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JOHANNA

Echt und wirklich

Es klingelte, ein Bellhop war an der Tür und brachte ihre Sachen. Was nicht im Koffer gelegen hatte, ihre Sachen auf dem Bett und aus dem Bad, lag nun in Seidenpapier verpackt auf einem Tablett, das der Junge auf einer Anrichte abstellte. Sie gab ihm einen Zehner und schickte ihn mit einem Klaps auf den unteren Rücken wieder auf den Gang.

Auspacken konnte sie auch später noch. Draußen hatte es angefangen zu regnen; sie machte sich einen Tee, stellte ihn auf den Nachttisch und legte sich wieder mit ihrem Buch aufs Bett.

Auf der Fahrt zu der Freundin der Getöteten machte sich die Kommissarin Gedanken, wie ihr das selbst gefallen hätte, sich Säure auf ihre empfindlichste Stelle zu kippen. Sie hatte sich bei dem Gedanken geschüttelt und Ekel empfunden, dabei aber dennoch einen merkwürdigen Sog verspürt, den Reiz des Verbotenen. Ein kleiner, ekliger Abgrund mit Tiefenwirkung.

Allein sich das vorzustellen hatte bei ihr eine neugierige Abscheu geweckt, bevor sie den Gedanken energisch beiseitegeschoben hatte.

Johanna selbst verspürte keinen Reiz bei dem Gedanken. Viola hatte so etwas weder gebraucht noch interessant gefunden. War ihr neues Ich anders? Nein.

Das hatte sie von Viola mitgenommen; sie war immer der aktive, gestalterische Teil, ob es um Kunst, Sex oder Gewalt ging. Und sie war niemals grausam gewesen, selbst bei den zehn oder zwölf Morden nicht. Sie hatte niemals jemanden gequält, sie hatte ihren Opfern nur mehr oder weniger sanft über die Schwelle geholfen.

Johanna konnte noch nicht einschätzen, ob sie sich in ihrer neuen Rolle nicht doch verändert hatte. Ob sich diese merkwürdige Übersetzer-Existenz nicht doch auf ihr Selbstbewusstsein auswirken würde.

Worum ging es den Leuten im Krimi? Sie las weiter.

Mimi Wolter, die Freundin, hatte nicht viel zur Aufklärung des Falles beitragen können. Sie war eine vollschlanke, sommersprossige Rothaarige von durchschnittlichem Aussehen, Bankangestellte wie die Tote selbst, aber bei einer anderen Sparkasse. Die beiden hatten während des gesamten Griechenland-Urlaubs versucht, interessante Männer kennenzulernen; am letzten Abend hatten sie es in ziemlich betrunkenen Zustand dann endlich geschafft, sich abschleppen zu lassen.

Die Freundin hatte während des Gespräches gekichert und Jonas Altmann die ganze Zeit schöne Augen gemacht. Er hatte sie gar nicht wahrgenommen und das Gespräch der Kommissarin überlassen.

Bei ihr wäre es ganz schön gewesen, sagte Mimi aus. Marietta wäre schon länger zurück im Hotel gewesen, als sie zurückkam, sie hätte geweint. Ihr wäre schlecht gewesen, ihr Abschlepper, ein Grieche, hätte sich genommen, was er wollte, und fertig. Marietta habe nichts Schönes empfunden, nur Druck und Schmerz, der Typ wäre sehr rücksichtslos gewesen und hätte ihr den Beckenknochen wundgestoßen.

»Der hat mich einfach nur gefickt und ist dann sofort sang- und klanglos abgehauen, das Arschloch«, hätte sie geweint.

Metta hätte da einen blauen Fleck gehabt, konnte sie sich noch erinnern.

Von anderen Freunden wusste sie nichts. Marietta wäre so gut wie nie mit Leuten mitgegangen. Sie wäre auf der Suche nach ihrem Märchenprinzen gewesen, einem, der sie verstand und sie verwöhnen wollte. Einem sanften Traummann mit weichem Bart.

Diese Gelegenheitsmänner, die sie bekam, wollten immer nur in ihr rummachen, hätte sie sich beklagt, ohne sie als die romantische Frau wahrzunehmen, die sie war.

An einer Stelle des Gespräches hatte die Kommissarin ihren Kollegen weggeschickt. Er sollte sich um den Laptop kümmern und schon mal vorfahren.

Dann hatten sie von Frau zu Frau über Intimes geredet.

Sex hatte Marietta nie Spaß gemacht, also vaginaler Sex, hatte die Freundin erzählt. Sie empfand dabei gar nichts. Oral wäre okay für sie gewesen; sie hatte alle Literatur dazu verschlungen und alle möglichen Webseiten durchforstet, wie sie auch das andere lernen konnte. Wie sie ihren G-Punkt finden sollte, wie sie normal mit Männern Spaß haben konnte, ohne sich zu ekeln.

Zärtlichkeit wäre ihr viel wichtiger gewesen, aber die gab es mit den meisten Männern nicht ohne Sex. Marietta hätte mal einen Softie gehabt, der war dann nach zwei Wochen mit ihren Ersparnissen abgehauen.

Auf der Suche nach Lösungen hatte Marietta nach Medikamenten gefahndet, die ihr vielleicht helfen konnten, Viagra für Frauen und Ähnliches. Sie war auch damit jedes Mal enttäuschter von einem Date zurückgekommen als vorher.

Trotzdem hätte sie immer weiter nach Freundschaft und Liebe gesucht, aber ewig nur das Gleiche wie vorher angetroffen.

Vor einem Jahr hatte sie angefangen zu trinken, es aber wieder aufgeben können.

Ihre Freundin konnte sich vorstellen, dass Marietta alles probieren würde, um es endlich zu schaffen, normalen Sex zu haben und einen Mann zu halten, ohne sich ekeln zu müssen.

Das alles hatte die Theorie der Kommissarin bestätigt. Nur war sie mit der Suche nach dem Täter dabei keinen Schritt weitergekommen.

Mimi Wolter kannte die Profile ihrer Freundin auf den einschlägigen Datingportalen und anderen Netzwerken und gab sie der Kommissarin. Über Namen hatten die beiden in der letzten Zeit kaum gesprochen; Marietta hatte einen Daniel erwähnt, vor drei Wochen, wo es vielleicht Hoffnung gäbe, mehr wusste die Freundin darüber nicht.

Daniel. Eine Zeile mehr im Suchraster.

Die Kommissarin hatte sich bedankt und war zurück aufs Revier gefahren, um sich inkognito bei Tinder & Co. anzumelden und dort nach Spuren von Marietta Wesemann zu fahnden.

Johanna überschlug ein paar Seiten. Das Wochenende war im Krimi vorbei, die IT-Abteilung hatte den Laptop inzwischen öffnen können.

Johanna legte das Buch beiseite und trank ihren Tee aus. Na ja. Sie konnte das natürlich ins Amerikanische übersetzen. In Deutschland wurde so etwas anscheinend gelesen, vielleicht lief das hier auch. Das war ihr einigermaßen egal. Lange wollte sie das hier nicht machen, es war langweilig. Leidende Frauen waren einfach nicht ihr Ding.

Sie beschloss, den späten Nachmittag im Met zu verbringen, dem Metropolitan Museum of Art, an dem sie morgens vorbeigejoggt war.

Abends konnte sie immer noch ein paar Seiten lesen. Die einzige Frage, die sie sich stellte, würde wohl erst später im Buch beantwortet werden. Würde die Kommissarin, wenn andere Wege nicht mehr weiterführten, sich hinreißen und selbst zum Opfer machen lassen? Und würde sie den Täter damit finden?

Der Regen hatte wieder aufgehört. Johanna zog sich ein graues Kostüm an, elegant und unscheinbar zugleich, schlüpfte in grau-rote Sneakers und machte sich auf den Weg zur Met.

Sie ging am Zoo vorbei durch den Park und stand in einer guten halben Stunde vor dem imposanten Museum. Dort alles zu sehen war unmöglich; Johanna war neugierig und ein wenig erregt.

Sie wollte sich eins der Werke von Viola Kroll ansehen, das Viola von zwei Jahren im Ausstellungsraum Nr. 908 präsentiert hatte.

Statt der selbstbewussten langhaarigen Rotblonden betrat nun eine zugeknöpfte große Frau mit kurzen, schwarzen Haaren das Museum. Vermutlich hätte auch niemand Viola wiedererkannt, so lange hielt der Ruhm hier nicht.

Aber sie hätte zumindest die Chance gehabt, angesprochen zu werden. »Aren’t you Viola Kroll, M’am? I admire your work.«

Nichts von alledem.

Johanna kaufte sich ein Ticket und betrat die Abteilung für Modern and Contemporary Art. Der Spannung wegen ging sie entgegen des Uhrzeigersinns durch die Räume; 908 würde der letzte Ausstellungsraum sein.

Sie hatte Violas Plastik, den Meister der Schrift, länger nicht mehr gesehen. Es war das Abbild eines Mannes, der sich über ein Buch beugte und las. Ging man näher heran, löste sich die Skulptur in feine Buchstabenketten auf, wie ein DNA-Strang.

Die Buchstaben ergaben sogar Sinn. Sie hatte den größten Teil des Textes des Buches, das der Mann las, Unter Unreifen, als Wörterkette zu dieser lebensgroßen Skulptur zusammengefügt und ein beinahe perfektes Abbild des Autors erzeugt.

Der Name des Autors auf dem Buch lautete Georgiu Ionescu. Den hatte Viola sich ausgedacht, den Mann gab es nicht. Der echte Autor, den sie mit seiner Einwilligung getötet hatte, war ein Henning Rosinski gewesen.

Rosinski hatte die Schnauze vom Leben voll gehabt. Nach der Einnahme von Sterbehilfe-Medikamenten war er sanft entschlafen. Viola hatte ihn eingeäschert und seine Asche dem Rohmaterial der Keramik beigefügt; er war nun Teil seines Werkes geworden, für immer als Autor präsent.

Nach der Herausgabe des Buches unter dem Namen Ionescu hatte er eine gewisse Berühmtheit erlangt. Viola hatte die Plastik, die ihn darstellte, für vierzehn Millionen Dollar an die Met verkaufen können. Dass der Künstler selbst darin steckte, wusste das Museum natürlich nicht.

Sie betrat den Raum und sah in die Ecke, wo der Meister der Schrift stand.

Gestanden hatte.

In der Ecke stand eine Video-Installation eines Italieners. Der Meister der Schrift war nicht mehr da, die Plakette mit dem Namen Viola Kroll darauf war mit ihm verschwunden.

Er stand jetzt irgendwo in den verstaubten Kellern des Museums oder in einer Lagerhalle in Brooklyn.

Violas Spuren waren nicht mehr vorhanden. Als ob es sie niemals gegeben hätte.

Johanna schwankte, als sie weiterging und dem Ausgang zustrebte. Klar, das war zu erwarten gewesen, dass andere Werke ausgestellt werden würden; aber so schnell? Das Museum musste wirklich viel Geld haben, wenn es sich das so leisten konnte, dachte Johanna.

Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Ihr erster voller Tag in New York. Sie hatte hier noch keinen Nagel einschlagen können, noch nicht Fuß gefasst, sie trieb ankerlos durch die Stadt.

Sie ging an der 5th Avenue entlang zurück zum Hotel, an ein paar Bars und einem Nachtklub entlang. Darauf hatte sie gegenwärtig keine Lust.

Sie erspähte das Albertine, einen Buchladen, in dem sie Unter Unreifen vorgestellt hatte. Ein Schauspieler hatte das Werk anstelle des nicht existierenden Ionescu dort gelesen.

Es war ein fantastischer Abend gewesen. Der Buchladen war zwar auf französische Literatur spezialisiert und führte erlesene Werke, doch nach der gelungenen Ausstellung im Met war man nur zu bereit gewesen, eine Lesung zu veranstalten, auf Deutsch.

Johanna trat ein. Auch hier würde sie niemand erkennen.

Sie liebte dieses Geschäft. Die Decke war dem Sternenhimmel nachgebildet, es roch nach Büchern und Frische, der Ort hatte Charakter, Fengshui, Charme.

Ihre Werke würde sie hier nicht finden, wohl aber Ruhe und Besinnung. Sie schlenderte langsam an Tischen und Regalen entlang, sah ab und an zur besternten Decke und seufzte.

»Kann ich Ihnen helfen, Ma’m?«, sprach sie eine jüngere Verkäuferin an, eins von diesen Wesen, das dem Herrn der Ringe entsprungen sein mochte. Sie sah aus wie Rosie, die Frau von Sam dem Hobbit, rosig, sommersprossig, bezopft, von innen leuchtend, mit properen Gliedmaßen und einer Apfelfrische, die aus ihr herausströmte wie Dampf aus einem Teekessel.

Ihr Namensschild wies sie als Marie aus. Französin aus der Bretagne, dachte Johanna.

»Ich möchte mich nur ein wenig umsehen. Etwas zu lesen braucht man doch immer«, scherzte sie.

Marie legte den Kopf schief.

»Haben wir uns nicht schon einmal gesehen?«, fragte sie. »Ihre Stimme … Waren Sie schon mal bei uns?«

Johanna erinnerte sich. Marie hatte hinter dem Tisch gestanden, wo Unter Unreifen nach der Lesung zum Kauf angeboten wurde. Sie hatte sie trotz anderer Frisur, Kontaktlinsen in anderer Farbe und ihrer geänderten Körperhaltung erkannt.

Das gefiel ihr nicht. Sie wusste, dass man Stimmen kaum verstellen konnte, und dass das Stimmgedächtnis bei den meisten Menschen viel besser als das visuelle ausgebildet war.

An eine Stimme erinnerte man sich noch nach Dutzenden von Jahren, Aussehen vergaß man schneller, Fakten noch schneller.

Sie antwortete in einer etwas tieferen Tonlage.

»Nein, leider nicht. Mein erstes Mal. Schön haben Sie es hier, wirklich. Mein Kompliment. Ein wundervoller Buchladen. So etwas haben wir bei uns in Schweden nicht.«

Das Stichwort hatte Marie von ihrer Erinnerung abgelenkt. Sie hob erfreut den Kopf und strahlte Johanna an.

»Schweden. Da habe ich vielleicht etwas für Sie, falls Sie Schweden-Krimis lieben. Kommen Sie, bitte.«

Sie zupfte sie am Mantelärmel und zog sie in eine andere Ecke des Buchladens.

»Hier. Der neuste Band von Lennard Olsson. Wird zurzeit gern gekauft.«

Johanna erstarrte. Hirndieb hieß der Band. Er war der fünfte aus einer Reihe von acht Bänden von Lennard Olsson.

Lennard Olsson gab es nicht, genauso wenig wie Georgiu Ionescu. Die acht Bände hatte alle die echte Johanna Svensson geschrieben, die Viola als Caddie beim Golf spielen in Schweden kennengelernt hatte.

Johanna hatte Viola damals beiläufig von ihrem Hobby berichtet und ihr ein paar Seiten gezeigt. Viola wollte das Werk besitzen, es war gut. Acht Bände waren bereits fertig, ohne dass Johanna Anstalten gemacht hätte, etwas veröffentlichen zu wollen. Es war doch nur ihre Freizeitbeschäftigung.

Viola hatte Johanna zu sich nach Berlin eingeladen, wo sie die junge depressive Schwedin nach ein paar schönen Tagen mit einem Fingerhut-Tee umgebracht hatte. Sie hatte ihre Leiche in ihrem Keramik-Brennofen verbrannt und war auf die Idee gekommen, die Überreste zu Ehren der Autorin in eine Skulptur einzubringen, die ihr Ebenbild sein sollte.

Aus Mangel aus Erfahrung war das schiefgegangen. Ein Arm war abgebrochen, die Nase, und der Körper hatte überall Risse. Sie hatte alles zusammengeflickt und zu verkaufen versucht; die misslungene Plastik verstaubte jetzt irgendwo in den Hinterstübchen eines Mailänder Händlers. Mit der Asche von Johanna Svensson. Der echten Johanna.

Sie selbst, so wie sie hier stand, war nur das Abbild einer Toten und trug ihren Namen.

Sie war schon wieder mit ihrem eigenen Tod und ihrer Geschichte konfrontiert worden. Diesmal mit dem Tod der Schwedin, nicht dem von Viola.

Sie war schon zweimal gestorben und stand doch hier vor ihrem gemeinsamen Werk. Ein Zombie.

Vor ihr lag Johannas Werk, unter einem männlichen Pseudonym. Band fünf, drei weitere würde der Verlag nach und nach noch herausbringen, und der Ertrag würde zum Teil auf ihr Konto fließen.

Wie merkwürdig die Gerechtigkeit manchmal spielte, dachte sie. Johanna war tot, und doch bekam eine Johanna Svensson jetzt gemeinsam mit ihrer ebenfalls offiziell toten Mörderin Viola Kroll Gewinnanteile ausbezahlt.

Ihr wurde ganz schwummrig bei diesem Durcheinander.

»Ist Ihnen nicht gut?«, sorgte sich die apfelbäckige Hobbitfrau neben ihr. »Sie sind ganz blass geworden.«

Die Verkäuferin nahm das Buch in die Hand. »Band vier ging mir auch ziemlich an die Nieren.« Sie sah Johanna an.

»Soll ich Ihnen ein Glas Wasser bringen, Ma’m?«

»Danke, es geht schon wieder«, sagte Johanna. »Ich habe den Autor mal flüchtig kennengelernt. Ich hatte das nicht erwartet, hier plötzlich auf ihn zu stoßen. Er ist ein imposanter Mann, wissen Sie?«

Sie hatte sich wieder erholt.

Die Hobbitfrau strahlte sie an. »Da sind Sie eine der wenigen Glücklichen«, freute sie sich für Johanna. »Niemand kennt ihn so richtig, er lebt wohl sehr zurückgezogen.«

»Schweden ist groß, und wir sind nur sechs Millionen«, warf Johanna ihr als Entschuldigung hin. »Die langen Winter machen uns alle ein wenig depressiv und menschenscheu. Aber wenn wir mal auftauen …«

Johanna lächelte Marie an. »Ich hatte gerade so einen Flash. Wenn Sie die Bücher kennen, verstehen Sie das vielleicht.«

Sie sah auf ihre Uhr. Eigentlich hätte sie hier gern noch ein wenig rumgestöbert, aber ihre Begleitung war ihr zu wissbegierig.

»Ich muss leider weiter. Aber ich werde wiederkommen«, versprach sie.

Marie brachte sie zur Tür und wünschte ihr alles Gute.

Johanna war immer noch schockiert, als sie die 5th Avenue zum Park überquerte. Fast wäre sie angefahren worden. Überall, wo sie hinkam, war sie tot oder verschwunden. Weg. Beseitigt.

Ein Gefühl der Unwirklichkeit beschlich sie. Vielleicht war sie tatsächlich tot, beim Autounfall umgekommen, und ihr Geist träumte sich dies alles in den letzten Minuten, wo das Gehirn noch Sauerstoff hatte, nur zusammen, unter dem Einfluss der letzten Endorphine, die ihr Körper freisetzte. Vielleicht zog sich dieser Traum subjektiv endlos hin; wer wusste das schon.

Aber es war alles so real, die Autohupen, der Lärm, die spielenden Kinder im Park, die Jogger und die Hunde. Konnte sich das Gehirn das tatsächlich so realistisch zusammenbauen?

Im Traum war es ja auch so, bemerkte sie mit Erschrecken. Da fühlte sich auch alles absolut real an.

Gab es sie noch? Sie sah auf ihre Hand, ob sie vielleicht gerade durchsichtig wurde.

So kannte sie sich nicht. Klar, sie spürte ihren Körper, sie brauchte sich gar nicht zu zwicken oder in einen Spiegel zu schauen. Dennoch hatte sie das Gefühl, unwirklich zu sein.

Sie atmete tief ein und aus und ließ die Schultern sacken. Das war alles Unsinn, sie schüttelte das ab und machte sich auf den Weg durch den Park zurück zum Hotel.

Es waren die Auswirkungen ihres Jetlags, nichts anderes.

Ein anderes Zeichen dafür, dass sie real war und nicht nur die letzten Zuckungen ihres sterbenden Gehirns erlebte, war das plötzliche Hungergefühl, das sie überfiel wie ein Sommergewitter. Sie hatte seit dem guten Frühstück nichts mehr zu sich genommen, von zwei Kaffees und einem Bagel abgesehen.

Am Eingang des Parks stand ein Verkaufsstand für belgische Waffeln. Johanna kaufte sich gleich zwei, eine de turtle wafel und eine de bom. Beim Essen ließ sie sich Zeit. Nichts Gutes für ihre Figur.

Aber ein Beweis, dass sie lebte, dass ihre Sinne funktionierten, und dass sie tatsächlich in New York angekommen war. Der Wagen war eine Institution. So etwas Gutes konnte man sich nicht erträumen.

Nach dem Verzehr der Waffeln war sie wieder sie selbst. Johanna. Eine Übersetzerin, die sich wohlig mit der Rechten über den prallen runden Magen strich und die dringend aufs Klo musste. Sie ging zurück ins Hotel, wo der Portier sie bereits mit Namen begrüßte.

»Welcome, Mrs. Svensson«, sagte er.

Na also.

Johanna war warm geworden, durch die Septembersonne und die warmen Waffeln. Sie zog sich halb aus, sah fünf Minuten durch ihr Panoramafenster auf den Central Park und legte sich dann aufs Bett, mit einer Flasche Wasser neben sich.

Der Tag war anstrengend gewesen. Draußen hatte die Dämmerung übernommen, Johanna schlief ein.

Nachts um drei weckte sie der kühle LuftSäure der Klimaanlage. Draußen auf dem Gang stritt sich ein Paar, beides zusammen hatte sie geweckt.

Sie konnte jetzt aufstehen, sich für die Nacht fertigmachen und versuchen, wieder einzuschlafen.

Sie ahnte schon, dass es mit dem Schlaf vorerst vorbei war.

Sie griff zu ihrem Rucksack, der auf dem Nachttisch lag, und zog das Buch heraus.


Tod eines Milliardärs

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