Читать книгу Die Angst der Schweigenden - Nienke Jos - Страница 14

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Marga rannte am Haus vorbei in die Scheune und holte Giselas Trense.

»Gisela!«, rief sie außer Atem. »Gisela, jetzt!«

»Marga, was machst du denn da?«

Marga schaute erschrocken auf.

Mama stand im Nachthemd am Schlafzimmerfenster und blickte zu ihr in den Hof. »Es gibt Frühstück!«, rief sie.

»Ich kann jetzt nicht«, antwortete Marga schnell. »Ich habe zu tun. Leider.«

»Und was genau hast du vor?«

»Es hat geschneit, siehst du das denn nicht?«

»Willst du Gisela retten?«

»Nein!«, rief Marga zurück. »Nicht Gisela.« Marga zeigte auf den See, zog ihre Hand erschrocken wieder zurück. Sie durfte nichts verraten.

»Keine Experimente, hörst du?«

»Meinst du, Gisela könnte einen Schlitten ziehen?«

»Marga!«

»Das Weihnachtsfest fällt aus, und ich bin schuld. Ist dir das etwa egal?«, fragte Marga empört. »Gisela ist die Einzige, die noch helfen kann.«

»Wir fahren gleich in die Stadt, den Großeinkauf erledigen. Anschließend zünden wir für Oma Gitte eine Kerze an.«

»Ich bleibe hier!«, rief Marga entschlossen.

»Zum Friedhof, Marga. Oma wird sich freuen.«

»Oma ist tot. Wie soll sie sich da freuen?«

»Hör auf, so etwas zu sagen«, schimpfte Mama.

Marga antwortete nicht. Stattdessen reparierte sie die Trense, während Gisela unbeteiligt im Schnee wühlte.

»Rein mit dir!«, rief Mama.

Marga stapfte ins Haus, setzte sich mürrisch an den Frühstückstisch.

»Dann bleibst du eben mit Opa hier«, schlug Mama vor.

»Ich muss Zeitung lesen«, brummelte er.

»Aber doch nicht den ganzen Tag?«

»Egal«, winkte Marga ab. »Ich habe sowieso zu tun.«

»Und wer passt jetzt auf wen auf?« Mama wischte Roberts Mund sauber. »Sag doch auch mal etwas dazu!«

Papa schlürfte seinen Kaffee. »Was denn?«

»Marga möchte hierbleiben.«

»Und?«

Mama seufzte, räumte den Tisch ab, wickelte Robert auf der Couch, stopfte Windeln und Lätzchen in eine Tasche, holte ein Gläschen Obst und einen Löffel aus der Küche, zwängte einen wütenden Robert in seinen Schneeanzug und erteilte Befehle. Marga saß ungeduldig auf der Treppenstufe und wartete. Dann endlich öffnete Mama die Haustür, schleppte Robert und das Gepäck zum Auto, setzte ihn in den Sitz, während Marga summte und mit einer Rassel über seinem Kopf herumzappelte.

»Was bin ich froh, dass du schon so groß bist, Marga«, betonte Mama. »Sechs Jahre schon. Das ist so, so groß«, quietschte sie. »Opa ist im Haus. Er hat den Kamin angefeuert und sich auf das Sofa gelegt. Du könntest zu ihm gehen, er liest dir bestimmt etwas vor.« Sie küsste Marga auf den Kopf. »In der Küche steht noch ein Teller mit Plätzchen und in der Tiefkühltruhe ist Pizza. Vielleicht könnt ihr eure Figuren weiter schnitzen oder aus Mandarinen neue Anhänger …«

»Anni, bitte!«, unterbrach Papa genervt.

»Und nicht raus auf den See«, befahl Mama.

Marga nickte ernst und winkte brav, als ihre Eltern vom Hof fuhren, dann lockte sie Gisela in den Unterstand. Sie verlor fast das Gleichgewicht, so gierig suchte das Schwein nach den Eicheln in ihrer Tasche. Sie packte Giselas Ohren und zog sie durch die schmale Tür in den Schuppen. »Du bist viel zu dick. Ist ja wie durch eine Katzenklappe«, motzte sie. Entschlossen stemmte sie sich gegen Giselas Hintern, dabei berührte sie mit ihrer Wange versehentlich die verkrusteten Borsten. Sie verzog das Gesicht. »Du stinkst«, beschwerte sie sich. Ihr fiel das verweste Katzenbaby ein, das sie im Sommer hinter der Scheune gefunden hatte. Sie würgte.

Gemeinsam stapften sie durch den tiefen Schnee zum Weihnachtsmann, und während Gisela genüsslich die letzten Eicheln kaute, erzählte Marga ausführlich, warum sie so lange gebraucht hatten. »Ich habe mal ein totes Katzenbaby hinter der Scheune gefunden. Das war ganz kalt und labbrig und es hat genauso gestunken.« Sie verzog angewidert das Gesicht. »Weißt du eigentlich, was ich mir wünsche? Zu Weihnachten?«

Der Weihnachtsmann schaute Marga grimmig an.

Eigentlich wäre Marga viel lieber mit einkaufen gefahren. »Ist es wegen Anton? Weil ich ihn mit Kreide angemalt habe?«, fragte sie vorsichtig. »Kriege ich deswegen keine Geschenke? Anton fand’s nicht schlimm, und ich habe ihn mit in die Badewanne genommen. Er sieht wieder aus wie neu«, versicherte sie.

»Wir müssen uns beeilen, das hast du doch verstanden?«

Marga dachte angestrengt nach, schrubbte Giselas Ohr. Sie nickte skeptisch. »Warum bist du nicht unsichtbar?«, fragte sie.

Der Weihnachtsmann seufzte genervt. »Weil ich vom Schlitten gefallen bin.«

»Vielleicht müssen wir dich gar nicht verstecken. Vielleicht kann nur ich dich sehen. Weil ich ein reines Herz habe.« Marga wackelte unsicher mit dem Kopf. Da war der Sonnenbrand auf Antons Ohren und sie hatte Mama im Stich gelassen und Robert wäre fast gestorben, und dann war da noch Queen Enina, die nun doch keine Schneckenkönigin mehr war, weil Marga sich vertan hatte. Sie hatte die Weinbergschnecke gefunden und zu den anderen in ihre Nachttischschublade gesetzt, hatte regelmäßige Gewichtskontrollen durchgeführt, die Ergebnisse in eine Tabelle eingetragen. Margas neue Schnecke hatte 26,4 Gramm gewogen, das Gehäuse war 4,2 Zentimeter groß gewesen, dickwandig und stabil, mit quer verlaufenden Riefen. Von Opa hatte sie gelernt, dass man eine Schnecke mit linksgängigem Gehäuse eine echte Schneckenkönigin nannte. Also hatte sich Marga eine Heißklebepistole besorgt und das Gehäuse verziert. Mit einem pinken Glasstein, flach und deswegen besonders gut geeignet, einem Stein aus Perlmutt, den Marga bis dahin wie einen Schatz gehütet hatte, und grünem Glitzerstaub. Marga hatte ihr Salat und Blätter und auch ein paar Eierschalen für den Kalkhaushalt gegeben, und Queen Enina hätte bis an ihr Ende glücklich werden können, wenn Marga nicht zufällig herausgefunden hätte, dass sie sich vertan hatte. Mit Schrecken hatte sie auf das Häuschen gestarrt, es immer wieder mit den anderen verglichen. Erst hatte sie gehofft, dass alle ihre Schnecken Königinnen waren, aber dann hatte sie entschieden, dass Queen Enina genauso wenig eine Schneckenkönigin war wie alle anderen und dass sie Enina zu Unrecht so wunderschön verziert hatte. Sie hatte geweint und der Gerechtigkeit wegen entschieden, dass sie Enina zurück in den Wald bringen musste.

Marga holte tief Luft. »Gut, dann verstecken wir dich eben«, sagte sie unglücklich. »Du musst trocknen. Ist dir kalt?«

Der Weihnachtsmann zupfte an seiner roten Jacke. »Ganz nass«, bemerkte er.

Marga rückte die Trense zurecht. »Ich darf Gisela kein Einhorn mehr aufsetzen, hat Mama gesagt. Schade, aber da kann man nichts machen.« Marga band das Ende des Stricks an den Schlitten. »Los!«, befahl sie. Gisela lief in kleinen Schritten durch den Schnee, ihre Ohren wippten auf und ab. Marga fand, dass Gisela gar nicht wie ein Schwein wirkte, das vom Aussterben bedroht war. Und dann konnte Marga nicht so recht einordnen, was sie sah: Aus den Taschen des Weihnachtsmanns flatterten lauter bedruckte Papiere. Sie wirbelten durch die Luft, und je schneller der Schlitten fuhr, desto wilder flatterten die schmalen Blätter aus seinen Taschen und fielen in den Schnee. Marga blinzelte. Vor ihren Füßen landete ein Fünfeuroschein, der allmählich von dicken Schneeflocken betupft wurde.

Sie schaute sich um. Mit aufgerissenen Augen starrte sie auf den Schnee. Auf den Schnee, der sich rot gefärbt hatte. Genau da, wo zuvor der Weihnachtsmann gelegen hatte.

Marga schluckte ängstlich.

Die Angst der Schweigenden

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