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DER SÄUREMÖRDER

Jessica Bahr

Ilka Eichner missfiel der mangelnde Einsatzeifer ihres Kollegen. Der große Kerl wollte am Freitagabend auf die Piste, nichts Anderes. Von wegen Ermittlungen im Treibhaus, dachte sie, der ist doch nur auf Eroberungen aus.

»Hör zu«, hatte er ihr gesagt, als sie die Wohnung von Mimi Wolter verlassen hatten. »Nimm du den Laptop mit. Ich möchte mich im Umfeld der Toten umsehen. Das kann ich besser als darauf zu warten, bis die IT das Passwort geknackt hat. Wir sehen uns spätestens Montagmorgen, Ilka.«

Mit den Worten war er davongeeilt. Die Frau ist doch nie allein ausgegangen, hatte sie ihm noch hinterherrufen wollen, aber er war schon um die nächste Ecke verschwunden. Ihm jetzt eine dienstliche Anweisung zu erteilen, war ihr zu blöd. Sie stieg ins Auto und fuhr zum Revier.

Nachdem sie den Laptop abgegeben hatte, setzte die Kommissarin sich in ihr Büro und legte die Füße auf den Schreibtisch. Sie musste nachdenken.

Wenn das so einfach war und der Täter ein Trittbrettfahrer war, würde er die Tat wiederholen. Oder wiederholt haben.

Ilka schaltete ihren Rechner an und loggte sich ins NIVADIS ein, das Informationssystem der niedersächsischen Polizei.

Sie gab Säureunfälle ein und wurde sofort fündig. Achtundzwanzig Fälle waren in den letzten sechs Monaten in Niedersachsen gemeldet worden.

Davon konnte sie zehn sofort ausschließen, es waren klare Haushaltsunfälle. Fünfzehn Fälle waren anderen Tätern zuzuordnen, meist war es darum gegangen, dass die Männer verlassen worden waren und wollten, dass die Frau nie wieder für jemanden anders schön sein sollte.

Von den drei übrig gebliebenen Fällen passte einer in ihr Suchschema. Eine Frau aus Sarstedt bei Hildesheim hatte sich mit Säure die Genitalien verstümmelt. Das war erst fünf Tage her; die Frau lag in der Medizinischen Hochschule Hannover und wartete auf die Restauration ihrer Verletzungen.

Die beiden anderen niedersächsischen Fälle hatten sich in Aurich und bei Cuxhaven ereignet. Zu weit. Zur MHH dagegen waren es nur ein paar Minuten.

Bevor sie in die Klinik fuhr, rief Ilka bei der IT-Abteilung an. Die hatte das Passwort bereits gefunden, es war das Geburtsdatum von Marietta Wesemann.

Der Mann am anderen Ende kam nicht richtig mit der Sprache heraus. Sie hatten wenig gefunden; der Laptop hatte seine Fernwartungsfunktion eingeschaltet gehabt, und jemand, vermutlich der Täter, hatte darüber die Festplatte neu formatiert und mehrfach mit Datenmüll überschrieben. Die VR-Brille hatte zwar eine Kamera, aber keinen eigenen Speicher.

Sie würden trotzdem versuchen, den Inhalt des Rechners wiederherzustellen, aber viel Hoffnung wollte der Mann Ilka nicht machen. Der Vorgang würde einige Tage in Anspruch nehmen, und ob noch etwas wiederherzustellen war, konnte er nicht garantieren.

Der Täter kannte sich also nicht nur mit Säure, sondern auch mit der Fernwartung von Rechnern aus. Ein Profilpunkt mehr.

Dennoch war das nur ein Trostpreis, der Hauptgewinn wäre der Name des Mörders und die Zusatzzahl die Aufzeichnung des Gespräches gewesen.

Man kann nicht alles haben, dachte sich Ilka, als sie sich auf den Weg zur Medizinischen Hochschule machte.

Die Patientin, Jessica Bahr, war wach und ansprechbar.

»Sie müssen aufpassen, sie steht nach wie vor unter starken Schmerzmitteln und könnte noch etwas verwirrt sein«, warnte die Ärztin sie.

»Falls sie sich aufregt oder irgendein Wert instabil wird, müssen Sie die Befragung sofort unterbrechen. Stimmen Sie dem zu?«

Ilka nickte und hatte selbst eine Frage.

»Was hat sie sich denn exakt angetan?«

Die Ärztin hob sorgenvoll die Augenbrauen. »Wir erleben hier ja einiges, der Spieltrieb einiger Menschen ist nicht zu bremsen.« Sie nickte einem vorübergehenden Pfleger zu und wartete, bis er vorbei war.

»Sie glauben ja nicht, was die Leute sich alles reinstecken. Gestern hatten wir einen Mann da, der sich sein Handy in den Anus geschoben hatte. Es klingelte sogar noch, und er flehte uns an, schnell zu machen, das Gespräch könnte ja wichtig sein.«

Sie schüttelte den Kopf. »Und vor einer Woche hatte sich eine Patientin ein größeres Ei aus Alabaster eingeführt und bekam es nicht wieder hinaus, weil es so glitschig war.«

»Und diese Patientin hier?« Ilka wurde ungeduldig.

»Ach ja, natürlich. Frau Bahr hat mit Flaschen etwas gemacht. Sie hat sie sich eingeführt. An sich noch nichts Ungewöhnliches. Nur waren in den Flaschen Flüssigkeiten, die allein auch noch nicht gefährlich waren. Aus jeder ist etwas ausgetreten; zusammen haben sie dann eine Reaktion ausgelöst. Es hat sich eine sehr aggressive Säure gebildet. Der Schmerz war in diesem Moment so stark, dass sie ohnmächtig geworden ist.«

Sie wischte sich eine Strähne aus dem Gesicht und seufzte.

»Der Säure hat dann das ganze Gewebe dort erst durchflossen, abgetötet und dann vollständig verätzt, da könnten Sie jetzt glatt einen Finger durchstecken. Die Nieren und die Blase sind ebenfalls schwer beschädigt worden. Die zervikalen Verbrennungen konnten wir reparieren, was sonst für Folgeschäden an den Organen bleiben werden, ist noch nicht klar.«

Die Kommissarin sah die Parallelen zu ihrem anderen Fall. »Wissen Sie, ob die Frau das schon öfter gemacht hat? Ob sie dazu verleitet worden ist?«, fragte sie die Ärztin.

»Davon weiß ich nichts, das müssen Sie sie schon selbst fragen. Ich denke, Sie können jetzt rein, Frau Eichner. Die Patientin ist allerdings stark sediert und vermutlich benommen.«

Die Frau lag waagerecht im Bett, als ob sie sterben wollte, die Arme an der Seite. Alle anderen Patienten hatten das Oberteil schräggestellt, hatte Ilka gesehen.

Jessica Bahr war eine hagere Brünette mit tief herabgezogenen Mundwinkeln wie bei einer Magenkranken. Sie hatte sehr große braune und hübsch geschnittene Augen, die attraktiv gewirkt hätten, wenn ihr Blick nicht so abgestumpft und leer gewesen wäre.

Die Haut war grau wie Packpapier, der zusammengekniffene Mund blutleer. Die Nase der Frau, die Ilka sonst als keck bezeichnet hätte, ragte kalt aus dem Gesicht auf wie ein dreieckiger Kalkstein aus einem verschneiten Acker.

Das einzige Zeichen, dass die Frau Ilka bemerkt hatte, war ein leichtes Flattern der unteren Augenlider.

Ilka stellte sich auf Bauchhöhe der Frau neben das Bett.

»Frau Bahr, wir wollen das Schwein fangen, das Ihnen das angetan hat«, sagte sie. »Der hat das auch noch mit anderen Frauen so gemacht. Wir müssen den aus dem Verkehr ziehen und für lange Zeit hinter Gitter bringen.«

Diese direkte Ansprache sollte der Frau die Möglichkeit nehmen, sich aus Scham zu verstellen und die Tat auf sich zu nehmen.

Jessica Bahr drehte unendlich langsam den Kopf zu ihr hin. Dann drehte sie ihn wieder in die Ausgangslage zurück.

»Gott sei Dank, eine Frau«, stöhnte sie nahezu unhörbar. »Wer sind Sie?«

»Kriminalhauptkommissarin Ilka Eichner.«

Die Patientin schloss die Augen und nickte.

»Darf ich mich an Ihr Bett setzen, Jessica?«

Sie hatte sich entschieden, den Vertrautheitsgrad, den ihr Frausein herbeigeführt hatte, durch den Gebrauch des Vornamens weiter auszubauen.

»Ja«, kam es ganz schwach zurück.

»Sie brauchen nicht viel zu sprechen, Jessica«, begann Ilka.

»Wir gehen davon aus, dass ein Mann Kontakt zu Ihnen aufgenommen hat, übers Internet, und Ihnen Ratschläge gegeben hat, wie Sie Ihr sexuelles Erleben steigern können, so etwas in der Art. Er war äußerst überzeugend und Sie haben getan, was er von Ihnen verlangte. Sie müssen nichts sagen, nicken Sie einfach nur, wenn das in etwa stimmt.«

Sie fuhr fort, als die Frau im Bett nur die Stirn runzelte.

»Er hat sich vielleicht als Quizmaster ausgegeben und Sie dann langsam dahingebracht, Säure über sich zu gießen, erst nur wenig, dann immer mehr. Und dann kam der letzte Rat, die letzte Aufforderung, die zu dieser schweren Körperverletzung geführt hat. Ein anderes Opfer ist übrigens bei einer solchen Aktion gestorben, Jessica.«

Der Brustkorb der Frau hob und senkte sich dreimal hintereinander stark, dann seufzte sie.

»Das mit dem Quiz und dem Ausprobieren, um zu sehen, was man aushält, das stimmt«, sagte sie leise. »Das war anfangs gar nicht so schlimm. Aber als sich das vermischt hat, war ich wie gelähmt. Und es hat so scheiße weh getan.«

Jessica Bahr verzog das Gesicht, Tränen strömten ihr seitlich am Gesicht herunter. »Erst als sich das einen Weg ins Frei geätzt hat, durch mein Gewebe hindurch, ließ das nach. Das habe ich dann schon nicht mehr mitbekommen.«

»Und hat er Ihnen vorher gesagt, wie Sie das mischen sollen, Jessica? Oder weitere Instruktionen?«

Die Frau machte ein Geräusch, das wie eine Mischung aus Stöhnen, Röhren und Schnauben klang.

»Wieso er? Das war doch eine Frau, eine sehr hübsche, lebenslustige Frau, Claudia Meyer. Sie hat mir alles erklärt, wie ich vorgehen soll. Plastikflaschen, dass ich die mit Creme einschmieren soll, welche Flasche zuerst, die ganze kranke Scheiße.«

Ilka lief es kalt den Rücken herunter. Das hatte sie jetzt nicht erwartet. Eine Frau? Dazu noch eine gut aussehende, fröhliche Frau, die anderen Frauen so etwas antat? Das passt so gar nicht zu der Analyse ihres Profilers Jonas.

Dann wurde ihr ganz warm. Sie hatten einen Namen und eine Personenbeschreibung.

»Haben Sie eine Ahnung, warum sie Ihnen das angetan hat? Wie haben Sie sie kennengelernt? Was hat sie Ihnen angeboten? Und haben Sie eine Telefonnummer, eine Mail-Adresse, einen WhatsApp-Account oder sonstige Infos über Claudia Meyer?«

Ihr fiel noch etwas ein.

»Ach ja. Lief das Gespräch über einen Computer, oder über eine VR-Brille, Jessica?«

Jessica Bahr sah an ihrem Arm entlang zu einem Transfusionsschlauch, durch das Spenderblut in ihren Kreislauf floss. Sie seufzte leise.

»Beides. Erst über den Laptop, die Vorgespräche wegen dem Quiz auf Youtube. Dann, beim Test, über die Brille. Die musste ich mir extra kaufen, eine mit Kamera, damit ich halbtransparent sehen kann, was ich mache. Und sie musste das ja auch sehen können, als Kontrollperson.«

Sie zog die Nase hoch.

»Ich habe bis zum letzten Moment an alles geglaubt, was sie mir gesagt hat. Als ich dann zu schreien anfing, hat sie gelacht und nach ein paar Sekunden aufgelegt. Dann bin ich wohl ohnmächtig geworden.«

Sie begann erbärmlich zu schluchzen. Die Ärztin, die durch ein Fenster zugesehen hatte, trat ein und legte Ilka eine Hand auf die Schulter. »Ich denke, das reicht, Frau Eichner. Die Patientin braucht dringend Ruhe und Erholung, das regt sie zu sehr auf.«

Jessica Bahr wischte sich die Tränen ab und machte eine abwehrende Handbewegung.

»Gleich. Sie müssen diese Sau kriegen. Sie hat einen Twitter-Account, da habe ich sie kennengelernt, und eine Telegram-Adresse. Ihr Name und dahinter eine Zahl. Moment.«

Sie legte den Kopf nach hinten ins Kissen und schloss die Augen. »13888.«

Sie öffnete die Augen wieder und sah Ilka an. »Kann ich die auf Schadenersatz verklagen?«

Ilka nickte. »Natürlich. Sie können eine Privatklage anstrengen. Danke für die Informationen. Damit müssten wir sie erwischen. Ich wünsche Ihnen gute Besserung, Jessica, alles Gute. Ich komme in den nächsten Tagen noch mal vorbei.«

Die Ärztin schob sie durch die Tür und schloss sie hinter sich.

»Wir werden die Patientin noch mindestens drei Wochen hierbehalten. Wir werden versuchen, das zerstörte Gewebe zu ersetzen, unser Neurochirurg hat eine Idee, wie er sie wiederherstellen kann. Da unten, Sie wissen schon. Mit einer Transplantation von einem Unfallopfer, einer neunzehnjährigen Frau, auch wenn Frau Bahr dann lebenslang Medikamente einnehmen muss.«

»Wegen der Abstoßung«, wusste Ilka. »Das wäre schön, und ein Triumph über diese Täterin. Vielen Dank.«

Ilka fuhr zurück aufs Revier. Zu Hause wartete niemand auf sie, da konnte sie genauso gut weiter ermitteln. Wenn sie diese Claudia Meyer fand, konnte sie gleich deren Festsetzung veranlassen, bevor sie noch mehr Unheil anrichten konnte.

Die Zahl war vermutlich ihr Geburtsdatum, der dreizehnte August 1988. Dann war die Frau etwas über dreißig.

Sie loggte sich in Twitter ein. Eine Claudiameyer13888 gab es nicht, auch keine Claudia_Meyer_13888 oder andere Varianten mit Punkt, @, # und anderen Trennern. Auf Skype das Gleiche. Claudia Meyers gab es viele.

Sie fragte sich, ob sie an gelöschte Accounts rankommen konnte. Es war spät und Freitagabend, bei der IT-Abteilung war niemand mehr da, nicht einmal beim LKA. Das musste bis Montag warten.

Mist. Sie hätte sich den Hausschlüssel von Jessica Bahr geben lassen sollen und sie um ihren Laptop oder den Zugang zu ihrem Computer bitten sollen. Vielleicht war noch ein Foto oder ein Claudia Meyer ähnlich sehender Avatar da, im Cache oder sogar auf der Oberfläche. Und im Log von Youtube würde sie die Mac-Adresse des Computers der Anruferin finden können und damit die Täterin oder zumindest ihren Standort.

Noch mal würde sie die Ärztin sie heute Abend nicht mehr reinlassen, und Jessica brauchte in der Tat ihre Ruhe.

Also was tun?

Ilka entschloss sich, selbst ein falsches Profil von sich ins Netz zu stellen und von diesem Profil aus nach jemandem zu suchen, der Frauen eine Erlebnissteigerung beim vaginalen Sex versprach. Denn das war am Rande des Quizprogramms auf Youtube versprochen worden, als Köder für einsame, kühle Damen.

Es würde ein langer Abend werden.

Vorher rief sie noch Jonas an.

»Du, ich habe hier noch nichts gefunden«, sagte er, bereits etwas alkoholisiert klingend. »Ich klappere weiter die Kneipen hier in der Umgebung ab und frage mich durch.«

Das hatte sie sich schon gedacht.

Eine Stunde später waren ihre Accounts fertig. Sie war nun eine 38-jährige, unscheinbare Frau namens Emma Heidenreich, mit einem passenden Foto, das sie sich von Pixabay runtergeladen hatte, und einer Legende mit vielen Enttäuschungen. Und dass sie öfter an Suizid denken würde. Außer es gäbe jemanden, der vielleicht doch noch gute Tipps für sie hatte.

Tod eines Milliardärs

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