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Die Geburt einer Vagabundin MÜNCHEN
ОглавлениеMit 14 Jahren fing mein kleines – nennen wir es mal: – Ausreißerleben an. Damals fuhr ich per Anhalter quer durch Deutschland. Meine erste Hürde war es, meine Reiseideen bei meiner Mutter durchzuboxen. Als ich das geschafft hatte und sie mich unfreiwillig nach Berlin trampen ließ, blieb es nicht bei diesem einen Mal. Es entwickelte sich zu einer Art Sucht, immer und immer wieder aufzubrechen.
Oft hatte ich meine besten Freundinnen dabei. Wenn wir nicht den Daumen rausstreckten, versteckten wir uns in Zügen auf den Toiletten, manchmal auch stundenlang, um ohne Geld neue Orte besuchen zu können. Mir war zu der Zeit noch nicht bewusst, wie wertvoll und lehrreich diese Erfahrungen für meine bevorstehende Reise sein würden.
Der normale Alltag und das routinierte Leben meiner Altersgenossen hatten mich nie interessiert. Ständig hatte ich den Drang, was anders zu machen und aus der Reihe zu tanzen. Wahrscheinlich hatte es damit zu tun, dass ich ohnehin ein Außenseiter war: Keiner in der Schule hatte mich überhaupt erst in die Reihe hineingelassen, also blieb mir nichts anderes übrig, als aus ihr herauszutanzen. Immer wollte ich etwas Größeres, Bunteres, und vor allem wollte ich weiter weg.
Einfach nur Studium, Job, Haus und Kinder reizten mich nicht, kamen als Zukunftsplan nie infrage. Ich wollte immer nach den Sternen greifen und Menschen kennenlernen, die anders waren. Wir versuchten immer wieder, uns im Teenageralter auf After-Show-Partys zu schleichen, um wenigstens einen kleinen Einblick in die Welt der Künstler zu ergattern und unseren Blick für einen Moment vom ›langweiligen‹ Leben der Durchschnittsmenschen abzuwenden.
Mit den Jahren wurden unsere Tramper-Aktionen zur Norm, ebenso wie der Besuch der Backstage-Veranstaltungen. Doch die Welt, in die wir hier eintauchten, war sehr oberflächlich und half mir nur kurzzeitig, aus dem Alltag auszubrechen. Es dauerte nicht lange, bis ich den spirituellen Pfad entdeckte und mich Champagnerfeten mit Prominenten nicht mehr ansprachen. Stattdessen beschloss ich, in mich hineinzuschauen, und tauschte Partys gegen Meditation ein.
Mein neuer Lebensabschnitt fing durch meinen Bruder Didi an. Er war der typische Einzelgänger, würde ich sagen. Kung-Fu und Meditation waren neben alten Filmen seine Leidenschaften. Er hatte sich irgendwann selbst Chinesisch beigebracht, weil es sein Traum war, irgendwann in China in einem Tempel zu leben. Wie fast alle Geschwister zankten wir uns in der Schulzeit viel und wussten wenig von den Welten, in denen wir hinter unseren Zimmertüren verschwanden. Je älter ich wurde, desto mehr wollte ich aber die Verbindung zu Didi herstellen. Den Spitznamen trug er in unserer Familie, seit ich denken konnte, aber bis heute weiß ich nicht wirklich, wieso, denn sein eigentlicher Name war Lech.
Er lebte sein Leben hinter verschlossenen Türen. Nur in seltenen Fällen erlaubte er mir oder meiner Mutter Zutritt in sein Reich. Seine vier Wände waren minimalistisch im chinesischen Stil gehalten. Zum Beispiel sägte er die Tischbeine seines Holztischs kurz, sodass er davor auf dem Boden sitzen konnte. Er tauchte abends meistens ab in die Welt alter chinesischer Schwarz-Weiß-Filme. Mit den Jahren erlaubte er mir ab und zu, an seinem Abendprogramm teilzuhaben, aber er erzählte mir nur wenig über das, was in seinem Inneren vor sich ging.
Eines Abends kam mein Bruder nicht nach Hause. Ich machte mir Sorgen, da er in den letzten Wochen öfter über das Thema Suizid gesprochen hatte. Aus irgendeinem Grund wagte ich es nicht, näher darauf einzugehen, wenn er über solche Dinge sprach. Da sich die Freundschaft zu meinem Bruder immer fragil anfühlte, wollte ich die Dinge, die er sagte, nie hinterfragen. Die Verbindung, die wir mittlerweile hatten, war das Ergebnis eines jahrelangen Prozesses gewesen, das ich nicht mit falschen Fragen kaputtmachen wollte.
An dem besagten Abend, als mein Bruder untypisch für ihn nicht nach Hause kam, saß ich stundenlang in meinem Zimmer und wartete auf ein … Lebenszeichen. Ich lief in meinem kleinen Zimmer auf und ab, beleuchtet vom Scheinwerferlicht des Dummmachfernsehers, und verpestete meine Lunge mit dem stinkenden Qualm einer Mentholzigarette. Immer wenn ich eine zu Ende geraucht hatte, drückte ich die Stummel in einem leeren Teelichtbehälter aus.
Mitten in der Nacht hörte ich endlich Schritte im Treppenhaus und eilte zur Haustür. Als Didi versuchte, unbemerkt die Tür zu öffnen, erschrak er, weil ich besorgt auf der anderen Seite wartete.
»Wo warst du?«, fragte ich ihn, hatte aber Angst vor seiner Antwort.
»Nirgendwo. Lass mich in Ruhe!«, murmelte er, und ich musste feststellen, dass sein Gesicht schmerzverzerrt war. Zudem bemerkte ich seine gekrümmte Haltung. Ich folgte ihm in sein Zimmer und sah Blut an seiner Hand.
Zögernd fragte ich erneut: »Wo warst du? Was hast du gemacht?« Ich konnte die Panik in meiner Stimme kaum verbergen. Mein Versuch, cool zu bleiben, ging nach hinten los, und mein Bruder sah mich nur leicht genervt an.
Er sagte leidend: »Ich war draußen. Ich habe mich umgebracht, aber es hat nicht funktioniert.«
Ich werde seine Wortwahl nie vergessen: Ich habe mich umgebracht, aber es hat nicht funktioniert. Dieser Moment brannte sich für immer tief in mein Gedächtnis, wie das Brandzeichen eines Zuchttieres, und veränderte mein Leben.
Zuerst sah ich ihn regungslos an und versuchte, ihn nicht merken zu lassen, wie sehr mich seine Worte trafen. Wir hatten nie eine emotionale Geschwisterbeziehung gehabt. Über Gefühle wurde bei uns nie gesprochen, und geweint hatten wir nur als Kinder voreinander. Irgendetwas in mir redete mir ein, dass es nicht okay wäre, jetzt zu zeigen, wie ich mich wirklich fühlte. Mir kam kein Wort über die Lippen, und mein Kopf war leer. Mein Herz jedoch zerriss es von innen. Es zerriss so laut, dass ich mir Sorgen machte, er könnte es hören.
Ich hatte immer gedacht, ein Herz fühle sich leer an, wenn es verletzt wird. Doch als sich die besagten Ereignisse in meinem behüteten Zuhause abspielten wie ein Drama auf der Leinwand, musste ich lernen, dass es sich eher anfühlte, als würde das Herz riesig und untragbar schwer, fast so, als würde es einen von innen erdrücken, sodass für nichts anderes mehr Platz blieb. Soweit ich mich erinnern kann, hörte ich ein paar Sekunden sogar auf zu atmen. Die Zeit stand still, und ich kämpfte mit den Tränen, die unaufhaltsam in meine Augen vordrangen.
»Du kannst weinen«, flüsterte Didi fast schon einfühlsam und gab mir damit das Zeichen, auf die Knie zu sinken und die Tränen zuzulassen.
»Aber warum?«, wiederholte ich schluchzend alle paar Sekunden. Mein Körper zitterte, und ich war in einem völligen Schockzustand. Widerwillig zeigte mir mein Bruder die Wunde, die er sich mit einem Samuraischwert am Bauch zugefügt hatte. Der Schnitt war tief, aber nicht tief genug, um in Lebensgefahr zu schweben. Didi verarztete sich selbst, setzte sich ans Bettende, atmete schwer und begann endlich zu sprechen.
Seine Antwort machte aus mir den Menschen, der ich heute bin.
Er erklärte mir, wie er die Welt sah, wie ihn die Menschheit anwiderte und dass er der Meinung war, die Menschen wüssten all die Wunder, die sie umgaben, gar nicht zu schätzen. Zerstörten sie sogar. Er sagte: »Keiner will was von der Welt sehen, alle drehen sich nur um ihre eigene Achse!« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu, dass ihn auch mein Lebensstil in dieser »falschen Welt« anekelte und es ihn jeden Tag stresste, wie ich meine Zeit mit Klatschzeitschriften, Make-up, Alkohol und Zigaretten vergeudete. Seine Worte trafen mich wie Messerstiche. Alles, was über seine Lippen kam, zerrte mein Leben unwiderruflich in eine neue Richtung. Ich war nicht mehr derselbe Mensch wie zuvor.
Am nächsten Tag erwachte ich nach einer, vielleicht zwei Stunden Schlaf. Für einen Augenblick fühlte es sich an, als wäre alles nur ein böser Traum gewesen. Meine verschwollenen Augen holten mich allerdings in die Realität zurück.
›Dein Lebensstil widert mich an‹, hallte seine Stimme in meinem Unterbewusstsein nach.
Ich ging zu meiner Handtasche und leerte den Inhalt auf meinem Bett aus. Make-up, Flyer für irgendwelche unwichtigen Partys, Zigaretten und viele weitere unnütze Dinge nahm ich Stück für Stück in die Hand und warf sie direkt in den Papierkorb. Das Rauchen gab ich an dem Tag für immer auf. Den Großteil meiner Kleidung verschenkte ich, und was übrig war, ging in die Altkleidersammlung. Nur das Nötigste behielt ich.
Von diesem Tag an versuchte ich, mein Leben bewusster zu leben, und versprach mir, die ganze Welt zu bereisen und so viel Gutes weiterzugeben wie nur in meiner Macht stand. Meine erste Mission sollte es allerdings sein, meinem Bruder Lebensfreude zu schenken. Wir verbrachten fast jeden Tag miteinander, und meine Priorität war es, ihn von den Suizidgedanken zu befreien. Ich wollte für ihn ein Beispiel für Veränderung darstellen und ihm beweisen, dass die Welt sich bessern kann, wie auch ich es konnte. Es kam der Moment, an dem ich mir sicher war, dass es ihm besser ging, und ich mich auf meinen eigenen Weg begeben musste.
Wenig später – ich hatte meine schulische Laufbahn schon vor einiger Zeit unfreiwillig abgebrochen – machte ich mich auf meine erste große Reise, per Anhalter in den Süden Spaniens, nach Andalusien. Von dem Moment an kannte ich kein Halten mehr. Je mehr ich reiste, desto kleiner erschien mir das Land, in dem ich damals lebte, und ich fühlte mich in Deutschland fast schon eingeengt. Der Wunsch, auszubrechen und mehr zu sehen, wurde immer größer. Ich wollte eine andere Welt auf demselben Planeten erleben.
Diese Gedanken waren schon immer in mir gewesen. Ich kann mich noch genau an unsere ersten Familienurlaube erinnern. Der Moment, wenn man aus dem Flugzeug steigt und wie gegen eine Wand läuft aus hoher Luftfeuchtigkeit, fremden Gerüchen und neuen Energien.
Die Kinder, mit denen ich mich im Familienurlaub anfreundete, schienen immer Heimweh zu haben und freuten sich aufs Nachhausefahren. Sie erzählten freudig von ihren Freunden, Klassenkameraden und Lieblingsspielplätzen. Doch in mir löste der Gedanke an die Heimfahrt immer nur Panikattacken aus. Jedes Mal überlegte ich, wo ich mich verstecken könnte, sodass meine Mutter mich vielleicht in dem fremden, aufregenden Land zurücklassen würde. Ich hatte mehr Angst vor der Langeweile des Gewohnten als vor der Gefahr des Unbekannten.
Es fühlte sich so an, als wäre das immer mein Weg gewesen, aber das Leben in München, in der Gesellschaft, der ich mich nie zugehörig fühlte, hatte mich zu etwas gemacht, was ich nie sein wollte. Mein Bruder hatte mich aus meinem falschen Leben geholt und wieder auf den Weg gebracht, der für mich bestimmt war. Er hatte es mit Schmerz und einer unfassbar traumatischen Erfahrung geschafft, aber er hatte es geschafft, und dann ging er. Drei Jahre später nahm er sich letztendlich doch sein Leben. Durch die Veränderung, die er in mir bewirkt hat, lebt er für immer in mir weiter.