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Vorberichterstattung

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Michael ist heute Abend völlig überraschend außer Haus. Mal wieder. Am heutigen Nachmittag war ich mit ihm noch gemeinsam joggen, weil er dafür nach Absprache mit Anja die Erlaubnis erteilt bekommen hat. Ich muss unbedingt wieder in Form kommen, denn von meinem einst existenten Waschbrettbauch sind nur noch geringfügige Umrisse zu erkennen, die lediglich eine durchtrainierte Vergangenheit vermuten lassen. Als Laufpartner bietet sich mein Teilzeit-Mitbewohner in optimaler Weise an, denn er nimmt seit Jahren regelmäßig am Köln-Marathon teil und ist damit meinen konditionellen Fähigkeiten gegenüber weitaus überlegen, was für mich wiederum bedeutet, mir nicht annähernd meine deutliche Unterlegenheit anmerken zu lassen und bis zum letzen Meter zu kämpfen. Und das kann ich in aller Regel ganz gut. Ich halte sowohl Tempo als auch Distanz. Wenn ich mein Training konsequent fortsetzte, könnte ich sicherlich des Öfteren mit ihm laufen gehen, aber mein enger Zeitplan als Lehramtsstudent lässt da nicht viele Freiräume zu. Zu oft stehen nämlich irgendwelche Partys an, auf denen ich einfach nicht fehlen darf. Ich bin ein Opfer meiner permanenten Angst, irgendetwas verpassen zu können. Ein weiterer Grund das Lauftraining hinten an zu stellen, ist dieser, dass es eben schneller geht, den auf Partys eingefangenen Alkoholkater auszukurieren, den man in aller Regel bis zum Abend des Folgetages besiegt haben sollte, als den vom Laufen zermürbenden Muskelkater, von dem man mitunter bis zu einer Woche lang etwas haben kann. Heute ist endlich wieder Freitag und nach einem langweiligen Uni-Tag ohne wirklich lehrreiche Seminare und Vorlesungen, möchte ich es mir nicht nehmen lassen, am Abend um die Häuser zu ziehen.

»Drrrrrrr«, tönt es von der Türe im Flur. Ben scheint da zu sein und klingelt Sturm.

»Drrrrrr, drrrrrrrr« Ich selber stehe noch im Badezimmer vor dem Spiegel und versuche meine Haare ausgehgerecht zu gestalten. Ben sagt, ich habe eine Brit-Pop-Frisur, was aber gar nicht stimmt. Heute sehen meine Haare nach skandinavischem Indie-Rock aus. Sie liegen fast perfekt, aber eben auch nur fast. Irgendetwas fehlt und deswegen lasse ich Ben noch einige Minuten weiter Sturm klingeln. Ich kämme meine Haare noch mehr zur Seite und unterstütze den Halt mit einer kräftigen Brise Haarspray. Das Geheimnis in dieser Phase des Stylings liegt darin, die richtige Dosierung an Haarspray zu finden. Nehme ich zu wenig, zerzausen die Haare beim ersten Windstoß wieder und die ganze Arbeit war umsonst. Die Nacht über werde ich dann wie ein blonder Pumuckel aussehen. Sprühe ich mir hingegen zuviel der klebrigen Mixtour auf den Kopf, entsteht der Eindruck, meine Haare seien fettig und ungepflegt. Es ist immer ein sehr schmaler Grad, auf dem ich mich täglich ein- bis zweimal bewegen muss. Der Indie-Rock-Szene mach ich damit keine Ehre. Um ungeschadet und gutaussehend aus dieser Sache wieder hinauszugehen, benötige ich viel Ruhe und Zeit, und deswegen wird Ben noch ein wenig warten müssen. Erst als es in meiner linken Hosentasche anfängt zu vibrieren und ich bemerke, dass er mich bereits versucht, telefonisch auf dem Handy zu erreichen, erbarme ich mich, zwinkere meinem Spiegelbild noch schnell lächelnd zu, renne durch die Küche und rutsche auf meinen Socken zur Tür, um den Türöffner zu betätigen. Ich dürfte nun gut aussehen, öffne die Türe und höre Ben mit großen Schritten die zahlreichen Treppenstufen hinaufstapfen, dabei böse Flüche in die Welt ausstoßend. Wir wohnen im vierten Stock und Ben ist nach neun Semestern Jurastudium, nächtlichen Eskapaden und schlechter Ernährung nicht mehr der Sportlichste unter seinen Zeitgenossen. Er ist überzeugter Junggeselle. Die letzte ernstzunehmende Beziehung, die er führte, endete ohne jede Vorwarnung vor gut dreieinhalb Jahren. Die Bierflaschen in seinem Gepäck klirren und erwecken in mir eine gewisse Vorfreude auf den heutigen Abend. In der Biologie spräche man hierbei vom Schlüsselreiz. Wie einem Pawlow’schen Hund läuft mir das Wasser im Munde zusammen.

Eines der schönsten Mädchen in meinem Semester feiert heute ihren Geburtstag. Sie heißt Lena, und Ben und ich sind eingeladen. Bei ihr zu Hause auf einer WG-Party. Früher gab es ja nichts Schöneres als Partys bei Freunden zu Hause. Die besten Partys feierte ich in meiner Jugend immer bei irgendwelchen Leuten daheim, wenn die Eltern außer Haus und Hinz und Kunz im Haus waren. Bei keiner anderen Gelegenheit kann man sich so angenehm und unbedrängt betrinken, so leicht mit anderen Menschen in Kontakt geraten, Mädchen kennenlernen und in aller Rücksichtslosigkeit so tun als gäbe es keinen Morgen. Eingebettet in die Unbeschwertheit der Jugend. Mir ist klar, dass Lena nicht mehr zu Hause wohnt, sondern in einer Dreier-Mädchen-WG in Köln-Sülz. Also eigentlich ja nur umso besser. Außerdem vermute ich, dass Lena auf mich steht und das allein verweist schon auf einen tollen Abend. Vielleicht sogar auf eine tolle Nacht. Lena ist heute 23 Jahre alt geworden, hat schulterlanges, blondes und stufig geschnittenes Haar. Sie ist ungemein schlank, ist sportlich gebaut und entspricht damit genau meinem Frauengeschmack. Lena studiert Deutsch und Biologie. Ich hingegen Deutsch und Philosophie. Warum ich das tue, weiß ich nicht. Wahrscheinlich, weil dies meine Leistungskurse während des Abiturjahrgangs waren. Ich lernte Lena als Erstsemestler in der Universität kennen. Wir saßen im völlig überfüllten Hörsaal hinter der letzten Reihe auf dem Boden. Einführung in die Literaturwissenschaft. Versteckt hinter unseren Kommilitonen konnten wir ausgiebig schwatzen und uns über bevorstehende Erstsemester-Partys und unsere beruflichen Ziele unterhalten. Als gewissenhafte Sek2-Lehramtsstudenten hatten wir dieselben Vorlesungen, die uns in die Materie der deutschen Sprache einführen sollten. Lena wurde direkt im ersten Semester eingeführt. Ich hingegen erst im Folgesemester, weil ich mein Debütantendasein an der Uni nicht ernst genug genommen habe und es für wichtiger hielt, möglichst viele Partys mitzunehmen, was mich dazu veranlasste, nicht zu lernen und die Klausuren folglich nicht zu bestehen. Außerdem verlor ich in der Folge zunehmend die Motivation überhaupt noch anwesend zu sein. Es gab keine Anwesenheitspflicht, warum sollte man dann anwesend sein? Und Lena habe ich nur einige wenige Male wieder gesehen, so dass auch dieser motivationale Faktor letzten Endes wegfiel. Lena und ich haben uns niemals außerhalb der Universität gesehen, was mitunter daran lag, dass wir beide liiert und damit vergeben waren. Vergeben ist sie nun augenscheinlich nicht mehr. In studentischen Kreisen wird viel gemunkelt. Ich hingegen schon, aber das verschwieg ich ihr bei unserem letzen Aufeinandertreffen. Lena fragte mich auch nicht. Wir trafen uns vor zwei Wochen zufällig in der Warteschlange vor einem universitären Kaffeeautomaten, an dem man aufgewärmtes schwarzes Wasser käuflich erwerben kann. Neben dem obligatorischen Smalltalk, in dem ich auch davon in Kenntnis gesetzt wurde, welche Professorinnen und Professoren im Augenblick überhaupt nicht angesagt seien, wurde ich ganz nebenbei zu ihrer heutigen Party eingeladen. Ich könne auch gerne einen Freund mitbringen, meinte sie. Wie süß. Ich sagte sofort zu. Dem eigenen Beziehungsstatus zum Trotz. Party ist Party.

Meine Freundin Sophie ist blutjunge 20 Jahre alt, ein eigentlich tolles Mädchen und hoffnungslos in mich verliebt. Ich mag sie auch und genieße es, mit ihr zusammen zu sein. Es ist weniger intensiv als praktisch, aber mit der Liebe ist das halt immer so eine Sache. Ich habe schon oft darüber nachgedacht, Schluss zu machen, aber das ist ein Handwerk, in dem ich einfach minderbemittelt bin und noch nie gut war. Wenn ich in der Vergangenheit merkte, dass ich eine Beziehung zu beenden habe, blieb mir nichts anderes übrig als wochen- oder teils monatelang darauf hinzuarbeiten, so dass das Mädchen wiederum Gründe findet, mit mir Schluss zu machen. Ich bin mir bei allem Wohlwollen nicht sicher, ob ich Sophie liebe. In der Beziehung mit ihr schätze ich aber, dass ich den Freiraum bekomme, den ich nötig habe. Ginge es nach Ben, bin ich Sophie zweimal fremdgegangen, was ich ihr bis heute nicht beichten konnte. Es ist auch alles schon lange her und ich weiß auch gar nicht, ob es als Fremdgehen gezählt werden darf, deswegen mach ich mir vermutlich überflüssige Gedanken. Das ist alles Auslegungssache. Und des Weiteren ohnehin nur Schall und Rauch. Das erste Mal war ich wie so häufig mit Ben in unserem charmanten Köln unterwegs. Es war sehr spät in der Nacht, das Mädchen war hässlich und wir haben uns nur geküsst. Noch am Abend zuvor küssten Sophie und ich uns das erste Mal. Nach Sophies Definition sind wir seit genau diesem Abend ein Paar. Aber mal ehrlich: Wie viele Beziehungen hat man denn dann unter diesen Voraussetzungen schon geführt? Deutlich zu viele. Hätte ich die gleiche Definition des offiziellen Zusammenseins gehabt, wäre es sicherlich nicht zu dem Kuss gekommen. Das zweite Mal war ein halbes Jahr später in Bonn. In einem eigentlich ziemlich uncoolen Club, in dem Mainstream-Musik lief und verwöhnte Teenies tanzten, trafen wir zufällig eine alte Schulfreundin, weswegen wir im Kollektiv kurzerhand beschlossen haben, miteinander durch weitere, noch uncoolere Clubs zu ziehen. Und dann wohnte sie auf einmal direkt nebenan und ich hätte eine gute Weile auf meine Bahn warten müssen. Also bin ich mit zu ihr gegangen, was keinesfalls geplant und eigentlich auch gar nicht gewollt war, sondern mehr so eine Laune des Augenblicks. Wir haben uns nicht geküsst. Stattdessen massierte ich wankend ihren Rücken und sie kam dann auf die plötzliche Idee mich oral zu befriedigen. Die Rechnung machte sie aber ohne meine Libido. Ich trank am Abend so viel Bier, dass mir keine Erektion gelingen wollte. Muss demütigend für denjenigen sein, der bläst. Und peinlich für den, der blasen lässt. Folglich - je nach Auslegung - kann dieses Intermezzo auch nicht als Fremdgehen gezählt werden. Denn unterm Strich passierte ja nichts.

Sophie wohnt nach ihrem erfolgreich abgeschlossenen Abitur seit kurzem auch in Köln. Sie macht eine Ausbildung zur Industriekauffrau im Kölner Norden und kennt noch nicht viele Leute in der neuen und für sie durchaus großen Stadt. Daher nervt es mich auch, wenn ich abends alleine unterwegs bin und ständig Kurzmitteilungen von ihr empfange, in denen sie teils ihre Eifersucht, teils ihre Vorfreude auf ein Wiedersehen zum Ausdruck bringt. Es gab schon Nächte, da habe ich bis zu fünf Nachrichten von ihr empfangen, ohne dass ich darauf nur einmal geantwortet hätte. Wie sieht das auch aus, wenn alle Leute um mich herum tanzen, trinken, lachen, und meine Wenigkeit permanent auf dem Handy herumtippt? Dann sähe ich ja aus, wie Michael, wenn er es trotz seines weiblichen Vormunds mal geschafft haben sollte, temporären Ausgang genehmigt zu bekommen. Anja ist Herrin und Freundin zugleich. Sophie ist da anders, was mir wirklich gut gefällt. Sie ist nur Freundin. Und zwar eine Gute. Klar sollte ich auch als guter Freund, Sophie in dieser Phase ihres Lebens ein wenig mehr an die Hand nehmen, aber ich befürchte, dass sie dann noch mehr von mir wollen würde und mich zusehends vereinnahmt, womit sich mein gegenwärtig vorhandener Freiraum mehr und mehr reduzieren würde. Und ehe ich mich versehe, mutiert auch meine Freundin zur Herrin meiner selbst. Da ist Obacht geboten. Heute habe ich Sophie bereits im Vorhinein darauf hingewiesen, dass ich ihr maximal zweimal zurückschreiben werde. Damit sie nicht wartet. Damit sie nicht böse und eifersüchtig wird. Damit sie erst gar nicht glaubt, sie habe mich im Griff und könnte mich lenken.

»Alter, bist du taub oder was?« Ben steht vor der Tür. Zwei Sixpacks Kölsch unterm Arm, schnaufend und außer Atem. Der Schweiß steht ihm in kleinen Perlen auf der Stirn und er guckt mich erwartungsvoll mit großen Augen und dicken roten Wangen an.

»Ja, ich hab dich nicht gehört Mann, sorry! Aber komm erst mal rein!« Ich muss dabei lächeln und Ben wird bemerkt haben, dass ich ihn sehr wohl gehört habe, aber im Augenblick des Klingelns etwas Wichtigeres zu tun hatte. Er weiß, dass meine Haare Priorität haben. Wir kennen uns, wir verstehen uns. Und daher verkneift er es sich, eine große Szene aus seiner Geduldsprobe zu machen, schüttelt stattdessen nur widerspenstig den Kopf und tritt schlurfend in die Wohnung ein.

»Du siehst scheiße aus«, sagt er trocken, rempelt mich kurz an, als er an mir vorbeigeht, um direkt in der Küche angekommen, das Bier in den Kühlschrank zu verfrachten.

Ich erwidere seine körperliche Retourkutsche lediglich mit einem Lächeln, gehe ihm hinterher und klopfe ihm, als dieser vor dem Kühlschrank hockt und mir Einsicht auf seine Poritze verschafft, auf die Schulter.

»Bock auf Party?«

»Bock auf Party«, antwortet Ben.

Das erste Sixpack ist innerhalb einer Stunde getrunken. Und nach einigen weiteren Flaschen feinster Kölschkultur sitzen wir etwas stramm in der Bahn auf dem Weg zu Lena.

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