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ОглавлениеKapitel 2 – Die Übernahme
Bei Traubls Antrittsvorlesungen war die gesamte Fakultät versammelt. Alle wollten den Genius aus Übersee in Augenschein nehmen, der jetzt zu den Ihren gehörte. Traubl sprach vorwiegend von seinen wissenschaftlichen Erfolgen der letzten Jahre, die einhellig als beeindruckend bewertet wurden, und versuchte ganz im amerikanischen Stil mit kleinen Witzchen die für Laien, und das waren die meisten, doch recht trockene Materie etwas aufzulockern. Ein Humor allerdings, der von den wenigsten im Auditorium recht nachvollzogen werden konnte. Einzig der Dekan lachte herzhaft. Abschließend überreichte dieser einen üppigen Blumenstrauß und beendete die Veranstaltung mit einer recht konfusen, und für den Anlass viel zu langen Rede.
Bei einem für das permanente Wehklagen der Fakultät wegen zu geringer finanzieller Mittel doch sehr üppigen kalten Buffets hatten die Institutsmitglieder erstmalig die Möglichkeit, ihren neuen Vorgesetzten aus der Nähe zu betrachten. Weinert war dieser kleine Mann mit dem grauenvollen und dazu noch viel zu großen Anzug von Anfang an verhasst. Bereits bei der Vorlesung bestätigten sich alle üblen Vorahnungen, schwang doch bei all der demonstrierten Selbstverliebtheit eine große Portion Komplexe und Empfindlichkeit mit. Auch die gnadenlose Zielstrebigkeit und der extreme Ehrgeiz des neuen Chefs waren deutlich zu spüren. Ein Blick in die Mienen von Costas und Eva bestätigte ihm, dass er mit seiner Einschätzung nicht alleine war.
Traubl saß lächelnd an dem gerade gelieferten neuen Schreibtisch und strich vorsichtig mit beiden Händen über die glatte Kirschholzoberfläche. Am Ziel, dachte er zufrieden. Die vielen Mühen der letzten Jahre hatten sich für dieses eine Ziel gelohnt. Eine Professur. Alle anderen Stellen an der Universität sind entweder zeitlich auf wenige Jahre begrenzt oder mit einem lebenslangen Lakaiendasein verbunden. Er erinnerte sich noch gut an die Worte seines Doktorvaters, der gesagt hatte: „Über uns Professoren steht nur Gott. Ich bin übrigens Atheist.“ Anwesenheitspflicht existiert ebenso wenig, wie irgendwelche Verhaltensregeln. Ob man nun ein Despot ist, der seine Mitarbeiter vorsätzlich in den psychischen Ruin treibt, oder gutmütig seine Schäfchen fördert, ist jedem Professor freigestellt. Eine Kontrollinstanz gibt es nicht. Nun ging es nur noch darum, sein eigenes Imperium aufzubauen. Unglücklicherweise erkannte Traubl in seinem „Erbe“ einen Haufen störrischer Faulenzer, mit denen die geplante Rückkehr in die wissenschaftliche Weltklasse nur schwerlich zu schaffen war.
Die Gelder für neues Personal waren zwar bereits während der letzten Monate in den USA bei verschiedenen deutschen Förderinstitutionen beantragt worden, würden aber noch mindestens ein halbes Jahr auf sich warten lassen. Dummerweise hatten die noch vorhandenen Wissenschaftler Verträge bis zu zwei Jahren und eigene Projektgelder, was ihnen - sehr zu Traubls Ärger - eine gewisse Unabhängigkeit garantierte. Als erstes brauchte er einen Verbündeten, der die Truppe mit ihm zusammen auf Trapp hielt. Unter den alten Institutsmitgliedern fand sich nur ein ernsthafter Kandidat für diese Aufgabe, ein akademischer Rat namens Privatdozent Dr. Bergius. Voller Tatendrang verließ Traubl sein Büro und begab sich die Suche nach seinem zukünftigen Sozius. Wie ihm mitgeteilt wurde, war Bergius nach der Mittagspause üblicherweise im Mikroskopierraum anzutreffen. Da in dem Raum, dessen Tür mit einem „Zutritt für Unbefugte verboten“-Schild gekennzeichnet war, niemand auf sein Klopfen reagierte, trat er ein. Der Raum war gänzlich abgedunkelt. Zwar konnte Traubl niemanden erkennen, doch nahm er ein tiefes, grollendes Schnarchen wahr, das aus dem hinteren Teil des Raums zu kommen schien. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erblickte er einen rundlichen Mann mit krausen, grauen Harren, der über ein grünlich beleuchtetes Mikroskop gebeugt war. Beide Augen lagen auf den Gummischutzringen der Okulare auf, der Mund stand offen und Spucke tropfte auf den Mikroskopiertisch.
„Herr Bergius“, fragte Traubl mit einer Mischung aus Vorsicht und Unverständnis. Bergius erschreckte derart, dass er laut schreiend eine Box mit Objektträgern quer durch den Raum schleuderte. Traubl schlug in Panik auf den Lichtschalter und erblickte Bergius, dessen Augen von zwei roten Ringen umrahmt waren. Bergius räusperte sich kurz und fragte mit ernster Stimme:
„Was kann ich für Sie tun?“
Obwohl mit einem durchaus scharfen Verstand gesegnet, war es allein Bergius´ Antriebslosigkeit anzulasten, dass er selbst nie eine Professur erhalten hatte. Ihm war es lieber, wenn auch schlechter bezahlt und weniger angesehen, in Ruhe seinen eigenen, ein wenig skurrilen wissenschaftlichen Neigungen nachzugehen, als in der Fakultätspolitik aufgerieben zu werden. Er leitete mit großer Freude die Praktika für das Grund- und Hauptstudium und hielt neben einer Vorlesung für Mediziner noch eine sehr gut besuchte Vorlesung über gesunde Ernährung für das „Studium im Alter“. Er sprach leise und auffallend langsam und ließ sich selbst von dem stets hyperaktiven Traubl nie aus der Ruhe bringen. Im Gegensatz zu Lamprecht, der im Laufe der vergangenen 30 Jahre gelernt hatte, Bergius´ aufreizende Lethargie als Gott gegeben zu akzeptieren, drohte Traubl bereits nach kurzer Zeit an der Art seines neuen „Unteroffiziers“, wie er ihn nannte, zu zerbrechen. Nach nur zwei Monaten und zahlreichen Wutanfällen entließ er Bergius schließlich wieder in seine selbst gewählte Bedeutungslosigkeit. Er biss aber nicht nur bei Bergius auf Granit. Auch die restlichen Mitarbeiter erwiesen sich gegenüber seiner permanenten Aufforderung zu mehr Arbeitsleistungen als immun. Für Traubl gab es daher nur eins: Rausekeln oder Umbiegen. Die Zeitarbeitsverträge (kaum ein Wissenschaftler hatte eine unbefristete Stelle), wurden nur noch um maximal 3 Monate verlängert, die beliebten Kaffeepausen um 16 Uhr gänzlich gestrichen.
„Wir erforschen schließlich nicht die Nebenwirkungen des Kaffeekonsums“, hatte er zynisch bemerkt. Jeder Fußsoldat, wie er seine Mitarbeiter nannte, sollte wissen, was er von ihnen erwartete: Schneller und besser, oder aber öffentliche Bloßstellung und Nichtverlängerung des Arbeitsverhältnisse. Um sich der internationalen Konkurrenz vor allem der Amerikanischen in diesem „hoch kompetitiven Feld“, wie er es selbst nannte, stellen zu können, musste man die Arbeitsmethoden, besser noch bislang vorherrschende Arbeitseinstellung radikal ändern, so Traubl.
„Will man mit den Haien schwimmen, reicht es nicht aus, ein guter Dorsch zu sein“, erklärte er der ungläubigen Mannschaft. Wenn man sich umschaute, sah keiner aus, als wollte er sich in einen Hai verwandeln. Aber welche Wahl hatte man, wusste man doch, dass Haie mit Vorliebe Dorsche fressen.
Das Hauptinstrument des Terrors war die allwöchentliche Arbeitsgruppensitzung. Dieses allwöchentliche Treffen war eine Art Inquisitionsgericht inklusive Folterung und anschließender öffentlicher Verbrennung. Hier musste jeder Fußsoldat seine wöchentlichen Leistungen offen legen und in den allermeisten Fällen mit einer Maßregelung Traubls rechnen. Am Anfang versuchten sich die Mitarbeiter noch für die fehlenden Ergebnisse mit dem Hinweis auf die Komplexität und Dauer der Versuche zu entschuldigen.
„Stecke mittendrin. Mit Daten rechne ich erst morgen früh.“ In der nächsten Woche war man schon wieder mittendrin und brauchte sich wieder nicht weiter rechtfertigen. Beim alten Chef, Professor Lamprecht, hatte diese Strategie immer gut funktioniert. Er durchschaute zwar ebenso wie der neue Chef die Absicht der Nachwuchskräfte, wusste aber auch, dass die Mitarbeiter, die was zu sagen haben, sich schon melden würden, und dass aus einer Steigerung des Drucks auf die Truppe meist nur mehr Frustration und selten mehr Innovationen und bessere Daten resultierten. Dies sah der neue Herrscher der Labore selbstverständlich ganz anders. Traubl aber beharrte darauf, alle, absolut alle Daten einzusehen. Ob vorläufig oder nicht. Traubl versuchte das amerikanische System, das er selbst in fünf zum Teil recht qualvollen Jahren erlebt hatte, 1 zu 1 auch hier umzusetzen. Man kann das Ganze durchaus mit der Christianisierung der südamerikanischen Indios durch die spanischen Conquistadores vergleichen.
Dennoch stellte sich auch nach einigen Monaten immer noch nicht die erhoffte Besserung ein. Es fehlt die permanente Kontolle und der notwendige Druck, dachte Traubl. Dies konnte er nicht alleine bewerkstelligen, war er doch mehr als erwartet durch die Faktultätspolitik in Anspruch genommen. Er brauchte einen Gehilfen, der seine Vision teilte und selbst mit einem gesunden Ehrgeiz gesegnet war. Zu Traubls Glück fragte ein guter Bekannter aus den USA, Freund wäre zuviel gesagt, da er solche nicht besaß, ob er eine Stelle für eine talentierte wissenschaftliche Mitarbeiterin hätte. Dieser Bekannte schilderte ihm die aus Deutschland stammende Kandidatin als „tough and straight“, was durchaus Traubls Interesse erweckte. Bei einem kurzfristigen Besuch in den USA traf er dann die Frau mit dem Namen Dr. Annegret Schultheiß-Gottlob in einem schäbigen Cafe auf dem Flughafen von Philadelphia.
Was er da sah, verschlug ihm gänzlich den Atem. Sie war Anfang Dreißig, einen Kopf größer als er und sehr schlank, man könnte auch sagen, leicht unterernährt. Ihr Gesicht hatte durchaus Attraktivität, wenn auch ohne die geringste Spur von Wärme oder Humor. Dieser Eindruck wurde noch durch ihre kristallblauen Augen und die kurzgeschorenen, platinblonden Haare unterstrichen. Die tiefe Stimme, die ihm ein „schön, Sie zu treffen“ entgegenhauchte, hatte eine derart brutale Intensität, dass sich die Haare an seinem ganzen Körper aufrichteten. Diese Frau hätte ohne Zweifel auch bei der Waffen-SS eine fulminante Karriere gemacht. Seine sexuelle Phantasie ging urplötzlich mit ihm durch, und er stellte sich vor, von Frau Dr. Annegret Schultheiß-Gottlob, gekleidet in einem schwarzen Nichts aus Leder, bis zur Besinnungslosigkeit gepeitscht zu werden. Mit einiger Mühe fing er sich wieder. Er trank von seinem Kaffee und verbrühte sich wie noch nie in seinem Leben den Mund. Nachdem er wild fluchend die Hälfte des Kaffees verschüttet hatte, fragte er mit schmerzenden Mund:
„Frau Schultheiß-Gottlob, Sie sind mir von ihrem Gruppeneiter als außerordentlich tüchtig bezeichnet worden. Was sind die Gründe dafür, dass Sie die USA verlassen wollen.“
„Es war von Anfang an mein Ziel, nur für ein paar Jahre in Amerika zu bleiben und anschließend in Deutschland zu habilitieren. Für gewöhnlich verfolge ich meine Ziele auch bis zum Schluss“, sagte Sie und trank ihren ebenfalls noch bedrohlich dampfenden Kaffe mit einem kräftigen Schluck. Kein schmerzverzerrtes Gesicht, noch nicht einmal ein leichtes Zucken der Mundwinkel, wie Traubl bewundernd feststellte.
„Wie ich Ihren Unterlagen entnehmen konnte, ist Ihre bisherige wissenschaftliche Arbeit über jeden Zweifel erhaben. Mit großer Regelmäßigkeit haben Sie in führenden Zeitschriften veröffentlicht. Was mich interessieren würde, wäre Ihre Einstellung zur Mitarbeiterführung, denn dies würde einen wichtigen Teil Ihrer Arbeit ausmachen. Vor allem, weil es sich bei dem derzeitigen Personal, das ich von meinem Vorgänger geerbt habe, um besonders arbeitsscheue und renitente Spezies handelt.“ Er schaute in ihre außergewöhnlich blauen Augen und schien ihre Antwort bereits zu kennen.
„Herr Traubl, ich bin in meiner Karriere durch eine sehr harte Schule gegangen, ohne dass es mir geschadet hätte. Im Gegenteil. Ich habe keine Zweifel daran, dass auch ihrem Personal eine harte Schule nicht schaden könnte“, meinte sie mit einer Laszivität, wie er sie noch nicht kennen gelernt hatte. Etwas verschämt bemerkte er die Ausbeulung seiner Hose.
„Ausgezeichnet. Ich sehe schon, dass wir eine ähnliche Auffassung vertreten. Ich kann Ihnen jetzt schon sagen, dass ich Sie sehr gerne einstellen würde. Leider kann ich Ihnen aber zum jetzigen Zeitpunkt lediglich einen Zwei-Jahres-Vertrag anbieten.“ Abrupt verschwand das Lächeln aus ihrem Gesicht.
„Wenn Sie mir keinen Fünf-jahres-Vertrag bieten können sowie einen eigenen Forschungsetat von mindestens 100.000 DM pro Anno, kommen wir vorraussichtlich nicht ins Geschäft. Mir liegen schließlich noch andere attraktive Stellenangebote vor, von weitaus renommierteren Instituten als dem Ihren.“ Die Erregung verschwand augenblicklich.
„Das wird aber mit unserer Verwaltung kaum machbar sein“, beteuerte er verzweifelt, ahnend, dass dieses Argument seiner Gesprächpartnerin sicher nicht genügen würde. Sie lehnte sich zurück und gewann allmählich ihr Lächeln wieder.
„Herr Traubl, ich denke doch, dass Sie überzeugend genug sind, um sich gegenüber Ihrer Verwaltung durchzusetzen.“
Wieder in Deutschland setzte er Himmel und Hölle in Bewegung, um bei der Verwaltung die gewünschte Stelle zu realisieren, was ihm nach zähem Ringen und zahlreichen Gesprächen mit dem Verwaltungschef auch gelang. Nun war er sich sicher, dass er den Widerstand in seinem Institut bald brechen würde.
Die Institutsangestellten wurden nicht über die Ankunft von Frau Dr. Schultheiß-Gottlob informiert, um die Wirkung ihres Auftritts noch zu verstärken, so Traubls Hoffnung. Bei einer Arbeitsgruppensitzung saß sie dann ohne Vorankündigung neben Traubl und wurde von diesem als die neue Arbeitsgruppenleiterin vorgestellt. Ihr hartes Äußeres und ihr eiskalter Blick ließen bereits nichts Gutes verheißen, ohne das sie auch nur ein Wort gesagt hätte. Sie erinnerte Weinert auf unangenehme Weise an seine magersüchtigen Ratten. Als bei der Vorstellung der wöchentlichen Ergebnisse die Reihe an ihm war, räusperte er sich kurz und kramte unter einer Reihe von Computerausdrucken das Ergebnis einer so genannten Expressionsstudie hervor. Bei dieser Studie sollte geklärt werden, in welchem Organ eines seiner zahlreichen Kandidatengene transkribiert (abgelesen) wird.
Aus seinen hier präsentierten und von ihm für gelungen gehaltenen Ergebnissen ging gemäß seiner Ausführungen hervor, dass dieses Gen in allen Geweben angeschaltet wird, verstärkt jedoch in der Hypophyse (Hirnanhangsdrüse). Bevor Weinert sein nächstes Ergebnis präsentieren konnte, merkte er wie die langen, dürren Finger von Frau Schultheiß-Gottlob langsam nach dem vor ihm liegenden Ergebnis griffen. Plötzlich war er sich nicht mehr ganz so sicher, ob die vorgestellten Ergebnisse wirklich die Qualität hatten, die er ihnen zuschrieb. Seine Befürchtungen waren durchaus berechtigt, wie sich in den nächsten Minuten herausstellen sollte. Frau Schultheiß-Gottlobs Blick verweilte nur kurz auf dem Bild. Dann schaute sie Weinert frontal in die Augen, ohne dass er daraus schlau geworden wäre. Er fröstelte.
„Wie sehen Ihre Kontrollexperimente aus? Ist in jeder Gelspur tatsächlich gleich viel RNA (abgelesenes Genprodukt) aufgetragen?“, hauchte sie mit ihrer tiefen, sehr mechanisch klingenden Stimme.
„Au, Backe.“, dachte Weinert. Er hatte dieses Experiment natürlich auch geplant, es aber im Laufe der Woche nicht zuletzt aufgrund des Drucks von Traubl schlicht und einfach vergessen.
„Nein. Dieses Experiment ist für morgen geplant. Ich kann Ihnen aber versichern, dass ich immer in jeder Gelspur gleichviel auftrage. “, gab Weinert mit schwacher Stimme von sich, instinktiv wissend, dass seine Erklärung der neuen Abteilungsleiterin nicht genügen würde. Sein Hals war wie zugeschnürt. Frau Schultheiß-Gottlob schob ihren ausgemergelten Kopf etwas nach vorne, um die Kraft ihrer Worte noch ein wenig zu verstärken:
„Das bedeutet, dass sie noch gar keine exakte Aussage treffen können, ob es tatsächlich in der Hypophyse verstärkt gebildet wird?“ Treffer versenkt.
„Ja richtig. Das kann ich eigentlich noch nicht. Es ist mehr so eine Art Vermutung.“, stöhnte Weinert. Frau Schultheiß-Gottlob hatte jetzt Blut geleckt. Energisch setzte sie nach:
„Gibt es experimentelle Daten oder Hinweise aus der Literatur, die Ihre Vermutung unterstützen, Herr Weinert?“. Er fragte sich gerade, woher sie seinen Namen kannte, da er ihr noch nicht offiziell vorgestellt worden war.
„Nein. Sie haben Recht. Ich ziehe hiermit meine Vermutung zurück“. Weinert schwamm davon. Eine klassische K.O.-Niederlage in der ersten Runde. Doch Frau Schultheiß-Gottlob gehörte zu den Menschen, die nicht aufhören zu kämpfen, wenn der Gegner „nur“ am Boden liegt.
„Erklären Sie mir dann bitte, warum Sie uns hier wissentlich fehlinformiert haben. Stellen Sie sich vor, ihre falsche Interpretation wäre nicht entdeckt worden und einige Mitarbeiter wären jetzt schnell aufgesprungen, um auf der Grundlage ihrer aus den Fingern gezogenen Mutmaßungen nachfolgende Experimente durchzuführen. Das hätte viel Geld und wertvolle Zeit gekostet.“ Sie lehnte sich zurück und atmete tief durch.
„Normalerweise verweise ich nur bei Studenten des Grundstudiums auf die Wichtigkeit von Kontrollversuchen. Bei Studenten des Hauptstudiums setze ich dieses Wissen voraus. Einen Doktoranden, der wissentlich darauf verzichtet, schmeiße ich ohne weitere Begründung raus. Mit einem Postdoc, der so fahrlässig handelt, sollte noch härter verfahren werden“, ihre Stimme hatte unangenehm an Schärfe und Lautstärke zugenommen.
„Aber es ist mein erster Tag an diesem Institut. Da sollte man nicht gleich mit einem Massaker beginnen“, meinte sie eine Spur milder mit so etwas Ähnlichem wie ein Lächeln im Gesicht und ergänzte gehaucht: „Aber ab morgen werde ich diese Weichheiten sicher abgelegt haben.“ Weinert konnte jetzt die Berichte von Sterbenden nachvollziehen, die am Punkt Null ihr Leben haben an sich vorbeiziehen sehen. Er sollte Recht haben mit der Vermutung, dass dies der Anfang einer Vielzahl unangenehmer Vorkommnisse sein würde.
Die Aufklärung der genetisch bedingten Magersucht bei Ratten zog sich noch weiter hin. Mit Akribie und Präzision, die er jetzt schon allein zu seiner eigenen persönlichen Sicherheit an den Tag legte, schloss er Kandidatengen für Kandidatengen aus, ohne jedoch seinem Ziel der Aufklärung der Krankheit näher gekommen zu sein. Die Zeit drängte. Traubl und Schultheiß-Gottlob machten in jeder Arbeitsgruppensitzung vor versammelter Mannschaft unmissverständlich deutlich, dass man ihm ohne endgültige Aufklärung seinen auslaufenden Vertrag nicht verlängern würde. Aus seinem vormals wegen der von ihm neuartigen Technologie so gefragten Projekt wurde mehr und mehr ein „altes Geschwür am Hintern des Instituts“, wie es Traubl einmal formulierte.
Weinert wurde zu allem Überdruss noch Frau Schrepper abgezogen, die er nach 5 Jahren endlich so weit geschult hatte, dass sie einfachere Experimente selbständig ohne Beaufsichtigung durchführen konnte. Aber schlimmer noch war für Weinert der Umzug in das Kellerlabor, das über 30 Jahre als Abstellkammer für aus der Mode gekommene oder defekte Geräte gedient hatte. Die meisten davon gehörten Bergius, der gegen den Abtransport zum Elektroschrott für seine Verhältnisse überaus heftig protestierte. Lamprecht ließ sich, nachdem ihm Traubl lediglich ein kleines fensterloses Büro zugestanden hatte, kaum noch blicken und war daher auch keine Hilfe im Kampf gegen die neuen Kräfte. So blieb Weinert nichts anderes übrig, als das Loch, in dem er jetzt saß, so schnell als möglich in ein funktionsfähiges Labor umzurüsten und bei seinem Projekt auf ein Wunder zu hoffen.