Читать книгу Die Angst der Schweigenden - Nienke Jos - Страница 9
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ОглавлениеGroß. Eine große, dunkle Gestalt.
Inna hastete zurück auf ihren Sitz, verriegelte die Türen. Sie keuchte angespannt. Da war niemand. Niemand, der sich hierher verirrt hatte. Die Gestalt existierte nur in ihrer Fantasie, emporgestiegen aus der Essenz ihrer Ängste, ihrer feinen Sinne.
Ihr Auto wackelte. Der Sturm hatte an Stärke zugenommen, hob ihren Wagen an, ließ ihn fallen, klopfte an ihre Seitenscheibe. »Machen Sie auf!«, schrie er.
Inna traute sich nicht, blieb erstarrt in ihrem eingeschneiten Auto sitzen, die Verbindung zur Außenwelt nahm mit jeder weiteren Schneeflocke ab.
Es klopfte erneut an die Scheibe. Energischer. Lauter. Eher ein Hämmern. »Machen Sie auf!«, schrie der Sturm. »Bitte, machen Sie die Tür auf!«
Inna hatte sich auf die Zunge gebissen. Sie schmeckte Blut.
»Nicht wegfahren! Bitte, reden Sie mit mir!«
Reden Sie mit mir.
Reden.
Sie dachte an Grunewald.
»Kannst du dich überhaupt unterhalten, Inna? Kannst du? Mal hier und da ein wenig plaudern? Eine verdammte Konversation führen? Ist gut für die Geschäfte«, hatte er vor vielen Jahren lamentiert.
»Ich arbeite. Das ist gut für die Geschäfte.«
Grunewald hatte den Kopf geschüttelt. »Menschen können sehr nett sein. Man kann mit ihnen reden. Der gemeine Mensch …«
»Ich bin …«
»Du bist kein Mensch. Du bist Statikerin«, hatte Grunewald sie unterbrochen.
»Ich …«
»Versuch’s doch mal.«
»Was denn versuchen?«, hatte Inna hilflos gefragt.
»Unterhalten. Versuch, dich mit anderen Menschen zu unterhalten.«
»Und worüber?«
»Über dich. Über dein Leben. Über andere. Über das Leben anderer.«
»Über das Leben? Über das Leben anderer?«
»Über Hobbys, Lieblingsfarben, Musikgeschmack. Man fragt sich, wie es geht oder was man am Wochenende vorhat. Man erzählt sich Geschichten aus der Kindheit. So macht man das!«
»Aus der Kindheit?« Inna hatte verständnislos die Augenbrauen hochgezogen.
»Zum Beispiel.«
»Was denn für eine Kindheit?«
»Herrgott, Inna! Kindheit! Hattest du denn keine? Mit Fingerfarben malen, schwimmen gehen, Sandburgen bauen und von Mauern springen. Hat dir dein Vater nicht das Fahrradfahren beigebracht? Das nennt man Kindheit! Man spielt mit Steinen und malt Bilder, man spielt Verstecken, kriecht in Höhlen und …«
In diesem Moment hatte Inna ihm ins Gesicht geschlagen.
»Inna …«, hatte Grunewald entsetzt gestammelt und seine Wange gehalten. »Ich …«
»Es gibt keine Höhle. Gibt es nicht.«
Sie holte tief Luft, zögerte, drückte mit klammen Fingern den Knopf der Zentralverriegelung.
Reden.
Über das Wochenende. Über die Kindheit.
Es dauerte einen Moment, dann wurde die Beifahrertür aufgerissen. Der Fremde schob sich mühsam auf den Sitz. Die Autotür fiel zu. Der Knall wirkte bedrohlich, endgültig.
Kein Zurück mehr.
Stille. Noch mehr Stille, nur der Sturm heulte in der Eiseskälte wie ein wildes Tier um sein Opfer. Inna hielt den Atem an.
»Danke«, stöhnte der Mann. »Das ist sehr freundlich von Ihnen.«
Reden.
Über das Leben. Über die Kindheit. Über das Wochenende.
»Was machen Sie am Wochenende?«, fragte Inna steif.
»Wie bitte?«
Sie schüttelte den Kopf. »Hier? Was machen Sie hier?«
»Ich war spazieren. Der Schneesturm hat mich überrascht.«
»Haben Sie den Wetterbericht nicht gehört?«
»Sie auch nicht«, spottete der Mann. »Wir könnten die Fußmatten unter die Räder legen.« Der Fremde machte eine bedeutungsvolle Pause. »Ehrlich gesagt …«
»Schnee«, sagte Inna schnell. »Sehr viel Schnee.«
Der Mann nickte. »Ich hatte überlegt zurückzulaufen, aber dann wäre ich drei Stunden unterwegs gewesen, wahrscheinlich länger. Der Sturm ist gewaltig, und es wird schon dunkel.« Er lachte nervös. »Ein Glück, dass Sie mir geöffnet haben.«
Inna presste ihre kalten Hände um den Lenker. Ein Glück. Ein Glück, dass sie ihm geöffnet hatte. Oder?
Der Mann lehnte sich zurück, verschränkte seine Arme, als könnte er damit seine Körperwärme speichern. Er schloss zufrieden seine Augen.
»Gut«, begann Inna. »Wir schaufeln die Räder frei, wir machen das mit …« Sie fuchtelte mit ihren Händen Richtung Fußraum. »Wir machen das mit diesen Matten.«
»Und dann?«
»Und dann.«
»Wir schaffen es nicht einmal vom Parkplatz, und das hier ist erst der Anfang. Der Sturm wird weiter zunehmen und es wird noch mehr Schnee fallen.«
»Wir müssen es versuchen.«
»Wir stecken hier fest. Da hilft nur abwarten.« Der Fremde öffnete seine Augen. »Seien Sie nicht albern.« Er streckte ihr seine Hand entgegen. »Geben Sie mir die Schlüssel zu Ihrer Fabrikhalle. Ich möchte nicht erfrieren.« Er räusperte sich. »Sie können ja im Auto bleiben.«
Inna presste ihre Lippen aufeinander, ihren Blick auf die Mittelkonsole gerichtet. Der Mann langte blitzschnell nach dem Schlüsselbund und stürmte hinaus.
Sie öffnete ihren Mund, kein Laut kam heraus, nur ihr Atem, der sich feige in die eiserne Finsternis verflüchtigte. Sie zog den Autoschlüssel ab, wartete. Wartete auf einen Impuls, die Tür aufzureißen und in die Kälte zu stürzen. Sie würde sich keuchend durch den Tiefschnee kämpfen, hier und da Gestalten sehen.
Etwas war ihr aufgefallen. An den Handgelenken des Mannes. Es hatte sie irritiert.
Der Sturm hämmerte erneut gegen ihre Scheibe. »Seien Sie nicht albern! Kommen Sie da raus, bitte!«, schrie er.
Kommen Sie da raus.
Inna nickte.
Kommen Sie da raus.
Wie gern wär’ sie damals aus der Höhle gekrochen. Einfach so.
Sie öffnete die Tür, ließ sich vom Sitz gleiten. Tobende Schneeböen empfingen sie. Der Mann packte ihren Arm, stieß die Tür zu. Sie bückte sich, schützte sich vor den gewaltigen Schneeflocken. Mit großen Schritten stapfte der Fremde durch den tiefen Schnee und zog sie hinter sich her. Wann immer sie stolperte, weil seine Schritte viel zu groß waren, riss er sie hoch und zog sie weiter. Ihr Arm schmerzte. Seine groben Hände bohrten sich durch ihre Jacke. Sie kniff ihre Augen zusammen.
»Rein hier!«, hörte sie ihn brüllen.
»Rein hier!«, hörte sie Jenke.
Inna öffnete ihre Augen einen Spalt, zwängte sich durch die schmale Türöffnung.
Der Mann stieß sie aus dem Weg, zog die Tür mit einer kräftigen Bewegung zu. Er klopfte seine schwere Jacke ab und stampfte auf den Boden. »Geschafft«, verkündete er erleichtert. »Haben Sie nasse Füße?« Er zeigte auf ihre Turnschuhe.
Inna wackelte mit den Zehen.
»Schön warm ist es hier«, bemerkte er.
Schön warm ist es hier.
Inna nickte wieder.
Der Mann zeigte in die Halle. »Viel angenehmer, als die ganze Nacht in Ihrem Auto zu verbringen. Wir haben es warm, wir haben …« Er schaute sich um. »Wir können uns setzen, wir haben einen Weihnachtsbaum.« Er lachte. »Vielleicht sind die Kugeln etwas groß, aber er passt in das spärliche Ambiente.«
Inna zog ihre Jacke aus und hängte sie an die Garderobe.
Menschen.
Nette Menschen.
Nette Menschen fragt man nach ihren Hobbys. Oder danach, was sie am Wochenende vorhaben.
Er reichte ihr seine Jacke, lächelte dankbar. »Ich heiße Igor.«
Igor.
Igor hatte große, raue Hände. Arbeiterhände. Und dann sah sie erneut, was sie im Auto bereits irritiert hatte. Ein bläulicher Schatten um seine Handgelenke.
»Gibt es jemanden, der auf Sie wartet? Der Sie heute Nacht vermisst?«, fragte er.
Jenke. Jenke wartete auf sie.
Sie ging zu einem der Telefone, wählte Grunewalds Nummer. Kein Freizeichen. Nicht einmal ein Knacken. Sie schluckte. »Grunewald?«, fragte sie in den Hörer, klammerte sich am Schreibtisch fest. »Du musst herkommen.« Sie legte auf, räusperte sich. »Grunewald kommt.« Inna schaute auf ihre Armbanduhr. »Gleich«, log sie.
Igor lächelte. Sein Lächeln wirkte aufgesetzt.
»Dann …« Sie lief gezielt auf den Wasserkocher zu. »Sie wollen vielleicht einen Tee.« Sie holte zwei Tassen aus dem Schrank. Während der Kocher das kalte Wasser erhitzte, starrte sie auf die Anrichte.
Fragen.
Fragen stellen.
Fragen beantworten.
Zum Beispiel über das Leben.
Sie öffnete eine Packung Christstollen.
»Wenn Sie ein Messer haben?« Igor streckte ihr erwartungsvoll seine Hand entgegen. »Dann kann ich ihn in Scheiben schneiden.«
Inna schüttelte den Kopf. »Nein«, entgegnete sie, zeigte auf das Sofa am Fenster. »Setzen Sie sich.« Weit genug weg. Bis Grunewald kam.
Ihr Herz klopfte.
Grunewald würde nicht kommen. Es gab keinen Grunewald, der sie abholen würde. Es gab überhaupt niemanden.
Igor schaute zu Boden. »Ich jage Ihnen Angst ein, oder? Nach einem Messer zu fragen, ist nicht sehr hilfreich.«
»Nein.«
»Nein«, lachte er. »Das verstehe ich.« Er schlenderte zum Sofa und setzte sich. »Sie heißen Inna.«
Sie schluckte trocken.
Und dann hörte sie es wieder. Das unheilvolle Rascheln.
Igor wusste also Bescheid. Bescheid darüber, dass Grunewald nicht kommen würde. Bescheid darüber, dass sie nicht hatte telefonieren können. Igor wusste Bescheid, weil er selbst dafür gesorgt hatte, dass die Telefonleitungen tot waren.