Читать книгу Laborratten - Niels Wedemeyer - Страница 4
ОглавлениеProlog
Sie wusste nicht, wie lange sie schon in ihrem am Straßenrand geparkten Wagen saß und durch den peitschenden Regen hinaus auf den Wendehammer am Rande des bewaldeten Abhangs starrte. An schönen Sonntagen parkten hier die zahllosen Autos der Ausflügler, die durch den weitläufigen angrenzenden Buchenwald spazieren wollten. Heute hingegen war dieser Ort trist und menschenleer. Das unablässige Trommeln der Tropfen auf dem Autodach verstärkte noch ihre Anspannung, die seit Tagen nicht weichen wollte.
„Er wird kommen“, versuchte sie sich zu beruhigen, „Sicher kommt er, denn er hat panische Angst.“ Das hatte sie am Telefon sofort gespürt, nachdem sie ihm heute Morgen eröffnet hatte, dass sie unumstößliche Beweise dafür in Händen hätte, das auch er frühzeitig von den katastrophalen Ergebnissen gewusst hatte und somit genauso des Betrugs schuldig war wie sie. Sie blickte auf die goldene Uhr, die er ihr in einem seltenen Anflug romantischer Gönnerhaftigkeit letztes Jahr geschenkt hatte. Er war bereits 15 Minuten zu spät.
Sollte er ihren Bluff doch durchschaut haben und sie nun endgültig im Stich lassen? Ihre schweißnassen Hände krallten sich um das Lenkrad, während sie erfolglos versuchte, zu verhindern, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten. Nun war also auch sie in den Wissenschaften gescheitert, wie so viele Geschlechtsgenossinnen zuvor. Ihr fiel unweigerlich der Artikel in einem Nachrichtenmagazin ein, wonach die Zahl der weiblichen Führungskräfte in den Biowissenschaften trotz hoher Studentinnenzahlen nach wie vor gering ist. 10 %, 20 %?
Und was sind das für Frauen, die sich diese Positionen im wahrsten Sinne erkämpft haben? Zumeist verhärmte Frauen wie sie, die mehr geopfert hatten, als ihnen lieb und bewusst war. Sofort kamen ihr wieder die vielen schmerzlichen Erinnerungen in den Sinn. Um sich von der größtenteils mittelmäßig begabten männlichen Konkurrenz abzusetzen, hatte sie um ein Vielfaches besser sein müssen, hatte härter und ausdauernder arbeiten müssen. Wie oft stand sie noch im Labor, während all die Kollegen ihren mannigfaltigen Freizeitbeschäftigungen nachgingen oder in ihr trautes Heim mit Frau und Kindern entschwanden. Sie hingegen hatte alle noch so hoffnungsvollen Beziehungen ausnahmslos ihrem einzigen Ziel geopfert: Sich in den Biowissenschaften durchzusetzen. Sie betrachtete sich im Rückspiegel und erkannte die tiefen Furchen um die Mundwinkel, die dieser Lebensweg ihr ins Gesicht gefressen hatte.
Das Handy auf dem Beifahrersitz piepte aggressiv. Wie in Trance hob sie es auf und starrte auf das kleine blinkende Display. BANK, stand dort in großen Lettern. Sie spürte, wie die Angst sie erfasste und ihr Herz zu rasen begann. Jedes weitere Piepen des Handys wurde ihr zur Qual, doch sie brachte nicht die Kraft auf, den Knopf mit dem roten Hörer zu drücken. Völlig klar. Man gibt ihr die alleinige Schuld an der Katastrophe, wenn nicht noch ein Wunder geschah. Obwohl er genauso beteiligt war wie sie, hatte er im Gegensatz zu ihr perfekt vorgesorgt und vermutlich bereits alle Spuren verwischt. Sie konnte seine Beteiligung leider nicht beweisen. Was sollte sie ihm also sagen, wenn er noch käme? Ihm drohen, ihn auf Knien anflehen, auf die schöne gemeinsame Zeit verweisen?
Ihre Gedanken wurden durch ein sich schnell näherndes Auto unterbrochen. Der große silbrige BMW fuhr bis zum Wendehammer und parkte unsanft am Seitenrand. Ihm entstieg ein kleiner dunkelhaariger Mann mit schütterem Bart, der sich den Kragen seines zu großen Trenchcoats hochklappte, während er sich nervös umblickte. Als er ihren Wagen erblickte, begann er nach anfänglichem Zögern langsam auf sie zuzugehen. Sie war nun auf unerklärliche Weise erleichtert, ihn zu sehen.
„Es wird alles gut“, versuchte sie sich einzureden, obwohl sich insgeheim Zweifel regten. Um nicht in den Regen hinaus zu müssen, startete sie den Wagen und fuhr ihm im Schritttempo entgegen. Abrupt blieb er stehen, steckte lässig die Hände in die Manteltaschen und schaute sie an. Seine Nervosität schien nun gänzlich von ihm gewichen zu sein. Sein regungsloses Gesicht verzog sich nun allmählich zu einem Lächeln. Aber es war ein Lächeln, das sie bei ihm nicht erwartet hatte. In diesem Lächeln war keinerlei Zuneigung zu sehen, noch nicht einmal Freundlichkeit. Sie meinte in diesem Lächeln vielmehr seinen Triumph über sie zu erblicken. Mehr noch war dieser Blick voll eiskalter Gehässigkeit.
„Du Schwein“, entfuhr es ihr, während sie ohne weiter zu überlegen das Gas mit aller Kraft durchdrückte. Ihr Kleinwagen nahm dennoch erst spät Fahrt auf. Vielleicht erklärte dies, warum er so spät begriff. Sie registrierte mit einiger Freude die plötzliche Furcht in seinem Gesicht und sah, wie er linkisch in Richtung seines Autos rannte. Sie folgte unerbittlich. Er entschied sich nun hastig um und lief stolpernd in Richtung Wald. Mit einiger Genugtuung hörte sie ihn schreien. Als er den hohen Bürgersteig erreicht hatte, war sie nur noch wenige Meter entfernt. Ihre Augen waren weit geöffnet, das Gesicht zu einer jubelnden Fratze verzerrt, als der Wagen mit einem gewaltigen Knall schräg gegen den Bordstein krachte. Aber anstatt ihn zu überwinden, schrammte er wie auf unsichtbaren Schienen geführt geräuschvoll an ihm entlang Richtung Abhang. Wie in Zeitlupe sah sie sein dümmlich erstauntes Gesicht, die geweiteten Augen, den offenen Mund, an sich vorbeiziehen, bevor der Wagen mit allen vier Reifen vom Boden abhob. Sie spürte den ungeheuren Druck in ihrem Magen und schaute mit grauenvollem Unverständnis den schnell näher kommenden Abhang hinunter.
„Es ist Aus. Alles vorbei“, sagte eine fremde Stimme in ihrem Kopf. Mit einer unfassbaren Wucht, die ihr gänzlich die Sinne nahm, setzte der Wagen auf dem steinigen Waldboden auf und nahm erneut Fahrt auf. Sie starrte wie paralysiert auf den mannshohen Findling am Ende des Hangs, während duzende Baumstämme an ihr vorbei zu fliegen schienen. Als der Wagen gegen einen flachen Baumstumpf auffuhr, verlor er erneut die Bodenhaftung, drehte sich zweimal in der Luft, bevor er mit einem fürchterlichen Krachen auf den Findling prallte. Obwohl noch heller Tag, wurde es augenblicklich tiefste Nacht.