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Оглавление18 Jahre sein – Formel 1
Wir sind wieder einmal unter den ersten, die sich auf dem Schulhof tummeln. Mein Vater hat mal von einer alten Weisheit erzählt, die besagt, dass derjenige, der am weitesten weg wohnt, immer als erster bei der Hochzeit auftaucht. Heute verstehe ich zum ersten Mal, was er damit gemeint haben könnte. Sven verzieht sich zu seinen Kumpels, die hinter einem aus Schaumstoff und Pflaster zusammengeflickten Ball hertoben.
Unschlüssig schaue ich mich um und entscheide dann, mich mangels potentieller Gesprächspartner möglichst elegant gegen die Ziegelmauer des Schulgebäudes zu lehnen. Die Arme vor der Brust verschränkt, versuche ich, so lässig zu wirken wie einst James Dean, oder wenigstens so umwerfend weltvergessen wie Alexandre Sterling als Mathieu in La Boum. Fehlt eigentlich nur noch Sophie Marceau, die um die Ecke biegt und endlich erkennt, dass ihr Traummann die ganze Zeit schon vor ihren Augen existiert hat.
Das Knattern eines Motorrads lässt mich aus meinen Gedanken aufschrecken. Das satte Geräusch verrät sofort die AWO 425 Sport, eine absolute Rarität, die sich nur wirklich geschickte Schrauber oder reiche Bonzen leisten können. Auch unter den anderen Schülern hat sich die Neuigkeit herumgesprochen. Der halbe Schulhof ist aus dem Häuschen und drängt sich am Zaun zusammen, um einen flüchtigen Blick auf das heiße Gefährt zu werfen. Zu meiner inneren Enttäuschung sehe ich mich gezwungen, weiter an meinem Platz stehen zu bleiben. Die fünf Minuten, die ich bereits in die Zurschaustellung meiner Erhabenheit über den schnöden Alltag investiert habe, wären völlig für die Katz gewesen, hätte ich dem ersten Drang nachgegeben und wäre sensationslüstern wie der Rest der Meute dem erstbesten Motorradfahrer hinterhergehechelt.
Zur allgemeinen Überraschung bleibt die AWO vor der Schule stehen. Das satte Motorgeräusch erstirbt. Ich kann auch von meiner Position erkennen, wie der Sozius vom hinteren Sitz steigt und am Bändchen des Helms herumfummelt. Offenbar wurde hier ein Mädchen von ihrem Vater zur Schule gebracht. Starke Leistung des alten Herrn. Damit wird sie in der Sozialhierarchie der Schule um viele Stufen aufsteigen.
Endlich hat sie die Schnalle geöffnet und hebt den Helm vom Kopf. Für einen Augenblick verschlägt es mir die Sprache. Jana Gebauers rote Mähne flattert durch die Luft, als sie ihre Frisur theaterreif auffrischt. Mit allem hätte ich gerechnet, nur damit nicht.
Der Motorradfahrer steigt ebenfalls ab und nimmt den Helm vom Kopf. Er streicht mit seiner linken Hand durch die dunkelbraunen Haare, die trotz des Helms erstaunlich gut sitzen. Ganz eindeutig ist das nicht Janas Vater. Sie hat sich also von ihrem Bruder zur Schule fahren lassen. Wie süß. Ich wusste gar nicht, dass sie einen Bruder hat. Aber so eng sind wir ja auch noch nicht, dass ich ihre Familienverhältnisse in- und auswendig kennen würde.
Beinahe zärtlich berührt seine Hand unter den Augen der Schulhofbesatzung Janas Wange. Ihre Münder nähern sich einander und es folgt unter dem herzerwärmenden kollektiven Seufzen der Siebt- bis Zehntklässlerinnen ein langer Kuss mit allem drum und dran. Vermutlich einer der eher feuchteren Sorte, geht es mir irrsinniger Weise durch den Kopf.
„Ekelerregend, was?“, reißt mich eine Stimme von links aus diesem Albtraum.
Ich drehe den Kopf und blicke in Falks blaue Augen. Ich bin mir nicht sicher, aber es scheint mir, als hätte ihn diese öffentliche Zurschaustellung inniger Zweisamkeit mehr mitgenommen, als ich es bei einem Frauenschwarm wie ihm erwartet hätte. Es muss ein wahrer Tiefschlag für ihn sein, dass es offensichtlich ein noch ranghöheres Alphamännchen im Revier gibt.
Zum ersten Mal in meiner Schullaufbahn spüre ich den Drang, Falk in seiner Einschätzung der Situation beizupflichten. „Ach, der muss sowieso bald zur Fahne.“, sage ich, weniger, um ihn zu beruhigen als zur Massage meiner eigenen geschundenen Nerven.
„Eifersüchtig?“, fragt er mich mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen.
„Quatsch!“, entfährt es mir ein Bisschen zu schnell und ein Bisschen zu heftig.
Er wirft mir einen letzten wissenden Blick zu, schielt noch einmal kurz zu Jana, deren Freund sich bereits wieder auf das Motorrad geschwungen hat und verschwindet schnaufend in der Schule.
Sirkos Stimme lenkt mich von meinen schwermütigen Gedanken ab. „Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?“
„Er sieht echt aus wie ein Haufen Scheiße, oder?“, fällt Robert ein vernichtendes Urteil.
„Es heißt Häufchen Elend.“, weißt ihn Sirko grinsend zurück.
„Habt ihr nicht eben Jana rumknutschen sehen?“, fragt Olaf empört. „Schon wieder ein neuer Typ mit einem fetten Motorrad.“ Mitfühlend legt er mir die Hand auf die Schulter. „Alter, der geht sowieso bald zur Fahne.“, versucht unser Schwergewicht mich aufzumuntern.
Ich fasse es nicht. Ausgerechnet dieser doofe Spruch scheint mein neues Mantra zu sein. Ich spüre ein Kribbeln in der Magengegend, das sich langsam, aber unaufhaltsam einen Weg Richtung Kehlkopf sucht und dabei immer größer, stärker und drängender wird. In einem letzten Anflug der Verweigerung schnaube ich durch die Nase, doch dann kann ich das Kichern nicht mehr unterdrücken. Es bricht sich Bahn und sprudelt aus meinem Mund heraus.
Sirko, Olaf und Robert stehen bedröppelt neben mir, während mehr und mehr Mitglieder der auf dem Schulhof versammelten Schülerschaft in mir eine neue Attraktion entdecken und sich ein loser Ring interessierter Gaffer um uns bildet. Als ich mir den Bauch halten muss, wird es Robert zu bunt. Er tippt sich gegen die Stirn und ruft lautstark als Erklärung für alle Umstehenden: „Total gaga, der Mann.“
Bevor er weiter über meinen geistigen Zustand dozieren kann, rettet uns die Schulklingel, die über den Platz schrillt. In Windeseile löst sich der Kreis um uns auf und alles stürmt ins Schulgebäude hinein, um ja rechtzeitig auf den Plätzen zu sein. Mein fatalistischer Kicheranfall versiegt, ich bin aber reichlich erschöpft und so greifen mir Sirko und Olaf im wahrsten Sinne des Wortes unter die Arme. Ich sehe noch, wie direkt vor uns Jana Gebauer durch das Tor schlüpft. Ob sie mich gesehen hat, kann ich nicht sagen, aber im Augenblick ist das sowieso egal.
„Was ist denn das für ein Geschramme?“, wundert sich Olaf, als er endlich zu unserem Treffpunkt auf dem Spielplatz kommt.
„Schon fertig mit putzen?“, zieht ihn Robert auf, ohne auf Olafs Frage einzugehen.
„Ach, leck mich!“, kontert der Reinigungsdiensthabende wortgewandt.
Sirko hat seinen mira-Kassettenrekorder mitgebracht. Robert hat gemeint, er hätte neues Material. Aus dem einzigen Lautsprecher tönt etwas blechern Formel 1.
„Formel 1.“, gehe ich endlich auf Olafs Frage ein.
Der glotzt leicht verwirrt zwischen mir, Robert und Sirko, der auf der Bank steht und seinen Kopf mit den immer noch recht kurzen Haaren im Takt der Musik herumwirbelt, hin und her.
„Ich weiß, die Platten sind schon etwas in die Jahre gekommen. Aber so eine gute Aufnahme habe ich noch nie gehabt.“, rechtfertigt sich Robert für eine Kritik, die uns so gar nicht in den Sinn gekommen wäre.
Andächtig lauschen wir einigen Klängen. Ein leichtes Fiepen liegt unter der Tonspur.
„Gut Aufnahme?“, wundert sich Olaf.
„Hey, das ist schließlich live.“, regt sich Robert nun richtig auf. „Und was kann ich dafür, dass ich nur Eisenkassetten bekommen habe? Chrom waren ausverkauft. Die hat er auch nicht gehabt.“
„Wer?“, fragt Olaf, der immer noch auf der Leitung zu stehen scheint.
„Erich Honecker.“, ruft Robert, wirft die Arme in die Luft und rollt mit den Augen. „Der Typ beim Tapetrading, natürlich.“, fügt er dann mit etwas sanfterer Stimme hinzu.
„Robert war am Wochenende bei so einer Tauschaktion.“, erklärt Sirko, bevor Olaf weitere blöde Fragen stellen kann. „Jeder bringt mit, was er so hat und dann tauscht man Kassetten. So kommt man immer wieder zu was neuem.“
„Aha.“, entfährt es Olaf. „Und da hast du nichts besseres als eine olle DDR-Band gekriegt?“, mault er.
„Ha, hör sich einer den an.“, echauffiert sich Robert. „Denkst du, ich gehe da einfach so hin und frag nach AC/DC und dann krieg ich das einfach?“
„Ja, dachte ich.“, gibt Olaf ehrlich zu.
„Mann, Mann, Mann. Du hast eindeutig zu lange am Putzmittel geschnüffelt.“, meckert Robert und zeigt ihm einen Vogel. „Beim Tauschen geht es um Werte. Wenn ich AC/DC haben will, muss ich schon wenigsten was Ausgefallenes von Led Zeppelin bringen. Oder Black Sabbath. Da stehen die Leute drauf. Da ich das aber nicht habe, muss ich kleinere Brötchen backen.“
„Und wie kommt man dann an die guten Sachen?“, hakt Sirko interessiert nach.
Robert zuckt ergeben mit den Schultern. „Westverwandtschaft, die einem die neuen Tapes rüberschmuggelt. Oder auf Partys heimlich kopieren, wenn alle besoffen sind.“, fügt er grinsend hinzu. „So bin ich an eine Van Halen gekommen.“
„Cool.“, lautet Olafs ehrfürchtiger Kommentar.
„So langsam wird das was mit den Haaren.“, sage ich und schaue in die Runde. Robert hatte schon immer verzottelte Loden. Durch diesen Vorsprung stoßen die ersten Spitzen seiner Haare schon an die Schultern. Bei uns anderen sieht es noch nicht so rosig aus. Sirko und ich haben es geschafft, die Ohren überwuchern zu lassen, aber bei Olaf wächst das Haar eigenartigerweise vor allem hinten, kaum aber oben und an den Seiten.
„Wie siehst du eigentlich aus?“, greift Robert das neue Thema dankbar auf. Auch ihm ist der eigenartige Look von Olafs Frisur aufgefallen.
„Meine Mutter hat gemeint, ich sähe aus wie ein Hippie und hat dran herumgeschnippelt.“, windet er sich.
„Ach, Scheiße! Was mischt die sich denn da ein?“, jault Robert auf.
„Kein Grund zur Panik.“, versucht Sirko beschwichtigend einzuwenden.
„Kein Grund zur Panik?“, wendet sich Robert angriffslustig an ihn. „Sollen wir vielleicht mit einem Skinhead in einer Metalband spielen?“
„Skinhead ist jetzt vielleicht ein bisschen übertrieben.“, versuche ich die Wogen zu glätten.
„Fokuhilas sind auch bei Metalbands gerade angesagt.“, wirft Sirko schnell ein, bevor Robert sich weiter aufregen kann. „Ich hab das schon auf ein paar Postern gesehen.“
Kritisch begutachten wir Olafs Mähne. „Ja, das könnte gehen.“, resümiere ich meinen ersten Eindruck. „Lass sie hinten gleichmäßig rauswachsen, dann sieht das ganz fesch aus.“
„Außerdem bist du Schlagzeuger, da sieht man dich nicht so sehr.“, fügt Sirko hinzu.
„Und erstmal müssen wir sowieso einen neuen Probenraum finden. Bis der Verstärker repariert ist, das wird noch dauern.“, ruft uns Olaf in Erinnerung.
„Dann üben wir eben erst einmal ohne Probenraum.“, rufe ich und deute mit leuchtenden Augen auf den Kassettenrekorder.
Die anderen legen die Köpfe schräg und schauen mich an, als hätte ich sie gerade aufgefordert, mit heruntergelassenen Hosen vor der Parteizentrale auf- und abzumarschieren.
„Luftgitarre!“, erkläre ich meine Idee in einem pragmatischen Wort und fordere Sirko auf: „Mach mal lauter!“
„Aber die Batterie.“, gibt er zu bedenken.
„Sind wir eine Metal-Band, oder nicht?“, kontere ich angriffslustig.
Robert gibt ein zustimmendes Grunzen von sich und dreht die Lautstärke höher.
Ich nehme Aufstellung und tue so, als würde ich mit meinen Fingern dem Gitarrenlauf folgen. Da ich den Text nicht kenne, schicke ich irgendwelche gutturalen Laute in den Nachmittagshimmel und wackle eifrig mit dem Kopf.
Mein Enthusiasmus springt auf die anderen über. Sirko stellt sich neben mich und mimt ebenfalls einen Gitarrenspieler, Olaf setzt sich auf die Bank und drischt mit zwei Stöcken auf die Plastesitzfläche ein. Robert lacht kurz auf, schüttelt den Kopf und stellt sich dann dazu. Als Bassist ist er naturgemäß eher der ruhende Pol, aber auch seine Haare wirbeln schon bald durch die Luft.
Plötzlich bricht die Musik ab. Mitten in der Bewegung erstarren wir und schauen erschrocken auf den Kassettenrekorder.
„Ach, Scheiße! Seite zu Ende.“, erklärt uns Robert, was passiert ist. Mit geübten Handgriffen dreht er die Kassette und drückt auf den Abspielhebel. „Das ist ihre erste Single, die gab‘s mit dazu.“, sagt er über das übliche Rauschen des anlaufenden Bandes hinweg. Dann setzt die Musik ein und wir lassen uns erneut vom Rhythmus mitreißen. Die Luftgitarren gehen die Melodiebögen wie automatisch mit, nur Olafs Trommelschläge fallen immer wieder aus dem Takt. Wir grinsen uns gegenseitig an und genießen das Gefühl absoluter Freiheit.
Das Lied ist fast zu Ende, als erneut die Musik aufhört. Wir drehen uns zum Kassettenrekorder um und blicken entgeistert in das streng blickende Gesicht des Abschnittsbevollmächtigten.
„Oberleutnant Wischmann?“, sagt Sirko halb ängstlich, halb neugierig.
„Was soll dieser Radau?“, fährt uns der ABV ohne Begrüßung an.
„Das ist Musik, Herr Oberleutnant.“, antwortet Robert mit unergründlicher Miene.
„Wenn das Musik ist, bin ich eine Waschfrau.“, knurrt Wischmann ihn an. „Dieser Krach ist eine Beleidigung für jedes musikalisch geschulte Ohr. Und dazu noch diese rebellischen Texte. Dass ihr so etwas in der Öffentlichkeit aufführt...“ Er schüttelt den Kopf und sein Gesicht spiegelt so viel Enttäuschung wider, dass mir beinahe die Tränen kommen.
„Was ist nur aus euch geworden?“, fährt der ABV mit seiner pädagogischen Ansprache fort. „Vor kurzem wart ihr noch fleißige, gepflegte Thälmannpioniere, und jetzt das.“ Mit angewiderte Miene deutet er auf uns. „Rocker und Tramps. Was sagen nur eure Eltern dazu?“
Mir liegt eine schlagfertige Antwort auf der Zunge, aber ich schaffe es, sie herunterzuschlucken. Sogar Robert gelingt es überraschenderweise, die Klappe zu halten und betreten auf den Boden zu schauen.
Mit einem lauten Klacken öffnet der ABV den Kassettenrekorder und entnimmt ihm das Corpus Delicti. „Konfisziert!“, sagt er mit festem Ton und wackelt mit der Kassette triumphierend in der Luft herum.
„Aber das ist erlaubte Musik.“, ruft Robert aufgebracht. „DDR-Rock. Von Amiga!“ Seine Stimme klingt flehend, fast weinerlich.
Oberleutnant Wischmann wirft einen prüfenden Blick auf die Kassette. „Hier steht nirgends Amiga drauf.“, stellt er mit Kennerblick fest. „Und selbst wenn es die Puhdys wären, die nach meinem Geschmack schon viel zu krawallig sind, würde ich die Kassette wegen Ruhestörung an mich nehmen. So einen Radau gibt es in meinem Revier nicht. Habe ich mich klar ausgedrückt?“ Seine stechenden stahlblauen Augen fixieren uns von oben herab.
Wir nuscheln ein beklommenes „Jawohl.“, und senken den Blick.
„Gut! Und seht zu, dass ihr wieder auf die richtige Bahn findet.“, gibt uns der ABV noch einen letzten wohlwollenden Rat, bevor er sich zackig abwendet und um den nächsten Busch verschwindet.
Eine Zeitlang herrscht eisiges Schweigen. Als wir sicher sein können, dass Wischmann verschwunden ist, gehen wir langsam auf den Kassettenrekorder zu. Es ist fast so, als würden wir uns einem entweihten Ritualgegenstand nähern, so vorsichtig tasten wir uns voran.
„Das ist ja echt Scheiße mit deiner Kassette.“, spricht Olaf als erster aus, was wir alle denken. „Jetzt war dein ganzer Tauscheinsatz umsonst.“
„Quatsch. Ich hab sie doch mit dem Rekorder von meinem Vater überspielt.“, erwidert Robert unwirsch. „Aber wenn uns der Wischmann auf dem Kieker hat, ist das keine gute Sache.“, gibt er zu bedenken.
„Was für einen Rekorder hat denn dein Vater?“, versuche ich, das Gespräch in angenehmere Bahnen zu lenken.
„SKR 700.“, antwortet Robert trocken.
„Achso.“, sage ich enttäuscht. „Dann brauchst du auch ein Überspielkabel.“
„Ja und?“, will Robert ärgerlich wissen.
„Naja, ich dachte, er hat vielleicht ein Doppelkassettendeck. Mit Kabel wird die Qualität ja jedes Mal schlechter.“
„Nicht, wenn du immer von der gleichen Kassette abspielst.“, korrigiert mich Robert besserwisserisch.
„Wenigstens hast du einen Vater, der dich an seinen Rekorder lässt. Meiner würde nie erlauben, dass ich die Finger an seine geheiligte Anlage lege.“, beschwert sich Olaf.
„Westgerät?“, fragt Robert.
„Nein. Eine S3900. Damit kann man prima von Platte überspielen, aber natürlich nur Frank Schöbel und Gaby Rückert.“, schimpft Olaf.
Sirko klopft ihm verständnisvoll auf die Schulter.
„Aber dein Alter ist doch nie zu Hause. Bis der abends aus der Stadtverwaltung kommt, hast du doch locker alles erledigt, was du überspielen wolltest.“, versuche ich, Olaf einen meiner Meinung nach sinnvollen Weg aufzuzeigen, doch an die gelobten Platten zu kommen.
Olaf schüttelt entschieden den Kopf „Nein, das merkt er. Ich hab‘s einmal versucht. Nie wieder! Eine Woche Stubenarrest. Ich glaube, er merkt sich immer den Zählerstand des Counters. Das kann ich nicht manipulieren.“, sagt er resigniert.
„Eltern sind schon schräge Zeitgenossen.“, sinniert Sirko. „Sie haben eigentlich nie Zeit für einen, weil sie entweder arbeiten, beim Sport sind oder in irgendwelchen Sitzungen gescheite Gedanken austauschen, und wenn sie dann mal zu Hause sind, wollen sie ihre Ruhe. Wozu sind sie dann da, wenn man nicht mal ihre Stereoanlage nutzen darf?“
Darauf weiß keiner von uns eine Antwort.
„Ich glaube, meine Eltern bleiben nicht mehr lange zusammen.“, meint Olaf verdrießlich. Robert legt die Stirn in Falten und Sirko reißt die Augen weit auf.
„Wie kommst du denn darauf?“, rufe ich eine Spur zu laut.
„Vater kommt jeden Tag später nach Hause, meistens erst, wenn Mutter schon schläft. Und wenn sie sich mal treffen, dann fliegen die Fetzen.“, berichtet Olaf kleinlaut. „Ich glaube, er hat eine andere.“
„So ein Schuft. Deine Mutter ist doch zum anknabbern.“, regt sich Robert auf.
Olaf blickt ihn schräg von der Seite an.
„Ich meine, wenn ich so alt wäre wie unsere Eltern, dann fände ich sie vielleicht zum Anknabbern.“, windet sich Robert unter unseren strengen Blicken.
„Meine Eltern liegen sich in letzter Zeit auch ständig in den Haaren.“, breche ich die peinliche Situation auf. „Seit wir in dieser neuen Wohnung sind, gibt es dauernd Zoff. Ich kann es echt nicht mehr hören. Sobald ich alt genug bin, ziehe ich aus.“
„Endlich 18 sein, was?“, grinst Robert.
„So wie du?“, zieht in Sirko auf.
„Nein, so wie die, die schon mit der Schule fertig sind.“, gibt Robert patzig zurück. „Eigene Bude, eigene Braut, eigenes Geld...“, schwelgt er in Träumereien.
„Eigene Stiefel neben dem eigenen Feldbett in einer beschissenen Kaserne.“, streut Olaf Salz in die herrlichen Fantasien vom Erwachsensein.
„Du bist so ein mieser Arsch!“, beschwert sich Sirko.
Olaf lächelt süffisant.
„Ach, das kriegen wir auch irgendwie hin.“, winkt Robert unwirsch ab. Er wird der erste von uns sein, den es erwischt, da ist es verständlich, dass er das Thema Wehrpflicht gern vermeiden will.
„Apropos Eltern.“, eilt ihm Sirko zu Hilfe. „Ich muss noch in die Kaufhalle. Eier, Milch und Kohl.“, leiert er die Einkaufliste runter.
„Ich komme mit.“, sagt Olaf und stößt sich von der Bank ab.
„Wartet, ich habe noch eine Idee.“, hält Robert die beiden auf, bevor sie sich davonschleichen können. Wir schauen ihn erwartungsvoll an.
„Wir brauchen noch einen Abschiedsgruß. So einen coolen mit Abklatschen und so.“, erklärt uns Robert begeistert seinen Einfall.
„Und wie soll der gehen?“, fragt Olaf distanziert.
„Keine Ahnung, lasst uns was ausdenken!“, fordert Robert unsere grauen Zellen heraus.
„Okay.“, sagt Sirko, unser Schlauster. „Macht eine Faust!“, übernimmt er das Kommando.
Wir machen eine Faust.
„Eins, zwei, Mars! Und bei Mars stoßen wir die Fäuste zusammen.“
Wir nicken.
„Eins, zwei, Mars!“
Wir stoßen die Fäuste zusammen.
„Das war‘s?“, fragt Olaf enttäuscht.
„Für‘s erste, ja.“, räumt Sirko ein. „Beim nächsten Mal rufen wir alle Mars.“
„An den Feinheiten müssen wir noch arbeiten.“, gebe ich zu Bedenken.
„Klar, aber heute nicht mehr.“, lacht mir Sirko zu, klopft mir auf die Schulter und dreht sich um.
„Tilo, bist du das?“, schallt mir die besorgt klingende Stimme meiner Mutter entgegen, als ich die Wohnungstür hinter mir schließe.
„Jahaaa.“, rufe ich genervt zurück. Mir ist jetzt gar nicht nach Elternkontakt.
Da steht meine Mutter aber schon in der Küchentür. Ihre Hände hat sie vor der geblümten Nylonschürze verknotet, es sieht beinahe so aus, als würde sie beten.
„Also, was macht ihr nur immer für Sachen?“, flüstert sie beinahe und schüttelt dabei traurig den Kopf. Sie macht ein paar Schritte auf mich zu. „Der ABV ist bei uns. Er will mit uns über euch sprechen.“
Ein mulmiges Gefühl beschleicht mich. Ich spüre, wie mir die Knie weich werden. Der ABV interessiert sich für mich? Weil wir einmal zu laut eine Kassette angehört haben?
„Über wen?“, frage ich, um etwas Zeit zu gewinnen.
„Über dich und Sven.“, schluchzt meine Mutter kurz auf, dann hat sie sich aber schnell wieder im Griff. „Komm gleich in die Küche, aber mach dir vorher die Haare ordentlich, hörst du?“
Ich brumme etwas unverständliches und verschwinde im Bad. Aus dem Spiegel glotzt mir ein grießgrämiges Jungengesicht unter einer Matte entgegen, die sich noch nicht recht entscheiden kann, welche Frisur mal aus ihr werden soll. Ungestüm fahre ich mit dem Kamm durch die Zoten und begutachte mich dabei weiter. Kein Bartwuchs in Sicht, dafür jede Menge Pickel. Kein Wunder, dass mich Jana Gebauer keines Blickes würdigt. Ich schaue mich ja selbst nicht gern an.
Nachdem ich den Wasserhahn kurz auf- und wieder zugedreht habe – ich weiß, dass Mutter es immer registriert, ob Wasser fließt oder nicht – schleiche ich mich in die Küche.
Hier sind bereits Mutter, Vater, Sven und unser Abschnittsbevollmächtigter, Oberleutnant Schubert, versammelt. Meine Mutter knetet in purer Verzweiflung ihre Hände, Vater wirft mir einen genervten Blick zu, der nichts Gutes verheißt, und der ABV nickt mir kurz mit einem kalten Blick zu, bevor er sich wieder meinem kleinen Bruder zuwendet. Sven hat sich in den hintersten Winkel der Eckbank verkrochen und versucht vergeblich, sich unsichtbar zu machen.
„Setz dich!“, knurrt unser Vater mich an und deutet auf den Platz neben Sven. Der ist sichtlich dankbar dafür, nun nicht mehr allein auf der Anklagebank zu sitzen.
„Um noch einmal auf den Punkt zurückzukommen.“, setzt der ABV ein offenbar bereits vorher begonnenes Gespräch fort, „Es gibt ernsthafte Anzeichen einer zunehmenden Verlodderung ihrer Söhne, Herr und Frau Reichel. Über Sven haben wir jetzt bereits gesprochen. Die eigenartige Kleidung ist eine Sache. Viele Jugendliche haben neuerdings ja einen Dachschaden, was das Auftreten in der Öffentlichkeit betrifft.“ Er blickt nach Zustimmung heischend zu meinen Eltern. Mein Vater schnaubt vor sich hin. Er ist ein Meister darin, nicht erkennen zu lassen, ob er einer Behauptung zustimmt oder nicht. Meine Mutter lächelt Herrn Schubert traurig an und nickt zaghaft. „Aber dass er Wände mit farbigen Botschaften verunstaltet, geht eindeutig zu weit.“, wird die Stimme des ABV nun lauter.
„Das liegt alles an diesem Film.“, jammert meine Mutter. „Beat Street. Der kam neulich im Fernsehen. Und seitdem zieht er sich so komische Hüte auf den Kopf, macht allerlei Verrenkungen und malt Wände an. Ich verstehe es nicht.“
„Dieser Film sollte eigentlich Ansporn genug sein, die Falschheit des kapitalistischen Systems zu verstehen und sich noch mehr mit der solidarischen Gesellschaft in unserem schönen Land verbunden zu fühlen. Leider geraten immer wieder Jugendliche auf die schiefe Bahn, weil sie glauben, diese Ghettos hier nachspielen zu müssen. Wilde Sozialromantik, wenn Sie mich fragen.“, doziert der ABV.
Mein Vater schnaubt wieder, diesmal eindeutig verächtlich.
„Aber der Film kam schon vor über drei Jahren in die Kinos der DDR und doch haben es bisher nur wenige Jugendliche so weit getrieben wie Sven. Das muss aufhören!“, mahnt Oberleutnant Schubert eindringlich.
„Und dann tobt er ständig mit diesen Negern herum.“, wirft mein Vater abschätzig ein.
Der ABV blickt ihn verwirrt an.
„Vor dem Kubanerwohnheim.“, erklärt meine Mutter.
„Wir tanzen Breakdance.“, rechtfertigt sich Sven empört. „Und Neger sagt man nicht.“
„Komm du mir nicht so, Freundchen!“, brüllt mein Vater und droht ihm mit dem Finger.
„Gegen ein bisschen Tanz ist nichts einzuwenden.“, versucht der ABV die familiären Wogen zu glätten, „aber es muss schon gesittet zugehen. Solches Hottentottengehampel ist nichts für ordnungsliebende DDR-Bürger.“, weist er Sven sanft in seine Schranken.
„Der eigentliche Grund für mein Kommen ist aber ein Anruf, den ich vor ungefähr einer Stunde erhalten habe. Oberleutnant Wischmann hat mich über einen Vorfall auf dem Luisenplatz informiert, in den Tilo verwickelt war.“ Er schaut mir tief in die Augen.
Meine Mutter schlägt sich erschrocken die Hand vor den Mund. Ich sehe, wie Tränen in ihren Augen aufsteigen. Mein Vater rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her.
„Öffentliche Ruhestörung und Vandalismus auf einem Kinderspielplatz wurden mir gemeldet.“ Oberleutnant Schubert spricht diesen Satz ganz ruhig aus und lässt die Bedeutung der Worte sich ganz allmählich in der Luft entfalten.
„Sag mal, hast du sie noch alle?“ Mein Vater schlägt mit der flachen Hand auf den Küchentisch und funkelt mich wütend an. Ich zucke zusammen, ebenso wie Sven, der sich wieder in seine Ecke verkriecht.
„Aber, wir haben doch gar nicht...“, versuche ich, mich zu rechtfertigen.
„Tilo, überlege dir genau, was du jetzt sagst!“, unterbricht mich der ABV mit ruhiger Stimme. „Du willst sicher nicht behaupten, dass ein staatlicher Ordnungshüter die Unwahrheit sagt, oder?“ Obwohl es wie eine Frage formuliert ist, spüre ich deutlich, dass es sich um eine Anordnung von oben handelt.
„Nein, natürlich nicht.“, nuschle ich und lasse die Schultern hängen.
„Bist du ein Rocker, Tilo?“, fragt mich Oberleutnant Schubert weiter mit sanfter Stimme.
„Nein, natürlich nicht.“, antworte ich wahrheitsgemäß. Ich bin doch kein Rocker. Metaller, ja, aber Rocker? Niemals!
„Bist du ein Tramp?“, hakt der ABV weiter nach.
„Nein.“ Ich muss mich zusammenreißen, über diesen Begriff, der schon seit Jahrzehnten aus der Mode ist, nicht lauthals zu lachen.
„Dann sorge dafür, dass dem auch so bleibt!“, erwidert Oberleutnant Schubert und blickt mich eindringlich an. „Und auch du bleibst besser in der Spur, Sven!“, fügt er an meinen Bruder gewandt hinzu.
„Rowdytum, Vandalismus und Sachbeschädigung sind keine Kavaliersdelikte.“, doziert der Polizist nun für die ganze Familie. „Sie führen zu deutlichen Konsequenzen und werden von den Ordnungskräften der Polizei rigoros verfolgt. Jeder muss seinen Beitrag für das Wohlergehen aller in diesem Land leisten. Da haben wir keinen Platz für Herumtreiber, Verweigerer oder Störer. Am Ende endet ihr noch wie diese Punker.“ Das letzte Wort spuckt er förmlich in die Küche.
Meine Mutter bricht in einen heftigen Weinkrampf aus. Hilflos sitzt sie auf ihrem Stuhl und schluchzt hemmungslos vor sich hin. Vater schickt abwechselnd seinen beiden missratenen Söhnen zornige Funkenblitze und seiner nervlich völlig aufgelösten Frau hilflose Blicke aus seinem rot angelaufenen Gesicht entgegen.
„Nun, ich bin mir sicher, ihr werdet wieder in die richtige Bahn finden. Ich dachte nur, es ist besser, frühzeitig präventiv tätig zu werden, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist.“, fasst Oberleutnant Schubert den Grund seiner Visite noch einmal zusammen.
Bei dem Punkt mit dem Kind und dem Brunnen schluchzt meine Mutter erneut laut auf.
Der ABV tippt sich an die Mütze und macht sich eilig aus dem Staub.
Mutter ist nicht zu bremsen und heult immer lauter werdend vor sich hin.
„Raus mit euch!“, brüllt mein völlig überforderter Vater. „Auf eure Zimmer! Alle beide! Ich will euch hier heute nicht mehr sehen!“ Er winkt mit dem rechten Arm Richtung Küchentür. Sven und ich ergreifen die sich uns bietende Chance, dem Familiendrama zu entfliehen. Alles in allem scheinen wir noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen zu sein.
„Kein Fernsehen für eine Woche!“, brüllt Vater uns noch hinterher, als wir schon den Flur erreicht haben.
Bevor Sven in seinem Zimmer verschwindet, dreht er sich noch einmal um, verdreht die Augen und grinst mir verschwörerisch zu. Offenbar hat dieser Spätsommer mehr als nur einen Rebellen in der Familie Reichel heranwachsen lassen.
Inzwischen hat sich die Lautstärke von Mutters Weinattacken nach unten gepegelt. Nur vereinzelt höre ich noch herzzerreißende Schluchzer durch die dünnen Wände bis in mein Zimmer dringen. Dafür werden die Stimmen unserer Eltern von Minute zu Minute lauter. Schon bald werfen sie sich wütende Wortfetzen um die Ohren. Wieder einmal gibt es einen lautstarken Streit im Hause Reichel, so einen, von dem die ganze Hausgemeinschaft etwas hat. Ich wette, selbst der schwerhörige Herr Bergmann im 11. Stock kann noch alles genau verstehen. Und Schuld daran sind allein ich und Sven.
Ich will gar nicht hören, was sie sich wieder an die Köpfe werfen. Zum Selbstschutz lege ich Roberts Kassettenkopie von Blitzz in meinen klapprigen Rekorder mit dem wunderbaren Namen Anett, stecke die Kopfhörer an und ziehe mich in meinen eigenen, ganz privaten Schutzraum zurück.