Читать книгу Die Angst der Schweigenden - Nienke Jos - Страница 6

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Schnee. Überall lag Schnee. Massen von Schnee, festgefahren und gefroren. Eisiger Wind fegte über den weißen Boden.

Inna parkte ihren Wagen, eilte zum Fabrikgebäude. Ein Backsteinbau mit schmalen grünen Sprossenfenstern. Erbaut 1880, umzingelt von dunklen Gestalten, die sich aus dem Wald zu ihr herüberschoben. Alte Bekannte.

Sie schaltete die Alarmanlage aus, das Licht ein. Niemand hier. Seit gestern waren alle im Urlaub, trafen Vorkehrungen für Weihnachten. Wenige Tage noch, dann würden Geschenke unter dem Weihnachtsbaum liegen, dann würden die Familien am Tisch sitzen und gestopfte Gänse essen.

Inna nicht.

Sie wartete geduldig auf ihren Kaffee. Während der Automat die Bohnen mahlte, ließ sie ihren Blick durch Grunewalds große Halle schweifen. Die unverputzten Backsteinmauern wirkten stumpf und kalt. Im Herbst glänzte das Hirnholzparkett honigfarben, sobald kräftiges Sonnenlicht durch die Sprossenfenster fiel. Im Winter nicht. Im Winter war alles trist. Nicht einmal die überdimensional großen Glühbirnen an den eingehängten Laufkatzen konnten heute etwas ausrichten.

Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, rieb ihre Hände aneinander. Die alte Fabrikhalle war nicht leicht zu beheizen. Langsam laufende Ventilatoren drückten die aufsteigende Warmluft herunter. Immerhin.

Sie erschrak, als das Telefon schrillte. Es war nicht einmal 7 Uhr. Sie legte vorsichtig ihre Hand auf den Hörer, hob ab, lauschte.

»Ich bin’s.« Grunewald räusperte sich unbehaglich. »Ich habe etwas vergessen, etwas wirklich Wichtiges.«

»Ja«, nickte Inna erleichtert.

»Ein Freund von mir besitzt eine alte Halle. Er möchte sie umbauen lassen. Ich hätte gestern vorbeischauen und sie mir ansehen sollen.«

»Ja.«

»Ja? Heißt das, du fährst vorbei?«

»Nein.«

»Nein?« Grunewald stöhnte ungeduldig. »Du musst. Es ist wichtig. Ich habe es ihm versprochen. Fahr hin, wirf einen kurzen Blick drauf.«

Inna schwieg.

»Inna, ich muss meinem Freund …«

»Ich fahre vorbei.«

Grunewald seufzte erleichtert. »Und rufst mich anschließend an.«

»Nein.«

»Nein?«

»Es braucht keinen weiteren Anruf.«

»Also wirst du nicht vorbeifahren?«

»Die Adresse per E-Mail.«

»Ich habe nur die Koordinaten.«

»Dann eben die.«

Vielleicht würde Inna doch vorbeifahren, aus Neugier, auch wenn es fast kein Bauwerk in der Umgebung gab, das sie nicht schon kannte.

Sie öffnete Grunewalds E-Mail und übertrug die Koordinaten.

Grunewald räusperte sich ungeduldig. »Es ist dringend. Heute noch. Du musst heute noch hinfahren. Jetzt. Für den späten Nachmittag ist ein Schneesturm angekündigt, besser, du machst dich sofort …«

Inna legte auf.

Sie fröstelte.

Ihre gesamte Kindheit hatte aus dieser unheilvollen Gänsehaut bestanden. Nachmittags, wenn sie die dunklen Flure entlanggeschlichen war, hatte sie sich wie ein Kleidungsstück über ihre Haut gelegt. Allein in dieser riesigen Burg mit schweren Vorhängen und schwarzen Ecken. Allein mit den übergroßen Skulpturen, die nachts zum Leben erwachten, hervorgekrochen kamen und bedrohlich wisperten. Gierige Schatten, die nach ihr langten, sich geisterhaft durch die Gemäuer bewegten.

Inna schloss ihre Augen.

Geisterhaft.

Sie arbeitete bis zum späten Nachmittag, war so vertieft, dass sie den Wetterumschwung erst bemerkte, als sie die schwere Tür öffnete. Ihr schlug eine gewaltige Bö entgegen, warf Schnee vor ihre Füße. Inna hüpfte hinaus. Ihr Auto war eingeschneit, es hatte Unmengen Neuschnee gegeben. Sie zog ihren Kopf ein, schwere Schneeflocken wurden aus grauen Wolken geschüttelt. Inna hielt schützend die Hand vor ihre Augen, die Tannen verneigten sich tief in alle Richtungen. Sie kämpfte sich über den Parkplatz zu ihrem Auto, befreite das Schloss, weil die Funkfernbedienung nicht funktionierte, riss die Wagentür auf und quetschte sich umständlich auf ihren Sitz. Schnee fiel in ihren Schoß. Es war dunkel und still im Auto. Sie schaltete das Licht ein, sah ihre Atemluft in Intervallen weiß und hektisch herausströmen.

Inna startete den Motor, die Scheibenwischer gaben nur ein hilfloses Summen von sich. Mit klammen Fingern holte sie ihr Telefon hervor. Kein Empfang, nicht einmal ein einziger Balken zeichnete sich ab.

Sie ließ den Motor laufen, stapfte zur Fabrikhalle zurück, zwängte sich durch die schwere Tür. Ihre Füße waren nass und kalt, ihre Finger steif und ungelenk.

Etwas ließ sie stutzen.

Sie war denselben Weg hin- und wieder zurückgelaufen. Sie war sich sogar sicher, dass sie in dieselben Fußspuren getreten war. In ihre eigenen, in welche sonst, es hatte keine anderen gegeben.

Oder doch?

Inna trat hinaus, blinzelte ratlos, schaute sich um. Es dämmerte bereits. Niemand war zu sehen.

Aber da waren Fußspuren.

Fußspuren eben.

Von einem Spaziergänger. Jemandem, der Schutz gesucht, Licht gesehen hatte.

Was war schon dabei?

Inna schluckte nervös. Das ungute Gefühl von heute Morgen kroch in ihr hoch.

Sie hastete zu ihrem Wagen, kletterte auf den Sitz. Sie suchte hektisch nach dem Schalter für die Zentralverriegelung. Ihre steifen Finger wollten nicht gehorchen, sie drückte zweimal, ehe sie das vertraute Geräusch der sich schließenden Anlage hörte.

Sie berührte behutsam das Gaspedal.

Nichts.

Inna spürte es. Jemand war hier, ganz in ihrer Nähe.

Sie trat erneut auf das Gaspedal, getrieben, energisch, mit weniger Vorsicht. Das Heck des Autos rutschte und rutschte nach rechts und nach links, aber keinen Zentimeter vorwärts.

Sie stieg aus.

Und dann sah sie ihn.

Er stand da und starrte sie an. Mit weit aufgerissenen Augen.

Jenke hatte ihn geschickt.

So musste es sein, entschied Inna.

Die Angst der Schweigenden

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