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Kapitel 1 – Die Laborratten

Auf dem Labortisch lag mit offenen Augen friedlich dösend eine ohnmächtige Ratte. Im Unterschied zu normalen Ratten war dieses Exemplar auf geradezu krankhafte Weise hager. Durch das schüttere Fell zeichneten sich deutlich die Rippen ab, die Wangen waren eingefallen und die Augen traten bizarr hervor. Kaum eine Armlänge von der ohnmächtigen Ratte entfernt stand eine Art Miniaturguilloutine, die auf ihren grausigen Einsatz wartete. In dem kleinen Raum, der vorwiegend für die Tötung von Labortieren und deren Präparation benutzt wurde, stand ein groß gewachsener blonder Mann im nicht mehr ganz so weißen Kittel, der das Fläschchen mit dem Betäubungsmittel Isofluran im Lösungsmittelschrank verstaute. Er wollte sich gerade wieder der betäubten Ratte zuwenden, als mit einem weiten Schwung die Tür geöffnet wurde. Herein kam hektischen Schrittes eine kleine ältere Dame mit einer Laborflasche, in der eine milchige Flüssigkeit schwappte.

„Dr. Weinert, das EDTA will sich nicht lösen“, sagte sie aufgebracht.

„Das kann nicht, wenn Sie genau nach meiner Vorschrift vorgegangen sind“, antwortete der Wissenschaftler ruhig, während er die Flasche, die er dicht vor seinem Gesicht hin und herschwenkte, mit leicht zugekniffenen Augen betrachtete.

„Ich habe mich genau an ihre Vorschrift gehalten“, entgegnete sie beleidigt und übergab dem Mann im weißen Kittel einen kleinen Notizblock. Er hatte so seine Zweifel, war seine Technische Assistentin Frau Schrepper doch für ihre Flüchtigkeitsfehler berüchtigt. Ihm entging bei der Durchsicht der Notizen, dass die Hinterbeine der Ratte bedrohlich zu zucken begannen.

„Da haben wir es“, sagte er mit einiger Genugtuung, „1 Molar statt 0,5 Molar. Sie haben doppelt so viel Salz eingesetzt, wie ich Ihnen gesagt habe. Die Lösung ist längst gesättigt. Diese Menge Salz löst sich nicht in hundert Jahren.“ Als er wegen der wiederholten Unzuverlässigkeit von Frau Schrepper demonstrativ den Kopf schüttelte, nahm er aus den Augenwinkeln war, dass die Ratte taumelnd auf die Beine kam.

„Tür zu“, schrie er. Doch es war zu spät. Die Ratte wurde vermutlich erst durch seinen Schrei in Panik versetzt und urinierte augenblicklich mit einem bemerkenswerten Strahl, der Weinert mitten auf dem Kittel traf. Noch bevor er sie wild fluchend mit den Händen greifen konnte, sprang sie vom Labortisch. Kreischend ließ Frau Schrepper die Flasche fallen, die mit einem ohrenbetäubenden Knall auf dem Boden explodierte. Die Ratte nutzte den kleinen, noch bestehenden Türspalt, um zu fliehen. Mit einem tadelnden Blick in Richtung Frau Schrepper stürzte Weinert aus dem Labor. Der lange Gang war von kleineren Schränken gesäumt, die einen idealen Unterschlupf für die flüchtige Ratte boten. Auf Knien rutschend nahm er jeden Schrank in Augenschein, während aus einem weiter entfernten Labor ein hünenhafter Mann mit schwarzem Pferdeschwanz kam und sichtlich amüsiert auf Weinert zuging.

„Nicolas, lass mich raten: Dir ist wieder mal eines deiner `Supermodells´ davongelaufen.“

„Costas, ich bin wirklich nicht in Stimmung für Deine Scherze. Hilf lieber mit suchen.“

„Tut mir Leid, Hombre. Aber ich habe noch einiges bis zur Antrittsvorlesung unseres neuen Chefs zu erledigen.“ Weinert kannte den Ekel, den sein griechischer Kollege Costas Padopoulos für sein Forschungsobjekt hegte, und konnte ihm daher sein Verhalten nachsehen. Auch ihn widerten diese Ratten, die an erblich bedingter Magersucht litten, an, aber Forschung ist eben kein Wunschkonzert, wie sein jetzt emeritierter Chef Prof. Dr. Lamprecht immer zu sagen pflegte. Zumindest nicht für einfache Angestellte. Ein dürres Geschöpf huschte gerade über den Gang. Weinert stürzte ihr nach. Ein Blick unter den etwas ramponierten Aktenschrank zeigte ihm, dass sie in der Falle saß, da die Unterseite des Schranks nur nach vorne offen war.

Und da hockte Weinert mit ausgebreiteten Armen, die sich vorsichtig der zitternden Ratte näherten. Seine größte Sorge war es nun, das zarte Geschöpf gleich beim ersten Zugriff zu zerquetschen. Noch ehe er mit beiden Händen zupacken konnte, biss die Ratte wild um sich. Mit einem markerschütternden Schmerzenschrei wich Weinert zurück und musste mit ansehen, wie die Ratte die Chance zur Flucht nutzte und unter dem Schrank hervor schoss, Richtung Eingang. Vor der Eingangstür, so seine Hoffnung, gab es keine weiteren Unterschlupfmöglichkeiten mehr. Doch es sollte anders kommen. Kaum hatte Weinert krabbelnd den Eingangsbereich erreicht, als sich die Tür öffnete und die Ratte zwischen den Beinen des Ankömmlings verschwand. Weinert, immer noch auf allen Vieren hob den Kopf und erblickte einen kleinen Mann mittleren Alters mit braunem Bart und gewaltiger Nase, der ihn irritiert anschaute.

„Guten Tag, mein Name ist Professor Traubl, ich bin der neue Institutsdirektor.“

Warum sich Nicolas Weinert nach dem Abitur für die Biologie entschieden hatte, wusste er selbst nicht mehr so genau. Wenn in ihm überhaupt so etwas wie Leidenschaft steckte, so war es seit frühester Jugend der Modellbau gewesen. Er konnte sich nach wie vor stundenlang in seinem Bastelzimmer, einer umgebauten Abstellkammer, zurückziehen und sich mit dem Zusammenbau von Kreuzfahrtschiffen, Hubschraubern oder nostalgischen Lokomotiven in Miniaturformat beschäftigen. Beim Zusammenkleben und Bemalen seiner Objekte waren ihm alle irdischen Probleme angenehm fern. Ihm kam dabei seine große Stärke zugute, mit unendlicher Geduld sich schier unlösbaren Problemen zu stellen. Vorausgesetzt, die nötige Zeit war vorhanden. Unter Druck brachte er kaum etwas Brauchbares Zustande, was Eltern, Lehrer und Freunde des Öfteren an den Rand der Verzweiflung brachte und ihm, zu Unrecht, den Ruf eines pathologischen Lethargikers einbrachte.

Als er nun eines Tages den Bescheid für einen Studienplatz der Biologie erhielt, fragte er sich erstaunt, wer diesen eigentlich für ihn beantragt hatte. Er selber konnte sich partout an nichts erinnern. Bis heute besteht er darauf, sich damals für Physik angemeldet zu haben. Er konnte sich zwar wie fast jeder Jugendliche für die Tiersendungen im Fernsehen begeistern, eine besondere Passion für die Erforschung der Natur hatte er aber nicht. Aber wie es nun einmal seinem Naturell entsprach, fügte er sich in sein Schicksal, ohne sich ein einziges Mal über das ihm zugetragene Studium zu beschweren. Das lag auch daran, dass er in der Biologie Tätigkeitsfelder entdeckte, die seiner Modellbau-Leidenschaft schon sehr nahe kamen. Die relativ neue Gen- und Biotechnologie erwies sich als ideale Spielwiese für Technologiebesessene, fern ab der klassischen Suche nach dem Sinn aller Dinge.

Hier ging es mehr um handwerkliche Fähigkeiten und weniger um alltagsferne Gedankenspiele. Und das war es, was auch Weinert sofort anzog. Nicht, dass er geistig anspruchsvollen Aufgaben nicht gewachsen gewesen wäre, doch wurde seine zurückhaltende und ruhige Art vielfach als verminderte Auffassungsgabe fehl interpretiert. Die, die ihn besser kennen gelernt hatten, wussten sehr wohl um seine sehr ausgeprägten analytischen und strategischen Fähigkeiten. Nur nutzte er diese so gut wie nie zu seinem eigenen Vorteil. Wer weiß, was Nicolas Weinert hätte erreichen können, wäre ihm der Begriff des Ehrgeizes nicht dermaßen fremd gewesen.

An dieser Stelle sollte erwähnt werden, dass Ehrgeiz allein nicht ausreicht, um in der Wissenschaft Erfolg zu haben. Man konnte zwar bis zum Umfallen arbeiten und sich beim Chef über Gebühr „Liebkind“ machen, doch normalerweise war nur der experimentelle Erfolg von Wert. Das Schicksal wurde meist schon durch die Aufgabenstellung der Doktorarbeit festgelegt. Diese kam zumeist von einem bereits völlig praxisfernen Professor, der sich üblicherweise das Thema während einer langweiligen Zugfahrt zu einem noch langweiligeren Kongress erdacht hatte. Dem Kandidaten fehlte es üblicherweise an genügend Expertise, um den Sinn oder Unsinn der Aufgabe bereits zu Beginn der Doktorarbeit zu erkennen. Darum schuftete man von nun an drei bis sechs Jahre intensiv, meistens für ein halbes Gehalt, an einem bestimmten Thema, ohne Gewähr auf experimentellen Erfolg oder Titel. Nicht selten stellte sich das Thema dann als komplett realitätsfern, undurchführbar, zu komplex, zu langwierig oder, was für die Promotion noch schlimmer ist, als bereits von anderen bearbeitet heraus.

Auch Weinert war nicht das große Losglück beschieden als er vor fünf Jahren sein Thema erhielt. Zu seinem Doktorvater, Professor Lamprecht, war er nur gekommen, weil kein anderer Professor der Fakultät ihn nach seiner missglückten externen Diplomarbeit in der Medizin in seinem Team haben wollte. Eine Note 4 für die Diplomarbeit gilt, wie im Falle von Weinert, als ein für alle sichtbares Brandmal. Man schließt daraus, dass die Person ein fauler Hund, ein Idiot oder, schlimmer noch, ein Querulant ist. Auf Weinert traf keines dieser Attribute zu.

Der Begriff Pech traf es in seinem Fall wohl am besten. Aber wer möchte schon einen Pechvogel an seiner Laborbank stehen haben. Seine durchaus glaubhaften Beteuerungen, er sei während der Diplomarbeit entgegen aller vormals getroffenen Versprechungen der zuständigen Medizinern weder richtig betreut noch unterstützt worden, halfen da wenig. Wie groß seine Verzweiflung war, zeigte allein sein Gang zu Lamprecht. Keiner seiner Kommilitonen wäre freiwillig zu Lamprecht gegangen. Der alte Professor für Physiologie (Stoffwechselkunde) galt aufgrund seiner für Studenten des Grundstudiums viel zu komplexen Vorlesung und seiner hoffnungslos veralteten Praktika im Hauptstudium als unberechenbarer, griesgrämiger Kauz. Sein an Zynismus grenzender Humor waren ebenso berühmt wie gefürchtet. Weinert stand eines Tages mit zittrigen Knien vor Lamprechts Büro.

Er hatte auf den Rat seiner Kommilitonen gehört, die gesagt hatten, dass Lamprecht nach dem Mittagessen in der Kantine ein wenig ruhiger und verträglicher wäre. Eine halbe Minute nach seinem zaghaften Klopfen, schallte ihm ein alles andere als ruhiges und verträgliches „Herein“ entgegen. Weinert hatte kaum den Kopf zur Tür herein gesteckt und ein zittriges „Ich hoffe, ich störe nicht, Herr Professor“ von sich gegeben, als ihm ein brummiges „Hamse aber“ entgegengeschleudert wurde. Weinert betrat zum ersten Mal überhaupt Lamprechts Büro. Der Raum strahlte nicht die Spur von Wärme aus, war dunkel, da die Fensterläden trotz des herrlichen Sonnenscheins zugezogen waren und enthielt keinerlei Assessoires, die für ein wenig Gemütlichkeit hätten sorgen können.

Kein Bild an der Wand, keine Pflanze auf der Fensterbank. Der Schreibtisch sowie einer der beiden Gästestühle, aber auch große Teile des Bodens waren übersät mit Fachbüchern und vollgekritzelten Kopien von Fachaufsätzen. Darüber hinaus stank das Büro penetrant nach kaltem Rauch. Dass Lamprecht Kettenraucher war, war allgemein bekannt. Er hatte sogar die Genehmigung der Verwaltung bekommen, während der Vorlesung zu Rauchen. Ironischerweise stand er dabei meistens unter einem großen „Rauchen verboten“-Schild an der hinteren Wand des Hörsaals. Auf Weinert wirkte Lamprechts Büro wie der Vorhof zur Hölle. All dies steigerte nicht gerade seine Hoffnung, seinen bisher recht unglücklichen beruflichen Werdegang zum Besseren zu wenden.

„Was wollen sie? Die Anmeldungen für das Praktikum sind bereits gelaufen.“, bölkte Lamprecht, ohne die Zigarette aus dem Mundwinkel zu nehmen. Weinert fasste sich und sagte:

“Ich wollte mich bei Ihnen auf eine Doktorandenstelle bewerben.“ Weinert versuchte, aus der Miene von Lamprecht irgendwelche Schlüsse zu ziehen. Vergebens. Der alte Professor verharrte wie versteinert auf der anderen Seite des Schreibtisches, während ihm unentwegt Asche seiner Zigarette auf den Pullover fiel. Weinert hätte niemals gewagt, ihn darauf aufmerksam zu machen. Selbst, wenn Lamprecht Gefahr drohte, in Flammen aufzugehen.

„Ich habe ihre Gesicht schon mal gesehen, kann mich aber nicht erinnern, dass sie mir in den Praktika und Seminaren positiv aufgefallen wären“, brummelte Lamprecht.

„Aber ich denke auch nicht, dass ich Ihnen negativ aufgefallen bin“, erwiderte Weinert schnell und hatte ad hoc das Gefühl, einen irreversiblen Fehler begangen zu haben.

„Nein.“, sagte Lamprecht jetzt deutlich aggressiver, „Sie gehören zu der Masse profilloser Studenten, die meinen, sie könnten sich durch das Studium schweigen und hätten durch ihre Belanglosigkeit die Saat für späteren Erfolg gelegt. Aus Angst, zu versagen, machen sie lieber gar nichts, reden jedem nach dem Mund und sind froh, wenn in den Experimenten der Praktika das rauskommt, was alle für das Wahrscheinlichste halten. Ich gebe ihnen kostenlos einen kleinen Rat mit auf den Weg: Entweder zeigen sie als Wissenschaftler Profil und Rückrat oder sie verschwinden mit den meisten ihrer Zunft in einem Ausbilungsseminar für Taxifahrer oder Versicherungsvertreter.“

Weinert stand wie gelähmt in dem muffigen Büro, ohne zu wagen, sich auf den noch freien Gästestuhl zu setzen, und sagte mit einer alles anderen als selbstbewusstenStimme „Ich lasse mir meinen Glauben an meinen Beruf nicht von Ihnen mies machen“. Es war mehr Verzweiflung als Mut. In Erwartung eines Wutanfalls des Alten ging Weinert spontan einen Schritt zurück und spannte sämtliche Muskeln an, die er hatte (es waren übrigens nicht sonderlich viele). Aber Lamprecht lehnte sich gelassen in seinen abgewetzten Chefsessel zurück und meinte nur:

„Welch Überraschung. Sie scheinen ja sogar etwas Saft in den Knochen zu haben. Können Sie mir noch mal sagen, warum Sie mich belästigen?“

„Ich bin auf der Suche nach einer Promotionsstelle.“

„Ach. Und dann kommen Sie zu mir und gehen nicht zu all den Speerspitzen der Forschung in dieser Fakultät, deren Forschung und Technologie angeblich so ‚sophisticated’ ist? Lassen Sie mich raten, Sie waren schon bei allen und sind überall rausgeflogen. Haben Sie in Ihrer bisherigen Karriere zufällig schon mal Zentrifugen geklaut, sich Technischen Assistentinnen unsittlich genähert oder Forschungsgelder veruntreut?“

Obwohl keine dieser Annahmen im Entferntesten zutraf, fühlte sich Weinert eigenartigerweise ertappt. Es gab hier nichts mehr zu verschleiern oder zu beschönigen, zumal er nun keinerlei Chance mehr sah, bei dem Alten unterzukommen.

„Weder noch“, antwortete er, „Ich habe meine Diplomarbeit in der Medizin versägt, weil ich mich naiv auf Leute verlassen habe, die mir vorgaukelten, mehr zu wissen als ich. Dem war leider nicht so. In Kurzform: Hier traf wissenschaftliches Unvermögen auf schlechte Laborbedingungen und ungeeignetes Probenmaterial. Das Problem war nur, dass ich derjenige war, der aus dem ganzen Unsinn anschließend eine Diplomarbeit stricken musste.“ Lamprecht sah Weinert lange eindringlich, aber ohne Spur von Häme an.

„Was können Sie denn so?“ Plötzlich fühlte sich Weinert hellwach und witterte eine wenn auch kleine Chance.

„PCR, Klonierungen, Southern und Western Blotting, HPLC ...“. „Reicht!“, stoppte ihn Lamprecht laut.

„Ich meinte weniger ein Methodenspektrum, dass ich von absolut jedem Absolventen des Hauptstudiums verlange, sondern vielmehr Ihre Interessen für bestimmte Fachrichtungen und Fragestellungen, ob sie Ihre Stärken mehr im Analytischen oder im Handwerklichen sehen.“

„Eine Vorliebe habe ich ehrlich gesagt nicht. Dazu kenne ich noch zu wenig. Aber der Vorteil von uns Naiven ist, dass wir uneingeschränkt begeisterungsfähig sind.“ Wieder schaute Lamprecht ihm tief in die Augen. Dieses Mal bog sich die harte Linie seines Mundes allmählich zu so etwas wie einem Lächeln. Nach einer Minute sagte er endlich:

„Ich weiß nicht, warum ich das jetzt tue, aber ich gebe Ihnen eine Chance. Sie kriegen von mir für ein halbes Jahr einen 19-Stunden-Vertrag, also ungefähr 1800 DM im Monat, die Sozialabgaben müssen Sie aber selber übernehmen. Wenn Sie sich innerhalb der sechs Monate nicht bewährt haben, entlasse ich Sie ohne Gnade in den 2. Bildungsweg. Wenn es gut läuft, gibt es eine Vertragsverlängerung für weitere sechs Monate. Montag fangen Sie an!“ Lamprecht widmete sich ohne weitere Erklärungen dem vor ihm liegenden Fachartikel. Weinert schluckte einmal kräftig und nickte, ohne das Lamprecht es noch wahrnahm.

„Ist noch irgendwas?“, fragte Lamprecht ohne aufzuschauen. Die letzten Reste der Zigarette, völlig in Asche übergegangen, lagen nun auf dem vor ihm liegenden Artikel.

„Dann bis Montag“, rief Weinert mit glockenheller aufgeregter Stimme. Lamprecht ließ zum Abschied noch so etwas wie ein zustimmendes „Mmmh“ verlauten. Beim Verlassen des Büros war sich Weinert nicht sicher, ob er hier nicht vielleicht gerade seine Seele verkauft hatte. Eigenartigerweise fiel ihm in diesem Moment der Roman „Das Totenschiff“ von B. Traven, seinem Lieblingsautor, ein, wo ein Seemann ohne Papiere aus schierer Not auf einem Schiff anheuert, dass zum Abzocken der Versicherung auf ein Riff gesetzt werden sollte. Schnell wischte er den Gedanken daran beiseite. Die Kerze der Hoffnung war, wenn auch schwach, wieder entzündet worden.

Der alte Zyniker stellte sich wiedererwartend als durchaus menschlich und verständnisvoll heraus. Obwohl weiterhin gewohnt brummig schrie er seine Leute im Gegensatz zu anderen Professoren nicht täglich zusammen und akzeptierte durchaus auch unerfreuliche Ergebnisse. Er pflegte immer zu sagen, dass ihn schlecht gemachte gute Ergebnisse mehr ankotzen würden als gut gemachte unerfreuliche Resultate. „Vergessen Sie niemals, dass ein lebendes Untersuchungsobjekt sehr sehr komplex ist. Man weiß nie genau, welche Versuchsergebnisse auf einen warten. Sehr zum Leidwesen vieler aufstrebender Wissenschaftler in der Fakultät, die es lieber sehen würden, wenn ihre hanebüchenen Theorien sich auf einfache Weise bestätigen ließen“, sagte er und deutete zum Nachdruck mit dem Daumen nach oben zu den Stockwerken seiner Kollegen. Lamprecht kam in den Augen von Weinert dem idealen Chef ziemlich nahe. Er hatte für seine frustrierten Jungwissenschaftler stets ein offenes Ohr und überraschte diese immer wieder mit seinem scheinbar unerschöpflichen Fundus an Wissen. Auch wenn er sich mit den modernen Untersuchungsmethoden kaum auskannte, so waren seine Gedankenspiele für die Experimente oftmals von entscheidender Bedeutung. Zudem organisierte er genug Geld, um den Forschungsbetrieb auch ohne experimentelle Improvisationen, die in anderen Instituten aufgrund von finanzieller Not gängige Praxis waren, am Laufen zu halten.

„Wir haben genug Geld, um vernünftige Versuche durchzuführen, aber kein Geld, um es sinnlos zu verballern. Auch wenn es Ihnen schwer fällt, sollten sie sich über Sinn und Unsinn der Experimente bereits vor Versuchsbeginn Gedanken machen.“, hatte Lamprecht der Truppe eingeschärft. Das einzige, was Weinert an seinem Chef zu bemängeln hatte, war dessen unglückliches Händchen bei der Vergabe von Promotionsthemen.

Kurz vor seinem Vorstellungsgespräch hatte Lamprecht auf einem Kongress in Birmingham von einem britischen Kollegen und Freund ein Rattenpärchen geschenkt bekommen. Die Tiere trugen die genetische Veranlagung zur Magersucht, die bis auf minimale Abweichungen in der Symptomatik als vergleichbar mit der menschlichen Erkrankung betrachtet werden kann. Betroffene Ratten waren trotz normaler Nahrungsaufnahme fast bis zum Skelett abgemagert, extrem schreckhaft und wurden meistens nicht älter als 9 Monate. Die Mutation war in der Rattenpopulation spontan aufgetreten. Da der britische Kollege sich selbst ausschließlich mit den Enzymen des Pankreas beschäftigte, dachte er bei der Beobachtung des Phänomens direkt an seinen deutschen Kollegen, der seit über 30 Jahren seinen Schwerpunkt auf Ernährungsstörungen hatte.

Dummerweise war zwar bekannt, dass es sich um einen genetischen Defekt handelte, nicht aber welche Erbinformation (Gen) hier betroffen war. Alle wissenschaftlich erdenklichen Kandidatengene waren bereits von dem englischen Kollegen ausgeschlossen worden. Eine Aufklärung der genauen Umstände dieser Krankheit bedeutete daher einen gewaltigen experimentellen und zeitlichen Aufwand. In Zehntausenden genetischer Tests, für die man als Doktorand ohne fachkräftige Unterstützung in Person einer Technischen Assistentin ungefähr ein Jahr braucht, musste man nun erst einmal herausfinden, auf welchem Chromosom und in welchem Chromosomenabschnitt das defekte Gen liegt. In der Regel liegen in einer solchen anschließend eingegrenzten Region immer noch 10 bis 100 Gene, die nun ebenso aufwendig auf mögliche Erbschäden durchforstet werden müssen. Wenn man Glück hat, ist der Schaden durch ein Herausbrechen riesiger Chromosomenabschnitte verursacht worden, oder aber wie in Weinerts Fall winzig klein und schwer auffindbar. In jedem Fall ist es eine reine Fleißarbeit. Professor Lamprecht kam daher für diese recht unangenehme Aufgabe der Kandidat Weinert gerade recht. Er wusste aus Erfahrung, dass gerade junge Wissenschaftler mit dunklen Flecken im Lebenslauf üblicherweise ihre zweite Chance beim Schopf packten und zu überdurchschnittlichen Leistungen im Stande waren. Die Aufklärung dieser Mutation stellte sich aber unglücklicherweise als besonders harter Brocken heraus. Weinert musste zu Beginn erst einmal eine Vielzahl ihm unbekannter Techniken erlernen, zum Teil durch monatelange institutsfinanzierte Aufenthalte in England, und baute infolgedessen ein technisches Spezialwissen auf, das Lamprecht bereits nach einem Jahr nicht mehr überblickte. Mit viel Sympathie hörte sich Lamprecht die leidenschaftlichen Berichte Weinerts von irgendwelchen Genomprojekten und neuen technischen Errungenschaften an, ohne ihm fachlich folgen zu können. Er hatte sich nicht in Weinert getäuscht.

„So Herr Kollege, dann ist es also an der Zeit, den Schlüssel zu übergeben“, sagte Lamprecht und schüttelte dem Besucher die Hand. Er hatte sich bis zuletzt gegen die Berufung dieses Mannes gewehrt, konnte aber nicht verhindern, dass der machtbesessene Dekan seine Vorstellungen bei der Berufungskommission durchsetzen konnte. Lamprechts vormals großer Einfluss in der Fakultät hatte von Jahr zu Jahr abgenommen. Noch vor 10 Jahren brachte er jeden seiner begabten Kandidaten an erstklassigen Instituten unter, heute war auch das nicht mehr möglich. Ihm klangen noch die Worte des Dekans im Ohr, der in der Berufungskommission erklärt hatte, dass ein frischer Wind notwendig war, um das Institut wieder zu altem Ansehen zu bringen. Das hatte gesessen. Dieser Traubl schien in den Augen der restlichen Professorenschaft der geeignete Kandidat zu sein. Jung, durchsetzungsfähig und überaus erfolgreich mit Veröffentlichungen in den weltweit besten Zeitschriften. Aber Lamprecht ahnte, was sich hinter der Maske dieses erfolgreichen Jungwissenschaftlers wirklich verbarg. Selbstsucht, Machtgier und Gnadenlosigkeit. Der Mann würde zweifellos auch auf Kosten seiner Mitarbeiter seinen Weg beschreiten. Lamprecht hatte deshalb vor seiner Emeritierung alle Verträge seiner Mitarbeiter noch einmal maximal auch über seine eigene Zeit hinaus verlängert, was ihm trotz leiser Proteste aus der Verwaltung gelang. Auf diese Weise promovierten alle Doktoranden noch rechtzeitig, teilweise jedoch ohne die wissenschaftliche Aufgabe gänzlich erfüllt zu haben. So wurde auch Weinert, obwohl er die Ursache der Magersucht bei Ratten noch längst nicht aufgeklärt hatte, zu Dr. Weinert.

„Herr Traubl, dürfte ich Ihnen vielleicht bis zum Beginn ihrer Antrittsvorlesung bei einem kleinen Rundgang ihre zukünftigen Mitarbeiter vorstellen“, fragte Lamprecht gezwungen charmant.

„Nichts lieber als das, Herr Lamprecht“, sagte der kleine Mann mit dem leichten niederösterreichischem Akzent ebenfalls gekünstelt freundlich.

Nach seinem Malheur mit der entflohenen Ratte sah Weinert aus, als wäre er in ein Hornissennest gefallen. Hände und Gesicht waren übersäht mit breitflächigen roten Flecken und die Augen waren durch die Schwellung zu kleinen Schlitzen verengt. Die Folgen einer Allergie gegen Ratten, die sich vor einem Jahr entwickelt hatte. Bereits eine kleine Berührung der Tiere reichte aus, um den Rest des Tages zur Hölle zu machen. Die Betreuung (und Tötung) der Tiere fiel eigentlich in den Aufgabenbereich der Tierpflegerin Anna Rottmann, die jedoch aus Prinzip keine Aufgaben für die Jungwissenschaftler übernahm, schon gar nicht von Doktoranden, und sich die Hälfte des Jahres wegen eines angeblichen Rückenleidens krankschreiben ließ (auch Lamprecht konnte sich bei dieser auf unangenehme Art energischen jungen Frau nie entscheidend durchsetzen). So blieb Weinert nichts anderes übrig, als sich wie an diesem Tag in sein Schicksal zu fügen.

Weinert saß neben Costas an seinem Schreibtisch und kratzte sich unentwegt an der Wange, als Eva Kurz, eine ebenfalls frisch promovierte Kollegin, ins Labor gestürmt kam.

„Ich weiß nicht, wie ich diese Versuche bis zur Antrittsvorlesung beenden soll“, fluchte sie, ohne bei ihren Kollegen eine Reaktion hervorzurufen, die ihre hektische Arbeitsweise bereits zur Genüge kannten. „Bin ich hier eigentlich die einzige, die malochen muss?“

„Nein, Eva“, sagte Costas grinsend, „wir teilen uns nur die Zeit besser ein als Du.“

„Blöde Ignoranten“, rief sie halb im Ernst, als ohne Vorwarnung die Tür aufsprang und Lamprecht gefolgt von dem neuen Institutsdirektor eintrat.

„Herr Traubl, ich wollte Ihnen drei meiner erfolgreichsten Mitarbeiter vorstellen. Dr. Eva Kurz, Dr. Costas Padopoulos und Dr. Nicolas Weinert“, sagte Lamprecht nicht ohne Stolz. Traubl sah unvermittelt zu Weinert hinüber, dessen Gesicht jetzt in voller Blüte stand, und verzog angewidert den Mund.

„Wir hatten bereits heute Morgen schon das Vergnügen“, sagte Traubl und wandte sich ohne weitere Worte wieder in Richtung Tür.

„Was für ein unsympathischer Zwerg“, dachte Weinert, als die beiden Professoren sein Labor verließen.

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