich fürchten, Fremde in die Wohnung zu lassen. Als ich sie danach fragte, sagte sie:

»Ich wollte immer reisen, die Welt sehen und fremde Kulturen kennenlernen. Piotr, mein Ex, hatte mir immer versprochen, dass wir mal eine Weltreise machen, aber dann ist er dem Alkoholismus verfallen, und alles wurde anders. Ich war zweimal schwanger, und uns fehlten immer die finanziellen Mittel für jegliche Art von Urlaub. Meine Kinder sollen wenigstens auf diese Weise einen Einblick in andere Kulturen bekommen und nicht so ignorant aufwachsen wie die meisten meiner Bekannten von früher. Ich habe den beiden auch Englisch beigebracht und hoffe, dass es ihnen in der Zukunft einige Türen öffnen wird, damit sie vielleicht mal die Welt sehen können.«

Jedes ihrer Worte fand seinen Weg in meine Mitte, und ich war zu Tränen gerührt. Sie wirkte so zufrieden und stark, ihre Art war fast anmutig, und ihr Gesicht war bilderbuchschön. Sie machte das Beste aus ihrer Situation und war stolz auf sich und vor allem auf ihre wunderschönen Töchter. Ich fühlte so viel Liebe und Respekt in diesem Haushalt – selbst gegenüber den tierischen Mitbewohnern. Nach dem Abwasch, den ich natürlich übernahm, war es Zeit fürs Bett. Ich war emotional erschöpft von den letzten Tagen mit meinem Vater und den herzerweichenden Geschichten dieser wundervollen Familie.

Von Warschau ging es direkt nach Stettin, um kurz die Familie meiner Freundin Diana zu besuchen. Dianas Mutter nahm mich auf wie eine lang verschollene Tochter. Sie entführte mich in den wenigen Stunden, die wir miteinander hatten, zu ihren Freundinnen, und wir hatten einen polnischen Mädelsabend mit literweise Wein, Schnaps und unaufhörlichen Gesprächen. Als ich spätnachts zu Bett ging, drehte sich alles, und meine Tage im vertrauten Polen waren gezählt.

Von nun an würde ich Orte besuchen, an denen ich noch nie gewesen war. Ich hatte alle ›Verpflichtungen‹ hinter mich gebracht, alle verabschiedet, mit meinem Vater Frieden geschlossen, und nun war es an der Zeit, aus meiner Komfortzone auszubrechen und nicht zurückzuschauen. Ein gerade mal volljähriger junger Mann nahm mich mit nach Świnoujście, von wo aus die Fähre mich nach Trelleborg in Schweden bringen sollte.

Auf dem Parkplatz der Anlegestelle war es unfassbar windig und kalt. Er befand sich in einem typischen Industriegebiet, und der kalte Nieselregen unterstrich den Hafenflair. Ich musste nicht lange suchen, um ein Fahrzeug mit schwedischem Kennzeichen zu finden, das gerade in Richtung Check-in einbog. Mit vom Rucksack gekrümmtem Rücken rannte ich hinterher, so schnell es ging. Vorne saßen zwei große, fast identisch aussehende Schweden mittleren Alters und schauten mich entgeistert an, denn um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen, hatte ich an die Fensterscheibe geklopft. Ich lächelte und machte eine Geste, die sagen sollte: ›Kurbelt das Fenster runter‹, allerdings reagierte keiner von beiden darauf. Ganz im Gegenteil, sie sahen weg, taten so, als würden sie mich nicht sehen, und fuhren ein Stückchen näher an das vor ihnen stehende Auto. Ich sah dem langsam vorwärtsrollenden Fahrzeug verdutzt hinterher, denn ich hatte so eine Reaktion von erwachsenen Männern nicht erwartet, und konnte nur hoffen, dass sich in Schweden nicht alle so verhielten.

Ich wollte den Moment einfach runterschlucken, denn Ablehnung gehörte dazu, und bis hierhin hatte ich immer viel Glück gehabt. Doch Schweden sah nun, von Weitem betrachtet, nach der ersten Herausforderung aus, was das Trampen anging, und die ersten Ängste vor der Kälte krochen an die Oberfläche meines Bewusstseins. Was, wenn ich hier an diesem unangenehmen Hafen die Nacht verbringen müsste? Seit meiner Abreise aus London hatten sich die Temperaturen verändert, und so langsam näherten wir uns dem Winter. Eine Nacht im Freien wollte ich mir in dem Moment nicht einmal vorstellen, da ich jetzt schon zitterte und meine Nase lief.

Auf der Suche nach einem Taschentuch betrat ich das große Hafengebäude. Der Warteraum war leer, bis auf einen älteren Mann, der laut an seinem weißen Porzellankaffeebecher schlürfte. Kurz sah er von seiner Zeitung auf und stellte unfreiwillig Augenkontakt zu mir her. Das war mein Moment, und ich nutze ihn.

»Hi!«, rief ich lauter als erwartet durch den hallenden Raum.

Unbeeindruckt nahm der Mann noch einen Schluck von seinem Kaffee und antwortete genervt: »Hi«, gefolgt von einem lauten Husten – denn offenbar hatte er sich verschluckt. Mit seinem Blick wies er mir die Schuld daran zu und widmete sich im nächsten Moment wieder seiner Lektüre.

Doch ich ließ mich nicht unterkriegen und fragte: »English or Polish?« Eigentlich eine doofe Frage, da er eine polnische Zeitung las, aber irgendwie musste ich ja eine Konversation anzetteln.

Er blickte zum wiederholten Mal über seine Zeitung in mein Gesicht und sagte trocken: »No English!«

Direkt fing ich an, ihn auf Polnisch vollzuquatschen, und schlich langsam mit leicht nach vorne gebeugtem Kopf und in Bauchhöhe gefalteten Händen in seine Richtung. Sicherlich sah das ziemlich dämlich aus, ein wenig fühlte ich mich, als würde ich ihm etwas andrehen wollen – und genauso misstrauisch musterte er mich auch. In meinen Monolog baute ich mit ein, dass ich aus Deutschland kam, meine Eltern polnisch sind, ich gerne mit der nächsten Fähre nach Schweden fahren wollte, weil ich auf dem Weg nach Australien war und ja schon den ganzen Weg aus London gekommen sei.

Als ich fertig war mit meinem Vortrag, hob er nur eine Augenbraue und fragte, wie er mir denn helfen solle?

Auf die Frage hatte ich gewartet. Ich bat ihn, mich in seinem Auto auf die Fähre mitzunehmen, und setzte dazu wieder mein peinliches Verkäuferlächeln auf.

»Ich gehe auf keine Fähre, ich bin Putzmann hier im Terminal!«

Meine Mundwinkel gaben sich der Schwerkraft hin, mein Handknoten löste sich, ich sah ihn regungslos an.

Er schmatzte kurz genervt auf und legte wortlos seine Zeitung zur Seite: »Lass mich mal kurz jemanden anrufen, einer der Jungs auf der Fähre schuldet mir noch einen Gefallen …«

Ich nickte und klatschte in die Hände. Sofort kehrte mein Verkäuferlächeln zurück. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sich der Mann als so hilfsbereit erweisen würde. Der Dialog am Telefon verlief kurz und so leise, dass ich kein einziges Wort durch seinen dichten borstigen Bart hindurch hören konnte. Fasziniert sah ich zu, wie sich das Gestrüpp in seinem Gesicht bei jedem Wort bewegte, ohne dass sich der Tropfen Kaffee auf der Seite löste.

»Komm mit«, forderte er mich auf, ohne mir einen weiteren Blick zu schenken. Er trank seine Tasse mit zwei großen Schlucken aus und versuchte vergeblich, seine ausgewaschene Jeans über seinen dicken Bauch zu ziehen. Mit einem leichten Hinken lief er in seinen schnürsenkellosen Lederschuhen voraus und führte mich durch eine Metalltür, die nur mit einem Code zu öffnen war.

Kurz schlich sich ein wenig Angst bei mir ein. Wir waren allein in einem großen Lagerraum, und die Tür hinter mir war verschlossen. Das wirkte wie eine Szene aus einem Gemetzelfilm. Nervös legte ich meinen Finger auf das Pfefferspray in meiner Jackentasche, das Marcel mir vor meiner Abreise besorgt hatte. Wir gingen durch eine weitere schwere Tür, um am anderen Ende des Hafens wieder rauszukommen. Hier wartete ein kleiner dünner Mann mit krummer, laufender Nase, rotem Gesicht und zu großer Wollmütze in einem befleckten dunkelgrünen Regenmantel.

Die beiden Männer taten so, als wäre dies eine streng geheime Übergabe und ich die Ware. Immer noch hielt ich meinen Finger auf dem Spray in meiner Tasche. Während der Dicke seinem Kumpel erklärte, wer ich sei und wo ich hinwolle, klemmte er seine kleinen Hände jeweils unter die gegenüberliegenden Achseln und sah sich die ganze Zeit um. Der Kleine nickte öfter als notwendig und hielt in der Linken ein grünes Seil und in der Rechten ein kleines Tastentelefon. Als das Gespräch wenig später beendet war, zeigte mir der Kleine die volle Pracht seiner dunkelgrauen Zähne. Er bat mich, zum Schiff mitzukommen, und das war auch der Moment, als sich mein Finger wieder entspannte und ich das Pfefferspray losließ. Den Dicken umarmte ich zum Abschied. Sein Körpergeruch raubte mir fast den Atem, doch aus seinem fröhlichen Glucksen schloss ich, dass ich seit Langem die Erste war, die ihm so nahgekommen war, und seine Freude war es allemal wert.

Durch den Fahrzeugeingang wurde ich aufs Deck geführt, und dort musste ich feststellen, dass ich der einzige weibliche Passagier unter lauter Lastwagenfahrern war. Ich ging ins Innere der Fähre und versuchte, nah an der Bar zu bleiben, da dort eine Frau arbeitete. Die Bank am Fenster sah am bequemsten aus, also stellte ich hier meinen Rucksack ab und holte mir einen Tee.

Auf der Bank lag ein kleines Heft mit dem Fahrplan für alle Schiffe inklusive der Fähre, auf der ich mich befand. Um circa 22 Uhr sollten wir in Trelleborg im Süden Schwedens ankommen, und ich hatte mir noch gar keine Gedanken darüber gemacht, wie es von da aus weitergehen sollte. Weder eine Unterkunft noch einen Plan hatte ich. Ich wusste noch nicht einmal, wie weit der nächst größere Ort von Trelleborg entfernt war. Selbstverständlich gab es auf der Fähre kein WLAN, und Handyempfang konnte ich auf dem Baltischen Meer auch nicht erwarten. Das hieß also für mich, dass ich es wie immer auf mich zukommen lassen musste.

Kurz vor Sonnenuntergang ging ich wieder raus aufs Deck. Es war ungewöhnlich windstill, und die Wellen ließen das mächtige Schiff sachte auf und ab wippen. Die Ostsee war genau wie in meiner Vorstellung tiefschwarz und wirkte wie eine dicke, metallische Flüssigkeit am Horizont. Doch in der Ferne reflektierte das düstere Wasser Lichtflecken. Wie bei einer liebevollen Auseinandersetzung kämpfte sich die Sonne mühsam durch eine kleine Lücke in der üppigen Wolkendecke. In diesem Moment geschah etwas in mir, das ich schwer in Worte fassen kann. Das Gefühl des Alleinseins überkam mein Bewusstsein, aber ich verspürte keinen Drang, dagegen anzukämpfen, ganz im Gegenteil, ich ließ es zu und fühlte mich darin willkommen. Es war der Moment, in dem mir klar wurde, dass ich ab jetzt weit weg sein würde von jeglicher mir bekannter Sicherheit. Auf einmal fühlte ich mich winzig auf diesem großen Schiff, umgeben von Fremden und viel Wasser. Zudem erschienen meine Pläne groß und mächtig. Zu groß?

Es fiel mir schwer, an etwas Genaues zu denken, ich wurde überflutet von Gefühlen. Eine wirre Mischung aus Angst, Stolz und Vorfreude füllte mein Inneres und zeigte sich in Form von Tränen, die meine Wangen runterliefen. Solch eine ungewohnt angenehme Vertrautheit mit dem Gefühl des Alleinseins hatte ich noch nie gespürt, denn ich fühlte mich nicht nach Gesellschaft, brauchte niemanden zum Reden und wollte meine Tränen selbst wegwischen. Sogar der Gedanke an eine Umarmung war befremdlich, denn ich hatte ja mich und mein Abenteuer. Das reichte.

Diese Tränen waren zweifellos Tränen der Freude. Mit jeder Welle, die wir vorankamen, fühlte ich mich bestätigt und stärker. Noch nie hat sich in meinem Leben etwas so richtig angefühlt, und je weiter ich weg kam, desto sicherer war ich. Ich fand einen Platz auf einer kleinen Metallleiter, auf der ich sitzen blieb, bis die Sonne komplett im blau-violetten Horizont verschwand. Die Farben verrieten, dass der Sommer mittlerweile weit weg war. Sie sehnten sich nach Wärme, genau wie wir. Meine Hände hatte ich zwischen meine Knie geklemmt, denn meine Finger froren, aber sonst störte mich die Kälte kaum. Irgendwann wippte das Schiff in kompletter Dunkelheit. Sie hatte uns verschluckt, nicht einmal die Sterne leuchteten den Weg. Die Wolken lauerten wie Wächter am Himmel und verwehrten uns den Einblick in die unendliche Galaxis.

Wieder im Inneren der Fähre angelangt, hatte ich mit meiner Müdigkeit zu kämpfen. Der Kater von meiner Schnapsnacht in Polen war nicht spurlos an mir vorbeigezogen, und ich hatte immer noch keinen blassen Schimmer, wo ich über Nacht unterkommen könnte. Die Lautsprecherdurchsagen plärrten durchs Schiff und kündigten die baldige Ankunft in Trelleborg an. Ich sprang auf und schnallte mir meinen Rucksack auf den Rücken. Wenn ich als Erstes die Fähre verlasse, dachte ich mir, kann ich mich bei der Ausfahrt des Hafens platzieren und darauf hoffen, dass mich einer der anderen Passagiere erkennt und in die nächste Stadt mitnimmt …

aWay

Подняться наверх