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Erste Schritte in Richtung Freiheit VON LONDON NACH DOVER
ОглавлениеLangsam hatte ich mich von meiner Abschiedsfeier vor zwei Tagen erholt und war bereit. Die ganze Zeit hatte ich versucht, nicht viel über meine Reise nachzudenken, um mich nicht im Voraus zu stressen und in Panik zu verfallen, aber nun war ich tatsächlich etwas ungeduldig.
Ich kann nicht zählen, wie viele dieser Abschiedsfeiern ich in meinem Leben schon hatte. Immer wieder war ich aufgebrochen und im Kreis durch Europa getrampt. So vieles hatte ich gesehen, so viel fremde Kultur aufgesaugt, im jungen Alter schon. Es fühlte sich fast schon wie eine Routine an, meinen Rucksack immer wieder ein- und auszupacken und mich, wie gejagt, von einem Ort zum anderen zu bewegen.
Aber diesmal war alles anders, und ich ging die Sache ruhig an. Ich war nicht gehetzt, ganz im Gegenteil fühlte es sich fast schon wie in Zeitlupe an. In mir herrschte ein ungewohntes Gefühl der Gelassenheit. Aufmerksam versuchte ich, jede Etappe der Reisevorbereitungen zu genießen. Alles geschah bedacht.
Zum gefühlt hundertsten Mal sah ich die Weltkarte und meine Route an. Sofort fühlte ich mich, als würde ich leuchten; das gleiche Leuchten hatte ich bei der Geburt dieser verrückten Idee verspürt. Kurz grunzte ich lachend auf, als mir klar wurde, was ich da eigentlich vorhatte. Ich konnte spüren, dass ich jedes bisschen Liebe und Hoffnung auf dieses Stück Papier vor mir projizierte.
Fast keines der Länder, die ich durchqueren würde, hatte ich schon mal besucht. Jede Kultur war mir vorerst fremd, jeder Geruch undefinierbar und jedes Klima eine Herausforderung.
Ich wurde dauernd gefragt: »Hast du denn keine Angst?«
Meine Antwort war allerdings immer die gleiche: »Wovor denn? Vor der Welt, auf der wir alle zu Hause sind? Was ist schon das Schlimmste, was passieren kann? Dass ich sterbe?! Wieso sollte ich davor solche Angst haben, dass ich lieber meinen Traum wegwerfe und unglücklich vor mich hin existiere? Sterben … das werden wir alle irgendwann. Ich habe mehr Angst davor, dass ich sterbe, ohne mein Leben und meine Träume gelebt zu haben, ohne gesehen zu haben, was ich immer sehen wollte, ohne etwas zu fühlen, ohne dem Tod einmal ins Auge zu blicken, ohne Adrenalin zu spüren und zu wachsen. Ich habe Angst, mich lebendig tot zu fühlen, weil ich nichts Erfüllendes erlebt habe. Träumen ist ein schöner Zustand, aber Fühlen, Schmecken, Sehen und Riechen sind, was Leben bedeutet. Ich bin bereit dafür, alles zu riskieren, denn wenn mir etwas passiert, dann wenigstens während ich das tue, was ich liebe, und nicht während ich tue, wodurch ich mich lebendig tot fühle.«
Es war so weit. Südlich von London stieg ich aus der Bahn und folgte dem Weg in Richtung Autobahn. Ich fühlte eine unvergleichliche Freiheit. Das Gefühl, alles machen zu können und überallhin gehen zu können. Keine Verpflichtungen, die mich nachts wachhielten, kein Job, dem ich nachgehen musste, keine Miete, die anfiel.
An der Autobahnauffahrt angekommen, brannte die Sonne mir bereits um diese frühe Uhrzeit auf der Haut, mein Rucksack war schwer, und die Träger drückten auf meine Schultern. Ich war klatschnass vom Schweiß, aber all das störte mich nicht. Ich überquerte die Straße, um in einem Pub nach einem Stift und einem Stück Karton zu fragen. Die Frau an der Bar sah meinen Rucksack und lächelte. Meine gute Laune war nicht zu verbergen, und ich lächelte mit aller Euphorie zurück.
In dem dunklen, mit Holz bekleideten Laden herrschte ansonsten Stille, man hörte nur einen leichten Wind durch die Türspalte sausen. Es war noch früh, außer einem älteren Mann konnte ich niemanden sehen. Nach einem kurzen, typisch englischen Small Talk verschwand die Frau hinter einer Tür, um Karton und Stift für mich zu holen. Bevor ich ging, gab sie mir noch ein Glas Wasser, da ich jetzt schon völlig dehydriert war. Wie würde das erst in Südostasien und im Outback Australiens werden?
Ich schob den Gedanken beiseite und spazierte ganz entspannt zu der Tankstelle, die auf der Straße in Richtung Dover lag, von wo ich mit der Fähre nach Frankreich übersetzen wollte. Am liebsten trampe ich von Tankstellen los, da ich mir die Leute genauer anschauen kann und es in meiner Macht liegt, wen ich ansprechen möchte. Zudem sagen in einer Face-to-Face-Situation mehr Leute zu, wenn du sie darum bittest, dich mitzunehmen.
Die erste Person, die ich an der Tankstelle ansprach, war eine circa fünfzigjährige Engländerin namens »Just call me Kate«. In ihrem pinken Kleinwagen hatte sie meine Aufmerksamkeit gewonnen. Ohne groß zu überlegen, war sie sofort dazu bereit, mich mitzunehmen. So war der erste Schritt in die Freiheit gemacht.
Das nächste Auto, das anhielt, gehörte einer deutschen Künstlerfamilie, die durch den Tunnel bis nach Deutschland fahren wollte. Allerdings hatte ich mir die romantische Idee in den Kopf gesetzt, unbedingt mit der Fähre fahren zu wollen. Ich hatte mir bildlich ausgemalt, wie ich winkend auf einem Schiff stehe und England in der Ferne immer kleiner werden sehe. Mir kam es zu einfach vor, direkt mit einem Auto so eine lange Strecke zurückzulegen und am selben Tag schon in Deutschland anzukommen. Wo war da das Abenteuer? Zumindest in Frankreich wollte ich zwischenstoppen, am Meer ein Croissant zum Frühstück essen und mir die Sonne ins Gesicht scheinen lassen.
Nach nur fünfzehn Minuten Fahrt bat ich die Familie, mich an der nächsten Raststätte rauszulassen. Unsicher, ob es die richtige Entscheidung war, kroch ich mit meinem schweren Rucksack und müden Schultern aus dem Wagen. Es hatte sich irgendwie nicht natürlich angefühlt, die Fahrt abrupt abzubrechen, und irgendwie die Energien verändert. Trotzdem blieb ich bei der Entscheidung und tat so, als wüsste ich genau, was ich da tat.
Aber anscheinend hatte mir meine Sturheit einen Strich durch die Rechnung gemacht. Auf einmal stand ich auf einem verlassenen Rastplatz und suchte in der heißen Mittagssonne nach wenigstens einem Auto, das ich fragen könnte, mich ein Stück mitzunehmen. Doch weit und breit kam nichts. Der Rastplatz war ein wenig abgelegen von der Hauptstraße und dadurch schlecht besucht.
Ein Hungergefühl breitete sich in meinem Magen aus, und ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass ich nur noch vier Stunden bis zum Sonnenuntergang hatte. Wenig später kamen die ersten Autos und reihten sich an der Tanksäule ein. Hoffnungsvoll machte ich mich auf den Weg zu denen, die bereits ausgestiegen waren, und sprach die ersten zwei Leute an, die aber nicht in meine Richtung mussten.
Hinter mir erklang eine aufgebrachte Stimme: »Excuse me, Miss, what are you doing here?«
Als ich mich umdrehte, war es die Dame, die auf dem Rastplatz arbeitete und mir erklärte, dass ich hier nicht trampen durfte. Nach einer kurzen, sinnlosen Diskussion gab ich auf. Ich wusste, dass es keine gesetzlichen Vorschriften dazu gab, wollte mich aber auch nicht weiter streiten, um keine Kraft zu verschwenden. Kurz sah ich mich nach einer Lösung um und stellte mich dann mitten auf den gegenüberliegenden Kreisverkehr.
Der Schweiß tropfte mir von der Stirn, und ich fühlte, wie mein Rücken nass an meinen Backpack gepresst war und noch mehr Hitze erzeugte. Mein Magen knurrte lauter und lauter. Dazu war ich verdammt durstig, die Hitze saugte jegliche Flüssigkeit aus mir, und die Abgase an den Straßen hinterließen einen staubigen Belag auf meiner Zunge. Meinen Platz wollte ich nicht verlassen, also unterdrückte ich all die menschlichen Bedürfnisse, die mich bereits jetzt in die Knie zu zwingen versuchten. Die unfreundliche Tankstellenmitarbeiterin glotzte immer wieder zu mir rüber, ihr schmeckte es sicherlich nicht, dass sie mir hier draußen nichts zu sagen hatte.
Da, wo ich stand, gab es keinen richtigen Seitenstreifen, auf dem jemand für mich hätte halten können. Dadurch fuhren die meisten Autos entweder hupend oder mit verächtlichen Blicken an mir vorbei. Sie verstanden nicht, was ich von ihnen wollte, und ehrlich gesagt war ich mir selbst nicht ganz sicher, was ich da tat. Langsam kam mir der Gedanke, dass ich vorhin meine Glückssträhne ausgereizt hatte, als ich auf meinem Fährenplan beharrte.
Etwa eine Stunde und gefühlte hundert hupende Autos später hielt ein Kleintransporter. Ein dicker Mann mit blassem Gesicht schaute kurz aus dem Fenster. Mehr konnte ich zunächst nicht erkennen, denn die Sonne schien mir direkt in die Augen. Mit einem unüberhörbar deutschen Akzent rief er: »Where do you go?«
Ich antwortete: »Dover, ferry terminal! Are you German?«
»Ja, du auch? Steig ein«, rief er zurück und öffnete die Beifahrertür. Er stand mitten im Kreisverkehr auf der Straße, und zwei genervte Autofahrer hinter ihm fluchten und hupten. Die Situation hatte mich unter Druck gesetzt, sodass ich über die Straße rannte und unüberlegt auf den Beifahrersitz sprang. Sobald ich die Türe schloss, bereute ich meine Entscheidung. Ein unausweichlicher strenger Geruch schoss mir in die Nase. Auf dem Boden lagen unzählige zusammenhanglose Gegenstände, unter anderem eine Puppe ohne Kopf. Ich sah den aus allen Poren schwitzenden Mann an und fühlte mich unwohl. Meine Intuition schlug Alarm und schrie mich in meinem Kopf an, wieso zur Hölle ich in dieses Fahrzeug gestiegen war. Sein beflecktes weißes T-Shirt klebte an ihm und war fast durchsichtig vor Schweiß. Mir fiel so schnell keine Ausrede ein, um wieder auszusteigen, und leider waren wir schneller als gedacht auf der Autobahn.
Der Geruch im Kleintransporter und mein leerer Magen ergaben eine unangenehme Mischung, die mich keinen klaren Gedanken fassen ließ. Hinzu kam der Stress, für den ich selbst verantwortlich war. Die Spucke in meinem Mund schmeckte immer süßer vor Übelkeit.
Trotz allem versuchte ich mir einzureden, dass er wahrscheinlich nur ein harmloser Messi war. Eine Zeit lang herrschte unheimliche Stille im Auto. Wieso sagte er denn nichts? Mit Sicherheit ginge es mir besser, wenn wir uns ein wenig unterhielten, also durchbrach ich das große Schweigen, um ihn nach dem Namen zu fragen.
Wie in Zeitlupe drehte er seinen Kopf, und seine starrenden, beinah durchsichtigen Augen durchbohrten mich. Sie wirkten tot, frei von Energie und Liebe. Frei von irgendetwas, mit dem ich mich hätte identifizieren können. Mit krächzender Stimme antwortete er langsam: »Dieter, ich heiße Dieter«, und musterte mich dabei von oben bis unten. Als er seinen Kopf wieder der Straße zuwendete, wanderte seine Hand unübersehbar in Richtung Schritt.
Ich bekam Panik. Ich dachte an die Worte meiner ehemaligen Mitbewohnerin, die Selbstverteidigungskurse für Frauen gab. Sie hatte mir vor meiner Abreise erklärt, dass man, wenn man sich von einem Mann bedroht fühlt, keine Angst zeigen und in die Opferrolle verfallen, sondern laut werden soll. Denn genau das Opfer ist es, was für Psychopathen den Reiz ausmacht.
Ich nahm all meine Mut zusammen und sagte bestimmt: »Bitte anhalten. Mir ist übel, und ich brauche frische Luft!«
Zuerst ignorierte Dieter meine Anweisung, also wiederholte ich mich und wurde lauter. Dieter sagte, dass er an der Autobahn nicht halten durfte und starrte mich erneut mit durchbohrendem Blick an. »Du musst wohl noch ganz lange bei mir bleiben«, sagte er mit seiner Hand in seinem Schritt.
Meine Alarmglocken schlugen dann vollends aus, als ein Polizeiauto vorbeifuhr und Dieter panisch zu rufen anfing: »Was gibt’s da zu glotzen? Wieso haben die so geschaut? Was gibt’s da zu schauen?«, obwohl zu meinem Bedauern keiner der Beamten uns eines Blicks gewürdigt hatte.
›Jetzt oder nie‹, dachte ich und wagte einen weiteren Versuch, zu entkommen. Ich sprang auf und schrie ihm lauthals ins Gesicht: »HALT SOFORT AN!! SONST SPRINGE ICH HIER UND JETZT AUS DEM FAHRENDEN AUTO, UND WIE WILLST DU DAS DEM POLIZEIAUTO HINTER UNS DANN ERKLÄREN??!?« Demonstrativ nahm ich den Türgriff in die Hand. Selbstverständlich hatte ich geblufft, was das Polizeiauto hinter uns anging, aber meine Worte waren genug, um die Kontrolle über die brenzlige Situation zu gewinnen.
Dieter war seine Paranoia ins Gesicht geschrieben, er schien auf einmal noch einen Farbton heller als kreidebleich zu sein. Mehrmals schaute er sich um und versuchte hektisch, den Rückspiegel zurechtzurücken. Man konnte sehen, wie er mit sich kämpfte und nach Möglichkeiten suchte, mich im Auto zu behalten. Meine Hand drückte die Klinke, und die Autotür öffnete sich ein kleines Stück. Im schlimmsten Fall wäre ich tatsächlich aus dem Auto gehüpft. Besser gebrochene Knochen als Futter für einen klebrigen, stinkenden Messi.
Mit einem kurzen Zögern riss Dieter nun das Lenkrad nach links und hielt an dem Seitenstreifen. Er ließ mich wortlos aussteigen und raste schnell davon. Erleichtert fiel ich auf meine vor Adrenalin zitternden Knie.
Natürlich weiß ich bis heute nicht, ob der Mann in dem Kleintransporter tatsächlich eine Bedrohung für mich war, aber alle meine Alarmglocken waren gleich in dem Moment angegangen, als ich die Autotür hinter mir geschlossen hatte. Ich war einfach nur heilfroh, nicht mehr in diesem stinkenden Fahrzeug zu sitzen, neben diesem unheimlichen Mann. Alles andere war gerade Nebensache.
Was nun? Ich stand mitten auf der Autobahn, umgeben von dichtem Gestrüpp und Wald. Mein Herz raste, und ich fühlte mich absolut noch nicht bereit, in das nächste Auto zu steigen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als auf der Seitenspur entlangzulaufen, bis mir etwas Besseres einfiel. Die Blicke der vorbeifahrenden Menschen lösten zusätzlichen Stress aus. Viele tippten mit ihrem Zeigefinger gegen ihren Kopf, um mir zu signalisieren, dass ich verrückt sei. All dies versuchte ich zu ignorieren. Den Fakt, dass mein Vorhaben und meine Situation verrückt waren, mussten mir keine Fremden erklären.
Nach circa einer halben Stunde Wanderung erblickte ich einen weiteren Kleintransporter, der auf dem Seitenstreifen geparkt war. Als ich mich ihm näherte, erkannte ich ein polnisches Nummernschild. Der Fahrer stand an der Rückseite des Fahrzeugs und versuchte anscheinend etwas zu reparieren. Da meine Eltern aus Polen stammen, beherrsche ich die Sprache, also fragte ich, ob er Hilfe bräuchte, und einen Augenblick lang sah er mich verdutzt an. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ihn eine junge Frau mitten auf der Autobahn ansprechen würde und vor allem nicht in seiner Landessprache.
Sein rundes Gesicht lief rot an, und er zeigte mir alle seine fünf verbliebenen Zähne. Jurek hieß er und war zum Stehen gekommen, weil ihn ein klapperndes Geräusch unruhig gemacht hatte. Er hatte zuerst das Innere seines Transporters unter die Lupe genommen, konnte aber die Ursache des mysteriösen Klapperns nicht finden. Erst als er um das Fahrzeug herumlief, um Pinkeln zu gehen, stellte er fest, dass hinten die Plane nicht richtig befestigt und beim Fahren vom Wind immer wieder gegen die Seite des Fahrzeugs gepeitscht worden war. Wir versuchten gemeinsam, das Problem zu lösen, während er mir von seiner sechsköpfigen Familie erzählte und ich ihm von meinem Vorhaben. Jurek wollte unbedingt Teil von meiner Reise sein und bat mich darum, mit ihm ein Stück mitzufahren.
Die Reparaturen waren beendet, und Jurek war mir sympathisch. Ohne zu zögern, hüpfte ich auf den Beifahrersitz. Meine Hand wanderte suchend Richtung Gurt, und Jurek stellte einen Radiosender ein. Aus dem Nichts heulten hinter uns Sirenen auf, und grelles Blaulicht flackerte im Rückspiegel. Auch das noch. Ein Polizeibeamter erschien im Fenster und fragte, wieso wir hier standen, und als ich anfangen wollte zu erklären, verbat er mir den Mund mit dem Satz: »Ich habe nicht dich gefragt, zu dir komme ich gleich!« Leider merkte ich in dem Moment, dass mein polnischer Freund kaum ein Wort der englischen Sprache beherrschte. Irritiert und Hilfe suchend sah er mich an und fummelte dabei nervös mit seinen Wurstfingern im Handschuhfach rum, um seine Papiere zu finden. Ich drehte mich noch mal zu dem Beamten und erklärte ihm, dass der Mann kein Englisch sprach, woraufhin er nur laut auflachte und mich fragte, wieso ich Jurek dann in solch eine Situation brachte. Ich verstand nicht ganz, was hier vor sich ging, bis er mich beschuldigte, Autos mitten auf der Autobahn angehalten und somit mich und die Fahrer in Gefahr gebracht zu haben. Das sei schließlich eine Straftat, und dem Fahrer und mir drohe jetzt eine Anzeige. Ein Streit entfachte, da der Polizist mir nicht glauben wollte, dass der polnische Lkw-Fahrer rein zufällig auch auf der Seitenspur gehalten hatte, um sein Fahrzeug zu reparieren. Jedes Mal, wenn ich etwas sagen wollte, befahl mir der Polizist »die Schnauze zu halten«. Er verlangte nach unseren Ausweisen, um unsere Personalien durchzugeben. Er hoffte gierig darauf, dass einer von uns bereits eine Vorstrafe hatte, um uns festnageln zu können. Zu seinem Bedauern musste er feststellen, dass weder Jurek noch ich Dreck am Stecken hatten und er nicht beweisen konnte, dass ich meinen Fahrer tatsächlich zum Stehen gebracht hatte. Er musste uns wohl oder übel gehen lassen. Als ich zurück ins Auto steigen wollte, stellte sich der Polizist vor die Tür und sagte: »Du nicht! Wie ein ganz normaler Mensch wirst du mit dem Zug weiterfahren und dich hier nicht durchschnorren, und wenn ich dich noch mal auf der Autobahn oder in einem fremden Fahrzeug erwische, finde ich einen Grund, deinen Fahrer und dich einzusperren.«
Mein polnischer Freund verabschiedete sich wehmütig und fuhr davon. Die Polizei brachte mich auf eine Landstraße, die per Fußweg circa vier Kilometer von der nächsten Zughaltestelle entfernt war. »Viel Glück beim Laufen, du Schnorrer!«
Hungrig und durstig und mittlerweile auch echt erschöpft und mit schmerzendem Rücken machte ich mich an den Fußweg Richtung Bahnhaltestelle. Ich wollte mich nicht stressen, denn auch das war Teil dieser Reise und würde mich irgendwann über einem Glas Wein beim Erzählen zum Schmunzeln bringen. Der Rebell in mir wagte es nach der Hälfte des Wegs aber doch, den Daumen rauszustrecken. Oder vielleicht war es auch mein knurrender Magen. Jedenfalls dauerte es diesmal nicht lange, bis ich den vorbeifahrenden Autos auffiel. Zwei junge Französinnen, die erst an mir vorbeifuhren, drehten extra noch mal um und brachten mich zum Hafen in Dover.
Dort angekommen, war ich überrascht, denn vor dem Auto-Check-in standen tatsächlich sechs weitere Tramper mit Schildern und hatten, wie es aussah, die gleiche Idee wie ich. Da meine Chancen schlecht wären, wenn ich mich zum Rest der bunt bekleideten Meute gesellen würde, stellte ich mich vor ein kleines Pub um die Ecke und versuchte dort mein Glück. Mit geschlossenen Augen sammelte ich mich und versuchte, die negativen Energien der letzten Stunden abzuschütteln. Das Meer flüsterte mir die Worte zu: »Du hast es fast geschafft, du bist schon weit gekommen«, und mit einem Lächeln streckte ich meinen Daumen raus.
Es wurde langsam kalt, und die Sonne verschwand glorreich hinter den Hügeln der Hafenstadt. Leider dauerte es über dreißig Minuten, bis endlich jemand anhielt, und die Fähre, die ich nehmen wollte, war bereits weg. Mal wieder war es ein Mann in einem Kleintransporter, und ich versuchte, diesmal genau hinzusehen bei der Auswahl meiner Mitfahrgelegenheit.
Er hielt mitten auf der Straße, ohne Rücksicht auf die anderen Autos zu nehmen. Sein kleiner Kopf ragte aus dem Fenster, und er sagte: »Ich nehme das Schiff in dreieinhalb Stunden und kann dich gerne mitnehmen.«
Schon bei dem Wort ›Schiff‹ war mir klar, dass der Kleine ein Talent für Übertreibungen hatte. Ich musterte ihn und fragte, was er hinten in seinem Anhänger hatte.
Auf einmal wurde sein Gesicht ganz ernst und von Stolz erfüllt: »Ein Aston Martin Baujahr XYZ mit Spezialreifen von Keineahnungwas …« Seine Augen glitzerten, als er mir das Fahrzeug beschrieb, aber ich verstand kein Wort mehr. Es war, als hielte er eine Rede, die ich danach benoten sollte, und für den Fall, dass mir etwas entgehen würde, wiederholte er jedes zweite Wort. Während seines gesamten Monologs behielt er mein Gesicht fest im Blick und hoffte auf eine Reaktion. Doch vergeblich.
Ich saß täglich in so vielen Fahrzeugen, konnte aber nicht mehr als drei Hersteller nennen, geschweige denn sie unterscheiden. Aber als ich die Leidenschaft aus seinen Augen strahlen sah, hatte ich im Gefühl, dass er kein schlechter Kerl sein konnte, und kletterte auf den Beifahrersitz. Er hatte eine unschuldige Art an sich, fast wie ein Kind, und schien, soweit ich das beurteilen konnte, harmlos zu sein. Wir fuhren zum Check-in, um uns zu registrieren, hatten aber noch locker zwei Stunden totzuschlagen, und ich war mittlerweile wirklich ausgelaugt. Zum dritten Mal fragte ich den Kleintransporterfahrer, wie er hieß, doch mein Kopf konnte heute nichts mehr aufnehmen. Er war halb Grieche und halb Albaner, entsprechend kompliziert war auch sein Name. Auf die Frage, ob er denn keinen Spitznamen hätte, reagierte er alle drei Male überhaupt nicht, als würde ich plötzlich eine andere Sprache sprechen, also beließ ich es dabei mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass ich ihn nach den nächsten Stunden eh nie wiedersehen würde.
Mittlerweile war es finster, und wir beschlossen, in einem Pub zu Abend zu essen. Je mehr Zeit verging, desto mehr seltsame Eigenschaften stellte ich an meinem Begleiter fest. Wenn er Geschichten erzählte, nuschelte er monoton und ohne jegliche Mimik und Gestik, und zum Ende jedes Satzes wurde er so leise, dass ich selbst mit Mühe nicht erraten konnte, was er sagte. Sprach er von den Autos, die er transportierte, hielt er sogar eine Hand vor seinen kleinen Mund, begann zu flüstern und sah sich dabei um, als hätte er eine streng geheime Mission. Ununterbrochen zog er an seinem Anzugärmel, um seine Uhr hervorschauen zu lassen; offenbar wollte er seine Mitmenschen unbedingt auf sie aufmerksam machen. Doch weder die Uhr noch die Autos konnten auch nur einen Funken Begeisterung in mir entfachen.
Es waren die drei längsten Stunden meines Lebens. Gefühlt zählte er mir jedes Fahrzeug auf, das er in acht Jahren Berufserfahrung transportiert hatte, und zeigte mir Bilder dazu. Als ob das nicht schon genügte, zoomte er auf Einzelteile und beschrieb sie mit größter Genauigkeit. Zwischendurch erwähnte er die Namen von berühmten Personen, die er angeblich persönlich kannte, und von all den Models und Schauspielerinnen, mit denen er ausgegangen sei. Es waren so offensichtliche Lügen, dass ich nicht wusste, ob ich mich ärgern sollte, dass er mich für dumm verkaufen wollte, oder einfach drüber lachen.
Den Höhepunkt erreichten wir, als er mir von seinem »besten Freund« erzählte, einem weltbekannten DJ. Meine Kenntnisse über House waren gewiss nicht überragend, aber diesen Namen hatte ich einfach noch nie gehört. Dennoch hörten wir uns zehn Minuten eines Techno-Live-Sets auf seinem Handy an, natürlich in voller Lautstärke und schlechter Tonqualität mitten im dining room des gut besuchten Pubs. Um uns herum saßen nur Pärchen und Familien bei Kerzenlicht, und alle Gäste schenkten uns ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit, während ich verlegen an meinem Salat kaute und mein Begleiter laut schmatzend seine BBQ-Deluxe-Fleischplatte verspeiste.
Ich suchte nach einem Ausweg aus dieser peinlichen Situation. Doch mir fiel nichts Besseres ein, als alle viertel Stunde die Toilette aufzusuchen und auf dem Rückweg eine Extrarunde durch das Restaurant zu drehen. Natürlich blieb mein vorgetäuschter Harndrang nicht ganz unbemerkt, und so bekam ich den Rat, baldmöglichst einen Arzt aufzusuchen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit war es an der Zeit, sich auf die Fähre zu begeben. Die Fahrzeuge standen Schlange, um an Bord zu kommen, und ich musste feststellen, dass mein Kleintransporterfahrer gar nicht so unrecht hatte, als er die Fähre als ›Schiff‹ bezeichnete. Das Ding war riesig, wirkte heruntergekommen, und ich konnte kaum glauben, wie viele Autos hier mitfahren würden.
Als tatsächlich all die Autos, die hier angestanden waren, auf dem – na gut – Schiff verstaut waren, setzte es sich endlich in Bewegung. Vom Heck aus sah ich, wie die Lichter der englischen Küstenstadt kleiner wurden, bis sie in der Ferne ganz verblassten. Mein Fahrer hatte sich heute wohl ins Koma geredet und war auf der Bank neben mir mit offenem Mund eingeschlafen. Und während ich England zum Abschied winkte, wehten meine Haare im kühlen Sommerwind. Ich verließ mein Zuhause über dunkles Wasser, das vom Mondschein glitzerte. Goodbye England, it was a pleasure. Dann drehte ich mich um und blickte Richtung Zukunft: Bonjour la France.