Читать книгу Die Angst der Schweigenden - Nienke Jos - Страница 12

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Die Luft war grau, und dicke Flocken fielen schwer vom Himmel. Ihren Schlitten durch den frischen Tiefschnee zu ziehen, war mühsam. Hier und da fand Marga Spuren von Hasen und Rehen, aber nirgendwo Hinweise auf ein abgestürztes Rentier.

Gisela streckte neugierig ihren Kopf aus der Hütte.

»Ich habe jetzt keine Zeit für dich«, keuchte Marga.

Im Sommer schon. Im Sommer hatte sie Zeit. Da gab es keinen Weihnachtsmann, der verletzt im Schnee saß und gerettet werden musste. Da gab es nur die Sonne und Blumen und Gras und Insekten und ihren Hof und Wasser zum Spritzen und Mama, die Melonen rausbrachte und ihr über den Kopf streichelte, wenn sie mit ihrem Meerschweinchen dicht an Giselas Zaun saß und sich Geschichten ausdachte. Anton hatte dabei mal einen schrecklichen Sonnenbrand bekommen. Seine weißen Ohren waren knallrot geworden und hatten sich wenige Tage später gepellt. Seitdem cremte Marga sie sorgfältig mit Sonnenlotion ein.

Sie hörte neben sich das Knacken eines abbrechenden Astes. Gewaltige Schneemassen fielen mit ihm herab, ein Eichhörnchen sprang zurück zum Stamm und lief hektisch die Baumkronen entlang, dabei löste sich immer mehr Schnee, der auf Marga herabfiel, sodass ihr Kragen bald durchnässt war und ihre Wangen vor Kälte brannten.

Sie lief weiter, hatte die Kordel fest um ihre Hand gewickelt. Eigentlich gab es den Weihnachtsmann nicht, genauso wenig, wie es das Christkind gab oder Gott oder die Zahnfee oder den Osterhasen oder den Nikolaus. Und wenn doch? Wenn es ihn doch gab und nur keiner Lust hatte, an ihn zu glauben?

Marga seufzte, stapfte weiter durch den tiefen Schnee. Der Weihnachtsmann lag da und schlief, hatte seine Arme und Beine weit von sich gestreckt.

Marga beugte sich über ihn. »Du musst wach werden.«

Erschrocken öffnete er seine Augen. »Wie lange liege ich hier?«

»Das habe ich mich auch schon gefragt.« Sie runzelte ihre Stirn. »Als ich gefrühstückt habe, warst du noch nicht vollgeschneit, so wie jetzt.« Sie zeigte auf seinen roten Samtanzug. »Kannst du dich eigentlich an nichts erinnern?« Marga legte ihren Kopf in den Nacken. Mit ihrer ausgestreckten Zunge fing sie Schneeflocken auf. »Ich darf keinen Schnee essen«, bedauerte sie. »Mama hat es mir verboten. Sie meint, dass ich vom Schneeessen Durchfall bekomme.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich habe Anton mal mit Schnee gefüttert. Kein Durchfall. Mama erlaubt es mir trotzdem nicht.« Sie schielte auf die Flocken, die auf ihrer Nase zu schmelzen begannen. »Übrigens hätte ich auch lieber keinen Bart, wenn ich der Weihnachtsmann wäre.« Marga zog besorgt ihre Augenbrauen zusammen. »Du hast eine Gehirnerschütterung.«

»Hör mal, Mädchen, du …«

»Marga, und du brauchst keine Angst zu haben. Ich hatte auch mal eine, das ist gar nicht schlimm. Man ruht ein paar Tage und jemand leuchtet einem in die Augen.« Sie räusperte sich. »Ich habe sogar gekotzt.«

»Und was ist passiert?«, stöhnte der Mann ungeduldig.

»Nichts. Mama hat mir meine Haare zurückgehalten und meinen Rücken gestreichelt.« Sie winkte ab. »Ich bin geritten. Letzten Sommer.«

»Scheißpferde.«

»Nein. Gisela ist ein Schwein. Ein Bentheimer Landschwein. Sie ist vom Aussterben bedroht.«

»Du bist auf einem Schwein geritten?«

»Auf Gisela, ja. Sie hat ganz viele schwarze Flecken.«

»Mit einem Sattel und Zaumzeug?«

»Und einem Einhorn.«

»Vom Schwein gefallen.« Der Weihnachtsmann tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.

»Gisela wiegt 187 Kilo.« Marga lächelte stolz. »Ich habe sie mal gewaschen und eingeschäumt.« Sie brachte den Schlitten in Position. »Und wie soll das jetzt gehen? Du bist so dick.«

»Wie soll denn ein dünner Weihnachtsmann den riesigen Sack mit den Geschenken schleppen und die Rentiere versorgen und die Wichtel beaufsichtigen?«

»Wichtel?«, hauchte Marga.

Der Weihnachtsmann stemmte sich krächzend auf alle viere. Er verharrte mit schmerzverzerrtem Gesicht.

»Bekommst du ein Baby?« Marga wich zurück.

Mama hatte damals geblutet und geschrien und einen roten Kopf bekommen, und als Robert aus ihrer Scheide geflutscht war, hatte Mama noch mehr geblutet und noch mehr geschrien. Marga hatte ein Handtuch besorgen und Robert darin einwickeln wollen, aber Papa war zur Haustür hereingestürmt und hatte Marga unsanft zur Seite geschubst. »Lass mich durch«, hatte er gebrüllt und sich auf Robert gestürzt, der nun nicht mehr rosig war, sondern lila. Marga hatte sich mit Anton in die Scheune verkrochen. Sie war in den Unimog geklettert und erst wieder herausgekommen, als sie am Abend Papas Stimme gehört hatte. Papa hatte ihr erklärt, dass es Robert und Mama gut ginge. Ständig war eine Frau im Haus umhergeschlichen, die nach Mama und Robert geschaut hatte. Marga hatte Bilder malen dürfen und mit der Frau über alles sprechen können, wozu Marga Lust hatte. Mama hatte immerzu auf der Couch gelegen und geweint, obwohl Robert ganz weich und warm war, gar nicht mehr lila. Marga hatte seine Milch probieren dürfen, die wässrig und süß geschmeckt und im Hals gebrannt hatte. Papa war ihr kaum von der Seite gewichen. Ständig hatte er sie besorgt angesehen und ihr über den Kopf gestreichelt, und Mama hatte in besonderem Maße fürsorglich gewirkt, weil sie ständig gefragt hatte, ob ihr warm genug sei, ob sie Hunger habe oder kuscheln wolle. Mama hatte Geschichten von neuen Babys und Familien vorgelesen, und ihr wurde ein besonderes Nachtlämpchen ans Bett gestellt.

»Mädchen?«

Marga zuckte zusammen.

»Was ist jetzt?«

Eifrig positionierte sie den Schlitten unter seine Körpermitte. Der Weihnachtsmann ließ sich herabsinken. Er stöhnte und sog geräuschvoll die Luft ein.

»Geschafft!«, rief Marga und hüpfte von einem Fuß auf den anderen. »Ich bringe dich in die Scheune«, erklärte sie wichtig. »Da kannst du trocknen.« Sie straffte das Seil, zog, aber der Schlitten ließ sich nicht bewegen. Nicht einen Zentimeter.

Marga ließ sich in den Schnee sinken, trotzig griff sie hinein, steckte sich eine Handvoll davon in den Mund. Dann fiel ihr Gisela ein. »Natürlich!«, rief Marga laut und sprang auf. »Warte hier«, befahl sie und rannte los. Sie hörte sich keuchen, ihr Herz klopfte wild.

Jetzt würde doch alles gut werden, dachte sie, auch wenn sie den Weihnachtsmann lieber nicht retten wollte.

Die Angst der Schweigenden

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