Читать книгу Die Angst der Schweigenden - Nienke Jos - Страница 5

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Jenke lief und lief, den Kopf eingezogen, sein Gesicht vergraben. Er eilte über gerostete Schienen und an Mauerresten vorbei. Er fror, dachte an den Tod. Tagein, tagaus. Daran zu denken, war eine Selbstverständlichkeit. Der Tod hatte seine Zuneigung, hielt ihn im Fahrwasser. Es war fast wie eine Schwärmerei, für die es sich zu leben lohnte.

Die Bänke zwischen den heruntergekommenen Wanderwegen verlassen und leer. Schienen getränkt in saftigem Moos und giftigem Farn. Eine raue und gefährliche Gegend, weitab von vorweihnachtlicher Stimmung, weitab von Glühweinbonbons und Räuchermännchen.

Jenke steuerte auf den alten Rostbahnhof zu. Es genügte ein kurzer Blick an dem Gebäude vorbei und er entdeckte, wonach er suchte: Der alte Mann lag dort in seine Decken gehüllt, neben ihm Tüten, Taschen, ein Rucksack. Ohne zu zögern, stürzte er sich auf ihn und drückte zu, während der Penner seine Augen aufriss und keinen Laut von sich gab. Nicht einmal ein Gurgeln oder Röcheln. Nichts. Der Alte zappelte und strampelte, aber Jenke war schwer und groß. Fasziniert von den weit aufgerissenen Augen kostete er den Moment aus, obgleich er wusste, dass er eine Straftat beging. Es war die stumme Begeisterung, mit der er dem Mann etwas schenkte, was er selbst so sehr begehrte.

Es dauerte.

Der Penner war betrunken.

Vielleicht lag es daran. Vielleicht aber auch daran, dass sich der Obdachlose eines Lebenswillens bediente, den er selbst nicht aufzubringen vermochte.

Endlich hörte der Penner auf zu atmen.

Stille.

Jenke ließ von ihm ab, richtete sich auf, schaute sich um. Niemand weit und breit. Nur die Dunkelheit.

Er betrachtete seine Hände.

Und den Toten.

Es vibrierte. In der Ferne leises Schrillen. Es kam näher, wurde lauter, er wollte es abschütteln, aber es ließ sich nicht verscheuchen. Er fiel, schreckte hoch. Das Telefon klingelte unablässig, er tastete danach, benetzte seine Lippen, räusperte sich.

»Ja?«, hauchte er in den Lautsprecher.

Es knackte. Jemand legte auf.

Er schaute auf die Uhr. Früher Abend, er musste dringend los. Auf allen vieren kroch er ins Bad, zog sich am Waschbecken hoch. Er sah müde aus. Vielleicht, weil er im Traum einen Penner erwürgt hatte.

Plötzlich tat ihm der Penner leid.

Er zog sich an, schnürte seine schweren Boots. Es hatte geschneit. Schnee machte die Menschen großzügig. Er würde heute viele Spenden sammeln. Es würde das letzte Mal sein.

Auf dem kleinen Adventsmarkt besorgte er sich Eierpunsch und beobachtete still die Flammen, die neben der aufgestellten Krippe in einer Feuerschale züngelten. Sie bildeten zuweilen groteske Fratzen, die ihm hämisch vorführen wollten, dass er die Fähigkeit zur Veränderung seiner eigenen Lebenssituation längst verloren hatte.

Jenke schloss die Augen, lauschte den Geräuschen und Stimmen um ihn herum. Sollten die Flammen doch alles verschlingen. Sollten sie doch glauben, was sie wollten. Jenke würde es ihnen schon zeigen.

Er schlenderte über den Markt. Heiße Maronen und Anisbonbons, fettige Pommes, Würstchen und Waffeln schmiegten sich um seine Nase. Jenke lief über Holzraspel, vorbei an einem Stand mit handbemalten Schüsseln und Strohkörben. Menschengruppen drängelten zur Krippe, ein Pärchen küsste sich, eine Mutter schimpfte ihr Kind, weil Ketchup von seinem Brötchen auf die Jacke getropft war.

Er kaufte sich einen weiteren Eierpunsch, trank gierig, ließ sich durch die Menge schieben. Seine Hand hatte er in die Tasche gesteckt, nervös befühlte er das Messer und strich mit dem Daumen die glatte Oberfläche entlang.

»Geht es Ihnen gut?« Eine Frau mit Mütze sah ihn besorgt an. »Sie weinen ja«, stellte sie fest.

Er wischte die Tränen weg, schleppte sich zur Kirche, das kalte Bauwerk empfing ihn dunkel und herrisch. Er zog sich um, nahm die Spendendose aus dem Korb. Stahlblech mit lackiertem Außenmantel, verschlossen mit einer Plombe. Er taumelte los, stolperte die breiten Treppenstufen hinunter auf den kleinen Marktplatz. Er trank den Punsch in großen Schlucken. »Eine Spende bitte«, lallte er.

Nach zwei Stunden lehnte er sich müde und benommen an das Kassenhäuschen des Kinderkarussells und wartete. Ich muss zu Henri, dachte er wie ein Mantra in die Kälte hinein. Er schleppte sich vorwärts, hatte Schwierigkeiten, niemanden anzurempeln. Der Kircheneingang schwankte. Jenkes Gedanken wirbelten umher wie betrunkene Geister. Er schüttelte sie ab, drängelte sich durch den überfüllten Weihnachtsmarkt, die Dose schleppte er mit. Er konnte sie heute nicht mehr zurückgeben.

Jemand rempelte ihn an. »Scheiße.« Ein Mann hob abwehrend seine Hände. »Scheiße, was hast du denn da?«

Jenke schaute an sich herunter. Das Messer hielt er fest umklammert. Er entschuldigte sich und steckte es zurück in seine Tasche.

Er dachte angestrengt nach. Seine Gedanken kamen träge, mussten sich durch heillos viele Gänge schleppen, gerieten durcheinander.

Nur der gesellschaftliche Status eines erwachsenen Mannes, dachte er gekränkt. Über die vielen Jahre. Eine Nuance, die seinen Vater wie einen Phönix aus der Asche getragen hatte, während er darin erstickt war.

Er ließ sich aus der Menge schieben, schaffte es vom Weihnachtsmarkt auf die schmale Hauptstraße. Er trottete in den nahegelegenen Wald, am Trafohäuschen vorbei und von dort den steilen Pfad hinauf. Er rutschte aus, fiel. Seine Wange drückte sich in den Schnee. Er sah den Penner. Der Alte stand im Licht und weinte.

Er würde sein Versprechen halten. Der Glaube daran trieb ihn weiter durch die Kälte.

Zu Henri.

Zur Höhle.

Er würde nie mehr zurückkehren.

Die Angst der Schweigenden

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