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ОглавлениеAugust 1988
Langeweile – Pankow
„Hallo, ich bin Tilo Reichel.“ Nervös hebe ich die Hand zu einem schüchternen Winken. Etwa 40 Augenpaare blicken mir eher gelangweilt als begeistert entgegen. Was hat mich nur geritten, mich zu diesem Schwachsinn überreden zu lassen?
„Schön, dass ihr alle zu uns nach Karl-Marx-Stadt zum Pioniertreffen gekommen seid.“, versuche ich, die Situation zu entkrampfen. Als Barbara Kästner mich fragte, ob ich nicht Lust hätte, bei einer Veranstaltung etwas Gitarre zu spielen, klang das ganze noch wie eine gute Idee. Die Pioniere glotzen mich an, als hätten sie diesen Spruch schon hundertmal gehört. Das kann gut sein, kommt es mir in den Sinn. Schließlich läuft das Pioniertreffen schon seit ein paar Tagen.
Ich streiche mir den ewig widerspenstigen braunen Scheitel, der ständig nach unten rutscht und mir die Sicht versperrt, zur Seite. „Also, wer kommt aus Halle?“, rufe ich in einem verzweifelten Versuch, etwas Stimmung in die Bude zu bekommen, in den Auftrittsraum des Bezirkspionierhauses, der gut und gerne auch fünfmal so viele Zuschauer fassen könnte. Als ich die Hoffnung schon fast aufgegeben habe, meldet sich ganz hinten ein kleiner dicker Junge. Wie alle anderen hier trägt er ein weißes Hemd und ein rotes Halstuch, aber irgendwie scheint ihm dieser Aufzug noch unangenehmer zu sein als den anderen, denn andauernd kratzt er sich am Kragen. „Ein großes Hallo nach Halle!“, rufe ich begeistert. Einige lahme Klatscher unterstützen mich, von meinem Wortwitz scheint aber niemand etwas mitbekommen zu haben.
„Gut, wo ist Suhl?“, brülle ich etwas lauter. Vorn in der Ecke kichern ein paar blond bepferdeschwanzte Mädchen albern herum. „Suhl - echt cool.“, kalauere ich weiter vor mich hin. Die albernen Gänse fangen an zu gackern.
„Jemand aus Schwerin da?“ Jetzt, wo ich einmal auf der Bühne Fuß gefasst habe, lasse ich mich nicht mehr so leicht abschrecken. Nicht, dass mir die Sache gleich Spaß machen würde, aber irgendwie habe ich mit jedem Wort mehr und mehr das Gefühl, dass ich vielleicht doch auf diese Bühne gehöre.
Ein paar Jungen in der Mitte des Saals fangen laut an zu grölen und schwenken ihre langen dünnen Arme herum. „Das sind meine Jungs!“, schreie ich. „Applaus für Schwerin!“, fordere ich die Pioniere auf und aus reinem Anstand klatschen sie artig vor sich hin.
Aus den Augenwinkeln bemerke ich eine ruckartige Bewegung. Leicht irritiert schaue ich nach links, wo sich unsere Pionierleiterin Barbara Kästner in ihrer blauen FDJ-Bluse und dem roten Halstuch postiert hat. Als sie meinen Blick auffängt, rollt sie genervt mit den Augen. Das soll wohl bedeuten, dass die Zuschauer nun warm genug für den eigentlichen Anlass dieses nachmittäglichen Treffens sind.
Ich räuspere mich einmal verlegen, zerre wie der Junge aus Halle am Kragen meines FDJ-Hemds und erkläre: „Ich spiele seit ein paar Jahren Gitarre und präsentiere euch heute einige schmissige Jugendlieder.“
Ein paar Halbstarke, die wahrscheinlich das letzte Mal die Pionierkluft tragen, bevor sie nach den Ferien in die FDJ kommen, verschränken die Arme vor der Brust und glotzen mich herausfordernd an. Ich tue so, als hätte ich sie gar nicht bemerkt und schaue lieber zu den Mädchen aus Suhl, die schon wieder anfangen, albern zu kichern.
Für das erste Lied habe ich ganz tief in der Schatztruhe des FDJ-Liedguts gegraben. Schließlich will ich auch unsere Pionierleiterin beeindrucken, wenn ich schonmal die Möglichkeit habe. Also habe ich meinen Onkel Kurt gefragt, der sich als Musiklehrer in solchen Dingen auskennen sollte und er hat mich mit einem Lied aus den Aufbaujahren unserer schönen Republik vertraut gemacht.
„Das erste Lied heißt ,Wir lieben das fröhliche Leben.‘“, schreie ich ins Mikrofon. 40 verständnislos dreinblickende Gesichter informieren mich darüber, dass ich zumindest nicht das bekannteste Jugendlied als Einstieg gewählt habe.
Wie nach der lauen Reaktion bei der Ankündigung des Songs nicht anders zu erwarten war, singt niemand mit. Mit einiger Genugtuung nehme ich aber zur Kenntnis, dass die Halbstarken in der dritten Strophe, in der vom Lied der Motoren und dem Klang der Maschinen die Rede ist, ihre Arme wieder entschränken und vorsichtig zum Takt meiner Akkorde mitwippen. Ermutigt durch diesen kleinen Erfolg, entscheide ich mich spontan, den alten FDJ-Gassenhauer „Sag mir, wo du stehst“ in der Version der Band Naiv zu singen, die ich vor kurzem bei Sirko auf Kassette überspielt habe. Der Beat ist etwas härter, der Text leicht verändert, aber von den blaubehemdeten Aufpassern scheint davon niemand etwas mitzubekommen.
Höflicher Beifall von Seiten der Pioniere belohnt mich für meine Bemühungen.
„Kannst du auch was fetziges?“, ruft der kleine dicke Hallenser von ganz hinten. Zustimmendes Gejohle kommt von den Halbstarken und auch die kichernden Suhler Gänse nicken wohlwollend zu dem Vorschlag aus dem Publikum.
Irritiert schaue ich zu Barbara Kästner. Mit einem fast unmerklichen Nicken und einem kurzen Augenaufschlag gibt sie mir die Zustimmung, etwas lebensnaher zu werden. Nach kurzer Überlegung entscheide ich mich für einen in meinem Freundeskreis beliebten Song der Band Pankow, der keine große Herausforderung für meine bescheidene Gitarrenspielkunst darstellt, aber allgemein bekannt und obendrein auch noch fetzig genug sein sollte, um die Pioniere in gute Stimmung zu versetzen.
Schon nach den ersten Akkorden haben einige Jungs und Mädchen das Lied erkannt und klatschen begeistert mit. Ich vermute mal, sie kommen aus Berlin oder Leipzig, wo man die neuesten Trends immer als erstes mitbekommt. Auch unsere Pionierleiterin wippt unwillkürlich mit den Zehen.
Die ersten beiden Strophen gehen reibungslos, als ich aber bei dem Teil des Liedes ankomme, in dem irgendwie doch leise Kritik an der ewigen Eintönigkeit des Lebens und vor allem an den alten Männern, die einem aber auch immer alles vorschreiben müssen, geübt wird, geht ein nervöser Ruck durch die Ordner in ihren blauen Hemden. Einige reißen erschrocken die Augen auf, so als hätten sie Angst um meine geistige Gesundheit, andere tun so, als wären sie so intensiv mit der Inspektion der Wand beschäftigt, dass sie von dem Text des Liedes gar nichts mitbekommen können. Barbara Kästners Fuß wippt auch nicht mehr, dafür toben die Pionier vor mir und patschen lautstark ihre Hände gegeneinander. Einige in den hinteren Reihen hat es sogar von den Hockern gerissen. Sie sind auf die Stühle gesprungen und klatschen begeistert. Die ersten „Zugabe! Zugabe!“-Rufe sind zu hören, ich bin mir ziemlich sicher, dass sie von den Halbstarken ausgingen, die eben noch so ablehnend vor mir standen.
Irgendwie gehen in dieser Situation die Pferde mit mir durch. Vor meinem inneren Auge beobachte ich den D-Zug aus Problemen, Zurechtweisungen und disziplinarischen Maßnahmen, der als Konsequenz meiner Entscheidung unweigerlich auf mich zurast, mit einer morbiden Faszination, während meine Hände wie von selbst die ersten Akkorde der simplen Tonfolge eines Liedes über die Saiten der Gitarre jagen, das ich bei klarem Verstand nie und nimmer auch nur in der Nähe einer Pionierveranstaltung angestimmt hätte. Vermutlich sagt mir ein ganz kleiner Zipfel meines Unterbewusstseins, dass der Boss erst letzten Monat vor über 160.000 DDR-Bürgern in Berlin-Weißensee gespielt hat und mein Vorhaben dadurch schon irgendwie gerechtfertigt sein wird. Der Rest meines Gehirns scheint gerade in Tiefschlaf verfallen zu sein und so übernimmt dieses kleine Zipfelchen tatsächlich die Oberhand. Die Pioniere toben begeistert im Takt der Musik, PiLei Barbara Kästner und die anderen Funktionäre versteifen sich in Erwartung der unausweichlichen Katastrophe und dann schallen aus meinem Mund Bruce Springsteens Worte: „Born in the U.S.A.“
Der Saal rockt, die Ordner haben alle Hände voll damit zu tun, die lauthals mitgrölenden Pioniere zu beruhigen und so geht im allgemeinen Chaos beinahe unter, wie ich von vier kräftigen Männern in richtigen Jacketts in die Mitte genommen und eilig in das sichere Halbdunkel hinter der Bühne geführt werde.
„Tilo, Tilo, Tilo!“ Barbara Kästner bedenkt mich mit einem traurigen Blick, aus dem Enttäuschung, Verbitterung und Mitleid sprechen. Sie hat ihre Arme um ihren kleinen, schmächtigen Körper geschlungen. Mir ist schon bei früheren Gelegenheiten aufgefallen, dass ihr im Gegensatz zu anderen weiblichen Mitgliedern des Lehrkörpers diese Geste nicht weiter schwer fällt, da kaum etwas im Weg ist, was unangenehm aufreizend nach oben gedrückt werden könnte. Bevor meine Gedanken aber in ungesunde Gefilde abdriften können, setzt sie ihre Jammerlitanei schon fort. „Was hast du dir nur dabei gedacht?“
„Gar nichts hat er sich gedacht.“, brummt der dicke Mann in dem weißen Hemd mit dem gestärkten Kragen, das unter seinem braunen Jackett hervorlugt und der mir als Klaus Winkler von der FDJ-Kreisleitung vorgestellt wurde, hörbar missmutig. „Schauen Sie ihn sich doch an!“, kommt er dem Einwand unserer Pionierleiterin, der sich bereits angeschickt hat, ihren Mund zu verlassen, zuvor und deutet mit anklagender Geste auf mich, fast so, als würde er ihr eine besonders unangenehme und ekelerregende Ungezieferart präsentieren. „Er besitzt tatsächlich die Frechheit, in der Uniform der sozialistischen Jugendorganisation unserer glorreichen Partei hier zu erscheinen.“
Mit schmalem Mund blicke ich kurz an meinem Oberkörper herunter, der immer noch von dem leuchtend blauen Hemd der FDJ verhüllt wird, das ich vor einer Stunde bei meinem kleinen Malheur getragen hatte. „Nach allem was geschehen ist.“, säuselt er, fasst sich an die Stirn und lässt sich zurück in den schweren Ledersessel sinken, der ihm seinem Leibesumfang nach zu schließen schon seit Jahrzehnten beim Breitsitzen seines Hinterns behilflich ist. Er bietet einen so verzweifelten Anblick, dass ich mir fast sicher bin – Klaus Winkler war früher mal beim Theater. Zum Glück kann ich dieses eine Mal meine Neugier im Zaum halten. Heute gibt es wichtigeres zu klären. „Also, das mit dem Hemd...“, versuche ich zu erklären, dass ich beim besten Willen nicht anders hier erscheinen konnte, da mich die kräftigen Männer direkt aus dem Pionierhaus hierher in die Kreisleitung gefahren haben und ich außer meiner offiziellen Verkleidung keine anderen Klamotten dabei hatte. Wie hätte ich denn auch damit rechnen sollen, dass alles schief geht?
„...ist eine Unverschämtheit.“, fällt mir Klaus Winkler ins Wort und streicht sich die eine graue Haarsträhne zurück, die seinen Schädel noch davor bewahrt, als vollkommen nackt durch die Gegend getragen zu werden. „Auch über diesen Punkt werden wir beraten müssen.“, stöhnt er mit einem schmerzverzerrten Blick zu Barbara Kästner. „Notieren Sie: Mögliche Aberkennung der FDJ-Mitgliedschaft!“, diktiert er unserer Pionierleiterin, die, nachdem sie mir einen kurzen erschrockenen Blick zugeworfen hat, die Worte gewissenhaft in ihr rot eingeschlagenes Notizbuch überträgt.
Eine merkwürdige Ruhe überkommt mich bei diesen Worten. Die Ereignisse der letzten Stunde, die Lieder, die begeistert klatschenden Pioniere, die harten Griffe der Eingreiftruppe auf unserem gemeinsamen Weg hinter die Bühne, die Enge des Lada, in dem wir zu fünft durch die von fröhlichen rot und blau behalstuchten Kindern bevölkerte Stadt gerast sind, das ewige Warten in dem winzigen Zimmer mit dem Linoleumboden, der kalten Neonröhre und dem Blick auf die braune Wand des gegenüber liegenden Stalinbaus, all das kommt mir so unwirklich, surreal, abgehoben vor. Ich fühle mich, als säße ich im Kino und schaute meiner eigenen schlampig inszenierten Hinrichtung zu.
„Machen wir es kurz!“, knurrt mir der FDJ-Kreisleiter, der, wie mir mit mäßigem Interesse gewahr wird, schon längst dem Jugendalter entwachsen ist, eine Einleitung entgegen, die klischeehafter nicht sein könnte und deshalb meine Cineastenfantasie nur verstärkt, entgegen. „Sie sind fast 16 Jahre alt und wollen im nächsten Jahr die zehnte Klasse einer durch die harte Arbeit unserer werktätigen Bevölkerung finanzierten Polytechnischen Oberschule besuchen. Ihre Akte“, bei diesen Worten klopft er mit seinem dicken Zeigefinger gewichtig auf einem kleinen Stapel bräunlich angelaufener Papiere herum, „enthält bisher keine negativen Einträge. Das lassen wir zu ihren Gunsten sprechen.“ Er tauscht einen kurzen Blick mit der Pionierleiterin, bevor er fortfährt. „Aber nach dem, was sie sich heute geleistet haben,“, er nimmt das oberste Blatt vom Stapel, auf dem handschriftlich mehrere Notizen gemacht worden waren, „ich zitiere: ,Aufführen ausländischen Propogandaliedguts auf dem Pioniertreffen, Anstiftung zum Aufruhr und zur Zuwiderhandlung gegen die Ordnungsregeln auf einer öffentlichen Veranstaltung, Vorführung eines Liedes in deutscher Sprache, dessen Aufführung im öffentlichen Raum verboten wurde, Verunglimpfung des solidarisch-kämpferischen Liedguts der Freien Deutschen Jugend...'“
,Aha, sie hatten also doch die kleine Textänderung in dem Naiv-Song bemerkt', schießt es mir durch den Kopf. ,Ganz schön gerissen, diese Kader.'
Kurt Winkler und Barbara Kästner werfen mir fragende Blicke zu. Seine sind eher herausfordernd-geringschätziger Natur, ihre verzweifelt-resigniert. Ich war in Gedanken kurz abgeschweift und habe den Rest der Anklageschrift verpasst. Offenbar erwarten sie irgendeine Antwort von mir.
„Also, das mit dem Lied...“, stammle ich.
Winkler knallt seine flache Hand auf den Tisch. „Können Sie auch in ordentlich formulierten Sätzen zu uns sprechen oder sind sie einer dieser affenähnlichen Untermenschen, die außer Radau und Flausen nichts im Kopf haben?“, schreit er mich mit hochrotem Kopf an. Sein fetter Hals quillt dabei unnatürlich über den Hemdkragen, so dass ich für einen Augenblick die Hoffnung hege, sein Kopf könne sich noch weiter aufblasen und dann mit einem lauten Knall explodieren.
„Es tut mir leid?“, versuche ich es aufs Geratewohl mit einer der Floskeln, die uns schon seit unserem ersten Tag in der Kinderkrippe in die sozialistische DNA eingehämmert wurden. Älteren gegenüber immer Respekt üben, so hätte eines der fünfhundert Gebote des sozialistischen Kindergartenkindes lauten können, wenn es so etwas geben würde.
Erwartungsvoll blicken mir die beiden Erwachsenen entgegen. Eine einfache Entschuldigung scheint es nicht zu tun. Da muss ich wohl tiefer in die Trickkiste des frasengeschulten DDR-Bürgers greifen. Innerlich seufze ich einmal tief, bevor ich mich zu einer Aktuelle-Kamera-reifen Antwort aufraffe: „Ich habe beim heutigen Konzert im Pionierhaus die nötige Reife und Verantwortung, die für eine solche Veranstaltung nötig ist, vermissen lassen. Dadurch habe ich nicht nur die mir anvertrauten Kinder der Gefahr unkontrollierter Exzesse und falscher Informationen ausgesetzt, sondern auch dem Ansehen unserer Jugendorganisation, der Stadt und des Bezirks Karl-Marx-Stadt und der gesamten Deutschen Demokratischen Republik schweren Schaden zugefügt. Ich schäme mich dafür, all die hart arbeitenden Arbeiter und Bauern unserer Republik so schwer enttäuscht zu haben und kann nur hoffen, dass es dem Gegner und Klassenfeind nicht gelingen wird, aus diesem Ereignis einen Vorteil zu ziehen.“
Ich bin so in Fahrt, dass es mir wirklich schwer fällt, an dieser Stelle abzubrechen und nicht auch noch die deutsch-sowjetische Freundschaft, das Andenken an Ernst Thälmann und den kleinen Trompeter oder den Weltfrieden ganz allgemein zu bemühen. Barbara Kästner blickt mir aus treuherzigen blauen Augen erleichtert entgegen. Ich scheine sie mit meiner kleinen Stegreifansprache durchaus überzeugt zu haben.
Kurt Winklers Gesicht blickt mich deutlich finsterer an. Mit zusammengekniffenen Augen mustert er mich, auf seiner Stirn hat sich eine steile Falte gebildet. „Ich weiß nicht, ob du mich hier verscheißern willst.“, knurrt er mich an. „Aber das eines klar ist: Wir haben dich im Blick, Tilo Reichel. Noch ein Fehltritt, und du bist weg vom Fenster.“
Ich nicke in gespielter Eingeschüchtertheit. Der abrupte Wechsel vom Sie zum Du ist mir durchaus nicht entgangen. Aber ich hatte in den letzten 15 Jahren ja reichlich Gelegenheit, eine angemessen zerknirschte Körperhaltung bis zur Perfektion zu trainieren.
„Und damit meine ich nicht die Berufsausbildung mit Abitur.“ Nun wedelt er aufgeregt mir seinem Finger vor meiner Nase herum. „Das kannst du dir sowieso schön abschminken. Wir haben schon ganz andere subversive Elemente zur Strecke gebracht, da werden wir auch mit dir fertig.“
Ich blinzle kurz, dann blicke ich lieber zu unserer Pionierleiterin. Sie schluckt schwer, bevor sie das Wort an mich richtet. „Du wirst natürlich einen selbstkritischen Beitrag auf der nächsten FDJ-Versammlung in der Schule leisten?“, fragt sie mich mehr mit fast flehentlichem Ton, als dass sie es mir befiehlt.
„Natürlich.“, antworte ich mit fester Stimme, kann aber nicht verhindern, dass sich mein Rückgrat versteift.
„Und jetzt raus hier!“, kommandiert Winkler. „Für den Rest des Pioniertreffens haben Sie natürlich Auftrittsverbot.“, ruft er mir noch hinterher, als ich fluchtartig auf den kahlen, mit dem gleichen Linoleumboden ausgestatteten Flur hinausstürze. Als ob mich das interessieren würde. Ich hatte ohnehin keine weiteren Konzerte geplant.
„Na, du Rebell!“, ruft mir, kurz nachdem ich den Betonklotz, in den sie mich gebracht hatten, als freier Mann verlassen habe, eine bekannte Stimme zu. Verwundert versuche ich mit meinem Blick, das Gequirl aus Pionieren, Betreuern und genervten Passanten, die sich durch das Gewühl ihren Nachhauseweg bahnen müssen, auf der Suche nach dem Rufer zu durchdringen.
„Sirko?“, brülle ich, als ich den Übeltäter identifiziert habe. Ein paar Pioniere bedenken mich mit kritischen Blicken, deshalb schiebe ich mich eilig zu meinem Freund durch. Mit seinem beigen T-Shirt, der Stonewashed-Jeans und den Römersandalen fällt er optisch völlig aus dem Rahmen der um uns herumstehenden Kinder. „Was machst du denn hier?“, sage ich die in solchen Situationen unausweichliche Floskel auf, die unter den Top 10 der blöden Fragen der Menschheitsgeschichte gute Chancen auf einen Podestplatz hätte. An „Schläfst du schon?“ würde sie wahrscheinlich nicht heranreichen können, aber ansonsten gibt es nur wenige Gesprächseröffnungen, die „Was machst du denn hier?“ ernsthaft Konkurrenz machen können. Schließlich sehe ich ja, was Sirko hier macht, nämlich rumstehen und mich angrinsen.
„Wir haben gedacht, dass du vielleicht seelischen Beistand brauchen könntest, wenn du da wieder lebend herauskommst.“, frotzelt er und deutet mit dem Zeigefinger auf das Gebäude, in dem PiLei Barbara Kästner und Kurt Winkler vermutlich immer noch die Köpfe zusammenstecken und überlegen, wie sie meinen Fall als abschreckendes Beispiel zur propagandistischen Erziehung der Jugend ausschlachten können.
„Geht's noch ein bisschen lauter?“ Hinter Sirko taucht Robert aus dem Gewühl auf. Neben seinem Aufzug in ausgetretenen Militärstiefeln und Armeeparka, den er nicht einmal bei über 30 Grad im Schatten auszieht, wirkt Sirko fast schon wieder unauffällig. „Willst du gleich als nächster da drin antanzen?“, raunzt er Sirko an.
„Entschuldigung.“, gibt sich Sirko reumütig. „Auf jeden Fall,“, wendet er sich wieder an mich, „sind wir sofort mit Roberts Karre los, um dich zu unterstützen.“, berichtet er stolz.
Robert geht zwar mit uns in eine Klasse, ist aber vor kurzem 18 geworden und hat deshalb schon seit zwei Jahren einen Motorradführerschein. „Oder um deine Einzelteile zusammenzukehren und einer geordneten Bestattung zuzuführen.“, witzelt er.
„Woher habt ihr denn davon gewusst?“, frage ich skeptisch. Ich hatte gehört, dass es Tage dauern konnte, bis allein Familienmitglieder herausfanden, dass ihre Ehemänner, Mütter oder Kinder wegen irgendwelcher Vergehen irgendwo eingesperrt worden waren.
„Seine Tante.“, sagt Sirko nur und deutet mit dem Daumen auf Robert. Der nickt bestätigend.
„Ach so.“, ist mein einziger Kommentar. Wir wissen, dass Roberts Tante als Sekretärin irgendeines hohen Parteibonzen arbeitet, und viel mehr ist über sie auch nicht herauszubekommen.
Robert schaut sich aufmerksam um und hakt uns dann beide unter. „Los, lasst uns mal ein lauschigeres Plätzchen suchen. Das ist ja kein Thema für die Ohren von solchen Rotzlöffeln.“, zischt er uns im Gehen zu und lotst uns zielstrebig über die breite Prachtstraße, auf der sich die Aktivitäten des Pioniertreffens vor unseren Augen entfalten.
Karl-Marx-Stadt wurde nach dem Krieg unter maßgeblicher Beteiligung von Walter Ulbricht nach modernsten Maßstäben wieder aufgebaut und verfügt durchaus über einen gewissen Charme, vor allem, wenn man in der Stadtverwaltung arbeitet und Großveranstaltungen plant. Die Straßen sind so breit, dass ein einzelner Trabi darin Angstzustände bekommen kann wie ein verlorener Reisender in der Sahara. Die sie begrenzenden Gebäude strahlen die vertrauenerweckende Wärme von Eisbergen aus, die jahrelang den Rauchwolken der Braunkohlekraftwerke rund um Leipzig ausgesetzt waren und deshalb eine ungesund braune Farbe angenommen habe. Und es gibt absolut keine kleinen Nebenstraßen und Gassen, in denen sich konterrevolutionäre Subjekte hätten verstecken können. Deshalb folgen wir Robert ohne Nachzudenken die Karl-Marx-Allee entlang, bis wir über die große Kreuzung am Zentrum Warenhaus gelangen und urplötzlich fast allein auf der Straße stehen. Außerhalb des Innenstadtkerns gibt es keine Attraktionen für die Pioniere und die Werktätigen auf dem Weg in den wohlverdienten Feierabend haben in bewährter Manier den Kopf zwischen die Schultern gezogen und den Blick fest auf das Pflaster geheftet.
„Na los, jetzt erzähl schon!“, drängt mich Robert zu einem Bericht über den Grund meines Verhörs.
Ich liefere den beiden Tratschtanten eine Kurzversion der Ereignisse. Gespannt und ohne mich ein einziges Mal zu unterbrechen, hängen sie an meinen Lippen.
„Ja, leck mich doch!“, murmelt Sirko, als ich fertig bin. „Hast du sie noch alle? Erst Langeweile spielen und dann auch noch Looking for Freedom? Da kannst du noch froh sein, dass sie dich nicht gleich eingesperrt haben.“
„Ich hätte es auf jeden Fall gemacht.“, mischt sich Robert ein.
„Was?“, fragt Sirko nach.
„Was, was?“, gibt Robert irritiert zurück.
„Was hättest du gemacht?“, konkretisiert Sirko seine Anfrage.
„Ihn eingesperrt.“, erwidert Robert und zeigt auf mich. Mit großen Augen und offenen Mündern starren wir ihn an. „Wegen grottigem Musikgeschmack!“, ereifert sich unser Freund. Er kramt in den Taschen seines Parka, holt eine Packung f6 hervor und steckt sich einen Glimmstengel zwischen die Lippen. „Wollt Ihr auch?“, bietet er uns wie jedes Mal generös eine Kippe an, in der korrekten Annahme, dass wir wie jedes Mal dankend ablehnen werden. Missbilligend schüttelt er den Kopf. „Also wirklich, Tilo! Da hast du einmal die Chance, vor Publikum ein richtiges Statement abzugeben, politisch mal so richtig auf die Kacke zu hauen, und dann fällt dir nichts besseres ein als Bruce Springsteen? Das ist Perlen vor die Säue, sag ich dir. Wenn du schon so einen Scheiß baust, dann muss das richtiger Scheiß sein, Mann!“
Meine Gedanken versuchen verzweifelt, die Botschaft hinter seinen Worten zu verstehen. „Ich hab doch gar nicht...“, stammle ich.
„Genau!“, fällt mir Robert ins Wort. „Nicht nachgedacht hast du. Nicht sorgfältig geplant. Von deinen Gefühlen hast du dich übermannen lassen und jetzt ist diese einmalige Chance, die sich dir geboten hat, futsch. Für immer!“ In die letzten beiden Worte legt er eine besondere Betonung.
„Aber ich sollte doch nur ein paar Lieder spielen.“, versuche ich, mich zu rechtfertigen. „Ich hatte doch gar nichts vor.“ Selbst in meinen Ohren klingt das irgendwie jämmerlich.
„Genau das ist euer Problem.“, ereifert sich Robert und traktiert abwechselnd mich und Sirko mit herausfordernden Blicken. „Ihr habt nie irgendwas vor. Immer schön machen, was andere euch sagen. Aktivitäten nur auf Anweisung. Einmal die Woche zur AG und einmal zum Sport in die BSG und ansonsten schön die Klappe halten. Langeweile! Zu viel rumgerannt! Hast du vorhin doch selbst gesungen.“
„Ach, wenn es dir in den Kram passt, zitierst du plötzlich meinen schlechten Musikgeschmack, ja?“, maule ich, fühle mich gleichzeitig aber auch ertappt, weil Robert irgendwie Recht damit hat, wie er mein bisheriges Leben beschreibt.
„Euer ganzes Leben ist wie eine Autobahn, die jemand anderes gebaut hat, vor euch ausgebreitet.“, setzt Robert nach.
Sirko glotzt mich blöde an und ich glaube, ich glotze genauso blöde zurück. Dann zucken wir gleichzeitig die Schultern. „Na und? Was sollen wir denn machen?“, fragen wir verständnislos wie aus einem Mund.
Robert rollt mit den Augen. „Wir sind jung, verdammt noch mal! Wir sollten aufbrechen, die Welt erobern! Freiheit und Abenteuer!“ In seine Augen tritt ein seltsamer Glanz. „Das machen, was andere sagen, können wir noch ein ganzes Leben lang.“
„Uns bleibt ja auch nichts anderes übrig.“, falle ich ihm lakonisch ins Wort.
Ein kaum merklicher Ruck geht durch Roberts Körper, das Feuer in seinen Augen ist wieder erloschen. „Eben!“, motzt er mich an. „Und darum ist es eine Verschwendung, wenn du Born in the U.S.A. singst, was ja noch nicht einmal stimmt, und dafür deine ganze Zukunft riskierst.“
„Jetzt ist es jedenfalls passiert. Da hilft es Tilo auch nichts mehr, wenn du auf ihm herumhackst.“, versucht Sirko mich in Schutz zu nehmen.
„Und ob das was hilft!“, rechtfertigt sich Robert vehement. „Aus unseren Fehlern müssen wir dir richtigen Lehren ziehen – hat schon Lenin gesagt. Und unsere Lehre muss sein, dass es Augenblicke wie diesen geben kann, und wir müssen darauf vorbereitet sein. Wenn ich schon mein Leben verpfusche, dann soll es wenigstens einen Sinn gemacht haben.“
„Ist dein Leben jetzt verpfuscht?“, wendet sich Sirko halb besorgt, halb amüsiert an mich.
Ich hebe verlegen die Schultern. „Sie haben nur gesagt, dass ich mir das Abitur abschminken kann.“
Robert bricht in ein befreiendes Lachen aus. „Der war gut.“, japst er. „Du und Abitur? Bevor das passiert, bricht die Mauer zusammen.“
Sirko schaut sich aufgeschreckt um. „Pssst! Nicht so laut!“
Robert hat sich wieder im Griff und räuspert sich verlegen. „Jedenfalls hab ich mir was überlegt. Mein Onkel Herbert will mir doch einen alten Trabi besorgen.“
Sirko wirft mir einen begeisterten Blick zu.
„Ist ja irre!“, bricht es aus mir heraus.
Robert macht eine beschwichtigende Geste. „Nichts Großes. Er schraubt doch gern und hat eine alte Karre vom Schrott wieder fit gemacht. Er meint, nächste Woche sollte sie laufen.“
„Einen rundgelutschten?“, frage ich ehrfürchtig.
Robert nickt gönnerhaft. „Rundgelutscht. Und Kombi!“, fügt er in vorgezogenem Besitzerstolz mit breiter Brust hinzu.
„Wahnsinn!“, kommentiert Sirko.
„Genau!“, stimmt ihm Robert zu. „Und ich lade euch zur Jungfernfahrt ein.“ Er strahlt mit der Sonne um die Wette.
„Hast du denn schon die Fleppen gemacht?“, fragt Sirko und schaut ihn skeptisch von der Seite her an.
„Klar.“ Robert klopft sich selbstbewusst auf die Brusttasche. „Was denkst du denn, warum ich in den Ferien so wenig Zeit hatte. Hab ständig bei der GST gesessen und Auto fahren gelernt.“
„LKW-Schein?“, frage ich besorgt.
„Äh, ja, wieso?“ Robert ist der Wandel in meiner Stimme nicht entgangen.
„Na, da musst du doch dann drei Jahre zur Fahne.“, gebe ich zu bedenken.
Robert guckt mich an, als hätte ich ihm dargelegt, dass im September die Schule wieder anfängt. „Ja und? Muss ich doch sowieso.“, mault er. „Außerdem ist noch ein Jahr Zeit, da kann viel passieren.“, orakelt er vor sich hin. „Aber das muss ja auch nicht eure Sorge sein.“, unterbindet er weitere Diskussionen. „Jedenfalls will ich am letzten Ferienwochenende nach Gera fahren und ihr kommt mit.“, ruft er und legt seine Arme um unsere Schultern.
„Gera?“, fiepst Sirko.
„Was wollen wir denn da?“ Ich lege so viel Verachtung wie möglich in diese Frage. Die erste Ausfahrt mit dem eigenen Auto, und dann soll es ausgerechnet in dieses Kaff gehen?
„Dort spielen Blitzz.“, erzählt uns Robert mit leuchtenden Augen.
„Blitzz? Nie gehört.“, wirft Sirko emotionslos ein.
„Kannst du auch nicht. Bis vor kurzem hießen sie noch Prinzz.“, klärt Robert uns Kulturbanausen auf.
„Aha, Prinzz.“, entfährt es mir. „Nie gehört.“, ergänze ich nach kurzem Grübeln.
„Das ist Heavy Metal vom allerfeinsten.“ Robert versucht durch pure Energieentladung seine Begeisterung auf uns zu übertragen.
„Heavy Metal?“, hakt Sirko nach. „So Krach mit langen Haaren?“
„Und Lederklamotten.“, werfe ich auch einen qualifizierten Kommentar ein, um zu zeigen, dass ich nicht ganz hinterm Mond lebe, auch wenn mir weder Blitzz, noch Prinzz, noch Heavy Metal viel sagen.
„Ja, auch das.“, bestätigt Robert, der gar nicht zu merken scheint, wie wenig wir von seinem Vorschlag halten. „Also, seid ihr dabei?“, fragt er aufgeregt wie ein kleiner Junge, der seine Freunde zu einem frechen Streich überreden will.
Wir wollen ihm die Freude nicht verderben. Wozu hat man denn Freunde? „Also gut.“, ergebe ich mich in mein Schicksal. „Ich komme mit.“
„Von mir aus.“ Auch Sirko gelingt es nicht, echte Begeisterung zu heucheln. „Aber dann muss auch Olaf mitkommen.“
„Gute Idee!“, ruft Robert. „Für vier Leute ist doch locker Platz. Das wird ein Spaß!“
Ich bin mir da nicht so sicher, aber das behalte ich in diesem Augenblick echter Männerfreundschaft lieber für mich.