Читать книгу Er ging voraus nach Lhasa - Nicholas Mailänder - Страница 6

KAPITEL 1 EIN KIND SEINER ZEIT UND UMGEBUNG

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Einer musste ja in den sauren Apfel beißen! Was blieb ihm aber anderes übrig? Schließlich hatte die Mutter ihn gebeten, nach dem kleinen Zweiggeschäft der Familie Reisch in Kitzbühel zu schauen. Sein schwerkranker Bruder Rudolf hatte es mehr schlecht als recht geführt, bis ihn die bereits während seiner Lehrzeit eingefangene Tuberkulose endgültig aufs Krankenlager zwang. Missmutig blickte Franz Reisch durch das Fenster des Erste-Klasse-Abteils der „Giselabahn“ hinaus auf das nebelfeuchte Brixental. Der hochaufgeschossene Mann in den späten Zwanzigern putzte umständlich seinen Zwicker, wodurch die Luft draußen aber auch nicht klarer wurde. Aus den tiefhängenden Wolken rann ein feiner Nieselregen. Kein Mensch war auf den abgeernteten, nassen Wiesen und Feldern zu sehen. Kurz gab eine Wolkenlücke den Blick frei auf die unteren Hänge der Hohen Salve, überzuckert vom ersten Schnee. Darunter die Häuser des Marktes Hopfgarten, zusammengedrängt um die prächtige barocke Pfarrkirche mit den hoch aufragenden Zwillingstürmen, die selbst in dieser Novemberödnis noch etwas Zuversicht verbreitete.

Franz Reisch wusste nur zu gut, dass die Menschen hier im Brixental nichts zu lachen hatten. Schließlich hatte 1875 die Eröffnung der Salzburg-Tiroler Bahn den unvermittelt mit der „großen Welt“ verbundenen Gemeinden nicht nur Gutes gebracht. Nun, 15 Jahre später, litten die fast noch mittelalterlich wirtschaftenden Bauern unter dem Preisverfall durch importierte Agrargüter, und das Kleingewerbe tat sich schwer mit den preislich günstigen und oft auch hochwertigen Industrieprodukten, die mit der Eisenbahn ins Tiroler Land kamen. Wenn er nur an die sogenannte Sensenfabrik von Johann Zimmermann in Oberndorf dachte! Da gab es außer dem wassergetriebenen Hammerwerk keine einzige Maschine. Gedengelt und geschliffen wurde noch von Hand. Und auch der unproduktive Bergbau hier im Brixental und drüben in Kitzbühel lag in den letzten Zügen.1

Der junge Kaufmann schüttelte den Kopf. Von seiner Heimatstadt Kufstein aus war er weit herumgekommen im deutschsprachigen Raum und wusste sehr wohl, wie „draußen“ gewirtschaftet wurde.

In wenigen Minuten würde er in Kitzbühel ankommen. Franz Reisch strich sich über den gepflegten Schnurrbart, hob den bewährten ledernen Reisekoffer mit den verkratzten Metallecken aus dem Gepäcknetz, drückte den flachen dunkelgrauen Hut auf seinen blonden Lockenschopf und schlüpfte in den aus schwerem britischen Tweed gefertigten Ulster-Mantel. Mit ihm stiegen drei weitere Reisende aus, Bauern und Handwerker aus dem Umland. Reisch ging durch den vornehmen klassizistischen Bahnhof und marschierte mit weit ausholenden Schritten im Nieselregen am Rande der geschotterten Hauptstraße entlang, bis eine Gasse nach rechts hineinführte zwischen die heruntergekommenen Häuser des alten Bergarbeiterstädtchens. Die wenigen Einheimischen, die dem gut gekleideten Fremden begegneten, erwiderten seinen freundlichen Gruß mit scheuer Zurückhaltung. Bald hatte Reisch den Stadtplatz passiert, dessen Pflaster große schadhafte Stellen aufwies, und das große dunkle Haus erreicht, in dem sein jüngerer Bruder Rudolf eine Lebzelterei und Konditorei betrieben hatte. Dem Kranken ging es schon sehr schlecht; er starb am 12. Dezember 1890.2

Es dauerte nicht lange, bis Franz Reisch das vom Bruder hinterlassene Geschäft wieder einigermaßen in Schwung gebracht hatte. Die Lebzelter beschäftigten sich mit dem Handel und der Verarbeitung von Honig. Sie kauften Honig und Bienenwachs bei den Bauern auf. Das Wachs, das die Bauern lieferten, schickte Franz Reisch seinem Bruder Josef nach Innsbruck zur Verarbeitung und bekam die fertigen Kerzen und Wachsstücke geliefert. Damit versorgte die Firma Reisch alle Kirchen im Umkreis, und auch die Bauern handelten für das Wachs die Kerzen ein. Hauptgeschäft war aber der aus dem Honig gefertigte Zelten, ein Lebkuchen, der in den umliegenden Dörfern besonders in der Weihnachtszeit sehr gefragt war und im Sommer auf die Almen geschickt wurde. Ein weiteres populäres Produkt der Firma Reisch war ihr in der Konditorei gebrannter Kaffee.

In den Jahren 1893 bis 1895 investierte Reisch einen guten Teil des ihm zustehenden Erbes in ausgedehnte Reisen. Der Grund dafür, dass er aus der elterlichen Firma ausbezahlt wurde, mag in seiner kränklichen Verfassung gelegen haben. Später scheint es ihm gelungen zu sein, die ihn heimsuchenden Migräneattacken durch Alpenfahrten einigermaßen in den Griff zu bekommen.3 Franz Reischs erste Auslandsreise führte über Mainz, Köln und Rotterdam nach New York und weiter über Pittsburg zur Weltausstellung in Chicago. Im folgenden Jahr ging es über Triest zunächst nach Damaskus, von dort nach Jerusalem und Ägypten und zurück über Venedig, Mailand und das Berner Oberland. Hier konnte Reisch den bereits blühenden Schweizer Fremdenverkehr in Augenschein nehmen. Die letzte große Reise führte über Norwegen nach Spitzbergen. Nach und nach eignete er sich eine gut sortierte Materialsammlung zu den Themen Tourismus, Verkehrswesen und Sport an.4

Der großgewachsene junge Kaufmann kleidete sich stets korrekt nach der in Deutschland üblichen Herrenmode der Gründerzeit mit Stehkragenhemd, Krawatte, Weste, dunklem Sakko und dunkelgrauer Hose. Einen Hut trug Reisch nur selten. Kein Wunder, dass diese urbane Erscheinung in der kleinen Bauern- und Knappenstadt anfangs skeptisch beäugt wurde. Den Haushalt des Junggesellen führte eine Wirtschafterin, die auch für ihn kochte. Die Abende verbrachte der lebenslustige Reisch in den verschiedenen Wirtshäusern der Stadt. Bald war er besonders im Gasthaus Tscholl in der Hinterstadt (heute Hotel Harisch) ein gerngesehener Gast, der mitreißend von seinen Erlebnissen erzählen konnte. Beim Tscholl trafen sich die Honoratioren – die Mitglieder des Stadtrats, die leitenden Beamten des Forstamts, des Gerichts, des Bergamts und der Bezirkshauptmannschaft, die Ärzte, Apotheker, Notare und Anwälte sowie die Geistlichkeit.

Schnell erkannte Franz Reisch, dass diese Herrschaften zwei unterschiedlichen politischen Lagern angehörten. Dass der Geist des Vormärz – trotz des gescheiterten Oktoberaufstandes – in Kitzbühel noch immer zahlreiche Anhänger hatte, war auf den damaligen Bürgermeister Joseph Traunsteiner zurückzuführen. Der war nicht nur Apotheker in Kitzbühel gewesen, sondern auch ein international anerkannter Botaniker. Traunsteiner hatte in Wien studiert und sorgte dafür, dass sich das damals wirklich noch freiheitliche Gedankengut von 1848 – dem Ideal eines demokratisch regierten großdeutschen Staates verpflichtet – in der Tiroler Kleinstadt fest verankerte. Als Zeichen dieser deutschnationalen Gesinnung soll 1848 über dem Kitzbüheler Rathaus die schwarz-rot-goldene Fahne geweht haben. Wie ein Zeitzeuge berichtete, wurde sie bis ins Jahr 1933 bei besonderen Anlässen gehisst.5

Die Kirche beobachtete die Verbreitung des bürgerlich-liberalen Gedankenguts mit erheblichem Unbehagen und versuchte nicht nur von der Kanzel aus gegenzusteuern. Auch in Kitzbühel wurde ein konsequent monarchistisch orientierter Meisterverein gegründet, um einem Abdriften der Handwerker ins „freiheitliche“ oder gar ins sozialdemokratische Lager entgegenzuwirken. Bei den von jeher eher links eingestellten Bergleuten war da so oder so Hopfen und Malz verloren. Denn die dachten und wählten aus tiefster Überzeugung sozialdemokratisch.


Franz Reisch war Peter Aufschnaiters Förderer und väterlicher Freund.

Obwohl auch Franz Reisch – wie die meisten studierten Herren beim Tscholl – aus seiner Sympathie für die „freiheitlich“-großdeutsche Sache keinen Hehl machte, war er kein Freund des Lagerdenkens, sondern suchte den Ausgleich zwischen den Parteien. Reisch war als Handelsvertreter und Reisender schon weit in der Welt herumgekommen und ein hervorragender Unterhalter. Wenn er von seinen Erlebnissen erzählte, hingen die Zuhörer an seinen Lippen. Bald engagierte sich Franz Reisch auch im örtlichen Männergesangsverein und bei den Turnern. Sein Frohsinn war ansteckend und die Kameraden hatten viel Spaß an seinen ungewöhnlichen Einfällen, mit denen er die Vereinsveranstaltungen würzte. Um es kurz zu machen: Ursprünglich hatte Franz Reisch nur so lange in Kitzbühel bleiben wollen, bis er einen qualifizierten Geschäftsführer für den örtlichen Filialbetrieb seiner Familie gefunden hatte. Aber es gefiel ihm so gut in Kitzbühel, dass der junge Kaufmann beschloss, das Städtchen zum dauerhaften Lebensmittelpunkt zu machen.

Als sich Franz Reisch im Januar 1893 zwei lange Bretter, die vorn in hochgezogenen Spitzen ausliefen, unter die Stiefel schnallte, um mit ihnen über verschneite Hänge zu Tal zu rutschen, dachten die meisten Einheimischen, der wunderliche Neubürger sei endgültig übergeschnappt. Dabei hatte Reisch nur den damaligen Bestseller Auf Schneeschuhen durch Grönland des norwegischen Polarforschers Fridtjof Nansen gelesen, in dem sich der Autor begeistert über den Skisport äußerte. Kurz entschlossen hatte sich Reisch aus Skandinavien ein Paar Ski besorgt und begann nun, sie zu erproben. Nicht als reines Transportmittel wie die Schneereifen, sondern als spaßorientiertes Sportgerät! Bald bot Reisch das Laufen in der Ebene und auf den kleineren Hügeln zu wenig Abwechslung, sodass er immer weiter in die Bergregion vordrang. Schnell lernte er, bergauf und bergab recht steile Hänge zu überwinden, und beschloss im März des Jahres, dem 1998 Meter hohen Gipfel des Kitzbüheler Horns mit Ski einen Besuch abzustatten. Am besten, wir lassen Franz Reisch selbst berichten, wie er wieder hinunterkam: „Die Abfahrt nun war grandios zu nennen. Die bergauf eine Stunde lange Strecke Horngipfel–Trattalpe fuhr ich in rasendem Saus in drei Minuten, sodass ich noch ein gutes Stück den Hügel oberhalb der Alpe hinauffuhr. Dieser herrliche, alle Kräfte anspornende Genuss ist nun der schwierige Punkt der Skiverwendung im Hochgebirge.“ Es war die erste hochalpine Skiabfahrt in Österreich, die Franz Reisch hier beschrieb.6

Reisch fiel es nicht schwer, andere für sein neues Hobby zu begeistern. Zusammen mit einigen Kitzbüheler Bürgersöhnen gründete er die Skiriege des örtlichen Turnvereins. Ihnen war vor allem daran gelegen, ihre Fahrtechnik unter der Anleitung von Reisch zu perfektionieren. Damit war Franz Reisch auch der erste Kitzbüheler Skilehrer. Bald zeigten einige englische Gäste, die bisher nur Schlittschuh gelaufen waren und Schlittenpartien unternommen hatten, ebenfalls lebhaftes Interesse für den weißen Sport. So begann die von Reisch ausgebildete Truppe gut geschulter Skiläufer gegen Mitte der 1890er Jahre ihr Können an die englischen Gäste auf Schloss Lebenberg weiterzugeben, der ersten Winterpension in Kitzbühel.

Trotz seiner Wehmut wegen des beginnenden Massenandrangs, erkannte Reisch schnell das ungeheure Potenzial des Skisports für die Entwicklung des Tourismus in seiner neuen Heimat. War bislang das klimatisch begünstigte Südtirol in der kalten Jahreszeit von den Touristen bevorzugt worden, so bot der Wintersport die Möglichkeit, deren Interesse auf den schneereichen Norden des Landes zu lenken! Reisch machte sich daran, das sterbende Bergbaustädtchen in einen blühenden Fremdenverkehrsort zu verwandeln.

Der Jungunternehmer wusste nur zu gut, dass die Naturschönheiten, die Kitzbühel zweifellos zu bieten hatte, den Ansprüchen der gehobenen Gesellschaft nicht genügten. Um zum Treffpunkt der Reichen und Schönen zu werden, musste die Stadt auch Komfort bieten und über ein hochklassiges Image verfügen. Also exzellentes Catering, stilvolle Hotels mit ansprechenden Zimmern und Suiten und geräumigen Speisesälen. Dazu geschmackvolle Unterhaltungsmöglichkeiten, Kulturangebote und gepflegte Parkanlagen.

Ein wichtiger Schritt zur Verwirklichung dieser Zielvorstellung war die Gründung des Hotelbau-Vereins durch Franz Reisch, unterstützt durch seinen Freund Josef Herold und den „freiheitlichen“ Innsbrucker Politiker und Handelskammersekretär Anton Kofler. Im Rahmen einer Vollversammlung dieses Vereins am 9. März 1902, an der rund sechzig Mitglieder aus Kitzbühel und Umgebung teilnahmen, wurde der Plan für ein neues großes Hotel vorgestellt. Der Bericht im Kitzbüheler Bezirksboten endet mit einem besonderen Lob: „Herrn Reisch gebührt für seine außerordentliche Bemühung und verständige Thätigkeit, den Bau eines Hotels ins Werk zu setzen, die größte Anerkennung, die auszudrücken wir auf diesem Wege uns berufen fühlen.“7

Entgegen den Erwartungen, war das 1903 eröffnete Hotel Kitzbühel nicht gleich ein großer Erfolg, weil es zunächst nur für den Sommer ausgestattet war – ein schwerer Fehler. 1906 erfolgte der Ausbau für den Winterbetrieb und in der Folge die Umbenennung in Grandhotel. Damit begann der Aufstieg des Hauses, der sich 1911 mit dem Umbau zum Hotel mit 150 Zimmern konsolidierte.8 Für Kitzbühel markiert das Grandhotel den Einstieg in den überregional bedeutenden Wintersport. Von 1902 hatte der Fremdenverkehrsort eine rege Bautätigkeit verzeichnet: Nicht weniger als elf neue Häuser waren zusammen mit dem imposanten Hotelbau entstanden, darunter mehrere Restaurants und nicht zuletzt auch das bis zum heutigen Tag beliebte Kaffeehaus Reisch.

Ins Jahr 1902 fiel auch die Gründung der – ebenfalls von Reisch initiierten – „Wintersportvereinigung Kitzbühel“. Bereits seit 1895 hatten in Kitzbühel regelmäßig Skirennen stattgefunden, bald auch mit ausländischer Beteiligung. Der Verein sollte nicht nur den Skisport fördern, sondern sich auch um das Rodeln, die Durchführung von Trabschlittenrennen und die Anlage eines Eislaufplatzes kümmern. Um den Wintersport zu einem tragfähigen Faktor des Tourismus zu machen, startete der umtriebige Fremdenverkehrsmanager um diese Zeit eine aufwändige PR-Kampagne.

Kein Wunder, dass Franz Reisch, der Geist und Motor hinter dieser stürmischen Entwicklung, im Jahr 1903 zum Bürgermeister von Kitzbühel gewählt wurde! Gleich vom Beginn seiner Amtszeit an wurde der Bau einer neuen Volksschule zu einem seiner wichtigsten Vorhaben. Als Kind hatte Reisch in Kufstein die stark von dem fortschrittlichen Dekan Matthias Hörfarter geprägte Volksschule besucht, in der auch Geografie und Biologie gelehrt wurden, was im Tirol der 1870er Jahre eher eine Ausnahme war. In Kitzbühel traf der in dieser modernen Schulatmosphäre aufgewachsene Bürgermeister auf den für neue Ideen aufgeschlossenen Schulmann Franz Walde. Dieser hatte schon seit Jahren vergeblich für den Ausbau des äußerst beengten Schulhauses in der Kirchgasse plädiert. Reisch jedoch, von Kufstein her ideale Schulverhältnisse gewöhnt, konnte den Gemeinderat davon überzeugen, gleich Nägel mit Köpfen zu machen und vor den Toren der Stadt im „Krautviertel“ einen großzügigen Neubau zu erstellen. Der 1905 begonnene und ein Jahr später eingeweihte Schulbau orientierte sich stilistisch an den urbanen Vorbildern der Gründerzeit: Weite Gänge, großzügige Treppen und hohe, lichtdurchflutete Klassenräume machen die Schule noch heute zu einem einladenden Lernort. Das Äußere des Gebäudes entsprach dem historischen Geschmack der Gründerzeit und integriert gelungen klassizistische Elemente mit Zitaten aus der mittelalterlichen Architektur.9


In Aufschnaiters Jugend war Kitzbühel eine verarmte Bergarbeiterstadt.

Zu den ersten Schülern, die in der neuen Lehranstalt unterrichtet wurden, zählte der damals siebenjährige Ernst Reisch, der älteste Sohn des Bürgermeisters, der am 7. April 1896 die Tochter des Gastwirtes in der Hinterstadt, Maria Tscholl, geheiratet hatte. Ein Klassenfoto aus dem Jahr 1908 zeigt den am 4. März 1899 geborenen Ernst neben seinem besten Freund, dem damals neunjährigen Peter Aufschnaiter10, dessen Vater im Gewerbegebiet unfern des Krautviertels als Tischlermeister eine Werkstatt betrieb. Vater Peter Aufschnaiter stammte aus dem Dorf Aurach und hatte seinen Lebensmittelpunkt aus beruflichen Gründen nach Kitzbühel verlegt. Hier bezog er mit seiner Frau Katharina, geborene Seiwald – der Tochter des Bärenwirts von St. Johann – im zweiten Stock des Ganzerhauses in der Vorderstadt eine enge Wohnung. Durch die in dicke Mauern gesetzten kleinen Fenster drang nur wenig Licht. Hier brachte Frau Katharina Aufschnaiter am 2. November 1899 ihren ersten und einzigen Sohn zur Welt, der am folgenden Tag auf den Namen Petrus getauft wurde.11 Später nahm die Familie noch die verwaiste Maria Stranitzer auf, die vom kleinen Peter innig geliebte Ziehschwester.

Da die Familie Reisch schräg gegenüber von den Aufschnaiters in derselben Straße wohnte, ist davon auszugehen, dass sich Ernst und Peter bereits als Buben kennengelernt und angefreundet hatten. Die beiden Väter kannten sich von der Kitzbüheler Feuerwehr her, der Reisch eine Zeitlang als Hauptmann vorgestanden hatte.12 Schon früh dürfte der natur- und sportbegeisterte Franz Reisch den bewegungsfreudigen und phantasiebegabten Buben die heimische Bergwelt gezeigt haben, im Sommer wandernd und zur Winterzeit auf seinen geliebten Skiern: Der Skipionier berichtete explizit, dass er „mit kleinen Buben über steile Lehnen bergab fuhr“.13 Ein Zeitzeuge schildert, wie sehr sich Reisch für den skilaufenden Nachwuchs einsetzte: „Wie oft sind wir mit Vater Reisch zur ersten Kitzbüheler Skisprungschanze gewandert, haben gemeinsam mit ihm Schnee geschaufelt, den Hang getreten – wenn kein anderer Zeit und Lust hatte, den eifrigen jungen Springern zu helfen, sicher war Vater Reisch da mit seiner Bubenschar und blieb stundenlang an der Schanze, Schaufel oder Rechen in der Hand, bis der letzte Sprung vollendet war.“14

Franz Reisch dürfte auch dafür gesorgt haben, dass die Buben schon frühzeitig in den Kitzbüheler Turnverein eintraten, den er vom Beginn seines Aufenthaltes in Kitzbühel an stark gefördert hatte. Diesen Verein hatte der damalige Bürgermeister Josef Pirchl im Jahr 1870 gegründet. Obwohl Franz Reisch und sein Freund Josef Herold, der jahrzehntelang das Amt des Turnwartes innehatte, eigentlich alle Bevölkerungsschichten einbinden wollten, trat der Kitzbüheler Turnverein um 1890 dem Tiroler Turngau bei und zählte von diesem Zeitpunkt an zu den völkischen Vereinen. Die politische Ausrichtung war nicht nur dezidiert antisemitisch, sondern auch stramm großdeutsch.

So endete 1899 eine gemeinsame Turnfahrt mit dem Kufsteiner Verein nach Kiefersfelden mit einem klaren Bekenntnis zur großdeutschen Einheit: „Noch ein Mal klang stark und mächtig das Bismarck-Lied als Zeichen treuer deutscher Zusammengehörigkeit durch die Hallen des Bahnhofs und mit kräftigem Heil-Ruf und deutschem Handschlag verabschiedete man sich mit der Hoffnung, bald wieder in fröhlicher Gemeinschaft etliche Stunden verbringen zu können.“15 Die im erwähnten Bismarcklied enthaltene politische Positionierung ist unzweideutig:

Nun steige der Begeistrung Flamme

Helllodernd auf in unserem Sang:

Dem Manne gilt’s von deutschem Stamme,

Dem Helden, der den Drachen zwang.

Der an des Rheines Rebenborden

Gepflanzt des Reiches mächtgen Baum,

Dem Mann, durch den zur Wahrheit worden

Der Väter sehnsuchtsvoller Traum.

[ ]

So lasst uns denn den Namen nennen

Des Meisters, der das Reich gebaut.

Wem Lieb und Treu im Herzen brennen,

dem ist’s ein freudenvoller Laut.

Hinbrause es wie Sturm und Wetter

Vom Alpenschnee bis an den Belt:

Heil dir, des Vaterlandes Retter,

Heil Bismarck, dir, du deutscher Held!16

An der Wiener Hofburg wären wohl weder diese Töne noch der flammende Bericht im Kitzbüheler Bezirks-Boten mit übermäßiger Begeisterung aufgenommen worden.

Im frisch-fromm-fröhlich-freien Jugendturnen, in dem sich Peter Aufschnaiter von klein an auszeichnete – er hatte die Note 1 im Turnunterricht quasi gepachtet – ging es klarerweise hauptsächlich um die Entwicklung von Bewegungsfreude und Gewandtheit, aber die ideologische Begleitmusik dürfte dennoch mehr oder weniger subtil ihre Wirkung getan haben.

Ihre Schulzeugnisse weisen Peter Aufschnaiter und Ernst Reisch von der ersten Klasse an als Musterschüler aus. Im ersten Schuljahr (1905/06) enthält das Zeugnis von Aufschnaiter sieben Mal die Note 1 und nur einen Zweier.17 Im folgenden Schuljahr ist auch dieser „Makel“ getilgt.18 Der ab Klasse drei gültige Fächerkanon belegt die Aufgeschlossenheit der für das Curriculum Verantwortlichen für die Erfordernisse dieser durch eine rasante wirtschaftliche Entwicklung in Österreich und Deutschland gekennzeichneten Epoche: Religion, Lesen, Schreiben, Unterrichtssprache (Sprachlehre, Rechtschreiben, Aufsatz), Rechnen in Verbindung mit geometrischer Formenlehre, Naturgeschichte und Naturlehre, Geografie und Geschichte, Zeichnen, Gesang, Turnen und – für die Mädchen – weibliche Handarbeiten.19

Wir können davon ausgehen, dass Ernst Reisch und Peter Aufschnaiter nach Erledigung ihrer Schulaufgaben das ganze Jahr über noch viel Zeit blieb, das Tal der Kitzbüheler Ache sowie die umliegenden Berge zu erkunden. Ihre Jugend dürfte sich in den großen Zügen kaum von jenen Jahren unterschieden haben, die Herbert Rosendorfer in seinem autobiographischen Text Kindheit in Kitzbühel so anschaulich beschrieben hat: „[…] tiefe, stille, schneeverborgene, heimelige Winter, […] heiße, blaue, über glitzernde Moore und hohe Nadelwälder äthersummende Sommer und […] unbeschreiblichen, in seinen Farben so erlesenen, von Heuduft durchwehten Herbst, voll flimmernder, flammenfarbener Birken im goldenen Riedgras der hohen Moore habe ich dort gelebt. […] Obwohl es sicher viel Regen und Sturm gegeben hat, zeigen sich diese Jahre wie eine Kette von goldenen, sonnenüberstrahlten Tagen, ohne Anfang und ohne Ende, ohne Angst und ohne Sorgen: meine Jugend“.20

Franz Reisch sorgte dafür, dass Peter Aufschnaiter im Jahr 1911 nach der Volksschule an das Reform-Realgymnasium Kufstein wechseln konnte.21 Mit seinem Freund Ernst zusammen bezog er Quartier in der Maderspergerstraße Nr. 4 bei der Witwe Rosina Zanier, die eng mit der Familie Reisch befreundet war. Sie lebte in einem repräsentativen Bürgerhaus im „besseren“ Viertel der Stadt, auf der schmalen Ebene zwischen der Festung und den steil aufstrebenden Waldhängen des Kaisergebirges.

Die in ihn gesetzten schulischen Erwartungen erfüllte der junge Aufschnaiter voll und ganz. Hier die Noten des Schuljahres 1915/16: Religionslehre: sehr gut, Lateinische Sprache: sehr gut, Italienische Sprache: sehr gut, Geschichte und Geografie: sehr gut, Mathematik: gut, Naturgeschichte und allgemeine Erdkunde: gut, Darstellende Geometrie: gut, Freihandzeichnen: sehr gut, Gesang: sehr gut, Stenographie: sehr gut.22


In seinem zwölften Lebensjahr nahm Peter Aufschnaiter an einem Ausflug des Männergesangsvereins Kitzbühel teil, links im Bild sein Vater.

In den ersten Jahren am Kufsteiner Reform-Realgymnasium las Peter Aufschnaiter das dreibändige Werk Transhimalaja des schwedischen Forschungsreisenden Sven Hedin.23 Diese Lektüre scheint den Lebensweg des Gymnasiasten nachhaltig beeinflusst zu haben. In den Jahren 1905 bis 1908 hatte Sven Hedin die Wüsten Persiens, das westliche Hochland Tibets und den Transhimalaya erforscht, der danach vorübergehend Hedin-Gebirge genannt wurde. Der Forscher besuchte den 9. Panchen Lama in der Klosterstadt Trashi Lhünpo in Shigatse. Als erster Europäer drang Sven Hedin in die Kailash-Region vor. Er „entdeckte“ den heiligen Manasarovar-See und den noch heiligeren Berg Kailash, der gemäß der buddhistischen und hinduistischen Mythologie als Mittelpunkt der Welt gilt. Wichtigstes Ergebnis der Expedition war jedoch die Auffindung der Quellen des Indus und des Brahmaputra. Von Indien aus kehrte Hedin mit dem Schiff über Japan nach Stockholm zurück, wo ihm ein triumphaler Empfang bereitet wurde.24 In seinem lebendig geschriebenen Bericht über diese Forschungsreise schildert Hedin nicht nur anschaulich die durchmessenen Landschaften, sondern gewährt auch Einblick in die Sitten und Gebräuche der Einheimischen, wobei der Faktor Spannung nicht zu kurz kommt. Dass der prominente Autor gewandt mit Tuschfeder und Zeichenstift umgehen konnte und auch den Fotoapparat professionell handhabte, wird dem scharfsinnigen Tiroler Gymnasiasten kaum entgangen sein. Und dass Sven Hedin die Sprachen Latein, Französisch, Deutsch, Persisch, Russisch, Englisch und Tatarisch, Türkisch, Kirgisisch, Mongolisch, Tibetisch sowie einige persische Dialekte beherrschte und auch auf Chinesisch kommunizieren konnte25, dürfte den ausgesprochen sprachtalentierten Tischlersohn nicht nur beeindruckt, sondern auch angespornt haben, es seinem bewunderten Vorbild möglichst gleichzutun.

Sven Hedins schmaler Band Drei Jahre im innersten Asien, in dem der Forscher berichtet, wie er als Pilger verkleidet das „verbotene“ Land bereiste, erschien bei Westermann in der Reihe wissenschaftlicher Volksbücher und dürfte vor dem Ersten Weltkrieg zum Bestand praktisch jeder deutschen und österreichischen Schulbibliothek gehört haben. Herausgeber war der bekannte Bremer Reformpädagoge Fritz Gansberg. Sein Vorwort wird womöglich in manchem phantasiebegabten Jugendlichen den Wunsch geweckt haben, einmal Ähnliches zu leisten:

„Unerforschte Länder zu bereisen und in wegloser, einsamer Wildnis ganz auf sich gestellt zu sein, das ist von jeher kühnen, tatkräftigen Männern als verlockendes Ziel erschienen. Sie fühlen sich wundersam erhoben in dem Gedanken, über Berge und Hochländer zu wandern, die vor ihnen noch keines Menschen Fuß betrat, und Flüsse und Seen zu befahren, die weder einen Herrn noch überhaupt einen Namen haben. Der Wind flüstert ihnen ins Ohr, dass dieser Fluss hier viele tausend Jahre nur auf sie gewartet habe, um sie auf seinem Rücken in wunderbare Fernen zu tragen, flüstert ihnen zu, dass diese unendliche, leere todbringende Ebene nur dem gehöre, der sich aus Eigenem in ihr behaupten könne. Aber es ist doch noch ein anderes großes Ziel, das unsere Forschungsreisenden in die Ferne lockt; es handelt sich ja für sie vor allem darum, unser Wissen von der Erde zu vermehren und von den durchreisten Ländern genaue Karten zu entwerfen; und damit dienen sie dem allgemeinen Wohl und allen denen, die später einmal dieselben Gegenden bereisen müssen. […] Der erste Reisende ist der Pfadfinder, der Held, der Ländereroberer. Er muss alles, so weit menschliche Voraussicht denken kann, vorbereiten; er muss sich die besten Hilfskräfte, die besten Instrumente und den besten Vorrat wählen; er muss sich an die Strapazen des Naturlebens beizeiten gewöhnen und muss sich alle Erfahrungen früherer Forschungsreisender zunutze machen. Aber wenn das alles geschehen ist, so müssen auch die Zweifel schweigen; nun vorwärts mit voller Kraft! Denn dem Mutigen gehört die Welt!“26

Es ist nicht nachweisbar, aber höchstwahrscheinlich, dass auch Peter Aufschnaiter dies gelesen hat. Fest steht jedoch, dass er sich den Geist, der aus diesen Zeilen spricht, zu eigen gemacht und sich die Fähigkeiten systematisch angeeignet hat, die laut Gansberg Voraussetzung sind für die von ihm beschriebene Forschertätigkeit.

Als Gymnasiast erwarb sich Peter Aufschnaiter hervorragende Kenntnisse im Englischen und Italienischen. Nach Aussage seiner Freunde begann er bereits während der Gymnasialzeit auch mit dem Studium der indischen Sprache Hindi, des Nepali und des Tibetischen.

Durch den „großdeutschen“ Geist des Kitzbüheler Turnvereins geprägt, trat Peter Aufschnaiter der völkisch orientierten Jungburschenschaft (JB) Germania Kufstein bei, zu deren „Alten Herren“ auch der aus Würzburg stammende „Kaiserpapst“ Franz Nieberl zählte.27 Es ist anzunehmen, dass der körperlich gewandte Schüler mit diesem bewunderten Vorbild und renommierten Bergsteiger seine ersten richtigen Klettertouren im Wilden Kaiser unternommen hat.

Inzwischen war drüben in Kitzbühel Aufschnaiters väterlicher Freund und Sponsor Franz Reisch in schlimme kommunalpolitische Turbulenzen geraten. Sein einst untrüglicher Instinkt scheint Reisch nach fast zehnjähriger erfolgreicher Amtszeit im Stich gelassen zu haben. Er sah jetzt nicht mehr den Wintersport als Zugpferd der touristischen Entwicklung an, sondern wollte Kitzbühel nach dem Vorbild von Davos zu einem Kurort für die Oberschicht machen. Als der erfolgsgewohnte Bürgermeister seine Pläne nicht gegen den Widerstand im Gemeinderat durchboxen konnte, legte er sein Amt im Sommer 1913 verbittert nieder.

Am Horizont der Geschichte braute sich inzwischen Unheil zusammen. Das mit der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn verbündete Deutsche Reich hatte sich durch sein politisch ungeschicktes Verhalten isoliert. Während Frankreich und Großbritannien mit Abschluss der Entente im Jahr 1904 ihre kolonialen Streitigkeiten beigelegt und sich drei Jahre später mit Russland im Mittleren Osten geeinigt hatten, wurde die aufstrebende Großmacht Deutschland von den Entente-Mächten zunehmend als Störenfried empfunden. Beide Seiten trafen ihre Vorbereitungen für einen militärischen Konflikt. Am 28. Juni 1914 erschoss ein serbischer Fanatiker in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau. Obwohl die Regierung Serbiens einem österreichischen Ultimatum – das fast unannehmbare Forderungen enthielt – weitestgehend nachkam, scheiterten die britischen und deutschen Vermittlungsbemühungen. Österreichs Kriegserklärung an Serbien am 28. Juli setzte einen fatalen Automatismus in Gang: Russland reagierte mit der Mobilmachung gegen Österreich, darauf erklärten die Deutschen den Russen den Krieg; die ausweichende Antwort der mit ihnen verbündeten Franzosen wurde von Berlin prompt mit einer Kriegserklärung quittiert. Während die Deutschen ihren von dem verstorbenen Generalstabschef Schlieffen in seinen Grundprinzipien entwickelten Präventivschlag ausführten, zogen die österreichischen Truppen gegen Serbien und Russland ins Feld.


Der junge Peter Aufschnaiter (2. v. r.) als Kaiserjäger an der Presanella-Front.

Weder im Westen noch im Osten verlief der Kriegsauftakt plangemäß für die Mittelmächte. Der deutsche Vormarsch kam Anfang September 1914 an der Marne zum Stillstand. Auf dem Balkan fiel es den Österreichern unvorhergesehen schwer, mit der relativ kleinen serbischen Armee fertig zu werden, und in Galizien war Russland in der Offensive. Als Italien am 23. Mai 1915 Österreich-Ungarn den Krieg erklärte, hatte der bereits mobilisierte Teil der österreichischen Armee alle Hände voll zu tun, die Russen in den Karpaten abzuwehren. Deshalb wurden am 18. Mai die Tiroler Standschützen alarmiert, die gemeinsam mit dem Deutschen Alpenkorps eilig die strategisch wichtigsten Positionen der Gebirgsfront zwischen den Karawanken und dem Ortler besetzten.

Am 3. März 1917 erhielt Peter Aufschnaiter „wegen Einrückens zum Militärdienst ein vorzeitiges Versetzungszeugnis“ mit einem Notendurchschnitt von 1,0 und der Anmerkung „Zum Aufsteigen in die nächste Klasse vorzüglich geeignet“28. Am 10. März wurde der Gymnasiast zum k. u. k. 1. Regiment der Tiroler Kaiserjäger einberufen und an der Dolomitenfront im Abschnitt Brenta-Adamello stationiert.29

Um den Tonale-Pass nördlich des Adamello-Massivs wurde zwischen den österreichischen und italienischen Hochgebirgstruppen jahrelang erbittert gekämpft. Denn wer den Tonale beherrschte, konnte auch problemlos durch das Val di Sole das Etschtal erreichen und nach Bozen vordringen. Noch im August 1918 erfolgte ein erbitterter italienischer Großangriff gegen den Tonale-Pass und die benachbarten Gipfelgebiete. Die Alpini besetzten die Punta San Matteo (3684 m), den Monte Mantello (3537 m) und den Gletschergipfel (3502 m). Dies bedeutete höchste Gefahr für die österreichischen Frontabschnitte. In einem gewagten Stoßtruppunternehmen gelang es den Österreichern, die dominierende Punta San Matteo zurückzuerobern. Es war der höchstgelegene Kampfplatz des Ersten Weltkriegs und die letzte siegreiche Kampfhandlung der kaiserlichen Armee. Am Ausgang des Krieges änderte die Eroberung der Punta San Matteo aber nichts.

Bis ans bittere Ende harrten die österreichischen Truppen in ihren Stellungen am Tonale-Pass aus. Mit dem Eintreten eines zwischen Österreich und Italien vereinbarten Waffenstillstands legten sie am 3. November die Waffen nieder. Die Tiroler Kaiserschützen zogen – von ihren italienischen Gegnern begleitet – noch unter Waffen hinunter durchs Val di Sole. Erst im Tal gaben die österreichischen Soldaten ihre Gewehre ab und ließen sich gefangen nehmen.30 Unter ihnen auch der Zugführer Peter Aufschnaiter, dessen 19. Geburtstag auch sein vorerst letzter Tag in Freiheit gewesen war.

Wie es Peter Aufschnaiter als Kriegsgefangener in Riva am Gardasee ergangen ist, schildert er anschaulich in einem Brief an seine Ziehschwester Maria Stranitzer, die sich in Branzoll aufhielt:

Liebste Schwester! Riva, den 4. Juni 1919

Schon längere Zeit ist verstrichen, seit ich von daheim und von Dir die erste Post bekam. Seitdem langte nichts mehr ein. Nach Österreich braucht halt die Post noch immer sehr lange. Im Übrigen hoffe ich aber jetzt zuversichtlich, nach Hause zu kommen, denn der Friede wird jetzt doch bald abgeschlossen sein. Vor einigen Tagen sind übrigens schon die ersten Befehle gekommen betreffend unserer Heimkehr. Wie gefällt es Dir sonst in „Italia“? Ich denke, es wird so ziemlich gleich sein, nur mehr zu essen halt. Mir geht es jetzt ganz gut, aber trotzdem habe ich keinen sehnlicheren Wunsch, als endlich einmal heimzukommen. Im Anfange allerdings hat es mir nicht so gut gefallen, denn ich hatte die Hoffnung, jemals die Heimat wiederzuschauen, ziemlich aufgegeben, da ich eine schwere Krankheit durchmachte und dadurch sehr geschwächt wurde, dass ich Monate nachher mich kaum aufrecht zu halten vermochte, da ich nie genügend Nahrung bekam, um mich zu erholen.31 Erst in der allerletzten Zeit habe ich mich einigermaßen wieder erholen können, sodass ich jetzt wieder ganz gut ausschaue. Über das Essen könnte man sich hier nicht beklagen. Darum schauen wir auch jetzt alle gut aus, während uns allen, als wir hierherkamen, der Tod bei den Augen herausschaute. So sagen die Italiener hier immer. Nur zu rauchen kann man hier beinahe nichts bekommen. Da müsste man einer „Signorina“ bekannt sein, was aber einem armen, „prigioniero“, wie ich bin, nicht möglich ist, da er immer hinter einem Drahtverhau eingesperrt ist. Wir hatten nämlich Pech. In derselben Kaserne, in der wir uns befinden, ist auch eine ungarische Zenturie, die früher ganz freien Ausgang hatte. Sie haben aber so schreckliche Dinge ausgeführt, dass sie so eingesperrt wurden und wir natürlich auch darunter leiden. Die Gegend ist hier prächtig und immer eine frische, kühle Seeluft.

Dass mir nicht früher eingefallen ist, Dir zu schreiben, kommt daher, weil ich immer glaubte, Du seiest nicht mehr in Branzoll. Denn gerade von Branzoll hat mir einer erzählt, dass dort beim Rückzuge die Ungarn so schrecklich gehaust hätten. Wenn ich Dir früher geschrieben hätte, hätte ich mir viel schrecklichen Hunger ersparen können. Ich bitte Dich daher, wenigstens für diese kurze Zeit noch diese Vermittlerrolle zu übernehmen und mir etwa 40–50 Lire zu schicken. In der sicheren Annahme, dass Du mir die Bitte nicht abschlagen werdest, habe ich die Mutter schon gebeten, Dir diesen Betrag zu senden. Besuchen kann ich Dich leider nicht, wie Du ja jetzt selbst sehen wirst. Du würdest mich vielleicht anfangs gar nicht erkennen, denn ich bin in nagelneue italienische Montur gekleidet. In der Hoffnung, bald wieder einige lb. Zeilen von Dir zu bekommen, sendet Dir die herzlichsten Grüße

Dein dankbarer Peter32

Wenige Wochen später, am 15. August 1919, wurde Peter Aufschnaiter in Innsbruck der Heimkehrer-Entlassungsschein ausgestellt.33 Er erhielt 50 Kronen Kostgeld und eine Fahrkarte nach Kitzbühel. Die Bevölkerung dort stand unter Schockstarre. Die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn hatte aufgehört zu existieren. Am 28. Oktober 1918 hatte sich Tschechien abgelöst und einen eigenen Staat gegründet. Tags darauf folgten bereits weitere Nationen wie Kroatien und Slowenien. Am 30. Oktober wurde in den deutschsprachigen Gebieten der Staat Deutschösterreich gegründet und der Sozialdemokrat Karl Renner zum Staatskanzler ernannt. Schließlich wurde am 3. November von Österreich und Ungarn die bedingungslose Kapitulation unterzeichnet, die am Folgetag in Kraft trat. Italien besetzte daraufhin neben Südtirol auch Triest und das österreichische Küstenland.


Peter Aufschnaiter (links) vor der Matura-Prüfung am Realgymnasium Kufstein.

Wirtschaftlich ging es dem einstmals aufblühenden Fremdenverkehrsort Kitzbühel inzwischen alles andere als gut. Die von Reisch initiierten Investitionen hatten zu einer starken Verschuldung der Gemeinde geführt. Aufgrund des kriegsbedingten Ausbleibens in- und ausländischer Gäste konnten die Zinsbelastungen nicht durch Einnahmen ausgeglichen werden. Besonders der Bau einer Badeanstalt am Rande des Ortes und der dadurch notwendige Ausbau des Elektrizitätswerks hatte die Gemeinde viel Geld gekostet, den Bürgermeister lokalpolitisch stark unter Druck gebracht und letztlich zum Rücktritt veranlasst. Der Krieg führte dann zum Konkurs seiner Brauerei, und das Sporthotel wurde als Lazarett genutzt. Diese Misserfolge nagten an dem ehemals unverwüstlich scheinenden Mann.

Der kollektiven Depression in seinem Umfeld zum Trotz verfolgte Peter Aufschnaiter weiter zielbewusst den von ihm eingeschlagenen Weg. Vom 29. bis 31. Oktober 1919 legte er am Reform-Realgymnasium Kufstein die Reifeprüfung ab – wie zu erwarten „mit Auszeichnung“34 – und immatrikulierte sich am 5. Dezember 1919 in der Philosophischen Fakultät der Universität Innsbruck.35

Die Weihnachtstage verbrachte Aufschnaiter in Kitzbühel im Kreise der Familie und Freunde und stieg am 6. Januar 1920 zusammen mit seinem Freund Ernst Reisch und dessen Vater mit Skiern auf den Hahnenkamm. Was dann geschah, lassen wir uns am besten von einem Zeitzeugen berichten, dem Kitzbüheler Lokalhistoriker, Bauerngelehrten und sozialdemokratischen Landtagsabgeordneten Hans Filzer:

„Am Dreikönigstage gegen Abend eilte die Kunde durch unser Städtchen, der Realitätenbesitzer Altbürgermeister Herr Reisch sei bei einer Skiabfahrt tödlich verunglückt. Die genauere Feststellung ergab jedoch, dass kein tödlicher Sturz oder Anprall vorlag, sondern ihn während der Fahrt ein Schlagfluss ereilte. Mit Herrn Reisch tritt ein Mann aus dem Leben, der in Kitzbühel gewaltig umgestaltend wirkte. Die Anerkennung für diese Umgestaltung steht aber seit einer Reihe von Jahren oftmals in einer sehr bösen Kritik.

Noch nie hat bisher ein Mann in Kitzbühel eine solche bauliche Umgestaltung in so kurzer Zeit ins Leben gerufen oder gefördert, das ganze Geschäftsleben in eine völlig geänderte Situation hinübergeführt, sich mit all seinem Können für ein Vorhaben derart eingesetzt. Sicher würde vieles anders dastehen, hätte Herr Reisch nie in unserer Mitte gelebt, aber ebenso sicher wären wir trotzdem in dies Fahrwasser gelangt, denn in Kitzbühel drängten die Verhältnisse noch viel mehr als in anderen Ortschaften darauf hin, eine neue Erwerbsquelle ausfindig zu machen. Die Frage ist nur die, ob dieser Übergang ohne die zielbewusste Führung dieses Mannes besser gelungen wäre. […]

Meinen [sozialdemokratischen] Parteigenossen, die ihm mitunter auch wegen seiner alldeutschen Allüren gram waren, möchte ich sagen: Wer nichts unternimmt, mag leicht der gute Mann sein, im Zahnrad unseres wirtschaftlichen Lebens verbleibt er aber eine Null ohne jede Bedeutung, und nur im Kopfe des Toren ist der ein Mann, dessen Schaffen stets mit Erfolg gekrönt ist.36

Dass diese Würdigung des visionären Unternehmers und Lokalpolitikers aus der Feder eines erklärten politischen Gegners stammt, unterstreicht umso mehr die Bedeutung von Franz Reisch für den Aufstieg des verarmten Bergbaustädtchens Kitzbühel zu einer der ersten Adressen im alpenländischen Tourismus. Sein geistiger Ziehsohn Peter Aufschnaiter hatte als Schüler und Soldat alles getan, um die in ihn gesetzten Erwartungen zu erfüllen. Wir können davon ausgehen, dass der grundanständige Franz Reisch mit seiner begeisterten Tatkraft, mit seiner Weltoffenheit und dem klaren Blick für das Notwendige und Mögliche dem „Peterl“ sein ganzes Leben lang Vorbild geblieben ist.

Er ging voraus nach Lhasa

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