Читать книгу Frauenfußball - Nils Seydel - Страница 8
Erster Vorstoß
ОглавлениеIch bin guter Laune und freue mich, trotz eines durchaus gefährlichen Spiels mit dem Feuer, auf Lena. In der Uni läuft - wenn man das überhaupt behaupten kann - derzeit alles wie geschmiert, da ich in diesem Semester mit Ausnahme eines Seminars bei Herrn Dr. Gremberg kaum Veranstaltungen mit Anwesenheitspflicht belegt habe. Bayern gewann am Wochenende wieder und auch Köln hat einen wichtigen Dreier für eine mögliche goldene Zukunft eingefahren. Vielleicht bekommt der FC ja doch endlich mal die Kurve. Ich freue mich für Ben und denke darüber nach, ob seine Prophezeiungen vom internationalen Geschäft bald wahr werden könnten. Als ich das Café Die Wohngemeinschaft betrete, sehe ich Lena bereits in der Mitte des Raumes an einem Tisch sitzen. Sie ist überpünktlich, das imponiert mir. Ich gehe strammen Schrittes und zielfokussiert auf sie zu. Sie sieht erwartungsgemäß wieder äußerst gut aus. Sie trägt einen geringelten Pullover in grauen und grünen Farben. Dazu eine hellblaue Jeans und dunkelgrüne, halbhohe Chucks. Ihre Beine sind überkreuzt, ihre Ellbogen sind beide auf den Tisch gestützt und als sie mich entdeckt, schaut sie mir lächelnd entgegen.
»Hi«, sage ich sicher und selbstbewusst, was ich ihr jedoch nur vorspiele.
»Hey!« Sie steht erfreut auf und wir umarmen uns, ehe wir uns wieder hinsetzen und einen sehr harmonischen Smalltalk starten. Als sei in jener Nacht überhaupt nichts passiert. Unser Techtelmechtel scheint heute ein Tabuthema zu sein. Komisch eigentlich, wenn man überlegt, dass wir uns ja eigentlich nur deswegen treffen. Aber auch wenn ich es ja irgendwie noch mal gerne wiederholen würde, kommt es mir gelegen, nicht darüber reden zu müssen. Ist ja auch blöd, das so offen und direkt anzusprechen. Unangenehmes Thema. Für uns beide, das merkt man intuitiv. Ich trinke vier schwarze Kaffee, Lena zwei Latte Macchiatos. Dann bestelle ich einen fünften Kaffee und ich bekomme Kopfschmerzen und zittrige Hände. Und dann werden uns plötzlich die Gesprächthemen knapp. Wir erleben eine nonverbale Phase von 14 Sekunden. Ich schaue aus dem Fenster und zähle die Sekungen in Gedanken mit. So etwas ist immer unangenehm.
»Was machst du denn heute Abend noch so?«, fragt mich Lena, um die Stille zu unterbrechen, was ihr einige Pluspunkte einbringt. Sie wirkt nervös und ich bin froh, dass es ihr ähnlich geht, wie mir. Im Gegensatz zu Lena, lasse ich mir das aber nicht anmerken und versuche noch immer unbeeindruckt locker und cool zu wirken. Ich glaube, das gelingt mir ganz gut.
»Och«, sage ich. »Hab noch keine Ahnung. Hab morgen frei und erst übermorgen wieder Uni, daher könnte ich eigentlich noch irgendwas unternehmen. Was machst du denn so?« Und das war dann wohl das Stichwort. Es ist schon seltsam, dass sich Mann und Frau mit den gleichen Hintergedanken gegenübertreten, sich aber nicht klar artikulieren können, sich den Ball der Initiative so lange gegenseitig zuspielen, bis einem der Beiden das Rumgekicke zu langweilig wird und den spieleröffnenden Pass in die Tiefe schlägt. Der Pass kam von Lena. Ich habe ihn nur dankend angenommen und setze das Spiel fort.
»Also wenn du magst… und echt nur wenn du magst, kannst du ja mit mir und einer Freundin ins Kino gehen.« Ich überlege, setze meine Tasse Kaffee an den Mund und schaue Lena dabei kritisch an. Kino hat ja schon ordentlichen Date-Charakter. Da ändert auch ihre Freundin nichts dran. Diese dient dabei wohl der Funktion, die Situation zu kontrollieren und im schlimmsten Falle Deeskalationsmaßnahmen durchzuführen. Etwas komisch und etwas kindisch ist das, aber aufgrund der vorliegenden Tatsache, dass ich ja de facto vergeben bin, auch für mich durchaus annehmbar und beruhigend. Wobei, je länger ich über die Sache nachdenke, desto lächerlicher kommt sie mir dann doch vor. Zusammen mit einer dritten Person geht das gar nicht. Zumal ich ihre Freundin weder kenne, noch kennenlernen möchte. Meine Mimik muss Bände sprechen.
»Oder«, setzt sie nach, »wenn du darauf keine Lust hast, können wir auch was anderes machen. Ich kann da meiner Freundin zur Not auch absagen. Wir sehen uns die Tage eh nochmal.«
»Ja nee, das will ich nicht, aber… auf Kino hab ich eigentlich nicht so ne große Lust! Sonst können wir ja auch demnächst mal schauen.« Wie alt sind wir denn auch? Ich gehe doch nicht mit Lena und einer ihrer Freundinnen ins Kino. Das sind Methoden des Kennenlernens, die ich jüngeren Generationen überlassen möchte. Ich habe mich früher, als ich noch in der Schule war - ich muss 14 gewesen sein - auch mal mit einem Mädchen getroffen, das sich zur moralischen Unterstützung eine Freundin mitbrachte. Wir waren kleine Teenager und hatten also ein Date zu Dritt. Das Resultat war, dass ich mir vorkam wie ein fünftes Rad am Wagen. Die beiden Mädchen gackerten und schwatzten in einer Tour, verschwanden sporadisch immer wieder - natürlich gemeinsam - auf Toilette und wunderten sich schließlich, dass ich es nicht schaffte, mich an ihren Bravo-Gesprächen zu beteiligen. Ich habe die Backstreet Boys und Caught in the Act immer gehasst. Meinem Penis sei es gedankt. Außerdem hab ich die Bravo auch in Zeiten sexueller Neugierde nie gelesen. Nur die Bravo Sport, aber da konnten die Mädels wiederum nicht mitreden. Mehmet Scholl war zwar tausend Mal attraktiver als Nick Carter, aber schnulzig über die große Liebe singen konnte er nicht. Und wenn, dann tat er es nicht. Aus gutem Grund. Und für schöne Freistöße interessieren sich wiederum pubertierende Mädchen nicht. Das klassische geschlechtsspezifische Problem mit der gemeinsamen Wellenlänge. Ne, da gönn ich mir doch lieber die ein oder andere peinliche Gesprächspause. Das gehört dazu, so schlimm und unangenehm es auch ist. Während des vierten gemeinsamen Toilettengangs meines damaligen Doppel-Rendevouzs wäre ich fast aufgestanden und gegangen. Heute hätte ich das sofort getan. Mit 14 denkt man aber anders. Man ist so lieb und naiv. Also wartete ich brav und zahlte im Anschluss für alle Beide.
»Okay, dann lass uns doch einfach was trinken gehen, ja?«
Lena spricht mir aus der Seele. Ihre Freundin wird wegen eines reuelosen Fremdgängers eiskalt von ihr versetzt.
»Ja, hört sich super an. Aber nur, wenn das echt kein Problem ist mit deiner Freundin.«
Wie schön, dass ich auf die Freundinnen anderer mehr Rücksicht nehme, als auf meine eigene.
»Nee, passt schon. Die sagt mir auch schon mal spontan ab.«
»Also brauch ich kein schlechtes Gewissen zu haben?«
Wenigstens in diesem Kontext sichere ich mich über ein mögliches schlechtes Gewissen ab.
»Nein, keineswegs. Wirklich, das ist super so. Um wie viel Uhr denn? Und wo? Könnten auch eigentlich gleich schon los, haben’s ja schon recht spät.« Tatsache! Ich schaue auf die Uhr meines Handys. Wir haben bereits 18.30 Uhr, was bedeutet, dass wir schon locker zweieinhalb Stunden hier sitzen und Lena definitiv so richtig auf mich steht. Sie tippt wie wild auf ihrem Handy, um ihrer Freundin abzusagen. Prima! Ich zahle, wir stehen auf und verschwinden beide noch kurz auf Toilette. Sie, um ihre Blase zu entleeren, ich, um Sophie zu schreiben, dass ich mich morgen melden werde. Muss mich noch für so eine Uni-Sache mit einem Kommilitonen zusammensetzen. Langes Referat, Erziehungswissenschaften, strenger Dozent, viel Arbeit. Muss man ja Verständnis für aufbringen.
Ich gehe mit Lena in eine Cocktailbar auf den Kölner Ringen. Wir haben Mittwochabend und für die Ringe ist es noch verhältnismäßig früh, daher ist entsprechend wenig los. Wir haben freie Platzwahl und beschließen auf der ersten Etage nahe eines Fensters Platz zu nehmen. Von hier oben haben wir einen umfangreichen Blick auf die Straße. Wir bestellen beide einen Mojito. Als wir anstoßen und uns rituell dabei in die Augen schauen, verlieren sich unsere Blicke eine Weile zu lange ineinander. Man soll sich ja beim Anstoßen immer in die Augen schauen, weil es ansonsten sieben Jahre schlechten Sex geben soll. Auch so eine Erfindung pubertierender Jugendlicher. Der Erfinder hatte sicherlich bis zum heutigen Tage noch keinen Sex gehabt und wollte mit seinem erfundenen Ritus nur Angst und Schrecken unter den jungen Liebenden verbreiten. Ich bin gerade wie versteinert und schaffe es nicht meinen Blick aus Lenas Augen abzuwenden. Ihre Augen ziehen mich bedingungslos in ihren Bann. Ich habe bereits den Strohhalm im Mund und trinke und wir schauen uns noch immer ununterbrochen an. Das ist komisch und macht mir Angst. Dann löst Lena schmunzelnd ihren Blick und schaut runter auf die Straße. Danke. Eine Last hunderter Kilos purzelt von mir und ich fühle mich leicht wie eine Feder.
»Ey, schau mal! Ist das nicht Hella von Sinnen?« Sie ist es tatsächlich. Als hätte sie der Himmel geschickt. Keine Minute zu früh. Zusammen mit ihrer vermeintlichen Lebensgefährtin. Frau von Sinnen sieht nicht anders aus als im Fernsehen. Sie trägt einen weißen Overall, der mit irgendwelchen bunten Zeichen verziert ist. Ihre Haare sind nach hinten gegelt und eine große schwarze Sonnenbrille macht darauf aufmerksam, dass sie am heutigen Abend inkognito unterwegs ist. Die brünette weibliche Begleitung trägt hingegen eine graue Bundfaltenhose und ein relativ enges, weißes T-Shirt von Ed Hardy. Die kitschigen Stickereien des Trend-Mode-Labels frühreifer Hauptschüler kann man auch auf die Entfernung deutlich erkennen. Wie schick! Sie hat eine wesentlich bessere Figur als ihre prominente Freundin, scheint sich aber auch jenseits der 70 kg zu bewegen. Sie waren wahrscheinlich schnellen Schrittes unterwegs und müssen nun Halt machen, weil eine Gruppe von drei jungen Mädchen, um Handyfoto und Autogramm bittet. Danach macht sich das weibliche Pärchen wieder schnell auf den Weg und verschwindet auch bald aus unserem Sichtfeld.
»Ja, die Hella«, versuche ich gleich dort anzuknüpfen, um den peinlichen Moment von vorhin zu überspielen, »die sieht man hier häufiger.« Ich berichte Lena, dass ich außerdem schon Guido Cantz und Bruce Darnell in Köln gesehen habe. Letzteren sogar noch vor gut zwei Monaten im Saturn auf der Schildergasse. Dort habe ich mir das Album With love and squalor von We are scientists zugelegt. Übrigens eines der mittlerweile sehr selten käuflich erworbenen Musikstücke. Nicht mehr ganz frisch, aber zeitlos gut. Als ich so suchend durch die CD-Reihen schlenderte, überholte mich der ehemals feminine Meister des Catwalks. Eine kräftige Prise penetranten Männerparfüms stach mir dabei in die Nase. Zuerst sah ich nur den kleinen runden Popo, wie er in der eleganten grauen Anzughose hin und her wackelte. Dann richtete sich mein Blick weiter aufwärts und der genauso schwingende Oberkörper und der schwarze Hinterkopf stachen mir in die Augen. Am Ende des CD-Regals blieb er stehen, drehte sich um und kam wieder auf mich zu. Ob das ein Livewalk war? Er wird wohl nur etwas gesucht haben müssen, ich habe auch keine Kameras gesehen. Als er an mir erneut vorbeikam, hatten wir kurz Augenkontakt. Ich tat so, als würde ich ihn nicht erkennen und er so, als würde er mir das glauben. Ich ging danach ohne mich noch einmal umzudrehen zur Kasse und bezahlte.
Lena und ich trinken im gleichen Rhythmus. Nach einem weiteren Mojito bestellt sie einen Sex on the beach. Weil ich mich herausgefordert fühle, einen Cocktail zu bestellen, der namentlich noch mehr auf zwischenmenschliche Interaktionen anspielt, bestelle ich einen Blowjob. Lena muss lachen, als ich dem südeuropäischen Kellner zwinkernd die Bestellung aufgebe. Schmecken tut er aber nicht, der Blowjob. Er ist alkoholhaltig, da kann man auch gerne mal ein Auge zudrücken.
»Hat Ben eigentlich ne Freundin?«
»Ähm, wieso?«
Ich bin sichtlich überrascht über diese Frage. Steht sie vielleicht gar nicht auf mich, sondern gar auf Ben?
»Na weil der ja an meinem Geburtstag was mit meiner Mitbewohnerin hatte und einfach ohne was zu sagen wieder abgehauen ist.«
»Oh! Ne, wusste ich nicht. Der hat aber keine Freundin.«
Ich bin erleichtert. Wahrscheinlich steht nur Tessa auf ihn.
»Naja, ich glaube die findet ihn ganz süß.«
Sehr wohl! Tessa steht auf Ben und Lena informiert sich nur stellvertretend über ihn.
»Soll ich dir seine Handynummer geben? Ich hab mit Ben noch gar nicht drüber gesprochen, keine Ahnung, aber sie kann sich ja einfach mal melden.« Das wird Ben nicht freuen. Hätte er Interesse gehabt, wäre er erstens nicht stillschweigend abgehauen und zweitens hätte er sich doch wohl mittlerweile irgendwie von selbst schon gemeldet. Frauen sind manchmal echt dumm. Ich muss in meiner Situation aber auch an mich denken und glaube, dass es von Vorteil ist, wenn ich den verständnisvollen Vermittler spiele. Darum diktiere ich ihr seine Nummer, wohl wissend, dass es niemals zu einem Wiedersehen zwischen Ben und Tessa beitragen wird. Derweil beobachte ich Lenas filigranen Finger beim Eintippen der Ziffern in ihr Handy. Sie hat wirklich schöne Finger. Ihre Fingernägel sind kurz und gepflegt. Als ich daran denken muss, wo sie damit schon überall war, trinke ich den Rest des Blowjobs in einem Zug und schüttle mich erschreckend unmännlich.
»So, Aufbruch?«
»Wie, echt? Ja, okay. Ich trink eben noch aus.«
Nachdem Lena ausgetrunken hat, zahle ich erneut für uns beide und wir beschließen noch ein wenig spazieren zu gehen. Wir fahren mit der Straßenbahn zum Heumarkt und gehen von dort über die Promenade rheinabwärts. Es ist bewölkt und windig, aber sehr mild. Lena nimmt meine Hand und schaut derweil geradeaus. Ich wehre mich nicht, lasse es stattdessen wie selbstverständlich zu. So gehen wir händchenhaltend am Rhein entlang. Nicht, dass sie denkt, wir seien jetzt ein Paar. Lena weiß im Gegensatz zu mir, was sie will. Sie will mich! Das habe ich mittlerweile endgültig registriert. Der heutige Abend ist ein Rendezvous, wie es im Buche steht. Dabei wollte ich eigentlich nur mit ihr Kaffee trinken, über jene Nacht sprechen und mal sehen, was der weitere Nachmittag so bringt. Das Neue, das Unerforschte, das Verbotene. All das reizt mich. Scheinbar mehr als die zur Gewohnheit gewordenen Interaktionen mit Sophie. Die üblichen Leckereien zu Beginn einer neuen Liebe. Diese habe ich mit ihr nicht mehr. Wahrscheinlich würde auch bald das Feuer bei Lena wieder erlischen. Lena ist heiß, aber ich weiß nicht, ob ich wirklich so weit gehen würde und mit Sophie Schluss mache. Doch, ich weiß es: ich kann nicht Schluss machen. Nicht zum jetzigen Zeitpunkt.
»Lena?«, frage ich ganz ruhig.
»Mikka?«
»Du bist ein tolles Mädchen.«
Lena schweigt.
»Ja, das sage ich jetzt nicht nur so, ne? Das meine ich auch so... und die Umstände sind halt auch so, dass… du weißt doch, dass ich ne Freundin habe?«
»Ja, das hast du mir ja etwas spät gesagt… und nun?«
»Es ist alles nicht so einfach. Ich bin echt lange mit meiner Freundin zusammen und wir haben viel miteinander durchgemacht.« Was ein Quatsch. Wir haben total viel miteinander durchgemacht. Samstagabende vor dem Fernseher, gemeinsame Abendessen und Nordsee-Urlaube. Und im Kino waren wir auch schon oft. Es ist komisch, denn ich spreche gerade für meine Beziehung, denke aber dagegen. Ich weiß einfach nicht, was ich will und was ich hier tue.
»Das glaube ich dir.«
»Worauf ich hinaus will, Lena, ist…«
Es fängt leicht an zu regnen. Der Wind frischt auf.
»Ja?«, hinterfragt Lena forsch. Ich muss ihr sagen, dass ich nicht mit ihr zusammenkommen werde. Ich kann das mit Sophie nicht enden lassen. Sie ist zu lieb, zu selbstlos. Und sie liebt mich abgöttisch. Ich würde ihr zu sehr wehtun und außerdem wäre sie dann alleine in Köln. Alleine unter Fremden. Alleine unter noch schlechteren Menschen, als ich einer bin. Sie hat noch keine Freunde in der großen neuen Stadt und würde eingehen, wie eine junge zarte Pflanze, die man vergisst zu gießen.
»Ja… wie gesagt, es ist alles nicht so einfach.«
»Ja, was denn nun? Ich verstehe dich nicht, also sag an!«
»Ich glaube…« Auf einmal fängt es wolkenbruchartig an zu regnen. Ob das ein Wink des Schicksals ist? Ich liebe dich, Petrus. Wir stehen da ohne Unterschlupf, dem plötzlichen Regensturm völlig ausgeliefert. Ich nehme Lena an der Hand und beginne zu rennen. Ich reiße sie rücksichtslos hinter mir her, um einen Unterstand zu suchen.
»Wuaaaah! Verdammter Scheiß!«, schreie ich in den Abendhimmel. Ich höre Lena etwas erfreut in meinem Rücken kreischen. Es regnet so stark, dass wir schnell bis auf die Unterwäsche durchnässt sind, meine Haare sind völlig hin und ich kann in der Hektik und im Dunkel der Promenade keinen gescheiten Unterschlupf finden. Alternativ fällt mir eine große Linde ins Auge, dort laufen wir hin und machen Halt. Im Trockenen sind wir auch hier nicht, aber der vollen Wucht des überraschenden Monsuns können wir so ausweichen. Wir sind beide aus der Puste und ich halte sie noch immer an der Hand. Wir stehen uns gegenüber und ich schaue in Lenas nasses Gesicht. Sie sieht noch immer umwerfend aus. Ihre blonden Haare liegen ihr nass im Gesicht. Ein Regentropfen rollt ihr über Stirn und Nase und landet schließlich auf ihrer Oberlippe. Dort stoppt er, als wollte er genau dort an dieser Stelle von mir weggeküsst werden. Ich muss an Echt und ihren Hit aus den 90-ern denken und beginne zu schmunzeln. Der Regentropfen wird kaum salzig schmecken. Das fahle Licht weit entfernter Laternen scheint Lena matt entgegen. Ich löse mich schließlich von ihrer Hand, streiche ihr die nassen Haare aus dem Gesicht, umfasse im Anschluss daran ihre feuchten, kühlen Wangen mit beiden Händen und küsse sie. Warum auch immer, einfach so. Ich habe mich der Romantik des Augenblicks hingegeben. Und es ist ein Wahnsinns-Kuss. Überhaupt gar nicht zu vergleichen mit jener Knutscherei auf ihrer Party. Alkohol und sexuelle Erregung müssen da ihre Art zu küssen unglaublich beeinflusst haben. Ihre Lippen sind genauso weich, wie ich sie in Erinnerung hatte. Mit dem Unterschied, dass nun keine bittersüße Jägermeister-Note stört. Sie benutzt nicht zu viel und nicht zu wenig Zunge und findet das genaue Mittelmaß. Ich spüre, wie es mir vom Baum und von meinen Haaren in den Nacken tropft und bekomme eine Gänsehaut.
»Unter den Linden«, denke ich mir, »mitten in Köln.«
Als ich den Kuss beende und Lena in die Augen schaue, umfasse ich noch immer ihr Gesicht. Ich schaue sie mit offenem Mund nur an und bin nicht in der Lage irgendetwas zu sagen. Auch sie sagt nichts, ergreift aber die Initiative des Handelns, gibt mir lächelnd einen weiteren Kuss und setzt im Anschluss daran, mit mir im Schlepptau, die Suche nach einem geeigneteren Unterstand fort. Eigentlich benötigen wir ihn nun nicht mehr, denn der Regen hat nachgelassen. Und nass sind wir ohnehin schon bis auf die Socken. Wir finden auch keinen. Zurück an der Bahnhaltestelle schauen uns Passanten mit Regenschirmen argwöhnisch an, weil wird klitschnass sind und aussehen müssen, als seien wir in den Rhein gefallen. Unter den Dächern des Heumarktes wäre man nicht nass geworden. Hier ist es trocken. Wir stehen auf jener Seite des Gleises, auf der es zu Lena nach Hause geht. Ich muss eigentlich in die andere Richtung auf die andere Rheinseite stadtauswärts, könnte aber zur Not auch zu Fuß gehen. Eine ältere Frau, die sich sichtlich aufgetakelt hat und gerade von einer Vernissage zu kommen scheint, begutachtet uns von oben bis unten und fängt schließlich an zu lachen:
»Oje, sinse nass jeworden?« Was soll man da drauf nur erwidern?
»Nein«, antworte ich trotzig.
Etwas überstürzt, denn es fällt mir kein gescheiter Fortgang dieser Antwort ein, lenke also wieder wehmütig ein und sage »Hm…doch.«
»Ja, dann sehnse mal, dasse sich schnell wat Trockenes anziehen, sonns werdense noch krank.«
Ich bedanke mich für ihren mütterlichen Rat, auf den ich womöglich selbst nicht gekommen wäre. Sie hat es gut gemeint und Lenas Bahn nähert sich.
»Es war ein wunderschöner Abend, Mikka.«
»Ja…fand ich irgendwie auch. Hoffentlich wirst du nur nicht krank.«
»Nee, da mach dir mal keine Sorgen, ich bin hart im Nehmen. Hoffentlich wirst du nicht krank.«
»Ach Quatsch! Ich werde niemals krank. In Fachkreisen nennt man mich auch Mr. Antikörper.«
Lena legt lächelnd ihre Hände um meine Hüften. Nicht, dass sie denkt wir wären jetzt zusammen. Es gibt Mädchen, die glauben das nach einem solchen Abend in einer solchen Situation.
»Wie sieht’s aus? Kommst du noch mit zu mir?« Die Linie 9 fährt nun ein. Ich würde so gerne mit ihr mitgehen, bin mir aber ziemlich sicher, genau dies heute nicht tun zu können. Ich muss an Sophie denken und kann nicht schon wieder eine Nacht mit einem Mädchen verbringen, von dem sie nichts weiß. So schön der Abend war, ich muss Lena nun mitteilen, dass das nichts mit uns geben wird. Die Bahn steht nun bereit und öffnet ihre Türen. Einige wenige Fahrgäste steigen aus. Ich atme tief ein.
»Lena… es war wirklich ein super Abend! Und… es ist alles so schwierig. Ich… ich wollte es dir eben schon gesagt haben, denn ich glaube…«
»Ja?«
»Ich brauch Zeit, okay?« Etwas in mir ist gerade gestorben. Sie gibt mir einen Kuss auf die Wange. Dann steigt sie rückwärts in die Bahn, mir dabei in die Augen schauend, und versucht mich an der Hand hinter sich her zuziehen. Ich bleibe aber vor der Türe stehen und unsere Handflächen rutschen übereinander hinweg, bis sie sich langsam verlieren. Es piept und die Türen schließen sich. Ich hebe die Hand und winke traurig. Abschließend lächle ich aber noch kurz auf liebevolle Art und Weise, um ihr noch einmal meine Sympathie zu bekunden. Die Bahn fährt los und Lena und ich verlieren uns schließlich aus den Augen. Ich bleibe an gleicher Stelle noch einige Zeit stehen und denke nach. Was war das heute Abend? In was gerate ich hier hinein? Ich hätte die Sache heute beenden sollen. Wenn schon nicht mit Sophie, dann doch bitte mit Lena. Ich greife in meine nasse Jackentasche, um mir eine Zigarette zu gönnen. Nur, um das Geschehene besser verarbeiten zu können. Ich hatte mir am Mittag vorsichtshalber eine neue Schachtel gekauft. Hätte ja sein können, dass Lena auch rauchen wollte. Die noch ungeöffnete Schachtel rote Gauluoises ist jedoch nicht weniger durchnässt als meine Jacke. Ich suche mir eine Zigarette heraus, die in der Schachtel mittig lagert. Sie ist trocken und rauchbar. Ich stecke sie mir in den Mund und will in meinen Hosentaschen nach dem Feuerzeug wühlen. Es ist gar nicht so leicht mit feuchten, kalten Fingern in die nassen Taschen hineinzukommen. Dann nehme ich die Zigarette wieder in die Hand und schmeiße sie entnervt vor mir auf die Bahnschienen, weil ich feststellen muss, gar kein Feuer dabei gehabt zu haben. Rauche ich halt nicht. Ungesunde Scheiße. Ich sehe auf der Anzeige am gegenüberliegenden Gleis, dass meine Bahn wegen eines Defektes an der Oberleitung erst in 16 Minuten kommt. Da kann ich auch den Weg zu Fuß gehen. Typisch KVB. Wäre mir aber ohnehin unangenehm gewesen, wie ein nasser Pudel mit diesen Haaren in die Straßenbahn zu steigen. Es reicht mir, dass mich die wenigen Leute hier auf der dunklen Straße dumm angucken.
Oh, ich habe eine Nachricht bekommen. Mein Handy ist ebenfalls bedrohlich nass geworden, funktioniert aber noch problemlos. Lena hat mir sicherlich noch was Schönes geschrieben. Vielleicht hätte ich doch mit ihr mitgehen sollen. Ach was, von Sophie:
»Na, schön fleißig mein Süßer? Wann sehen wir uns denn? Ich find’s toll mit dir! 1000 dicke Küsse:-)«
Ich gehe zu Fuß über die Deutzer Brücke nach Hause. Lichter entgegenkommender Autos blenden mich und milder Wind weht mir einen leichten Sprühregen ins Gesicht. Meine Socken sind durchnässt, so dass meine Schuhe beim Gehen gequält quietschen.