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Kindheitserinnerungen

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Mein Name ist Dorothea, oder auch Doreen oder auch … Ich bin 1936 in Heidelberg geboren. Meine Eltern hatten jüdische Vorfahren, waren aber beide christlich getauft. Ich selbst hätte das Alter von vier Jahren beinahe nicht überlebt. Doch ich hatte Glück. Nur schemenhaft und mit Unterbrechungen kann ich mich an diese ersten Jahre meines Lebens erinnern. Ich erinnere mich daran, dass ich gerne Bilderbücher ansah. Ich erinnere mich auch daran, dass mein Vater eines Nachts plötzlich verschwunden war, bald darauf auch meine Mutter. Ich sehe mich selbst in dieser Zeit in einem Waisenhaus. Ein einziger Satz meiner Mutter aus diesen Jahren hat sich mir bis heute eingeprägt: “Fahre nie mit fremden Menschen mit!”

Dieser Satz war es, der mein Leben zunächst in Gefahr bringen sollte, es mir zu guter Letzt aber rettete. Eines Abends kamen die Soldaten in unser Waisenhaus. Wir Kinder tranken gerade Kakao und einige von uns hatten ganz schokoladenverschmierte Münder. Die Soldaten schlugen, schubsten und traten, sowohl die Betreuerinnen als auch uns Kinder. Und dann, mitten in der Nacht, wurden wir auf einen großen Lastwagen geladen. Ich, ein kleines zierliches Mädchen, saß rechts außen am hinteren Ende des Lasters und erinnerte mich an die Worte meiner Mutter: “Fahre nie mit einem Fremden mit!”

Als der Wagen losfuhr, ließ ich mich deshalb seitlich herunterfallen. Ich landete unsanft neben dem Bordstein. Dann hörte ich, wie der Wagen stoppte und schwere Schritte auf mich zukamen. Ich sah einen großen schwarzen Stiefel mit Nägeln vor meinem Gesicht und hörte gleichzeitig eine Männerstimme im badischen Dialekt rufen: “Lass gut sein, die Grott ist doch eh schon tot.”

Als ich wieder aufwachte, saß ich im Zug. Im Arm hielt mich eine ältere Frau, die mir liebevoll die Wangen streichelte. Mein Gesicht, mein Kopf, meine Glieder, ja mein ganzer Körper war verbunden oder in Gips gelegt. Ich hatte Schmerzen am ganzen Körper. Die alte Frau neben mir brachte mich an einen mir fremden Ort; wie ich im Nachhinein erfuhr, war es das kleine Städtchen Markolsheim im heutigen Elsass-Lothringen. Eine nette russische Ärztin nahm mich in ihre Obhut und behandelte meine Wunden. Ich konnte bleiben und fand mich wieder mit vielen anderen Kindern und Erwachsenen an diesem sicheren Ort. Ein alter Mann, der deutsch und französisch sprach, vermutlich ein Elsässer, erzählte mir in deutscher Sprache Geschichten und brachte mir das Lesen bei. Die Menschen, die Welt waren plötzlich wieder gut zu mir. Mit vielen anderen Kindern war ich in gepflegten Baracken mit Schlafräumen untergebracht, verletzte und nicht verletzte Kinder, zum Teil auch körperlich und geistig behinderte Kinder. In einer Baracke in der Nähe unserer Schlafräume gab es Toiletten und Duschen. Wir wurden gut versorgt, bekamen regelmäßig zu essen und konnten, soweit es uns möglich war, rund um die Baracken spielen. Ab und an gingen wir auch mit einer unserer drei Betreuerinnen in der Nähe an einem kleinen Fluss spazieren. Nicht weit von unserer Anlage war ein Lazarett, in dem verletzte Soldaten behandelt wurden. Diejenigen, denen es schon etwas besser ging, verrichteten kleinere und größere Aufgaben auf unserem Gelände. Ein Name ist mir seit dieser Zeit fest in meinem Gedächtnis eingebrannt. Es ist der des Offiziers Peter Großkreuz. Schon damals als Kind fühlte ich, dass dieser Mann uns auf irgendeine Art und Weise half und uns schützte – ob er dies offiziell oder inoffiziell tat, ich weiß es nicht. Ich kann mich nur daran erinnern, dass in regelmäßigen Abständen eine Kolonne von Lastwagen bei uns auf dem Gelände vorfuhr, die mit Lebensmitteln und anderen zum Leben notwendigen Dingen beladen waren. Der Erste, der beim Eintreffen der Lastwagen ausstieg, war grundsätzlich Offizier Peter Großkreuz. Und er war es auch, der schließlich bei unserer Abreise von diesem unseren sicheren Zufluchtsort mit dabei war.

Wir - viele, viele Kinder, jedes von uns in eine Decke gehüllt - und unsere drei geliebten Betreuerinnen wurden an einem kalten Tag auf zwei Lastwagen geladen. Wir gingen auf eine lange, nicht enden wollende Reise. Eines späten Nachmittags überquerten wir eine Brücke. Nur kurz nachdem der zweite LKW diese überquert hatte, beobachteten wir entsetzt, wie diese in die Luft flog. Verängstigt drängten wir uns noch enger aneinander. Über Wochen waren wir unterwegs. Immer wieder mussten wir warten, mal aufgrund von Straßensperren, mal wegen Tieffliegern. Wir hungerten und froren und warteten. Doch dann, irgendwann, fuhren wir auf ein großes Haus mitten im Wald zu, auf dem ‘Ferienheim’ stand. Hier durften wir aussteigen. Inzwischen weiß ich, dass die Brücke, die damals hinter uns explodierte, die Rheinbrücke war und das ‘Ferienheim’ im Badischen lag. Dort hielten die Lastwagen, uns wurde heruntergeholfen und wir wurden in das große Gebäude gelotst. Uns wurde Brot und heißer Kakao serviert. Dann legten wir uns, erschöpft und müde, doch gesättigt mit unseren dreckigen Kleidern in unsere warmen Federbetten. Am kommenden Morgen wurden wir das erste Mal nach Wochen gebadet und uns wurden die verlausten Haare geschoren – es war ein kleines Wunder. Wir planschten, sangen und jauchzten, immer zwei in einer Wanne.

In diesem Heim ging es uns Kindern wieder gut. Wir bekamen regelmäßig zu essen und alles war friedlich. Bald bekamen wir auch Schulunterricht. Unser Gebäude durften wir aber nur selten verlassen und wenn, war es uns nur für kurze Zeit erlaubt in eine bestimmte Richtung spazieren zu gehen, wobei wir uns leise verhalten mussten. Es kam mir so vor, als ob wir versteckt, geheim, unter dem Schutz einer unbekannten Person standen.

Nur wenige Tage nach unserer Ankunft kam eine Frau ins Heim und stellte sich als meine Mutter vor. Ich sah sie skeptisch an. Woher sie wusste, dass ich hier war, ich weiß es bis heute nicht. Sie brachte Kleidung mit, die sie aus alter Militärbettwäsche für uns Kinder genäht hatte. Und sie blieb als Hilfskraft für ein, zwei Wochen mit im Heim und half dort im Haushalt mit. Als meine Mutter habe ich sie aber nicht wirklich wahrgenommen; ich blieb ihr gegenüber distanziert und konnte keine nahe Beziehung zu ihr aufbauen, was auch daran lag, dass auch sie nicht wirklich den direkten Kontakt zu mir suchte. Sie war für mich wie eine der anderen Haushälterinnen des Heims.

Eines Tages zwischen Weihnachten und Neujahr wies uns unsere Hausmutter Madam Maria darauf hin, dass Frau Lisa, wie man meine Mutter nannte, uns wieder verließ. An einer Hintertür des Hauses verabschiedete sie sich von mir und ging hinaus ins Schneetreiben, wo sie nicht weit entfernt von einem bereits wartenden Mann abgeholt wurde. Noch an der Tür schenkte sie mir ein blaues Halstuch mit roten Mohnblumen. Doch ich mochte es nicht, es roch so seltsam.

Meine Mutter kam lange nicht wieder. Einmal kurz tauchte sie erneut auf und schenkte mir einen kleinen roten Ring mit einem goldenen Stein, dann verschwand sie wieder.

Irgendwann, an einem warmen Frühlingstag kamen eine ganze Reihe LKWs vorgefahren, Soldaten stiegen aus und kamen zu uns ins Heim. Die fremden Männer und Frauen in Uniform machten uns Kindern Angst. Unsere Betreuerinnen erklärten uns aber, dass nun der Krieg zu Ende sei und wir uns nicht mehr fürchten müssten.

Einer der Soldaten sprach Deutsch, alle anderen eine andere Sprache. Doch ich verstand sie. Diese Sprache war mir vertraut. Das war ein seltsamer, eigenartiger Moment für mich. Und ich verstand diese Fremden nicht nur, ich konnte ihnen auch in ihrer Sprache antworten. Erst später erfuhr ich, dass in den Jahren meiner frühesten Kindheit meine Eltern zu Hause untereinander und mit mir Englisch sprachen. Die Soldaten fragten mich: ‘Wer seid ihr?” “Wir sind Kinder”, antwortete ich ihnen, was die Männer und Frauen schmunzeln ließ. Zu unser aller Erleichterung waren sie sehr freundlich zu uns. Sie fragten mich, ob wir gerne Schockolade hätten und was wir sonst gerne essen. Dann brachten sie aus ihren Wagen Pakete mit den tollsten Köstlichkeiten und packten unsere Tische voll mit den unterschiedlichsten Lebensmitteln: Kakao, Schockolade, Milchpulver. Von diesem Tag an aßen wir wie die Fürsten. Jeden Abend kamen Jeeps mit Soldaten und brachten uns Lebensmittel. Alle wollten mit uns sprechen, um zu erfahren, wo wir herkommen. Unsere Betreuerinnen waren zurückhaltend und etwas misstrauisch, doch sie nahmen die angelieferten Lebensmittel an. Dann kam unerwartet auch meine Mutter wieder, und diesmal nahm sie mich einfach mit. Wir liefen lange, lange zu Fuß, einen ganzen Tag lang, dann fuhren wir ein Stück mit der Straßenbahn und kamen schließlich im Zentrum einer großen, zerstörten Stadt an. Meine Mutter erklärte mir, es sei Mannheim. Ich erinnere Ruinen, schrecklich zerstörte Häuser, Dreck und Staub. Durch die Stadt irrten viele Menschen, teils zu Skeletten abgemagert, teils mit all ihrem Hab und Gut auf dem Rücken, teils auch Kinder ohne Eltern. Wir hatten nichts zu essen. Ich, ein Mädchen, etwa neun Jahre alt, weinte. Ich konnte nicht verstehen, wieso mich diese Frau, die sich meine Mutter nannte, von einem so sicheren und geborgenen Ort, unserem Ferienheim, fortgeholt hatte.

Die nächsten Tage und Wochen kamen wir in verschiedenen Wohnungen bei Bekannten meiner Mutter unter. Überall waren viele Menschen in wenigen Räumen zusammengepfercht, nirgendwo konnten wir länger bleiben. Einige wenige Male schliefen wir sogar im Freien, in eine Ecke gekauert; oft gab es auch nicht genug zu essen. Des Nachts ließ mich meine Mutter oft alleine in den fremden Behausungen, in denen wir untergekommen waren.

“Ich war in einer Bar singen”, erklärte sie mir an den darauf folgenden Morgen, doch die ganze Wahrheit habe ich trotz meiner jungen Jahren errochen. Meine Mutter roch, nein, sie stank nach Männern, nach dreckigem Schweiß von Männern.

Eines Tages brachte sie mich schließlich, ohne genaue Erklärung, zurück ins Heim. Ich hatte das Gefühl, sie war unzufrieden mit mir und ich fühlte mich deshalb schuldig, war gleichzeitig aber heilfroh, wieder dort zu sein.

Weiterhin kamen oft, wie ich inzwischen wusste, amerikanische Soldaten vorbei, um uns mit Lebensmitteln zu versorgen. Eines Tages nahmen sie außerdem von jedem von uns Kindern ein Foto auf. Heute weiß ich, dass dies im Rahmen des UNRA Suchdienstes stattfand, einer Organisation des damaligen Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen. Unsere Portraits wurden mit dem Titel “Kind sucht seine Mutter” in allen großen Städten Deutschlands ausgehängt, in der Hoffnung, so Familienangehörige von uns auf uns aufmerksam zu machen. Eines Nachmittags kam tatsächlich eine alte, freundliche, doch sehr bestimmt auftretende Dame zu uns in den Speisesaal. Ihr folgte … meine Mutter. Mir stockte der Atem. Die alte Dame diskutierte mit meinen Betreuerinnen und stellte sich als meine Großmutter vor. Sie hätte mich auf einem der Bilder des UNRA Suchdienstes erkannt und nun wollten sie mich mitnehmen. Meine Betreuerinnen sahen meine Mutter verächtlich an: “Ach, wollen Sie sie jetzt doch wieder abholen?” Meine angebliche Großmutter betrachtete daraufhin meine Mutter zunächst verwundert, dann verärgert und streng. Die Art, wie diese Frau mit meiner Mutter umging, gefiel mir.

Als ich, die ich die ganze Szene aufmerksam von meinem Platz aus verfolgt hatte, gerufen wurde und schüchtern auf sie zuging, beugte sich die alte Dame zu mir herunter und umarmte mich herzlich. Sie nannte mich “mein Herzkirscherle” - und ich fasste Vertrauen zu ihr.

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