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Oktober 1988

Manne gegen Gewalt – Biest

Gelangweilt hänge ich auf meinem Stuhl und tue so, als würde ich konzentriert den Text in unserem Staatsbürgerkundebuch lesen. Barbara Kästner, die mangels Alternative im Lehrkörper immer noch die Vertretung des Faches übernommen hat, ist weiter hinten in eine angeregt Diskussion mit Liane Schulze und Franziska Lößnig verstrickt und hat gerade keine Augen für ihre Lümmel von der ersten Bank, wie sie uns inzwischen bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit mit einem süffisanten Lächeln nennt. Das Prasseln des Regens gegen die Fensterscheiben macht es mir nicht leichter, mich auf die schwülstigen Sätze, die wir durcharbeiten sollen, zu konzentrieren.

Ich mache mir ein paar Stichpunkte, in die ich die üblichen Worthülsen wie „revolutionärer Weltprozess“, „Beitrag zum weiteren Fortschreiten des Sozialismus in der Welt“, „geschichtliche Notwendigkeit der Überwindung des kapitalistischen Imperialismus“ und – mein absoluter Favorit – „notwendiger Führungsanspruch der marxistisch-leninistischen Partei zur Befähigung der Arbeiterklasse für die herangereiften Aufgaben“ einbaue. Seit ich in der 8. Klasse erkannt habe, dass dem Lehrer, wenn man diese Phrasen in einer Arbeit verwendet, keine andere Möglichkeit bleibt, als diese mit einer 1 zu benoten, nutze ich sie bei jeder sich mir bietenden Gelegenheit und gelte deshalb bei den Lehrern als einer der Klassenbesten in diesem Fach. Meine Mitschüler nennen meine Sprache dagegen hinter vorgehaltener Hand abgehobenes Geschleime, aber da spricht doch nur der Neid. Mit vagem Interesse nehme ich zur Kenntnis, dass diese Begriffe offenbar nicht nur bei Themen rund um unser Vaterland, die DDR, Gültigkeit besitzen, sondern auch bei Diskussionen um die Entwicklung Afrikas, die wir seit mehreren Wochen aus unterschiedlichsten Blickwinkeln betrachten.

Robert stupst mich von der Seite an. Ich drehe meinen Kopf und sehe, dass er unter seinem Buch den Zettel liegen hat, den ich ihm vor der Stunde noch schnell zugeschoben habe. Ich bin nicht wenig stolz auf den ersten eigenen Songtext, den ich geschrieben habe, und da Robert unser anerkannter Experte auf dem Gebiet des Heavy Metal ist, habe ich ihn als Erstleser auserkoren.

„Bist du wahnsinnig?“, raunt er mir zu und verdreht die Augen wie eine irre gewordene Kuh.

„Wieso?“, flüstere ich zurück. „Gefällt‘s dir nicht?“ Ich versuche, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

„Willst du, dass sie uns gleich einkassieren?“, brummt Robert. „Damit kannst du nicht nur eine Spielerlaubnis vergessen, da können wir uns auch gleich auf ein paar Jahre Bautzen einstellen.“

Ein Schauer läuft mir über den Rücken, als ich an die Gerüchte denke, die über das berüchtigtste Gefängnis der DDR kursieren. Klar habe ich auch ein bisschen provoziert, es soll ja schließlich Rockmusik sein, aber ein Protestsong ist es jetzt auch nicht gleich geworden. „Wir spielen doch erstmal nur für uns. Muss ja keiner hören.“, versuche ich, Robert milde zu stimmen.

„Und du meinst, wir können den anderen trauen?“, fragt er mit hochgezogener Augenbraue.

„Ich denke schon.“, druckse ich herum.

„Zu 100 Prozent?“, lässt er nicht locker.

Ich schaue kurz zu Sirko und Olaf hinüber, die über den anstehenden Oberligaspieltag diskutieren.

„Glaub schon.“, sage ich kleinlaut.

„Glauben reicht nicht.“, zischt Robert. „Und merk dir einwas. In unserem Geschäft darfst du niemandem trauen! Niemals!“

„Robert! Tilo! Was gibt es denn da zu tuscheln?“, ruft Barbara Kästner durch den Raum. Offenbar hat sie ihre Diskussion mit den Klassenstreberinnen beendet und ihre Lümmel wieder ins Visier genommen.

„Ja, es ist so.“, beginne ich, um einen Augenblick zu gewinnen und meine Gedanken zu sortieren. „Der Text lautet ja: ,Die sozialistischen Bruderstaaten: Vorkämpfer für Frieden und gegen Unterdrückung‘. Als Beispiele finden wir hier Angola und Mosambik. Jetzt haben wir uns gefragt, ob es einen historischen Grund gibt, dass der Sozialismus in Europa erfunden wurde und nicht in Afrika.“

Barbara Kästner schaut mich für einen Augenblick sprachlos an. Robert wirft mir einen erschrockenen, zugleich aber auch imponierten Blick zu. „Das ist eine sehr intelligente Frage.“, stellt die Pionierleiterin fest, so als hätte sie uns so etwas gar nicht zugetraut. „Wie sehen die anderen das?“, gibt sie meine Herausforderung geschickt weiter.

Sibylle Heinze, deren Vater ein hohes Tier am Gericht ist, prescht mit einer wohl formulierten These vor: „Ich halte es nur für eine Laune der Geschichte, dass die europäische Entwicklung der in anderen Erdteilen vorauseilt. Alle notwendigen Revolutionen auf dem Weg zum Kommunismus wurden bisher auf unserem Erdteil eingeleitet, deshalb musste sich auch der Sozialismus zuerst hier durchsetzen, bevor er seinen Siegeszug auf der ganzen Welt antreten konnte.“

Das kann Liane Schulze nicht auf sich beruhen lassen. Sie schnippt mit den Fingern, um ebenfalls einen Kommentar beisteuern zu können: „Ich stimme Sibylle zu. Es ist nur ein Zufall. Wie man ja gerade an den Beispielen Angola und Mosambik sieht, können auch Neger sehr gute Sozialisten sein.“

„Das hast du sehr schön formuliert, Liane.“, lobt Barbara Kästner diese ausgefeilte Analyse.

„Ich hoffe, damit ist eure Frage hinreichend beantwortet.“, sagt sie mit einem strengen Blick zu Robert und mir.

Wir nicken brav und senken beide den Blick auf unsere Bücher.

„Jetzt aber noch zu einem anderen Thema.“ Die Pionierleiterin klatscht in die Hände. „Legt eure Bücher weg! Wir müssen noch über die Transparente sprechen.“

„Transparente?“, höre ich Olaf nuscheln.

„7. Oktober.“, klärt ihn Sirko auf. „Es ist wieder Zeit zum Demonstrieren.“

Aus jahrelanger Erfahrung als Pioniere und FDJler sind wir auf dieses Thema natürlich vorbereitet und haben uns längst Gedanken gemacht. Nicht, dass wir ernsthaft daran interessiert wären, was letztendlich auf dem albernen Transparent stehen wird, das irgendwer vor uns hertragen wird, aber so eine Diskussion ist immer eine gute Möglichkeit, Punkte zu sammeln.

Roberts Arm schießt nach oben. Barbara Kästner scheint mindestens genauso überrascht wie der Rest der Klasse, denn dass Robert sich freiwillig am Unterricht beteiligt, gleicht einer Sensation.

„Ja, Robert?“, kommt die Aufforderung zum Reden dann auch sehr zögerlich.

„Unsere Schule – Kampfplatz für den Frieden!“, schlägt Robert vor, verschränkt die Arme vor der Brust und grinst mich selbstgefällig an. Ich kann ein anerkennendes Nicken nicht unterdrücken. Dagegen kann kein Parteisekretär der Welt etwas einwenden.

„Ich weiß nicht.“, meldet sich die dicke Yvonne zu Wort. „Das klingt irgendwie komisch, wenn man Kampfplatz und Frieden in einen Satz tut.“

„Lern du erstmal richtig Deutsch.“, murmelt Robert in seinen Bartansatz hinein.

„Andere Vorschläge?“, ruft die Pionierleiterin in die Runde und schreibt Roberts Satz an die Tafel.

Wir sind natürlich nicht die Einzigen, die sich Gedanken zu diesem Thema gemacht haben.

„Wir lernen für den Frieden.“, schlägt Jan vor.

„Dank Euch, Ihr Sowjetsoldaten!“, ruft Katja begeistert, wird aber sogleich niedergezischt. „Das hatten wir schon letztes Jahr!“

„Der Sozialismus – meine Welt.“, sagt Sirko ohne viel Enthusiasmus. Er hat einen todsicheren Standardspruch aus unserem Jugendweihegeschenk ,Sinn des Lebens‘ gewählt, von dem er weiß, dass er nie und nimmer gewählt wird.

„Viel zu altbacken.“, befindet dann auch Alex.

„Außerdem stand der schon bei der Jugendweihe an der Wand.“, erinnert sich Kathrin.

„Olaf, du hattest dich auch gemeldet.“, fordert ihn Barbara Kästner zum Sprechen auf.

„Für Sozialismus und Frieden?“, nuschelt Olaf.

Ein überlautes Gähnen aus der letzten Reihe kommentiert seinen Vorschlag. Ich tippe auf Alex, tue ihm aber nicht den Gefallen, mich umzudrehen.

Der Blick der Pionierleiterin bleibt an mir hängen. Unruhig ruckle ich auf meinem Stuhl herum. Eigentlich hatte ich einen anderen Spruch herausgesucht, aber gerade ist mir etwas eingefallen, was genau zum Thema unserer heutigen Stunde passt: „Solidarität mit den revolutionären Völkern Afrikas!“, schlage ich in der Gewissheit, damit mehrere Pluspunkte sammeln zu können, vor. Barbara Kästners Augenbraue zuckt überrascht hoch, dann wendet sie sich zur Tafel um, wo auch mein Vorschlag notiert wird.

„Alex, was ist eigentlich mit dir?“ Der stechende Blick unserer Pionierleiterin gleitet in die hinterste Bank.

„Mit mir?“, stammelt Alex aufgeregt.

„Ja, du hast bisher noch keinen Vorschlag gemacht.“, setzt ihn Barbara Kästner von seiner mangelnden Beteiligung in Kenntnis.

„7. Oktober.“, sagt Alex, der sich schnell wieder gefangen hat, selbstbewusst.

Frau Kästner glotzt ihn indigniert an. „7. Oktober?“

„Was soll das denn für ein Spruch sein?“, meckert Yvonne.

„Ist doch prima.“, schaltet sich Jan in die Diskussion ein. „Dann können wir das Transparent den Neuntklässlern vererben, für nächstes Jahr.“

Er erntet einige Lacher, die unter Barbara Kästners strengem Blick aber schnell wieder verstummen.

„Wenn man es vom Umwelschutzgesichtspunkt her sieht, ist die Idee gar nicht so blöd. Und auch volkswirtschaftlich ist es eine Verschwendung, dass zweimal im Jahr in der ganzen Republik tausende Transparente und Plakate gemalt werden, die nach ein paar Minuten herumtragen gleich wieder im Müll landen.“, unterstützt Robert den Vorschlag.

Wir sind alle überrascht, dass Robert so tiefgreifende Gedanken in die Runde wirft, aber keiner ist so fertig wie Barbara Kästner. Mit riesigen Kuhaugen und leicht geöffnetem Mund glotzt sie Robert an. Der fühlt sich durch diese Reaktion offenbar bestätigt, denn er legt noch nach: „In Berlin gibt es ja sogar eine Umweltbibliothek. Das Thema ist also wirklich aktuell.“

Die Pionierleiterin sieht aus, als müsse sie sich gleich übergeben.

„Umweltbibliothek.“, brummt Alex von hinten. „So ein Schwachsinn.“

„Das ist kein Schwachsinn.“, zischt ihn Matthias an.

„Der Matthias hat noch gar keinen Vorschlag gemacht.“, brüllt Kalle.

„Kalle, diese miese Ratte.“, flüstert Robert mir zu. „Was soll unser Christ denn schon beitragen?“

Ich nicke in stummem, empörtem Einverständnis, doch jetzt kommt Matthias nicht mehr vom Haken.

„Frieden schaffen, ohne Waffen!“, dringt seine tiefe Stimme durch den Raum.

Barbara Kästners Kopf zuckt unruhig auf ihrem schmalen Hals vor und zurück. Ein angespanntes Raunen wabert zwischen den Tischen hin und her. Ich muss Matthias für seinen Mut bewundern, auch wenn er mir an dieser Stelle reichlich verschwendet erscheint.

Ausgerechnet Juliane, die Oberstreberin, kommt Matthias zu Hilfe. „Wie wäre es mit ,Die Jugend kämpft für den Frieden!‘?“, schlägt sie vor. „Das würde Matthias‘ Intention wiedergeben und gleichzeitig besser auf unsere Situation passen.“

Die Pionierleiterin wirft Juliane einen dankbaren Blick zu und schreibt ihren Vorschlag unter die anderen.

Nachdem es zuerst so viele Vorschläge gehagelt hatte, hat plötzlich keiner mehr Lust, den Mund aufzumachen. Also schreiten wir zur Abstimmung und wie nicht anders zu erwarten gewinnt Julianes lahme Phrase haushoch. Ich habe immerhin zwei Stimmen bekommen, Robert sogar drei.

„Gut, dann werde ich den Vorschlag mit in die Arbeitsgruppe nehmen. Dort wird dann aus allen Klassenvorschlägen der beste ausgewählt. Die neunten Klassen übernehmen wie immer die Gestaltung des Transparents.“, führt Barbara Kästner das Thema zu einem glücklichen Ende.

„Wir müssen noch … Nanu, was ist denn da los?“ Ein lautes Poltern auf dem Gang lässt sie ins Stocken geraten. Im nächsten Moment wird die Tür aufgerissen und es stürmen drei Männer in blauen Arbeitshosen das Klassenzimmer.

„Klasse 10 b?“, fragt ein großer Glatzkopf.

„Onkel Ernst!“, ruft Olaf und springt begeistert auf. Als ihm klar wird, wie absolut uncool er sich gerade benimmt, lässt er sich eilig wieder auf seinen Stuhl fallen und grinst die Männer debil an.

„Leute, hier sind wir richtig.“, sagt er zu seinen Kollegen, die eine schwere Holzkiste abstellen und sich theatralisch die Rücken geradebiegen.

Barbara Kästner räuspert sich pikiert. „Darf ich die Herren fragen, wer Sie sind und was diese Unterbrechung meines Unterrichts zu bedeuten hat?“

„Wir sind die neue Patenbrigade und wir haben Geschenke mitgebracht.“, lacht Olafs Onkel Ernst munter.

„Die neue Patenbrigade?“ Einen Moment lang kann man unserer Pionierleiterin förmlich beim Denken zusehen. Dann trifft sie der Funke der Erkenntnis. „Ah, die Musikanten aus Markneukirchen! Wir hatten ja telefoniert!“, ruft sie aufgeregt.

„Musikinstrumentenbauer, um genau zu sein.“, erwidert einer von Ernsts Kollegen.

„Vom VEB Musima Markneukirchen.“, mischt sich auch der dritte Werktätige in das Gespräch ein.

Barbara Kästner hat sich wieder gefangen und gibt den drei Männern artig die Hand. „Liebe Klasse 10 b,“, wendet sie sich dann uns zu. „Darf ich euch eine Delegation eurer neuen Patenbrigade vorstellen?“ Sie deutet mit den Händen auf die drei Männer, die breit grinsend neben ihr stehen.

Plötzlich ist kein Halten mehr. Die Jugendlichen, die bisher mit distanzierter Neugier das Treiben vor der Tafel verfolgt haben, brechen in lauten Jubel aus. „Der Schulausflug ist gerettet.“, fasst Jens den Hauptgrund für die Freude der Schüler in Worte.

„Hallo FDJler.“, ruft Olafs Onkel und grinst fröhlich in die Runde. „Wir sind Ernst,“, dabei zeigt er auf sich, „Jochen und Karl-Heinz.“ Damit wären alle drei vorgestellt. „Natürlich konnte nicht die ganze Patenbrigade kommen, es ist ja doch ein Stück Anfahrt aus dem Vogtland, aber bei eurem Gegenbesuch werdet ihr die anderen ja kennen lernen.“

„Was haben Sie uns da mitgebracht?“, ruft Alex, der wie immer immun gegen jede Form von Anstand ist und deutet auf die Kiste.

Mit feierlicher Miene heben Ernst und Karl-Heinz den Deckel der Kiste an. Jochen zwirbelt zufrieden seinen Schnurrbart, dann greift er hinein und fördert eine Unmenge Verpackungsmaterial zutage.

„Knallfolie!“, ruft Yvonne und klatscht begeistert in die Hände.

„Bist du dämlich.“, macht sich Kalle sofort über sie lustig. „Das ist doch nicht das Geschenk.“ Er verdreht spöttisch die Augen und erntet damit sogar den ein oder anderen Lacher.

„Tadaaa!“ Jochens Ausruf lenkt die allgemeine Aufmerksamkeit wieder nach vorn, wo er einen länglichen Gegenstand aus der Kiste gezogen hat und nun wie eine Trophäe über den Kopf hebt.

„Ist das eine Gitarre?“, fragt Matthias verwundert.

„Das ist nicht irgendeine Gitarre. Das ist eine Leadstar!“, platzt es aus Robert heraus. Seine Augen bekommen einen magischen Glanz. Ich bin versucht, ihn festzuhalten, um zu verhindern, dass er aufspringt und Jochen mitsamt Gitarre umrennt, aber er scheint sich unter Kontrolle zu haben.

Karl-Heinz hebt inzwischen eine weitere Gitarre aus der Verpackung und präsentiert sie uns lächelnd.

„Ich werd nicht wieder!“, japst Robert. „Eine Heavy. Die Dinger werden nur in ganz begrenzten Stückzahlen hergestellt. Sowas kostet ein Vermögen.“

„Und einen Action-Bass obendrauf.“, grinst Ernst in die Runde und präsentiert uns das dritte und offenbar letzte Geschenk unserer Patenbrigade.

Nicht nur Robert hängt der Unterkiefer auf Brusthöhe, auch die meisten anderen unserer Mitschüler sind sprachlos über so viel Gönnerhaftigkeit. Zwar weiß kaum einer von uns, wie schwer zu beschaffen und teuer solche Instrumente sind, aber allein die Tatsache, dass wir so etwas noch nie zuvor im Original gesehen haben, macht sie in unseren Augen zu wertvollen Schätzen.

Nur Alex muss mit seinem ewigen Nörgeln die Stimmung untergraben. „Und was wollen wir damit?“, fragt er pampig.

Ernst schaut einen Augenblick indigniert in die Runde, dann schüttelt er den Kopf, so als könne er damit auch gleich Alex‘ schreckliches Benehmen abschütteln. „Du bist offenbar nicht mit in der Band. Die sind für eure neue AG Popmusik. Frau Kästner hat uns einiges davon erzählt und da wir ja sozusagen an der Quelle sitzen, haben wir die drei Schmuckstücke mitgebracht, um euch zu helfen.“

„Ach, dann haben gar nicht alle was davon?“, schaltet sich Kalle ein, der wie immer versucht, sich bei Alex einzuschleimen.

„Alle, die an der AG teilnehmen, können auch auf den Instrumenten spielen.“, stellt Barbara Kästner mit einem strengen Seitenblick auf uns vier Bandgründer fest. Mir wird leicht mulmig zumute. Was ist, wenn die Gitarren so eine Sogwirkung entfalten, dass noch mehr Leute bei der AG mitmachen wollen. An so etwas hatten wir gar nicht gedacht, als wir die Idee hatten, die Infrastruktur der Schule für unsere Zwecke zu nutzen.

„Ist das nicht viel zu teuer?“, fragt Juliane kritisch nach. „Ich meine, da gehen doch wertvolle Ressourcen für unsere Volkswirtschaft verloren, wenn für die Gitarren nicht ordentlich bezahlt wird.“

Ich sehe aus den Augenwinkeln, wie Robert rot anläuft. Will die blöde Kuh uns jetzt noch die Instrumente abspenstig machen? Am Ende verkauft sie die Dinger noch und spendet den Erlös an Nicaragua.

„Nein, nein.“, beruhigt Karl-Heinz sie. „Das sind Geräte mit kleinen Fehlern, die so nicht in den Verkauf gehen würden. Wir haben sie aus dem Lager für unsere Restposten genommen.“

„Ah, also Ausschuss.“, stellt Alex mit einem befriedigten Blick in unsere Richtung fest.

„Das würde ich jetzt auch nicht sagen.“, murrt Jochen. „Sie spielen völlig fehlerfrei, nur ein paar optische Mängel.“ Er zuckt entschuldigend die Schultern.

„Na, dann viel Spaß mit euren Zweite-Klasse-Schrammen.“, zischt uns Kalle zu. Ich nehme es gelassen zur Kenntnis. Auf jeden Fall ist so dafür gesorgt, dass wir ihn und Alex schonmal nicht bei der AG treffen werden.

„Verdammte Scheiße!“, brummt Olaf, als er sich am frühen Morgen des 7. Oktober endlich zu uns durchgequetscht hat. Wir stehen wie die Sardinen zwischen tausenden anderen missmutig dreinblickenden Schülern auf der Karl-Marx-Allee bereit, den Parteioberen auf der Ehrentribüne im ehrfurchtsvollen Vorbeilaufen für einen Augenblick unsere winkenden Hände und glücklichen Gesichter zu präsentieren. Ein kalter Wind weht uns um die Ohren und kündet davon, dass der Sommer 1988 endgültig der Vergangenheit angehört.

„Ganz meine Meinung.“, stimmt ihm Robert zu. „Ich frage mich, welcher Idiot auf die Idee gekommen ist, uns an einem Feiertag schon 8 Uhr morgens hier antanzen zu lassen!“

„Mein Vater hat‘s gut.“, fällt Sirko in das allgemeine Gemecker ein. „Der ist bei der Kampftruppe und die sind immer als letzte dran. Als ich aus dem Haus bin, kam er gerade in Unterhosen aus dem Schlafzimmer gewankt.“

„Erspar uns bitte die Details!“, ruft Robert theatralisch.

„Ach, das mein ich doch gar nicht.“, jammert Olaf. „Es geht doch um den Verstärker.“

„Achso, ja, das war echt ätzend, oder?“, kommentiert Robert unsere gestrige, unfreiwillig verkürzte Bandprobe. „Da haben wir uns so schön vor dem FDJ-Themennachmittag drücken können, und dann brennt dieser Scheißverstärker durch.“

„Kein Wunder, ist ja Ostware.“, höre ich Sirko brummen.

„Was hat das denn damit zu tun?“, kontere ich aufgebracht.

Die anderen drei schauen mich an wie einen Bekloppten auf Freigang.

„Schließlich feiern wir heute 39 Jahre DDR. Da sollten wir die Errungenschaften unserer werktätigen Bevölkerung ruhig etwas mehr würdigen.“, versuche ich, die Arbeit unserer Väter und Mütter in Schutz zu nehmen.

„Hast du dich schonmal reden gehört?“, fährt mich Robert an. „Du klingst ja schon fast wie die Kästner.“ So wie er das sagt und sein Gesicht dabei verzieht, scheint ihm die Aussicht auf ein wirklich ekelerregendes Essen dagegen eine ernsthaft erwägenswerte Alternative zu sein.

„Ehrlich jetzt. Was haben wir denen denn schon zu verdanken?“, stimmt Olaf ihm zu. „Fünfzehn Jahre auf ein Auto warten, Stereorekorder für ein paar tausend Mark und eine Wohnung nur, wenn du heiratest.“

„Und in die regnet es dann auch noch rein.“, bezieht auch Sirko Stellung.

„Ja, aber der durchgebrannte Verstärker. Sowas kann doch auch im Westen passieren.“, gebe ich zu bedenken.

„Stimmt schon.“, wirft Robert ein. „Aber dann kannst du in den nächsten Laden gehen und dir einen neuen kaufen.“

„Da ist was dran.“, muss ich unumwunden zugeben.

„Vielleicht sollten wir einfach in den Westen abhauen. Da können wir wenigstens ordentlich Musik machen, und mehr Fans gibt es dort sowieso.“, mault Olaf herum.

„Klar, aber wir warten damit vielleicht noch, bis wir mit der Schule fertig sind.“, kommentiert Robert diesen Ausspruch lakonisch, während Sirko und ich noch versuchen, unseren Schock zu überwinden.

„Irgendwie gefällt mir die Richtung nicht, die dieses Gespräch nimmt.“, raune ich Sirko zu.

„Hier kann ich schon froh sein, wenn ich vor dem Winter noch neue Stiefel kriege.“, murrt Olaf und guckt auf seine ausgetretenen Latschen. „Mit Schuhgröße 48 ist das ein echtes Problem.“

„Nicht nur mit 48.“, sagt Sirko und wedelt mit seinen Händen, die aus viel zu kurzen Jackenärmeln herausbaumeln. „Meine Mutter hat letztes Jahr gleich Schuhe in vier verschiedenen Größen gekauft. Sie meinte, irgendwann werden wir sie schon brauchen.“

„Was machen wir jetzt wegen dem Verstärker?“, versuche ich das Gespräch wieder in produktive Bahnen zu leiten.

Sirko zuckt mit den Schultern. „Mein Vater kann ihn sich mal ansehen. Vielleicht findet er ja raus, ob man noch was machen kann.“

„Sag wegen Ersatzteilen Bescheid.“, meint Robert. „Mein Onkel Herbert...“

„Der vom Schrottplatz?“, unterbricht ihn Olaf.

„Genau, der vom Schrottplatz.“, antwortet Robert patzig. „Vielleicht kann er ja was zusammenklauben.“

„Hast du nicht einen Onkel, der Musiklehrer ist?“, wendet sich Sirko an mich.

„Ja, schon. Aber einen Verstärker hat der bestimmt auch nicht rumstehen.“, antworte ich nachdenklich.

„Egal, fragen kostet nichts.“, erklärt Olaf streng.

„Wir müssen uns auf jeden Fall nach Alternativen umschauen. Ohne Probenraum wird das nichts bis zur Weihnachtsfeier.“, meint Sirko.

„Erinner mich bloß nicht daran!“, stöhnt Robert.

„Ich glaub, es geht los.“, zischt Olaf uns zu und deutet nach vorn, wo sich das von den Neuntklässlern unserer Schule getragene Transparent langsam nach vorn schiebt. Ich habe mir nicht die Mühe gemacht nachzuschauen, welcher Vorschlag das Rennen gemacht hat, aber im Grunde spielt das keine Rolle, weil alle Sprüche auf den meist roten oder weißen Stoffbahnen, die heute durch die Straße getragen werden, ähnlich sinnentleert sind.

Vor uns schieben sich die Menschenmassen in gemütlichem Bummelschritt über den Asphalt. Hinter uns sammeln sich bereits weitere Schulen, Fabrikbelegschaften, Produktionsgenossenschaften, Kindergärten, Altenheime, Sportvereine und weiß der Teufel welche Gruppen noch so antreten, um die knapp 200 Meter lange Strecke bis zum Ende der Karl-Marx-Allee fröhlich winkend zu überwinden. Wir wissen inzwischen, was danach passiert.

„Ich wette, mein Vater wird heute Abend wieder hackedicht sein.“, spricht Olaf meine Gedanken aus.

„Meine Eltern fahren gleich von der Demo in den Garten. Alles winterdicht machen.“, weiß Robert zu berichten.

„Meine ganze Familie geht essen. Sie haben einen Tisch im Café Oben reserviert.“, nörgelt Sirko, der sich wie jedes Jahr um seinen freien Tag gebracht sieht.

„Und wie sieht‘s bei dir aus?“, fragt mich Olaf.

„Vater wird mit seinen Kampftruppenkameraden einen draufmachen und Mutter ist mit den Frauen vom Rat des Bezirkes verabredet. Weinprobe nennen sie das.“, spucke ich verächtlich aus.

„Also hast du frei und deine Eltern morgen ordentlich Kopfschmerzen?“, resümiert Sirko den Ausblick meiner nächsten zwei Tage. „Du Glückspilz!“ Er stößt mir den Ellbogen in die Seite.

„Hände hoch und winken!“, zischt Falk, der von uns unbemerkt in der Masse der für Frieden und Solidarität demonstrierenden Schüler zu uns aufgeschlossen hat.

„Was will der denn von uns?“, mault Olaf.

„Lass dich nicht provozieren!“, schärft ihm Robert ein. „Es gibt Situationen, in denen hält man lieber die Klappe.“

„Käme ihm gerade recht, wenn er uns vor allen bloßstellen könnte.“, flüstert Sirko in der Hoffnung, dass Falk uns nicht versteht.

Also heben wir gehorsam unsere Hände, winken behäbig nach rechts, wo die Ehrentribüne in Sicht kommt und achten darauf, nur nicht im unpassenden Moment zu stolpern. Auf Höhe des riesigen Karl-Marx-Kopfes, den in der Stadt jeder nur als ,Nischel‘ kennt, nehmen wir die Hände wieder herunter und trotten die letzten paar Meter im sich auflösenden Demonstrationszug mit. Die Neuntklässler vorn sind bereits im Gehen dabei, das Transparent zusammenzuwickeln und streiten sich bestimmt schon, wer es mitnehmen und morgen zur Schule bringen muss.

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