Читать книгу Ich wünsch dir alles Gute - Nicole Beisel - Страница 9
5. Kapitel
ОглавлениеAuch Sarah musste sich wohl oder übel an das Gefühl gewöhnen, keinen besten Freund mehr zu haben und Till nicht mehr zu sehen. Es war ihr unendlich schwer gefallen, nicht an ihn zu denken, selbst wenn Steffen in der Nähe war.
»Woran denkst du denn gerade?« Normalerweise stellten die weiblichen Lebewesen diese Frage, aber in diesem Fall war es umgekehrt. Sarah hatte jedes Mal den Gedanken an Till schnellstmöglich wieder verdrängt und ihren Freund beruhigt, indem sie ihn glauben ließ, sie sei müde oder hätte Kopfschmerzen. Steffen hatte bislang nichts von Tills Existenz gewusst. Sie waren einander weder vorgestellt worden, noch hatte Sarah ihm jemals etwas von ihrem – mittlerweile ehemals – besten Freund erzählt.
Steffen hoffte, dass Sarah nicht an einen anderen Mann dachte. Aber genau das tat sie, allerdings nicht ganz auf die Art und Weise, wie Steffen vermutete.
Sarah trauerte. Sie weinte um ihren verlorenen Freund, um die gemeinsamen Erinnerungen und um die vielen schönen Dinge, die sie beide noch hätten gemeinsam erleben können, hätte sie nur ein klein wenig mehr Vertrauen in Till und in sich selbst gehabt. Aber ihre Angst war größer gewesen, und nun war trotzdem alles kaputt. Sie wünschte sich, eines Tages damit leben zu können. Vielleicht würde ihr das gelingen, wenn erst ein wenig Zeit ins Land gestrichen war.
Die Jahre vergingen, jedoch nicht ohne einen Tag, an dem sowohl Sarah als auch Till nicht aneinander dachten und sich wünschten, das enge Band der Freundschaft würde sie noch immer verbinden. Ihnen beiden fehlten die innigen Gespräche, die langen Telefonate, wenn es draußen regnet und sie beide zu Hause saßen oder die gemeinsamen Unternehmungen, bei denen sie immer so viel Spaß gehabt hatten.
Auch ihren Eltern war nach einer Weile aufgefallen, dass ihre Kinder sich kaum noch miteinander trafen und sie irgendwie bedrückt gewirkt hatten. Aber Sarah und Till waren beide in einem Alter gewesen, in denen man nicht mit seinen Eltern über seine Probleme sprach, und so hakten die Eltern der beiden auch nicht weiter nach. Untereinander trafen sie sich weiterhin und verstanden sich noch immer sehr gut. Natürlich sprachen sie auch über ihre Kinder, die nun reife Teenager gewesen waren und Beziehungen hatten, die in den Augen der Eltern wohl dafür verantwortlich gewesen sein mussten, dass die Freundschaft zerbrochen war.
Till hatte es tatsächlich geschafft, seine Beziehung zu Katja aufrecht zu erhalten. Sie schienen beide sehr glücklich zu sein, zumindest hatte es den Anschein nach außen hin. Niemand außer Till selbst wusste, was wirklich in seinem Inneren vorging.
Aber er war ein Meister des Verdrängens, auch wenn es ihn innerlich fast zerstörte, nicht mehr in Sarahs Nähe sein zu können. Ab und zu war Sarah den beiden kurz begegnet. Dann hatten sie lediglich einen kurzen Blick und ein leicht angedeutetes Lächeln gewechselt und waren sogleich einfach aneinander vorbei gelaufen, als würden sie sich nur vom Sehen her kennen.
Till waren solche Situationen stets unangenehm gewesen. Er kam sich unfair vor Sarah gegenüber, aber er musste sich selbst schützen und wollte auch Katja nicht unnötig weh tun, indem er ihr seine Gefühle für Sarah offenbarte, obwohl diese Sache sowieso keine Zukunft hatte. Dass er Sarah damit noch viel mehr weh tat, als er vermutete, war ihm zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst…
Bei Sarah war es nicht ganz so gut gelaufen. Ihre Beziehung zu Steffen war nicht von sehr langer Dauer gewesen, und auch die beiden darauffolgenden jungen Männer, mit denen sie sich auf eine Art Beziehung eingelassen hatte, hatten den Verlust ihres besten Freundes selbst nach mehreren Jahren nicht lindern können
Sarah konnte gedanklich einfach nicht von Till loslassen. Auch, wenn sie sich nur noch sehr selten sahen und sich dadurch kaum noch miteinander unterhielten, fühlte sie sich noch immer zu ihm hingezogen und vermisste ihn unheimlich. Ihre Gefühle für ihn ließen auch in all der Zeit nicht nach, aber sie wäre einfach schon froh gewesen, hätten sie wenigstens wieder Freunde sein können. Aber er hatte sich dafür entschieden, den Kontakt abzubrechen und seinen eigenen Weg zu gehen, warum auch immer.
Mit dem baldigen Schulabschluss stellte sich auch die Frage nach dem Berufswunsch. Sarah wollte schon immer etwas Handwerkliches machen anstelle eines Bürojobs. Sie wusste, dass der Beruf des Friseurs nicht sehr gut bezahlt und die Ausbildung nicht einfach war, aber es war ihr Wunsch gewesen.
Außerdem hoffte sie, irgendwann ihre Ausbildung fortführen und ihren Meistertitel erwerben zu können, um anschließend einen eigenen Salon zu eröffnen. Sie hatte sich frühzeitig um einen Ausbildungsplatz beworben und hatte nach nur wenigen Absagen eine Stelle in einem Friseursalon in der Innenstadt bekommen. Ihre bevorstehende Ausbildung verschaffte ihr neuen Mut. Somit hatte sie etwas Neues, auf das sie sich konzentrieren konnte. Vielleicht würde ihr das ein wenig über Till hinweg helfen.
Till hingegen wollte schon im Kindesalter sein Abitur machen, studieren und dann Im IT-Bereich tätig werden. Alles, was mit Computern und Technik zu tun hatte, hatte ihn schon früh interessiert. Ständig hatte er sich gefragt, wie Technik so intelligent sein konnte. Und wie sich herausstellte, hatte Till den ersten Schritt in diese Richtung geschafft.
»Du und Till, ihr seht euch nicht mehr sehr oft, oder?« Andrea, Sarahs Mutter, hatte sie sonst nie darauf angesprochen.
»Nein. Schon lange nicht mehr,« sagte Sarah in einem resignierenden Ton, der ihrer Mutter gegenüber zum Ausdruck bringen sollte, dass das Ende ihrer Freundschaft schon sehr lange her war und es nichts Neues war, dass sie so gut wie keinen Kontakt mehr zu Till hatte.
»Jedenfalls, Tills Mutter hat mir erzählt, dass er nun aufs Gymnasium gehen wird, um sein Abitur zu machen. Sie sagt, er will später mal studieren.«
Sarah freute sich einerseits für ihn, dass bislang alles so lief, wie er es sich immer gewünscht hatte und er eine reelle Chance hatte, seine Träume zu verwirklichen und wirklich IT-Spezialist zu werden. Trotz ihrer Wehmut musste Sarah traurig schmunzeln.
»Tills Mutter hat mir erzählt…« Früher war es umgekehrt gewesen. Da hatten Till und Sarah sich gegenseitig Dinge erzählt, von denen ihre Eltern wahrscheinlich bis heute nichts wussten. Jetzt sprachen ihre Eltern mehr miteinander als sie beide selbst. Irgendwie machte sie das traurig. Nichts war mehr wie früher gewesen und nichts deutete darauf hin, dass ihre Freundschaft aus Kindertagen jemals wieder zurückkommen würde…
Sarah lief noch ein paar Straßen weiter zur Festhalle der Stadt, wo sie vor mittlerweile gut zehn Jahren ihren Schulabschluss gefeiert hatten. An diesen Nachmittag hatte Sarah keine allzu guten Erinnerungen. Die Feier an sich war sehr schön gewesen. Natürlich wurden viele Reden gehalten, es wurden Sketche und kurze Theaterstücke aufgeführt, Lieder wurden gesungen und am Ende wurden die Abschlusszeugnisse verteilt und die Jahrgangsbesten gekürt. Viele stolze Eltern waren im Saal, die mit einem lachenden und einem weinenden Auge erkannten, dass ihre Kinder nun fast schon Erwachsene waren und möglicherweise bald in die Arbeitswelt einkehrten.
Sarah hielt sich während der Abschlussfeier meist in der Nähe ihrer Eltern und ihrer Freunde auf. Till würde auch hier irgendwo sein, aber da seine Freundin, die in der Parallelklasse war, ebenfalls da war, um ihren eigenen Abschluss zu feiern, hielt Sarah bewusst keine Ausschau nach ihm.
Während Sarah sich mit ihrer Mutter unterhielt, hatte Till Sarah in einer ruhigen Minute von Weitem entdeckt und beobachtet. Sie war wunderschön. Ihr langes, blondes Haar hatte sie locker zusammen gesteckt, sie war dezent geschminkt und trug ein langes, bordeauxrotes Kleid mit dünnen Trägern und tiefem Ausschnitt.
Dies war wieder einer von unzähligen Momenten, in denen er bereute, ihr die kalte Schulter gezeigt und sich ihr abgewandt zu haben. Sie fehlte ihm so sehr. Ihre gemeinsamen Unterhaltungen, der Spaß, den sie beide immer gehabt hatten, die vielen, gemeinsam verbrachten Momente.
Was hatte er nur getan? Obwohl sie sich gerade mit ihrer Mutter Andrea unterhielt, wie er sehen konnte, hatten ihre Augen verraten, welche Trauer sie in sich trug und er ahnte, dass diese Trauer ihm und ihrer Freundschaft gegolten hatte. Auch er musste sehr traurig und nachdenklich ausgesehen haben, denn plötzlich spürte er ein leichtes Zwicken an seinem Arm.
»Hey, wo schaust du denn wieder hin?« Katja hatte ihn geneckt. Sie schien nicht bemerkt zu haben, dass er ausgerechnet Sarah angestarrt hatte. Schließlich wusste Katja nicht, wer Sarah war und was sie und Till einst verbunden hatte.
»Ich hab nur geschaut, wer sonst noch so da ist. Die meisten werde ich ja nach dieser Feier wohl nicht mehr sehen.« Katja stimmte ihm zu. »Ja, das ist traurig, aber jeder muss nun seinen eigenen Weg gehen.«
Während Till sich weiter mit Katja unterhielt, hatte auch Sarah die beiden entdeckt. Leider zu spät, um zu sehen, dass Till sich noch immer nach ihr sehnte und sie bewunderte. In Sarahs Augen war Till glücklich und hatte nun bereits seit mehreren Jahren eine recht hübsche Freundin an seiner Seite. Sarah hätte eher vermutet, dass er sich mehrere Frauen angeln würde, aber er schien ein äußerst treuer Freund zu sein. Zumindest, was Beziehungen anging…
Traurig wendete sie den Blick wieder ab und lenkte sich mit den restlichen Feierlichkeiten ab. Einige ihrer Freundinnen wollten sich am Abend noch an einem See in der Nähe treffen, um gemeinsam weiter zu feiern. Sarah hatte beschlossen, ebenfalls hinzugehen. Was sollte sie auch alleine zu Hause rumsitzen? Heute gab es allen Grund zum Feiern. Sie hatte die Schule gemeistert und hatte einen tollen Job in Aussicht. Ein neuer Lebensabschnitt stand ihr bevor, und sie freute sich riesig darauf.
Als die Zeugnisse verteilt wurden, standen alle Schulabgänger nach Klassen getrennt auf der Bühne. Somit standen Sarah, Till und Katja jeweils getrennt voneinander auf der Bühne. Da diese nicht sonderlich groß war, war es schwer, alle Mitschüler links und rechts von sich zu sehen. Till hatte jedoch nicht allzu weit von Sarah entfernt gestanden. Till schielte immer wieder nach links, um einen Blick auf sie zu erhaschen.
Sarah erwischte sich ebenfalls dabei, wie sie ständig nach rechts sah, um zu sehen, ob Till Ausschau nach ihr hielt, doch er sah jedes Mal stur geradeaus. Als sie ein letztes Mal zu ihm rüber schaute, sah er sie ebenfalls an und fing ihren Blick für mehrere Sekunden ein. Sie sahen sich lange an. Sarah mit ihrer allgegenwärtigen Traurigkeit in den Augen, Till mit einem ebenfalls teils traurigen, teils fragenden Blick. Als würde er ihr sagen wollen, wie leid es ihm tat. Doch das änderte nichts an ihrem Verlust und ihrer Sehnsucht.
Sarah, Till und all ihre Mitschüler waren nun offiziell – zumindest was die Realschule betraf – Schulabgänger und wurden von der Bühne entlassen. Stolz zeigten die Schüler ihren Eltern ihre Zeugnisse. Sarahs Eltern unterhielten sich gerade mit den Eltern von Till. Sarah begrüßte sie kurz, drückte ihrer Mutter ihr Zeugnis in die Hand und entschuldigte sich mit den Worten: »Ich geh schon mal raus.« Die Eltern waren nicht sonderlich verwundert über ihre Reaktion und ließen sie gehen. An diesem Tag waren wohl alle gefühlsmäßig etwas durcheinander.
Während Katja sich mit ihren Freundinnen unterhielt, hatte Till gerade noch beobachtete, sie Sarah alleine zur Tür hinausging. Da sich seine und ihre Eltern noch miteinander unterhielten und Katja ebenfalls beschäftigt war, entschloss er sich, Sarah zu folgen. Er hielt dieses Schweigen nicht mehr länger aus. Er musste unbedingt wieder ihre Stimme hören. Sie aus der Nähe sehen. Sie vielleicht berühren, am Arm oder an der Wange, oder sie umarmen…
Sarah suchte sich an diesem angenehm warmen und sonnigen Spätnachmittag einen kleinen, ruhigen Platz im Schatten. Einige Schüler waren schon auf dem Heimweg und liefen mit ihren Eltern an ihre Autos oder fuhren bereits davon. Nachdenklich schaute Sarah in die Ferne, wo außer Menschen, Häusern und Autos nicht mehr viel zu sehen war.
Plötzlich erfasste sie ein sehr seltsames Gefühl. Ein Gefühl, von dem sie wusste, dass sie es ganz genau kannte, aber dass es lange her war, als sie es zum letzten Mal verspürt hatte. Sie konnte spüren, wie er sich ihr von hinten näherte. Wenige Sekunden später hörte sie nach sehr langer Zeit seine Stimme, die noch beinahe genauso klang, wie damals, als sie sich noch stundenlang unterhalten konnten, ohne müde zu werden oder sich zu langweilen.
»Sarah?« Die einzigen Veränderungen in seiner Stimme waren die ungewohnte Tiefe und ein leichtes Zögern, das sie sonst nicht von ihm kannte. Till hatte immer gerade heraus gesagt, was er dachte und hatte nie gezögert, ganz gleich, worum es gegangen war. Diese Art und Weise, wie Till gerade sachte ihren Namen ausgesprochen hatte, war neu für sie gewesen.
Wie gerne hätte sie sich umgedreht, aber sie hätte sich so sehr geschämt. In nur einer Sekunde gingen ihr so viele verschiedene Gedanken durch den Kopf und ihre Gefühle spielten verrückt. Da waren Wut, Sehnsucht, Liebe, Trauer, Erinnerungen, Freundschaft – und eine Träne in ihrem Gesicht, die Till nicht sehen sollte. Aber selbst, wenn sie sich die Träne nun wegwischen würde, würde er sehen, dass sie geweint hatte. Also drehte sie sich langsam zu ihm um, ließ die Träne da, wo sie war und besann sich, nicht noch mehr zu weinen.
Sie sah ihm in seine braunen Augen, die ebenfalls feucht gewesen waren von Tränen, die er verzweifelt versucht hatte, zurück zu halten. Am liebsten hätte sie sich in seine Arme geworfen und hätte ihn nie wieder loslassen wollen. Aber er hatte eine Freundin, und die würde es sicher nicht gut finden, ihren weinenden Freund in den Armen einer anderen, noch dazu ebenfalls weinenden Frau wiederzufinden. Außerdem war er es, der sich damals zurück gezogen hatte und es wäre in Sarahs Augen schlicht unangebracht gewesen, sich ihm an den Hals zu werfen. Sie musste versuchen, vernünftig zu bleiben, so schwer es auch war.
Also sah sie ihn nur stumm an und wartete ab, was er ihr zu sagen hatte. Sie hatten sich schon immer auch gut ohne Worte verstanden, und so erwartete er von ihr keine Antwort, sondern sprach weiter, so gut er konnte. Er versuchte, locker zu wirken, was ihm jedoch gründlich misslang. Auch das war neu gewesen für Sarah. »Eigentlich wollte ich dich fragen, wie es dir geht, aber ich glaube, das hat sich damit erledigt.«
Er schluckte, ehe er weiter sprach. Er wollte sich auf jeden Fall bei ihr entschuldigen und suchte nach einer Erklärung. Allerdings gab es für sein damaliges Handeln nur eine einzige Erklärung, die er jedoch auch nach all der Zeit weiterhin für sich behalten wollte. Was konnte er Sarah nur sagen?
»Es tut mir so leid. Du fehlst mir.« Sarah liefen neue Tränen die Wange herunter. »Du fehlst mir auch. Mir blieb ja auch nichts anderes übrig, als dich zu vermissen.«
Sarah war verwundert über sich selbst und ihre offenen Worte. Till schämte sich immer mehr. »Ich weiß. Ich wusste mir nicht anders zu helfen.« Verwundert sah Sarah ihn an. Was meinte er nur damit? Währenddessen rang Till nach einer plausiblen Erklärung.
»Unsere Interessen haben einfach verschiedene Wege eingeschlagen. Dann hatte ich eine Freundin und ich wollte nicht, dass sie eifersüchtig wird, wenn ich so viel Zeit mit dir verbringe. Ich weiß, es war falsch, aber damals wusste ich es nicht besser.«
Sarah konnte das nicht so recht verstehen. Ihre Freundschaft war so tief und innig gewesen und Till war eigentlich immer ein vernünftiger Mensch gewesen. Niemals, so war sie sich sicher, hätte er ihre Freundschaft für ein Mädchen oder eine Frau aufgegeben. Aber was sonst konnte dahinter stecken?
Till sprach weiter. »Es hat sich irgendwie so ergeben. Ich wollte dich nicht verletzen. Ich dachte, es wäre ok für dich, und dass auch du dir einen neuen Freundeskreis suchen würdest. Ich dachte, es würde nun jeder seinen eigenen Weg gehen.«
Till zuckte mit den Schultern. Mehr konnte er dazu nicht sagen, obwohl es so viel mehr zu sagen gegeben hätte. Für Sarah klang das alles eher nach einer Ausrede, auch wenn sie selbst keine Antwort hatte, worin das wahre Problem gelegen zu haben schien. »So wie es aussieht, hat das nicht so ganz geklappt.«
Energisch wischte sie sich eine der vielen Tränen weg und schaute auf die Straße. Auch Till schaute kurz weg, bevor er sie erneut ansah. »Ja, ich weiß. Ich hatte mir das alles anscheinend einfacher vorgestellt. Jedenfalls, wenn du magst, ich meine…« Till druckste herum, während Sarah gespannt darauf wartete, was er ihr nun versuchte, zu sagen.
»Ich weiß nicht, ob du es mitbekommen hast, aber ich werde nach den Ferien hier weiter auf die Schule gehen und werde auf dem Gymnasium mein Abitur machen.« Die Realschule, das Gymnasium und die dazugehörige Hauptschule bildeten gemeinsam ein Schulzentrum am Rande der Stadt. »Das heißt also, ich bleibe erst einmal noch ein paar Jahre hier im Ort. Ich weiß zwar nicht, was du nun nach der Schule machst, ich nehme an, etwas im Handwerk, dann würde ich mich freuen, wenn wir uns ab und an vielleicht doch mal sehen könnten. Katja wird sicher nichts dagegen haben.«
Es hatte ihn sehr viel Überwindung gekostet, aber es musste sein. Er wollte Sarah wieder öfter sehen, ganz gleich, was Katja dazu sagen würde. In all den Jahren hatte Sarah ihm so sehr gefehlt, dass er ständig an sie dachte und sich wünschte, sie wären zumindest noch befreundet. Es war sehr dumm von ihm gewesen, ihre Freundschaft zu beenden, weil er tiefere Gefühle für sie hegte und dachte, er würde nicht damit zurechtkommen, wenn er weiterhin mit ihr befreundet blieb. Aber ganz ohne Sarah ging es ihm so schlecht, dass er sich gar nicht vorstellen konnte, dass es schlimmer wäre, wenn er wieder mit Sarah befreundet blieb und sie regelmäßig traf.
Er wollte ihre Freundschaft wieder aufleben lassen. Auch wenn ihm klar war, dass es sicher nie wieder so werden würde, wie früher, so war das immerhin besser, als sich ständig nach Sarah zu sehnen und sich zu fragen, was sie wohl gerade macht. Vielleicht konnte er seine wahren Gefühle für sie doch irgendwie im Zaum halten und sich an ihrer Freundschaft erfreuen.
Sarah musste einen Moment nachdenken. Alles war so verworren gewesen. Erst hatte er den Kontakt abgebrochen, als Erklärung schiebt er »die geteilten Interessen« und seine Freundin vor, dann steht er plötzlich mit Tränen in den Augen vor ihr und bittet sie um Verzeihung und um ihre Freundschaft?
Sarah wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Sie war so wütend auf ihn gewesen. Er hatte sie so sehr verletzt. Selbst wenn er von ihren wahren Gefühlen nichts wissen konnte, so hatte er doch trotzdem ihre Freundschaft zerstört, ein Band, das in der Regel viel stärker ist als die Liebe zwischen zwei Menschen. Sie dachte darüber nach, was sie nun wirklich wollte. Einerseits freute sie sich riesig auf die Ausbildung, die sie recht gut ablenken würde. Andererseits fehlte ihr die Freundschaft zu Till. Aber konnte sie ihre Gefühle unterdrücken und vor ihm verheimlichen? Würde sie damit umgehen können, wenn seine Freundin doch eifersüchtig auf sie werden würde? Aber was am wichtigsten war: Konnte sie Till verzeihen? Ihre Tränen waren in der Zwischenzeit getrocknet und auch Till schien gefasster und irgendwie auch erleichtert, nachdem er sie gefragt hatte, ob sie bereit war, ihre Freundschaft wieder aufzunehmen.
»Ja, ich weiß, dass du dein Abitur machst und dann studieren willst. Meine Mutter hat es mir erzählt, sie weiß es von deiner Mutter. Du hast Recht, ich habe mir einen handwerklichen Beruf ausgesucht. Ich möchte gerne Friseuse werden und später vielleicht mal meinen eigenen Salon eröffnen, wenn ich es schaffen sollte, Friseurmeisterin zu werden. Mal sehen, was die Zukunft für mich bereit hält. Meinen Ausbildungsplatz habe ich übrigens im Salon »Haarscharf« in der Stadtmitte, also werde ich auch noch zumindest für die nächsten drei Jahre bei meinen Eltern wohnen bleiben und hier im Ort sein.«
Ein leichtes Lächeln zierte Tills Gesicht. Immerhin etwas. Er hatte schon befürchtet, sie könnte wegziehen und er würde sie vielleicht nie wieder sehen. Doch wie stand es nun um ihre Freundschaft? Hatte er eine Chance, wieder eine Verbindung zu Sarah aufzubauen? Er konnte nur ahnen, wie sehr er sie verletzt haben musste und er konnte sich vorstellen, dass es für sie schier unmöglich sein musste, ihm zu verzeihen und sich ihm wieder ein Stück weit zu öffnen.
»Allerdings werde ich dann auch wenig Zeit haben. Aber sicher spricht nichts dagegen, wenn wir ab und an mal telefonieren oder uns sehen.«
Sarah wollte es erst einmal langsam angehen lassen und sehen, was die Zeit mit sich bringt und wie es bis dahin um ihre Gefühle für Till stand, obwohl sie sich sicher war, dass eine Freundschaft mit ihm nicht leicht für sie werden würde, zumal sie ihn sicher auch oft zusammen mit Katja sehen würde, was nicht gerade angenehm für sie war. Aber schließlich hatte sie sich in den letzten Jahren immer wieder gewünscht, sie hätten ihre Freundschaft aufrecht erhalten können. Vielleicht wäre ein Neustart gar nicht so schlecht.
Till freute sich sehr darüber, auch wenn es nur ein Tropfen auf den heißen Stein war. Er wollte sich darum bemühen, wieder ein engeres Band zu Sarah knüpfen zu können.
»In Ordnung. Schön. Dann werde ich dich in den Ferien vielleicht mal anrufen oder so?« Sarah willigte ein und überließ es ihm, den ersten Schritt zu tun. Das war er ihr schuldig gewesen.
»Dann wünsch ich dir trotzdem für deine Ausbildung alles Gute.«
Wieder waren es die gleichen Worte, die vor einigen Jahren den Abschied bedeutet hatten.
»Danke. Ich wünsch dir für deine Jahre auf dem Gymnasium und dein Abitur auch alles Gute. Ich nehme an, wir sehen uns oder hören voneinander.«
Sie lächelten sich gegenseitig an, mit einer Erleichterung in den Augen. Noch unbeholfen standen sie sich nun gegenüber mit der Zuversicht, dass sie eines Tages vielleicht doch wieder enge Freunde werden könnten. Da kam Till auf sie zu und nahm sie fest in die Arme. Erleichtert erwiderte sie seine Umarmung. Es fühlte sich an, als hätte sich nach langer Zeit ein Knoten in ihrem Herzen gelöst.
Gott, wie sehr hatte sie das vermisst und sich all die Jahre nach seiner Umarmung gesehnt! Sie wünschte, sie könnte ihn ewig festhalten.
Ihm ging es ebenso. Er hatte nun das Gefühl, etwas Verlorengegangenes endlich wiedergefunden zu haben. Während er Sarah umarmte, sah sie etwas weiter hinten Katja vor der Tür zur Halle stehen. Katja hatte die beiden wohl beobachtet, aber Sarah wusste nicht, wie lange sie schon dort gestanden hatte. Immerhin konnte sie unmöglich gehört haben, was Sarah und Till miteinander besprochen hatten, dazu stand sie zu weit weg. Sarah hoffte, dass Till nun keinen Ärger bekommen würde. Aber selbst wenn, dann war es sein Problem, schließlich war er von sich aus auf Sarah zugekommen.
Sarah löste sich aus seiner Umarmung und schon kamen auch schon Sarahs Eltern zur Tür heraus. Es war soweit, sie machten sich auf den Heimweg. Sarah verabschiedete sich von Till und lief mit ihren Eltern davon. Sarahs Eltern hatten die Umarmung gesehen und hatten auch nicht weiter nachgefragt, sondern waren lediglich froh, dass Sarah und Till sich ausgesprochen zu haben schienen. Dadurch, dass Sarah nicht mehr zurückblickte, konnte sie die nachfolgende Szene nicht mitbekommen und wurde vorerst in dem Glauben gelassen, Till wäre weiterhin in festen Händen.
Till lief auf Katja zu, die mit verschränkten Armen und verärgerter Miene noch immer vor der Eingangstür stand. »Wer war das denn?« Till wusste, dass er ihr nun viel zu erklären hatte. »Lass uns in Ruhe reden, ja?« Sie liefen ein paar Meter nebeneinander her. »Sarah ist eine alte Freundin von mir. Wir kennen uns schon seit wir ganz kleine Kinder waren. Wir wohnen noch immer nah beieinander, sie wohnt schräg gegenüber. Unsere Eltern sind miteinander befreundet und wir waren es auch für sehr lange Zeit. Wir besuchten den selben Kindergarten und die selbe Grundschule, nun die selbe Realschule. In unserer Freizeit haben wir auch viel gemeinsam unternommen. Unsere Freundschaft war sehr, sehr eng und wir dachten, nichts könnte sie zerstören.« Till stockte. Sollte er ihr wirklich alles erzählen? Katja hatte aufmerksam zugehört. »Aber anscheinend ging da wohl was schief.«
»Na ja, so kann man das auch nicht sagen. Wir hatten einfach mit der Zeit andere Interessen, andere Freunde,… es hat sich einfach irgendwie verlaufen.« Katja blieb stehen und sah ihm in die Augen. Nun war wohl der Moment gekommen, den sie so lange hinaus geschoben hatte weil sie gehofft hatte, alles würde irgendwann gut werden.
»Du liebst sie, nicht wahr?«
Entgeistert sah Till Katja an. Er war doch mit Katja zusammen, er hatte eine Beziehung mit ihr. Er hatte den Kontakt zu Sarah bewusst abgebrochen, um seine Gefühle in den Griff zu kriegen. Aber anscheinend war auch das schief gegangen. Katja schien eine sehr gute Menschenkenntnis gehabt zu haben.
»Ich habe schon immer geahnt, dass du oft an ein anderes Mädchen denkst. Ich hatte oft das Gefühl, dass deine Gefühle nicht mir galten. Ich bin bei dir geblieben weil ich gehofft hatte, ich könnte dir helfen, aber ich bin nicht in der Lage, jemandes Gefühle zu lenken.«
Till sah sie an. Sie hatte es also die ganze Zeit geahnt und war trotzdem mit ihm zusammen geblieben. Wie musste sie sich nur gefühlt haben? In einer Beziehung zu sein und zu wissen, dass sie nicht von ganzem Herzen geliebt worden war? Katja war der besorgte Gesichtsausdruck nicht entgangen. Sie legte Till sanft eine Hand auf seinen Arm.
»Mach dir keine Sorgen. Es ist schon ok. Ich war trotzdem glücklich mit dir und hatte eine sehr schöne Zeit.« Das war wohl das Ende ihrer Beziehung. Auch, wenn es Till sehr leid tat, tat es ihm nicht sehr weh. Es war für beide in Ordnung, und Till hatte festgestellt, dass Katja mit ihren fast siebzehn Jahren schon sehr reif war. Andere Mädchen heulten nach einer Trennung wochenlang herum und heckten Rachepläne aus oder hatten Selbstmordgedanken.
Katja aber trug es mit Fassung und hatte sehr viel Verständnis für Till gehabt. Sie unterhielten sich noch eine Weile über die vergangene Zeit und über Tills Freundschaft zu Sarah. Nun hatte er sein Geheimnis doch nicht länger für sich behalten können und er bat Katja eindringlich, niemandem etwas davon zu erzählen. Till hatte in Katja zwar keine Liebe, aber dafür eine gute Freundin gefunden.
Sie liefen zurück zur Festhalle und beschlossen, weiterhin befreundet zu bleiben. Und wieder gingen ihm diese Worte durch den Kopf, die er nun erneut aussprechen musste.
»Ich danke dir von Herzen für alles, Katja. Ich wünsch dir alles Gute.«
»Ich danke dir auch für die schöne Zeit und wünsche dir auch alles Gute. Ich wünsche dir, dass alles so läuft, wie du es dir vorstellst. Dass du und Sarah bald wieder enge Freunde sein könnt und, falls du das möchtest, vielleicht doch eines Tages mehr aus euch werden kann. Vielleicht findest du irgendwann den Mut, ihr alles zu erzählen, so, wie du es mir gerade erzählt hast. Es könnte sein, dass du ein Leben lang unglücklich bist, wenn du ihr nicht erzählst, was sie dir wirklich bedeutet.«
Vielleicht hatte Katja recht, aber Till war gerade erst dabei, sich Sarah wieder ein Stück anzunähern, und das wollte er auf keinen Fall ein weiteres Mal vermasseln.