Читать книгу Die Angst der Schweigenden - Nienke Jos - Страница 11
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Оглавление»Tut gut«, schwärmte Igor und nippte an der heißen Teetasse. »Was sind Sie? Architektin?«
»Nein.«
»Nein.« Igor hob seine Augenbrauen. »Was dann?«
»Was dann?«
»Na ja, was sind Sie?« Er zeigte in den Raum. »Hier?«
»Statikerin.«
Er nickte knapp, deutete auf seine Hände. »Wonach sehen die aus?«
Inna wartete geduldig.
»Ich habe eine eigene Schreinerei.« Er zog seine Hände enttäuscht zurück. »Sie wollen sich gar nicht unterhalten, oder?«
Konversation. Sie lächelte schief.
»Ich möchte mich vergrößern.« Igor schaute sich um. »Ich habe auch so eine Fabrikhalle. Nicht so schön nostalgisch, aber ähnlich.« Er nahm sich eine Scheibe Christstollen, pulte umständlich das Marzipan heraus und schmierte es an den Rand seines Tellers. »Ich hatte gehofft, Sie hier anzutreffen. Eigentlich hatte Grunewald versprochen, dass Sie heute Vormittag zu mir kommen, aber das sind Sie nicht.«
»Grunewald?«
»Grunewald.« Er räusperte sich. »Sie sind Inna Lies.«
»Ja.«
»Ja«, wiederholte Igor und lachte laut. »Ja. Ich mache ein paar Tage Betriebsferien. In dieser Zeit hätte Grunewald die Pläne machen sollen. Aber er hat es vergessen.«
»Ich verstehe Sie nicht.« Inna schob ihren Teller zur Seite.
»Grunewald hat mich heute Morgen angerufen. Er hat gesagt, Sie würden sich meine Fabrikhalle anschauen. Aber Sie sind nicht gekommen.«
»Die Koordinaten«, fiel es Inna ein. »Sie sind der Freund. Ihnen gehört das Gehöft.« Sie schloss erleichtert ihre Augen. »Ich …« Sie zeigte hilflos aus dem Fenster. »Ich habe mich umentschieden. Der Schneesturm. Ich habe nicht damit gerechnet, dass …«
»Sehr ärgerlich«, bedauerte Igor. »Aber jetzt bin ich ja hier.«
»Ihre Fabrikhalle aber nicht.«
»Sie sind witzig.«
»Das war kein Witz.«
»Nein.« Igor kaute. »Das war kein Witz.« Er musterte sie nachdenklich. »Nun ist es so.«
Inna schaute auf ihre Armbanduhr. »Grunewald wird gleich …«
»Grunewald wird nicht kommen«, unterbrach Igor sie mit vollem Mund. »Das haben Sie nur behauptet.« Er lachte. »Die Telefone funktionieren ja gar nicht.«
»Haben Sie …«
»Nein.«
»Nein?«
Igor schlürfte geräuschvoll seinen Tee. »Sie wollten fragen, ob ich etwas damit zu tun habe.«
Inna nickte vorsichtig.
»Natürlich nicht.«
»Natürlich nicht«, wiederholte sie heiser. »Woher wissen Sie dann, dass …«
»Weil ich versucht habe, eines Ihrer Telefone zu benutzen. Da saßen Sie noch im Auto.«
»Wen haben Sie versucht anzurufen?«
Er stopfte sich den Rest Christstollen in den Mund. »Kennen Sie Grunewald gut?«
Inna schüttelte den Kopf.
»Aber Sie sind in ihn verliebt.«
»Nein.«
»Sie wollten, dass er Sie rettet.«
»Nein.«
Igor grinste. »Sie haben so getan, als würde das Telefon funktionieren. Sie hätten jeden nehmen können, aber Sie haben sich für Grunewald entschieden.«
»Er war der Erste, der mir eingefallen ist.«
»Er ist der Einzige, den Sie kennen.«
»Warum haben Sie mich auflaufen lassen?«
»Mit dem Telefon?«
Inna knackte mit ihren Fingergelenken.
»Sie hätten mir unterstellt, dass ich etwas damit zu tun habe.«
»Das tue ich auch so.«
»Sehen Sie? Es macht also gar keinen Unterschied.« Er lächelte. »Können wir das nicht einfach lassen?«
»Das Gespräch?«
»Nein, dass Sie mir nicht trauen, dass Sie Angst vor mir haben.« Er fuchtelte genervt mit seiner Hand durch die Luft. Puderzucker flog in alle Richtungen. »Ich kann nichts für den Schneesturm. Ich habe ihn wohl kaum bestellt.«
»Nein?« Inna strich mit beiden Händen herausgelöste Haarsträhnen hinter die Ohren. Der Sturm hatte ihren Dutt durcheinandergebracht. »Heute Morgen gab es schon Vorboten eines Tiefausläufers vom Nordpolarmeer, die sich laut Wetterbericht im Laufe des Tages zu einem Schneesturm kumulieren sollten.«
»Und?«
»Sie wären nicht hier, wenn Sie den Wetterbericht gehört hätten.«
»Sie auch nicht.«
»Ich war in meine Arbeit vertieft.«
Igor erhob sich. »Dass Sie Angst haben, tut mir leid.«
»Angst wovor?« Vor dem Sturm, dachte Inna.
»Angst vor mir. Ich finde, das passt nicht zu Ihnen. Wo Sie sonst so pragmatisch sind.«
»Pragmatisch.« Inna lehnte sich zurück und verschränkte ihre Arme. Sie hörte den Sturm an den Fenstern zerren. Sie hörte Igor, der seine Finger nacheinander auf die Lehne fallen ließ.
»Sie sind knapp 50?«, fragte er.
»Nein.«
»Sehen Sie?«
Sehen Sie? Eine Frage. Inna verzog ihren Mundwinkel. »Was sehe ich?«
»Ihrem Pragmatismus geschuldet kümmern Sie sich nicht darum, wie alt ich Sie schätze.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Sie haben sich nicht gewehrt.«
»Und wogegen hätte ich mich wehren sollen?«
»Dagegen, dass ich Sie älter geschätzt habe, als Sie sind.« Igor lächelte. »Andere Frauen wären beleidigt.«
»Vielleicht bin ich 50.«
Er schüttelte den Kopf. »Sie sind 39.«
Inna schaute sich um. »Das haben Sie gelesen. Wo?«
»Das finden Sie selbst heraus. Gibt es hier eine Toilette?«
Inna tat so, als müsste sie ein Gähnen unterdrücken. »Das finden Sie selbst heraus.« Sie schloss ihre Augen, hörte Igor ziellos durch die Halle laufen, bis er fand, wonach er suchte. Er verriegelte die Toilettentür.
Innas Herz klopfte hart in ihrer engen Brust. Sie schaute hinaus. Der Sturm. Unerbittlich und wütend. Die schwarzen Tannen vor den Fenstern verneigten sich tief, wurden nach oben gerissen und zur anderen Seite geschleudert. Inna schüttelte den Kopf. Sie musste bleiben. Hier mit Igor. Sich ablenken. Die Wände. Die Fenster. Das Mauerwerk. Der Sturm. Sie holte tief Luft. Der Sturm brachte alles durcheinander.
Immerhin. Henri war tot.
»Haben Sie geschlafen?«
Sie zuckte zusammen, räusperte sich. »Nein.«
»Seit wann sind Sie hier?«
»Seit heute Morgen«, sagte sie heiser und setzte sich auf.
»Nein.« Igor schüttelte den Kopf. »Hier.« Er zeigte in die Halle hinein. »Hier in diesen Gemäuern. Seit wann gibt es Ihre Firma schon?«
»Grunewald. Es ist Grunewalds Firma. Seit 14 Jahren.«
»Seit 14 Jahren«, wiederholte er. »42.« Er setzte sich. »Ich bin 42 Jahre alt. Haben Sie herausgefunden, woher ich weiß, wie alt Sie sind?«
Inna schob ihre Unterlippe vor. »Hätte ich das tun sollen?«
»Es hatte Sie beunruhigt.«
»Sie haben sich vorbereitet.« Inna lächelte. »Sie wissen viel besser über mich Bescheid, als ich glauben soll.«
Igor runzelte die Stirn. Er zeigte zu der Wand, an der eingerahmte Auszeichnungen und Zertifikate hingen. »Da steht Ihr Geburtsdatum drauf.« Er lachte laut. »Machen Sie sich nicht lächerlich. Ich bin Schreiner. Und ein Kunde von Grunewald. Sonst nichts.«
»Sonst nichts.«
»Sie sind nicht sehr gesprächig.« Igor rieb seine Stirn. »Schwierig mit Ihnen.«
Sie deutete aus dem Fenster. »Der Sturm. Er bringt mich durcheinander.«
Igor lächelte schwach.
»Haben Sie Geschwister?«, fragte sie.
»Zwei Brüder. Beide sind jünger. David war Zimmermann, mein Bruder Victor ist Landwirt. Er baut Kohl an.«
»Igor kommt von Ingvar. Ingvar bedeutet Gotteskrieger«, bemerkte Inna.
»David ist letztes Jahr gestorben.« Igor zögerte. »Haben Sie schon mal einen Menschen verloren?«
Inna nickte langsam.
»Wen?«
»Henri.«
»Wer ist Henri?«
»Mein Vater. Er ist vorgestern gestorben. Vorgestern Nacht. Er wurde erstochen.«
»Was?«, fragte Igor entsetzt.
»Deswegen sind Sie doch hier?«
»Das glauben Sie wirklich, oder? Dass ich nicht zufällig hier bin?«
»Mein Bruder Jenke hat Sie geschickt.«
Igor schaute sich demonstrativ um. »Und was genau soll ich hier machen?« Er hob seine Finger zu einem Schwur. »Niemand hat mich geschickt. Auch nicht Jenke.« Er setzte sich und rutschte zur Sitzkante vor. »Wer hat Ihren Vater erstochen?«
»Ich kann mich nicht erinnern.«
Igor rückte seine Tasse zurecht und goss sich neuen Tee ein. »So?«
»Welchen Auftrag haben Sie? Sollen Sie mich holen?«
»Nein.« Er nahm einen Schluck Tee, lehnte sich zurück. »Sie haben etwas gesehen. Etwas, was Jenke vertuschen will. Ist er derjenige, der Ihren Vater erstochen hat?« Igor lachte komisch. »Das ist absurd.«
»Sie haben ja keine Ahnung.«
»Nein, habe ich nicht, aber ich glaube, dass Sie weggelaufen sind. Hierher, um sich vor ihm zu verstecken. Und jetzt glauben Sie, dass ich …«
»Schon als Kind.« Sie blinzelte. »Schon als Kind bin ich weggelaufen. Vor der Angst. Aber sie findet mich immer wieder. Sie ist wie eine Gestalt, die mich verfolgt.«
»Und vor was oder wem haben Sie Angst?« Igors Haut glitzerte. Er wischte mit dem Handrücken seine Stirn trocken.
»Vor den Schatten. Die Burg hatte viele davon. Überall lauerten sie und haben auf mich gewartet.«
Igor nickte. »Sie sind nicht mehr ganz dicht, oder?«
»Ich war noch ein Kind. Kinder fühlen so etwas. Das ist ganz normal. Hatten Sie denn keine Angst? Vor dem Monster unter Ihrem Bett? Meine Monster haben sich in den Skulpturen versteckt und sie lebendig gemacht. Die gesamte Burg war voll damit. Alles war so dunkel und bedrohlich, so kalt und so schwer. Schwere dunkle Möbel, knarzendes Parkett. Bücher. Regale vollgestopft mit Büchern und dunkler, ewiger Stille. Kinder haben Angst vor Stille und vor Geistern und vor Dunkelheit.«
»Sind Sie in einer Burg aufgewachsen?«, fragte er amüsiert.
Inna nickte. »Ja.«
»Ja.« Igor grunzte. »Gut. Also, in einer Burg. Hier?«
»Nein, hier ist eine Fabrikhalle, keine Burg.«
Igor rollte mit den Augen. »Hier in der Nähe.«
»Ja.«
»Die Burg Eisenfels. Am Fuße des Felsenmeers«, sagte er triumphierend. »Dort sind Sie aufgewachsen?«
»Ja.«
»Und vor den Gestalten oder den Schatten in dieser Burg sind Sie weggelaufen?« Er ließ seine Finger hin und her flattern. »Oder vor was auch immer?«
»Die Schatten kamen aus den Skulpturen. Sie haben immerzu an mir gezerrt. Wenn ich von meinem Zimmer aus in den Speisesaal wollte, habe ich mich von Vorhang zu Vorhang gerettet. Ich bin ein Stück gerannt, habe mich versteckt, den richtigen Moment abgepasst.«
»Sie hatten einen Speisesaal?« Igor lachte.
»Haben Sie sich das so vorgestellt?«
»Mit Bediensteten?«
»Das Gespräch.«
»Was?«
»Haben Sie sich unser Gespräch so vorgestellt? Läuft es in die richtige Richtung?«
Igor stöhnte. »Hören Sie auf damit. Das ist albern. Ich kenne Ihren Jenke nicht einmal, und mitnehmen oder irgendwo hinbringen will ich Sie auch nicht. Ich will mir nur ein wenig die Zeit vertreiben. Aber wenn Sie sich lieber nicht unterhalten wollen, lassen wir das einfach.«
»Vielleicht will ich aber. Nur bin ich nicht sehr gut darin. Ich kann nicht sprechen. Nicht gut. Nicht so wie andere.« Sie schaute auf die Uhr. »Haben Sie Hunger?«, fragte sie.
»Hunger!« Igor sprang auf, klatschte in seine Hände. »Warum nicht? Wir haben ja Zeit.« Er lachte schrill.