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Mein Plan? Kein Plan! VON CALAIS NACH BRÜSSEL

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Als das Schiff anderthalb Stunden später das neue Land erreichte, rüttelte ich die Nervensäge aus ihrem Tiefschlaf, und nur wenige Sekunden später fing sie wieder zu reden an. Ich musste unverzüglich schmunzeln und folgerte daraus, dass ich den Kleintransporterfahrer ein wenig lieb gewonnen hatte.

Er nahm mich noch ein Stück mit und bot mir mehrmals an, mich bis nach Deutschland zu fahren, doch das kam für mich nicht infrage. Abgesehen davon, dass ich mir die Ohren abschneiden müsste, würde ich das Angebot annehmen, wollte ich auch ein wenig Zeit in Frankreich verbringen. Wie einen geheimen Umschlag reichte er mir auf dem menschenleeren Parkplatz seine Visitenkarte und blickte im Anschluss aus dem Fenster, um sicherzugehen, dass es niemand mitbekommen hatte. Er fuhr davon, und ich fühlte mich unfassbar leicht und frei.

Eine Zeit lang irrte ich durch die dunklen, verlassenen Straßen von Dunkerque. Die einzigen Geräusche, die die Stille durchbrachen, waren meine Schritte auf dem unebenen Kopfsteinpflaster, das Quietschen der schaukelnden Boote und das Meeresrauschen in der Ferne. Um diese Uhrzeit konnte ich spontan keine Unterkunft für die Nacht finden, doch die Müdigkeit der letzten 24 Stunden zog sich durch meinen Körper. Am Ende der Straße sah ich ein leuchtendes Schild, das aussah, als gehörte es zu einem Hotel, und eine kleine Hoffnung kam in mir auf: Ich könnte mich doch zumindest in die Lobby setzen und da auf den Sonnenaufgang warten. Das Hotel war süß, nicht besonders edel, aber es hatte einen typisch französischen Flair. Der junge Mann an der Rezeption grüßte mich beim Reinkommen, als wäre es in dieser kleinen Hafenstadt völlig normal, mitten in der Nacht in ein Hotel zu marschieren. Nach dem anstrengenden Tag wäre ich sogar bereit gewesen, mit meinem Vagabundenleben direkt am Anfang zu mogeln und für ein Zimmer zu bezahlen. Doch das Schicksal ließ es nicht zu, dass ich einfach so mein Abenteuer gegen Komfort eintauschte, denn zu meinem Bedauern war das Hotel seit Tagen ausgebucht. Der nette Rezeptionist rief für mich sogar bei anderen Hotels an, um nach einem freien Bett zu fragen, doch leider überall ohne Erfolg. ›Clément‹ stand auf seinem Namensschild, und auch wenn ich ihn nie beim Namen nannte, fand ich es schön, ihn zu wissen. Als hätte er meine Gedanken gelesen, schlug Clément vor, dass ich es mir auf dem Sofa in der Lobby bequem machen könnte, zumindest bis die Sonne aufging. Er setzte sich ein wenig zu mir, schaltete den Fernseher an und gab mir eine Tasse Kaffee aufs Haus. Als ich ihm erzählte, welches Abenteuer hinter mir lag und was noch bevorstand, war er völlig aus dem Häuschen. Durch seinen französischen Akzent rieselte eine Extraportion Charme auf jedes Wort, und während er arbeitete, sah er hin und wieder mit einem zufriedenen Lächeln zu mir rüber. Da das Hotel keine komplette Absteige war, wollte ich es mir nicht erlauben, auf dem Sofa einzuschlafen, und zwang meinen Körper, stundenlang wach zu bleiben. Was für eine Qual, denn das Sofa war weich und flauschig, der Raum war warm und die Stimme der Nachrichtensprecherin außergewöhnlich meditativ.

Gegen 5:45 Uhr begannen die Vorbereitungen für das Frühstücksbüfett. Mein Magen heulte vor Hunger. Der kleine Salat vom Vorabend hatte lange nicht ausgereicht, und der Geruch von warmen Brötchen und Croissants füllte den Raum. Clément schien nicht entgangen zu sein, dass ich auf das Büfett starrte. Er schlich mit einem leeren Teller zu mir rüber, zeigte auf das Büfett und zwinkerte mir zu. Ich konnte mein Glück kaum fassen und sprang sofort auf. Während vor dem Fenster langsam ein neuer Tag seine Fühler in die romantische Nacht streckte, aß ich genüsslich mein erstes französisches Frühstück. Die Straßen wurden heller und luden mich ein, hinauszugehen. Die Müdigkeit verlor für einen Moment ihre Macht über mich. Dankend verabschiedete ich mich von Clément, wieder ohne ihn beim Namen zu nennen.

Sobald ich an der frischen Luft war, kam ich durch meine schlaflose Nacht in einen tranceartigen Zustand, der alles fern von Realität erscheinen ließ. Die kleinen französischen Straßen wurden mit pinkem und orangem Licht überflutet. Jeder Millimeter wurde in Farben getränkt, die mein Auge noch nie zuvor bewusst gesehen hatte. Selbst der Asphalt reflektierte die Farbenmelodie wie ein matter Spiegel. Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich träumte oder was davon real war. Tränen sammelten sich grundlos in meinen Augen und beschlugen meine Sicht. Emotionen überrannten mich, und mein Herz jubelte. Ich glaube, das war der offizielle Moment, in dem ich realisierte, dass ich aufgebrochen war.

Wie am Vorabend befand sich niemand auf den Straßen, weder Menschen noch Autos störten das Gemälde einer perfekten Welt, durch das ich lief. Alles befand sich im Stillstand, bis auf den Fluss, an dem ich entlanglief und der mich zum Meer begleitete. Die ganzen kleinen Hausboote, in Pastellfarben bemalt, wippten langsam hin und her. Wie in Zeitlupe tanzten sie alle nebeneinander auf dem glitzernden Wasser und brachten selbst die Möwen dazu, sich elegant dem Takt der schleichenden Wellen anzupassen. Jedes Gebäude, jedes stehende Fahrzeug war mit diesen göttlichen Farben bemalt.

Die Müdigkeit hatte eine komische Wirkung auf meine Psyche. Ich fing an mich zu fragen, ob es denn möglich war, dass ich tot sei? Im Himmel? Oder in einer Parallelwelt gefangen? Vielleicht lag ich auch eigentlich noch in London in meinem Bett und träumte das alles nur … Wie konnte es sein, dass ich in den letzten Stunden bis auf Clément keine Menschenseele gesehen hatte? Der Gedanke war zu schwer, mein Kopf zu müde.

Endlich kam ich an dem verlassenen Strand an. Es kostete mich einiges an Kraft, die pudrigen Sanddünen zu überwinden, um einen Blick auf das Meer werfen zu können. Es war kalt. Das Wasser war ruhiger als erwartet. Ich starrte auf das von der Sonne verfärbte Wasser und passte meinen Atem dem Rhythmus der gleitenden Wellen an. Sand wurde vom Wind über den Boden und durch die Luft gewirbelt, und sicher war nur, dass er nie wieder in seine alte Konstellation zurückfinden würde. Ich dachte an mein Leben und London und daran, wie es sinnbildlich auch dort passte.

Die Möwen stritten sich um die ersten Fische an diesem Morgen und tauchten im Tiefflug kurz unter die Wasseroberfläche. Ohne klar denken zu können, sah ich der Szene so lange zu, bis mir die Augen fast zufielen. Es war Zeit, zu schlafen, hier und jetzt, und auf einmal war ich froh, kein Hotelzimmer zu haben. Ich legte meinen erschöpften Körper in den kühlen Sand, und meinen Rucksack umarmte ich liebevoll wie einen Freund. Zugedeckt mit drei Kleidungsstücken erlaubte ich es meinen Augen, zuzubleiben. Mein letzter Gedanke, bevor ich einschlief, war, dass ich die Nacht an einem sicheren Ort verbringen wollte. Noch war ich nicht bereit dazu, eine komplette Nacht allein im Freien zu verbringen. Noch war ich nicht die Vagabundin, die ich gerne wäre, aber genau deswegen war ich aufgebrochen. Dies waren meine ersten Schritte. Innerhalb von Sekunden sank ich in einen mit Menschenworten unbeschreiblichen Tiefschlaf.

Stunden später wachte ich schwitzend und nach Luft schnappend auf, begraben unter den Lagen an Kleidung, die ich mir in der kühlen Morgenluft drübergeschmissen hatte. Sand klebte in meinem Gesicht und hatte sich in meine Augen und Nasenlöcher verirrt. Ich versuchte, ihn rauszufieseln, um meine Sicht wiederzuerlangen, doch rieb ich ihn dadurch nur noch mehr hinein. Nach einem kurzen Kampf und vielen verlorenen Tränen konnte ich wieder sehen, und der normale Strandalltag war im vollen Gange: Leute in Badesachen, kleine, lebendige Cafés, schwitzende Jogger und Hunde, die im Sand buddelten.

Es hatte mittlerweile über 30 Grad, und auf mir lagen immer noch drei Lagen Klamotten. Als ich aufstand, sahen alle zu mir rüber. Ich muss ausgesehen haben wie eine Verrückte mit meinen zerzausten Haaren, tränenden Augen, rot glänzendem Gesicht und dann auch noch warm bekleidet bei der Hitze. Und wer weiß, vielleicht war ich das auch.

Ich blickte auf das Meer und konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. An diesem Tag hätte ich mir keinen besseren Ort zum Aufwachen wünschen können. Hektisch versuchte ich, mir die Kleidung vom Leib zu reißen, und rannte in Unterwäsche laut lachend ins Meer. Wie ein Kind planschte ich in dem klaren, ruhigen Wasser und erinnerte mich kurz daran, dass ich normalerweise gerade in meiner weißen Uniform zur Arbeit gehen würde, um den Leuten fettige Burger zu servieren und auf Trinkgeld zu hoffen.

Das Salzwasser brannte auf meinen wunden Schultern – der Rucksack hatte gestern seine Spuren hinterlassen. Behutsam strich ich über die gestressten Stellen. Es war ein seltsamer Moment, denn ich fühlte zum ersten Mal wahrhaftig Dank für diesen Körper, der mich durch mein Leben schleppte. Diese Schultern, die so viel zu tragen haben. Die Beine, die laufen und laufen, so weit ich möchte. Die Hände, meine fleißigsten Helfer. Es war das erste Mal, dass ich diese Verbundenheit spürte und meinen Körper nicht nur oberflächlich beurteilte. Mein Körper war mein Freund, mein Kumpane, mein Tempel, mein Zuhause und mein Schutz. In diesem Moment gab ich mir das Versprechen, dass ich mich dementsprechend um ihn kümmern würde.

Die eifrige Sonne trocknete mich, während ich ohne Handtuch am Strand lag. Im Anschluss machte ich mich auf die Suche nach einer öffentlichen Toilette, um mir die Zähne zu putzen und meine Reise fortzusetzen. Solche Kleinigkeiten wie Zähneputzen an öffentlichen Orten fühlten sich nach Freiheit an. Mit Sand in den Ohren und Salzwasser in den Haaren spazierte ich lächelnd und barfuß durch die kleinen Seitenstraßen am Strand. An einem kleinen Stand blieb ich stehen, um mir Früchte zu kaufen, die ich mir auf einer Holzkiste im Schatten eines Baumes am Straßenrand schmecken ließ. Frisch gestärkt entschied ich, dass ich mich auf den Weg machen sollte.

Nach einem halbstündigen Fußmarsch bei über 30 Grad im Schatten erreichte ich ein Fastfood-Restaurant direkt an der Autobahn. An der Kasse fragte ich nach einem Wasser und einem Stift. Obwohl ich nicht erwähnt hatte, dass ich trampte, brachte mir der Kassierer, der so jung war, dass er noch eine Zahnspange trug, auch ein großes Stück Pappe zum Beschriften. Schien an diesem Ort kein unüblicher Wunsch zu sein, denn alle grinsten mich aus der Küche an und hoben ihre Daumen. In Frankreich hatte ich bisher immer nur gute Erfahrungen beim Trampen gemacht. Viele Male war ich durch dieses wunderschöne Land gereist, wenn ich nach Spanien oder wieder zurück nach Deutschland wollte. So gut wie immer waren die Fahrten hier äußerst entspannt verlaufen.

Ich bedankte mich bei dem Kassierer mit der Zahnspange, schrieb ›Belgium‹ in Großbuchstaben auf das Pappschild und malte einen Smiley daneben. Die Menschen hier reagierten, wie nicht anders erwartet, unfassbar freundlich auf meinen Anblick. Fast in jedem Auto saß jemand, der hupte, winkte, »viel Glück« aus dem Fenster schrie oder sich entschuldigte, weil er keinen Platz oder ein anderes Ziel hatte. Als ich dastand und die vorbeifahrenden Autos mich in gute Laune versetzten, fiel mir auf, dass ich unterbewusst immer noch ein wenig steif war. Nach monatelangen strengen Arbeitswochen und Routinen konnte ich nicht ganz loslassen. In mir war das Gefühl verankert, jederzeit in die Arbeit zu müssen und einem Zeitplan zu folgen. Es war in unserer Gesellschaft ungewöhnlich, sich nicht an bestimmte Zeiten halten zu müssen.

Der Fahrer eines kleinen Militär-Jeeps riss mich aus meinen Gedanken. Er nahm Blickkontakt auf und fegte mit seinen Armen verzweifelt irgendwelche Gegenstände vom Beifahrersitz. Nach einiger Zeit schien er aufzugeben, denn er signalisierte mir, dass er keinen Platz hätte. Doch diese Antwort akzeptierte ich nicht und winkte ihn trotzdem zu mir. Meine Überzeugungskraft funktionierte aus der Entfernung einwandfrei. Er riss sein Lenkrad zur Seite und fuhr quer über zwei Spuren in meine Richtung, beinah auch über eine ältere Dame auf ihrem Fahrrad, die völlig entsetzt etwas auf Französisch rief. Mit quietschenden Reifen brachte er sein Fahrzeug neben mir zum Stehen. Fast hätte er mit seiner Aktion ein veritables Verkehrschaos ausgelöst. Wie ein aufgedrehter Welpe sprang er aus dem Fahrzeug, stellte sich vor und fing direkt an, seine Sachen umzuräumen. Er wühlte sich durch die seltsamsten Gegenstände, und ich sah ihm amüsiert zu. Verwirrenderweise konnte ich ihn nicht sofort einordnen. Er war attraktiv, hatte einen Vollbart, sprach mit amerikanischem Akzent Englisch, behauptete aber, Italiener zu sein. Sein Auto war vollgepackt mit ungewöhnlichen Dingen wie zum Beispiel einem Magierhut, einer Jacke aus Federn und anderen Gegenständen, die alle fast schon mittelalterlich wirkten. Diese Art von Menschen sind mir die liebsten, denn man kann sich absolut nicht zusammenreimen, was ihre Geschichte ist. Ich konnte es kaum erwarten, mehr über ihn zu erfahren.

Nachdem Sack und Pack in den Kofferraum und auf die nicht vorhandene Rückbank gestopft worden waren, konnte ich endlich einsteigen. Meinen 80-Liter-Backpack musste ich allerdings auf dem Schoß behalten, denn so viel Platz war dann leider doch nicht. Wir düsten los in Richtung Belgien, und nachdem ich die letzten Stunden keine Gesprächspartner gehabt hatte, war ich ganz hibbelig vor Neugier und löcherte Dave mit Fragen. Irgendwann fiel natürlich auch die Frage, wieso er all diese seltsamen Sachen dabeihatte. Er sagte, dass er Schauspieler auf Mittelalterveranstaltungen sei und gerade aus Schottland nach Hause fahre. Zu Hause war für ihn Mailand.

Einige gute Gespräche und unzählige Country-Songs später überquerten wir die Grenze nach Belgien. Es war ein wunderschöner sonniger Tag. Eine leichte Brise wehte durch die Fenster, und die Landschaft leuchtete in allen Farben, die der frühe Herbst zu bieten hatte. Dave erwähnte nebenbei, dass er noch bei einem alten Bekannten in Nieuwpoort halten und erst am nächsten Tag weiter Richtung Brüssel fahren würde. Ich wollte eigentlich heute schon in Brüssel ankommen und hatte mich mal wieder auf den Gedanken versteift. Aber plötzlich erinnerte ich mich daran, dass ich genau das ablegen wollte: dieses Plänemachen. Dave bot mir an, mit ihm bei seinem Freund an der belgischen Küste zu übernachten.Wieso sollte ich nicht einfach mit dem Flow gehen? Es fühlte sich richtig an, und wir hatten uns noch viel zu erzählen.

Als wir an der Adresse ankamen, die Dave per SMS bekommen hatte, standen wir vor einer Kirche. Vom Gastgeber war weit und breit keine Spur. Verwirrt sahen wir uns um und überprüften zum wiederholten Mal die Adresse auf dem kleinen, zerkratzen Bildschirm. Die Kirchentür war verschlossen, also blieb uns nichts anderes übrig, als unter dem Apfelbaum im Vorgarten Schatten zu suchen und zu warten.

Es dauerte 20 Minuten, bis ein junger, rund gebauter Mann in der Ferne auftauchte. Grinsend stapfte er auf uns zu und hüpfte schließlich fast vor Freude. Seine roten Backen glühten unter seinem langen, unkontrolliert wachsenden Vollbart. Dave und unser Gastgeber lagen sich eine gefühlte Minute lachend in den Armen. Der Anblick machte mich so glücklich, dass es mich überkam und ich beide zusammen einfach mit umarmte. Dave stellte den Gastgeber auch als Dave vor, also bekam der Fahrer Dave den Spitznamen Davey. Dave erklärte uns, dass er tatsächlich Teil einer Gemeinde war und wir heute in einer Kirche übernachten würden. Wir hatten beide nicht damit gerechnet, aber waren begeistert, so eine Erfahrung machen zu können. Abgesehen davon lag mir die Nacht am Strand noch ordentlich in den Knochen, und ich freute mich einfach nur über ein Bett.

Zum Sonnenuntergang unternahmen wir einen spontanen Trip zum Meer, und so endete der Tag für mich, wie er angefangen hatte. Wir waren die Einzigen an diesem Strand, also legten wir alle unsere Kleidung ab und schwammen, wie Gott uns schuf, während das Meer sämtliche Schattierungen des strahlend blauen Himmels spiegelte.

Zurück am Pfarrhaus gab es noch Abendbrot im Hinterhof. Anschließend kletterten wir aufs Dach, wo wir bei einem Glas Wein Geschichten austauschten und die vorbeifliegenden Sternschnuppen zählten. So ließen wir einen weiteren unvergesslichen Tag auf meinem Ritt in die Freiheit ausklingen.

Ein lauter Knall gefolgt von einem Aufschrei im Gang riss mich frühzeitig aus meinem wohlverdienten Schlaf. Ich öffnete die Augen, die Sonne schien mir vom Dachbodenfenster direkt ins Gesicht. Der Tag begrüßte mich liebevoll, aber dem Lärm wollte ich trotzdem auf den Grund gehen. Langsam stolperte ich zur Tür und öffnete sie einen Spalt, um nachzusehen, was im Flur vor sich ging. Ich blieb nicht unbemerkt, das Quietschen der alten Holztür verriet mich. Ein kleiner Mann mit blau-weiß gestreiftem Pyjama und zerzausten Haaren stand vor einem Berg aus Wattestäbchen und einigen Scherben, die sich vor seinen Füßen auf dem Boden verteilt hatten, und starrte regungslos in meine Richtung. Sein dicker Bauch ragte unten aus dem Pyjamaoberteil heraus, und direkt vor seinem haarigen Bauchnabel fehlte ein Knopf. Lächelnd ging ich auf ihn zu, um ihm zu helfen. Allerdings war seine Reaktion anders, als erwartet. Erschrocken rannte er so schnell vor mir davon, dass er mit seinen Socken auf dem glatten Boden ausrutschte. Mit einem weiteren Knall landete sein fleischiger Körper auf dem Boden. Um uns herum öffnete sich eine Tür nach der anderen, und die Bewohner dieser kleinen Gemeinde kamen aus ihren Türen. Wer nicht wie ich vom ersten Knall geweckt worden war, stand spätestens jetzt nach dem zweiten im Flur. Keiner schien überrascht über das Chaos oder über den am Boden sitzenden Mann, der sich seine Ohren zuhielt. Ohne zu kommunizieren, wurde das Chaos beseitigt und der Mann von jemandem die Treppe runter begleitet.

Wir versammelten uns alle in der Küche. Zuerst wurde kein Wort über den Zwischenfall verloren, und alle halfen mit, das Frühstück zu servieren. Bei einer frischen Tasse schwarzem Kaffee und Toast mit Erdnussbutter erfuhr ich, dass keiner so recht wusste, wo der Mann herkam. Anscheinend war er wochenlang verwahrlost neben der Kirche rumgesesssen. Das Dorf war klein, und der Besuch des fremden Obdachlosen hatte sich schnell rumgesprochen. Immer wieder hatten Menschen versucht, mit ihm zu sprechen, doch keiner schaffte es, sein Schweigen zu brechen. Einige Gemeindemitglieder beobachteten eines Tages, wie er einen verletzten Vogel verarztete, und sahen sein gutes Herz. Am selben Tag noch wurde abgestimmt, ob man den Mann aufnehmen wollte, und alle entschieden sich einstimmig dafür. Als sie ihn reinbaten, wehrte er sich nicht und fühlte sich direkt wie zu Hause. Sie rasierten seinen ungepflegten Bart, bekämpften seine Läuse, gaben ihm zu essen und beschlossen, dass er von nun an Teil der Gemeinde war. Etwas mehr als ein Jahr lebte er nun schon bei ihnen, und bis heute hat er kein Wort gesprochen. Eine der Frauen am Tisch erzählte, wie liebevoll er sich um den Haushund kümmerte. Eine andere berichtete von seinem Tick, alles sortieren zu müssen, was auch das Wattestäbchenchaos heute früh erklärte.

Angeblich war er meistens einfach nur passiv dabei und machte sich kaum bemerkbar. Ausweispapiere hatte er nicht, und seine Herkunft blieb ungeklärt. Während wir über ihn redeten, saß er im Raum und zeigte keinerlei Reaktion. Er saß in der Ecke vor einem Regal und sortierte drei Stapel mit Servietten nach Farben. Dave erzählte, dass er das jeden Morgen beim Frühstück tat und sie abends wieder durcheinanderbrachte.

Nach dem Frühstück war es an der Zeit, unsere Sachen zu packen und aufzubrechen. Dave überreichte uns noch einen Beutel, gefüllt mit Obst für den Weg. Wir bedankten uns für die warmherzige Gastfreundschaft und stiegen ins Auto. Als wir losfuhren, standen alle draußen und winkten uns zum Abschied.

Davey schob dieselbe CD wie am Vortag in den Spalt der alten Anlage. Country-Songs waren von nun an der Soundtrack für meine ersten Tage in Freiheit, sie waren mein Soundtrack für den französischen Spätsommer, die saftigen Felder und den Blues, der den Herbst ankündigte. Davey konnte alle Lieder mitsingen, und seine Stimme blieb in meinem Kopf, als gehörte sie zu den Songs dazu.

Wir fuhren im Gleichklang mit dem Wind, der die rauschende Melodie der alten Musikanlage mitsummte. Ich streckte meine Hand aus dem Fenster und beobachtete, wie sie im Gegenwind hoch und runter surfte. Während wir an unzähligen Kuhweiden vorbeifuhren, konnte ich nicht fassen, dass das gerade erst der Anfang meiner Reise war.

Wir machten in Brüssel halt. Von hier musste Davey weiter nach Italien. Ich hingegen wollte nach Luxemburg und dann nach Köln. Mit meinem Rucksack auf dem Rücken stand ich vor seinem Auto. Es war Zeit, Abschied zu nehmen, doch Davey sah mich einen Moment an, und statt des erwarteten ›Goodbye‹ sagte er: »Hey, weißt du, was ich mir überlegt habe? Mir hat da mal ein Mädchen erzählt, dass man immer mit dem Flow gehen sollte. Also werde ich dich noch bis nach Köln fahren. Ich habe keinen Zeitdruck, und du bist mir ans Herz gewachsen.«

aWay

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