Читать книгу Die Aussenseiter und die Rache des Poltergeists - Nicole Fünfstück - Страница 4
ОглавлениеKapitel 1• Tennis und andere Probleme
Als ich nach Hause kam und in die Wohnung trat, beschlug meine Brille dermaßen, dass ich sie abnehmen musste, damit ich etwas sehen konnte. Ein Grund mehr, den Winter zu hassen. Kälte war überhaupt nicht mein Ding. Ebenso wenig wie heftige Wärme, wenn ich es mir richtig überlegte. Ich war kein Mensch für Extreme, sondern eigentlich eher der mittelmäßige, laue, langweilige Typ. Eigentlich. Ich legte die Brille auf unseren zitronengelben Schuhschrank und wehrte Kleine, meine Katze, ab, die mich überschwänglich begrüßte, was mich vermuten ließ, dass meine Mutter nicht zuhause war. Seit ich wusste, dass es Dinge gab, die sich durch geschlossene Fenster, Türen und Wände nicht aufhalten ließen, war ich zwar nicht gerne alleine in der Wohnung, doch heute war es mir sogar recht. Ich hatte keine Lust, Rede und Antwort zu stehen. Außerdem gewöhnte man sich an alles.
Meine Mutter war vermutlich noch im Museum. In ein paar Tagen sollten die magischen Artefakte ausgestellt werden, die man nach dem Abriss des Thorstensen Hauses, in dessen Kellerräumen gefunden hatte. Gleichwohl meine Mutter es inzwischen so einrichtete, dass sie abends rechtzeitig zu Hause war, um zu kochen, war ich mir da heute nicht so sicher. Je näher die Eröffnung der Ausstellung rückte, desto nervöser wurde sie. Obwohl nur klein, war es doch die erste Ausstellung, die sie organisierte, seit wir hierher gezogen waren. Einige persönliche Besitztümer von Cecile von Kastanienburg, geborene Schönbrunn, die der Altgraf von Kastanienburg kurz vor seinem Tod dem Museum gestiftet hatte, würden ebenfalls ausgestellt werden. Da das Thorstensen Haus früher im Besitz der von Kastanienburgs gewesen war, fand meine Mutter, dass dadurch alles prima zusammenpasste. Was vollkommen richtig war, denn auch die magischen Artefakte hatten Cecile gehört. Das wusste meine Mutter allerdings nicht.
Cecile von Kastanienburg war die erste Wächterin unserer Stadt gewesen, mit einem besonderen Gen geboren, welches es ermöglichte, dunkle Wesen aufzuspüren und zu bekämpfen. Allerdings hatte Cecile es vermasselt. Bei dem Versuch, ihre Fähigkeiten zum eigenen Vorteil zu nutzen, hatte sie ungewollt einen Dämon erschaffen, und obwohl sie ihn am Ende zumindest hatte bannen können, war ihr der Wächterinnenstatus aberkannt worden. Ihr und all ihren Nachkommen. Und hier komme ich ins Spiel. Meine Urgroßmutter Carmen, ebenfalls eine Wächterin, war mit ihrem Mann lange nach Ceciles Degradierung in diese Stadt gezogen. Sie gründeten nicht nur unsere Familie, sondern Uroma Carmen vererbte mir auch das Gen der Wächter.
Ich zog die Handschuhe aus, stopfte sie in meine Jackentasche und bückte mich, um Kleine endlich ausgiebig zu streicheln, was mich heute zwar nicht in bessere Laune versetzen konnte, aber zumindest tauten dabei meine Finger wieder auf. Die Katze lag inzwischen auf dem Rücken und schnurrte laut und wie immer entlockte sie mir damit ein Lächeln. Nach einer Weile erhob ich mich und ging hinüber zum Wandschrank, um die Jacke aufzuhängen. Als ich ihn öffnete, stieg mir ein leichter Weihrauchduft in die Nase. Wahrscheinlich hatte meine Mutter etwas gesucht und dabei die Kiste mit der Weihnachtsdeko geöffnet, die hier, bereits seit Tagen, auf ihren Einsatz wartete, obwohl es bis zum ersten Advent noch eine Woche hin war.
Der Keller des Thorstensen Hauses kam mir in den Sinn. Auch hier hatte es stellenweise nach Weihrauch gerochen. Ich schauderte. Niemand außer meinen Freunden Noah Ahadi, Jo Dräxler und mir wusste, dass sich in dem Gang, der einen der Kellerräume mit dem Anwesen der von Kastanienburgs verband, ein verbotenes Tor befunden hatte, ein Nebenprodukt von Ceciles Experimenten. Nachdem Ceciles Dämon unbeabsichtigt von mir befreit worden war, hatte er Kinder ermordet und im Keller des Thorstensen Hauses zum ersten Mal versucht, auch uns umzubringen. Zum Schluss hatten wir ihn allerdings besiegt. Um ihn zu erledigen, waren Jo, Noah und ich gezwungen gewesen, um Mitternacht auf einem Friedhof zu sein. Leider hatten wir es nicht geschafft, ihn zu vernichten, ohne dabei selbst verletzt zu werden und waren im Krankenhaus gelandet. Das war unseren Eltern natürlich nicht verborgen geblieben und so war herausgekommen, dass wir sie belogen und die Nacht nicht, wie behauptet, als Gäste bei Sylvia von Kastanienburg verbracht hatten. Ich verstand bis heute nicht, wie sie überhaupt hatten glauben können, dass Sylvia uns wie ihresgleichen behandelte, aber das lag wohl daran, dass sie Sylvia nicht kannten. Jedenfalls hatten unsere Eltern, die natürlich nichts von dem wahren Grund unserer „Friedhofsmutprobe“ wussten, uns daraufhin mit einem sehr ausgedehnten Hausarrest bedacht.
Meine Mutter hatte mir vor einiger Zeit angeboten, diesen aufzuheben, wenn ich mich zur Aufnahmeprüfung für die Tennismannschaft unserer Schule anmeldete. Als würde es nicht reichen, dass ich Sylvia von Kastanienburg, die Mannschaftskapitänin, täglich im Unterricht ertragen musste. Ich hatte mich ziemlich lange geweigert, doch gestern hatte meine innere Wächterin, der Teil von mir, den ich erst hören konnte, seit ich herausgefunden hatte, dass ich eine Wächterin war, darauf bestanden. Während unseres Gefechts auf dem Friedhof war nämlich ein heftiges Gewitter niedergegangen und das konnte nur bedeuten, dass ein neues, mächtiges schwarzes Wesen in unsere Dimension eingedrungen war. Ich musste es also finden und vernichten, was aber unmöglich war, wenn ich die Wohnung nicht verlassen durfte. Deshalb hatte ich mich heute Nachmittag zähneknirschend zum Tennisclub begeben. Dem Wesen war ich dadurch natürlich keinen Schritt näher gekommen. Rein theoretisch hatte ich die Fähigkeit, dunkle Wesen zu erkennen, aber die musste ich zuerst trainieren und mein erster Dämon, der von Cecile erschaffene Kindermörder, hatte sich mir von selbst gezeigt. Daher hatte ich bis jetzt keine Möglichkeit, mich im Aufspüren zu üben. Es wurde also Zeit.
>Wohl wahr<, meldete sich die Wächterin zu Wort. >Und hör auf, so ein Drama aus dem Beitritt zum Tennisteam zu machen! Du spielst wesentlich besser als Sylvia. Und das weißt du auch.<
»Ja«, erwiderte ich. Wenn uns niemand zuhörte, konnte ich ihr in normaler Lautstärke antworten, ohne wie eine Irre zu wirken, die Selbstgespräche führte. »Und dafür wird sie mich nicht gerade lieben. Seit ihr klargeworden ist, dass Noah es vorzieht, mit Jo und mir befreundet zu sein, ist ihre Zunge noch spitzer geworden.«
>Dann wird es Zeit, dass du etwas dagegen tust, findest du nicht?<, fragte die Wächterin genervt.
Sie hatte natürlich recht, doch bevor ich mich Sylvia entgegenstellte, jagte ich lieber ein weiteres dunkles Wesen. Aber selbst das ging gerade nicht, denn dafür brauchte ich die Hilfe meiner Freunde und Jo hatte immer noch Stubenarrest. Ich vermutete, dass Frau Dräxler, Jos Mutter, überhaupt nicht damit klarkam, dass ihr gehbehinderter Sohn, der bisher seine Freizeit lesend auf seinem Bett verbracht hatte, mit einem Mal nachts auf Friedhöfen abhing. Da sie außerdem Noah und mir verbot, Jo zu besuchen, ging ich davon aus, dass sie uns die Schuld an Jos Wandel und der nächtlichen Aktion gab. Ganz Unrecht hatte sie da nicht. Ich konnte zwar nichts dafür, dass ich den Dämon nur um Mitternacht und auf dem Grab seines ersten Opfers hatte vernichten können, aber ohne mich wäre Jo erst gar nicht auf Dämonenjagd gegangen. Er hatte zwar eine große Klappe, doch er war, wie er selbst gesagt hatte, immer etwas knapp an Freunden gewesen, mit denen er Blödsinn hätte anstellen können. Und dann waren Noah Ahadi, der mit seinen Eltern aus Afghanistan geflüchtet war, und ich in seine Klasse gekommen und sofort zum neuen Angriffsziel der Klassenschläger geworden. Zusammen mit Jo, der ganz oben auf ihrer Abschussliste stand, hatten wir uns bereits am ersten Tag gegen sie verteidigen müssen. Das war der Beginn unserer Freundschaft gewesen.
Kleine riss mich aus meinen Erinnerungen. Sie hatte sich in einen Wollschal verwickelt, der am Boden des Schranks lag und versuchte, sich nun mit allen Mitteln daraus zu befreien. Ich bückte mich, zog ihre Krallen aus den Maschen und legte die zappelnde Katze frei. Kopfschüttelnd scheuchte ich sie aus dem Schrank, besah mir den Schaden am Schal, der zwar etwas gerupft aussah, aber meiner Meinung nach noch tragbar war, und schloss die Schranktür. Nicht ohne Kleine, die einen zweiten Angriff plante, mit dem Fuß daran zu hindern wieder in den Schrank zu klettern.
Als Kleine aufgab und entspannt Richtung Küche und Futternapf sprang, atmete ich erleichtert auf. Mir war gar nicht aufgefallen, wie verkrampft ich gewesen war. Jedes Mal, wenn ich unsere Wohnung betrat, rechnete ich unbewusst mit dem Schlimmsten, denn ich hatte hier mehrmals Begegnungen mit der dunklen Art gehabt und ich entspannte mich erst, wenn Kleine keinen Grund zur Sorge zeigte. Die Katze war zwar erst knapp ein Jahr alt, aber trotzdem der perfekte Dämonendetektor. Wenn für sie alles in Ordnung war, dann war es das für mich auch. Ich schickte ein Dankgebet an denjenigen, der Kleines Wege mit den meinen verknüpft hatte. Kurz nachdem wir hierhergezogen waren, hatte sie maunzend vor der Haustür gesessen. Ein Fellball, erst ein paar Wochen alt, und es war unmöglich gewesen, sie nicht sofort zu lieben. Meine Mutter hatte mir erlaubt sie zu behalten, damit ich nach der Scheidung und dem Umzug in diese Stadt nicht so alleine war.
Ich zog die Schuhe aus, stopfte sie in den Schuhschrank und ging durch den Flur zu meinem Zimmer. Die Tür war nur angelehnt und obwohl das Schutzamulett, das ich an einer Kette um den Hals trug, nicht warm wurde, zog ich es unter meinem Pullover hervor, um einen Blick darauf zu werfen. Prima, es leuchtete nicht. Es war also wirklich alles in Ordnung. Während ich das Amulett zurück an seinen Platz gleiten ließ, fiel mein Blick auf die Innenfläche meiner rechten Hand. Eine glänzende runde Narbe, etwa so groß wie ein Tischtennisball, prangte dort. Sie stammte von dem dämonischen Samenkorn, das ich auf dem Friedhof versehentlich ohne Handschuhe berührt hatte. Inzwischen war sie zwar verheilt, doch es hatte lange gedauert, bis es so weit gewesen war. Magische Narben entzogen sich anscheinend der modernen medizinischen Erkenntnisse.
Ich hatte mir gerade eine Scheibe Brot mit Leberwurst gemacht, als mein Handy klingelte. Es war Jo.
»Hallo Fremder.« Ich hievte mich auf unsere Kücheninsel und biss in mein Brot.
Jo ignorierte den Gruß und legte gleich los: »Vulkanchen, du glaubst nicht, was gerade passiert ist!«
Ich verzog das Gesicht. Jos Spitzname für mich resultierte aus seinem unerschütterlichen Glauben daran, dass in mir ein Vulkan schlummerte und obwohl ich mich inzwischen daran gewöhnt hatte, fand ich ihn immer noch nicht berauschend.
Bevor ich dazu kam, etwas zu sagen, sprach Jo bereits weiter: »Als ich vorhin mit meiner Mutter in der Stadt gewesen bin, haben wir Pater Daniel getroffen. Er hat mich begrüßt und dann nach dir und Noah gefragt. Als ich ihm sagte, dass ich immer noch Hausarrest hätte, hat er es mit ein paar gut gewählten Worten geschafft, meine Mutter davon zu überzeugen, dass sozialer Einsatz viel besser ist, als Hausarrest. Und dann hat er nebenbei fallen lassen, dass eine Bekannte von ihm dringend jemanden bräuchte, der ihr hilft, Bücher zu katalogisieren. Rate mal, wer diese Bekannte ist! Vulkanchen, ich bin fast frei! Der Hausarrest ist für die beiden Tage aufgehoben, an denen ich Mathilde helfe, ihre Bücher zu ordnen. Jetzt musst du dich nur noch im Tennisclub anmelden und wir können wieder loslegen.«
Ich lächelte. Pater Daniel wusste nicht nur, dass ich eine Wächterin war, sondern hatte uns auch schon mehrfach geholfen. Und Mathilde? Mein Lächeln wurde noch breiter und ein warmes Gefühl breitete sich in mir aus. Mathilde war eine Freundin von Pater Daniel, das stimmte, aber sie war auch so viel mehr. Sie war die Hüterin des Wissens, und bis jetzt hatte noch jede Wächterin der Stadt den Weg zu ihr gefunden. In ihrem Buchladen, versteckt in einem Turm, der innen höher war als außen, befand sich der Raum der Bücher. Seine Wände waren mit gefüllten Bücherregalen bedeckt, die bis fast unter die Decke reichten, und es gab dort einen magischen Karteikasten, der mit Hilfe von Querverweisen zu den Büchern jede Frage beantwortete, die eine Wächterin oder ihre Helfer haben konnten. Plötzlich hatte ich den dringenden Wunsch, das alles wiederzusehen. Wir waren viel zu lange nicht mehr dort gewesen.
»Vulkanchen?« Jos Stimme holte mich zurück in die Wirklichkeit.
»Ich habe mich schon angemeldet, direkt nach der Schule.« Ich fuhr fort, bevor Jo etwas erwidern konnte: »Und ich frage mich, ob du Pater Daniel auch dann begegnet wärst, wenn ich es nicht getan hätte.«
»Du meinst, es geht wieder los?«
Ich konnte sowohl Aufregung als auch Unbehagen in Jos Stimme hören.
»Nichts passiert zufällig«, erinnerte ich ihn. »Ich glaube, durch den Entschluss weiterzumachen, habe ich alles wieder in Schwung gebracht. Wenn ich nämlich ganz ehrlich bin, war ein Grund für meine Weigerung, mich im Tennisclub anzumelden, dass ich mich so keinem neuen Wesen stellen musste. Der Hausarrest hat es verhindert.«
>Hört, hört!<, ließ sich die Wächterin vernehmen.
Ich ignorierte sie und sprach weiter: »Es ist, wie Domino spielen. Der erste Stein bringt alles ins Rollen.«
»Und da ist sie wieder, die Gänsehaut der Vorahnung, die ich so vermisst habe.« Jo seufzte dramatisch.
Ich musste lachen. »Ich werde mal Noah anrufen und ihm mitteilen, dass morgen der Buchladen auf dem Programm steht, nur für den Fall, dass er was anderes vorhat.«
»Ach komm, Vulkanchen, was soll Noah schon vorhaben?«, erkundigte sich Jo. »Der wird begeistert sein, dass endlich wieder etwas Interessantes ansteht!«
Ich war mir da nicht so sicher. Im Gegensatz zu mir, die mit einer dicken Brille und fest betonierter Zahnspange gestraft war, war Noah, mit seinen schwarzen Haaren und leicht schrägen, dunklen Augen, attraktiv. Und im Gegensatz zu Jo, der durch seine Gehbehinderung keinen Sport treiben konnte, war Noah fit wie ein Turnschuh. Er hatte sich für die Fußballmannschaft der Schule qualifiziert, was Jo entweder vergessen oder verdrängt hatte, und es war somit durchaus möglich, dass er bereits etwas vorhatte. Zumal Sylvia nicht lockerließ und immer wieder versuchte, ihn von uns wegzulotsen. Noah hatte zwar versichert, dass er nicht daran interessiert war, zum Fan Club von Sylvia überzulaufen, aber ich verspürte einen leisen Stich bei dem Gedanken, dass es ihr vielleicht doch noch gelingen könnte, ihn in ihre Fänge zu bekommen.
Das alles sagte ich Jo allerdings nicht, sondern fragte stattdessen: »Wann sollst du im Buchladen sein?«
»Gegen vierzehn Uhr. Meine Mutter fährt mich nach dem Mittagessen hin.«
»OK.« Ich streichelte Kleine, die zu mir auf die Insel gesprungen war, um an mein Brot zu gelangen, übers Köpfchen und schob sie ein Stück von mir. »Ich sage Noah Bescheid. Wir sehen uns morgen in der Schule.«
Jo verabschiedete sich und wir legten auf. Auch wenn es schien, als ob wieder Gefahr im Verzug war, hatte sich meine Laune deutlich gebessert.