Читать книгу Frauenfußball - Nils Seydel - Страница 9
Rudelbildung
ОглавлениеJa ne, ist klar. Die Flasche musste natürlich gerade jetzt explodieren, wo ich nur noch eben auf die Schnelle einen Schluck Wasser zu mir nehmen will. Scheiß Billig-Wasser im Plastik-Sixpack. Eine von sechs Flaschen muss mir immer übersprudeln. Beide Unterarme, Bauch und ein bisschen Schritt sind nass. Super. Meine Haare sehen heute auch furchtbar aus, aber das ist jetzt auch egal, ich muss dringend los. Ich muss nämlich um 14 Uhr in der Uni sein. Ausnahmsweise. Einmal in der Woche ist Disziplin gefragt. Wenn ich heute schon wieder zu spät in das Hauptseminar meines Philosophie-Professors Dr. Gremberg komme, wird er mir das als Fehlstunde auslegen. Es war ein Fehler, dieses Seminar schon in diesem Semester zu belegen. Es ist das Einzige, bei dem körperliche Anwesenheit vorausgesetzt wird. Ich bin schon zu oft zu spät gekommen und nach klaren Worten in der letzten Seminarstunde, hat mir Dr. Gremberg nun die Pistole auf die Brust gesetzt. Fehlstunden müssen bei ihm immer schriftlich entschuldigt werden. Im Optimalfall mittels eines ärztlichen Attestes. Dieses muss er nämlich akzeptieren. Laut Studienordnung sogar zweimal pro Semester. In jedem anderen Fall von Abwesenheit eines Studenten, liegt es allein in seinem persönlichen Ermessen, ob er das Fehlen als entschuldigt oder eben als nicht entschuldigt ansieht. Und wenn er es nicht tut, dann wird er auch keine Seminarleistung anerkennen und seine Unterschrift auf diesen dämlichen Laufzetteln verweigern. Den benötige ich wiederum, um meine Leistungspunkte verbuchen zu können. Dieser worst case kann unabhängig von zuvor absolvierten Leistungen erfolgen. Dann heißt es Warten bis ins Folgesemester, da obligatorische Hauptseminare in Philosophie eben nur von Dr. Gremberg angeboten werden. Das ist mal so richtig alte Schule. Nix mal eben in die Uni gehen, wenn man Lust hat, bisschen daddeln, bisschen lernen. Dr. Gremberg ist die akademische Eisenfaust des Philosophischen Seminars der Universität zu Köln. Der unverbesserliche Drill-Sergeant des intellektuell philosophischen Zentrums. Die fleischgewordene Autorität. Außerdem bittet er seine Studenten nicht selten zum persönlichen Rapport in seine Sprechstunde. Es bleibt also nicht nur bei schriftlicher Formalie. Seine Willkür kann man nur mit zufällig großem Glück durch etwa äußere Umstände, wie schönes Wetter oder zufriedenstellenden Bundesligaspieltag, beeinflussen. Der alte Gremberg ist nämlich großer Fußball-Fan von Borussia Dortmund. Warum das so ist, weiß nur der Teufel. Mit diesem ist er außerdem verwandt. Man sollte demnach ausschließlich eine seiner Sprechstunden aufsuchen, die an einem sonnigen Nachmittag liegen, dem ein für Dortmund erfolgreicher Spieltag vorausging. Erst dann ist er gut gelaunt und gütig. An einem dieser Tage durchbricht er als zuvor hasserfüllte Raupe seinen Kokon des Übels und der Härte und ein wunderschöner Schmetterling der Wohltätigkeit und Kulanz kommt zum Vorschein. Das Tollste daran ist, dass es sich dabei nicht etwa um ein Kölner Großstadtmärchen, sondern um eine Tatsache handelt. Zwei mir bekannte Kommilitonen konnten ihren Schein schon auf diese Weise retten und bekamen trotz ihres Fehlens ohne Attest seine Unterschrift. Ist aber alles nicht so einfach und immer höchst riskant. Die Sprechstundentermine kann man sich nicht aussuchen und liegen an festen, vorbestimmten Tagen. Das Wetter ist schon immer unberechenbar gewesen und der Fußball bekanntermaßen sowieso. Ohne einen Arzt seines Vertrauens ist man an der Philosophischen Fakultät also schnell aufgeflogen. Ich hab auch keinen Arzt. Bisher bin ich immer ohne Einen zurechtgekommen.
Die Papier-Haushaltstücher aus dem 1-Euro-Laden sind von minderer Qualität und besitzen maximal soviel Saugkraft wie das Papier meines Collegeblocks, weshalb spontan Klopapier abgerollt wird, das die nassen Stellen meiner Hose zum Glück schnell trocknet. So, jetzt aber nichts wie in die Uni. Als ich die Türe zuschlage und beginne vier Stufen mit einem einzigen Schritt treppabwärts zu nehmen, bemerke ich, dass ich meinen Haustürschlüssel vergessen habe. Ist aber zunächst nicht weiter schlimm, raus komme ich ja und Michael wird heute Abend wieder im Hause sein. Es ist ein regelrechtes Novum zu diesen Zeiten, denn heute Abend verbringt er keine Zeit mit Anja, sondern nur mit mir. Mit seinem Freund und Mitbewohner. Bayern spielt, also werden wir Championsleague im Free-TV schauen.
In der Straßenbahn sitzt mir ein junges Mädchen mit Sommersprossen und fettigen roten Haaren gegenüber. Ich schätze sie auf maximal 13, vielleicht ist sie aber auch erst 12. So genau weiß ich das nicht. Sie isst ein Butterbrot und Leberwurstgeruch steigt mir aufdringlich in die Nase. Auf ihrer hellblauen Butterbrotdose, die sie in der einen Hand auf ihrem Schoß hält, sind lebensfrohe und sich umarmende Diddlmäuse abgebildet. Als müsste das jetzt auch noch sein. Ich bin doch wesentlich später dran als ich dachte. Als ich endlich an der Universität aussteige, bleiben mir noch knapp fünf Minuten, um den Seminarraum pünktlich zu erreichen. Beim jetzigen Stand menschlicher Evolution, eine zu Fuß schlichtweg utopische Leistung. Ich überquere eine Straße, obwohl die Ampel den Fußgängern deutlich rot anzeigt und eine junge Mutter mit ihren zwei kleinen Kindern brav auf Grün wartet. Für etwaige Vorbildfunktionen habe ich jetzt keine Zeit. Meine pädagogische Ader wird soeben von einem Schub aus Angst und Adrenalin abgeschnürt. Ich darf heute nicht zu spät sein. Noch vier Minuten. Die frühsommerliche Aprilsonne scheint mir wärmend ins Gesicht, als ich sehe, wie mir Jessica entgegenkommt. Eine nette Kommilitonin, mit der ich schon zwei, drei Seminare und sogar eine gemeinsame Lerngruppe für Deutsch belegt hab. In manch seltenen Phasen meines noch jungen Studentenlebens, ließ ich tatsächlich mal so etwas wie Engagement aufblitzen. Jessica nähert sich. Ich sollte jetzt Augenkontakt vermeiden und einfach weiter laufen.
»Hey Mikka. Hast du es eilig?« Verdammt, was hat mich verraten? Nein, selbstverständlich nicht. Ich laufe aus sportlicher Leidenschaft zur Uni. Ein bisschen Training vor der Vorlesung hat noch niemandem geschadet. Gerne hätte ich ihr auf die Frage geantwortet, doch ich muss mich leider auf meine Atmung konzentrieren. Ich winke und zeige ihr beim Vorbeilaufen durch ein komisch verzerrtes Gesicht, dass sie Recht zu haben scheint. Sie schaut etwas irritiert und das war es dann auch schon. Noch zwei Minuten, das schaffe ich niemals.
Als ich das Hauptgebäude erreiche und auf die Uhr schaue, zeigt mir diese an, dass ich bereits eine Minute zu spät bin. Toll. In aufkommender Resignation schraube ich mein Lauftempo hinunter bis ich lediglich nur noch schnell gehe. Trotz meiner konzentrierten Atmung bin ich etwas außer Atem und beginne leicht zu schwitzen. Nachdem ich die gefühlten hunderten von Stufen in den dritten Stock hinaufächze, stehe ich wehmütig vor der Türe des Seminarraums. Der Gang ist menschenleer und es herrscht eine beängstigende Stille. Ich muss an alte Wild-West-Filme denken und untermale diese Szene musikalisch mit schmerzenden Klängen einer Mundharmonika. Währenddessen weht ein kalter Wind und verdorrtes Gebüsch an mir vorbei. Ganz großes Kopfkino. Meine Handyuhr zeigt mir stolze 14.04 Uhr an, was ein Hineinplatzen in die Sitzung nun als abwegig erscheinen lässt. Ich schaue mich noch einmal links und recht um, ehe ich Hände und Ohr vorsichtig an die hölzerne Türe lege, um zu erhorchen, ob das Seminar tatsächlich schon im Gange ist. Mir läuft es kalt den Rücken hinunter, denn ich höre Herrn Dr. Gremberg klar und deutlich sprechen.
»Scheiße!« rutscht es mir genauso klar und deutlich heraus, begleitend durch einen verzweifelten Schlag mit der flachen Hand auf die Tür. Als ich realisiere, was ich da gerade getan habe, bin ich bereits intuitiv sämtliche Stufen des Treppenhauses wieder hinuntergespurtet. Das darf alles nicht wahr sein. Dann werde ich wohl heute krankfeiern müssen. Ich beschließe mir einen Kaffee zu holen, um mich dann direkt an einen PC im Rechenzentrum zu setzen, um mich vorab schon mal per E-Mail bei Herrn Dr. Gremberg wegen schlimmer Krankheit zu entschuldigen. Nach seiner Definition ist das nämlich der erste Schritt, wenn man sich krankmeldet. Eine andere Möglichkeit habe ich ja schließlich nicht mehr. Durch den Spurt im Treppenhaus und den damit einhergehenden Adrenalinausstoß, der mir durch meine eigene Unachtsamkeit widerfuhr, bin ich nun noch mehr außer Atem. Meine Haare, die heute ohnehin von Anfang an fürchterlich aussahen, sind inzwischen vollständig zerzaust und in ihren Ansätzen nass geschwitzt. Die Kassiererin in der Cafeteria schaut mich argwöhnisch an, als ich sie mit meinem zerstörten Aussehen und einem Pappbecher heißer, brauner Brühe in der Hand, verkrampft anlächle. Ich bezahle 1,30 Euro und verschwinde eiligen Schrittes im Rechenzentrum.
Dort angekommen sind viele PC-Plätze bereits besetzt, doch ich finde einen der wenig freien Arbeitsplätze neben einen Pulk fünf junger Mädchen, die auf zusammen geschobenen Stühlen vor einem einzigen Monitor sitzen. Optisch machen sie den Eindruck, als seien sie Erstsemesterinnen. Adrett und sehr brav gekleidet, teilweise geflochtene Zöpfe, jung und bebrillt. Bunte Rucksäcke der Marke Eastpack und Jansport liegen neben ihnen auf dem Boden. Langweilige Erstsemesterinnen. Sie arbeiten hoch engagiert an einer Power-Point-Präsentation und betippen wie wild Folie für Folie, als würden sie gemeinsam einen Aufsatz schreiben. Ich schätze mal, sie bereiten sich auf ein Referat vor. Das gesamte Lehramtsstudium an der Universität zu Köln besteht nämlich aus Referaten. Da fragt man sich gelegentlich, wofür so manch ein Dozent überhaupt bezahlt wird. Für seine Arbeit wohl kaum. Das übernehmen ja nicht selten seine emsigen, aber leider Gottes häufig ahnungslosen Studierenden. Und so was schimpft sich Elite-Uni. Armes Köln. Der Vortrag der kleinen Mädchen wird aller Voraussicht nach aus dem bloßen Ablesen der Powerpoint-Folien bestehen. Das ist viel zu viel Text. Ein ermüdendes Referat wird das. Genau wie seine Referentinnen. Die aktuell beschriebene Folie trägt die Überschrift Funktionale Äquivalenz. In großen, roten Lettern. Müssen sie selber wissen. Der gesichtete, freie Arbeitsplatz ist unbestuhlt. Die langweiligen Mädchen haben alle Stühle im unmittelbaren Umkreis in Beschlag genommen, was mich aber augenblicklich nicht stört und es bereitwillig in Kauf nehme, mich für die kurze Zeit des E-Mail-Schreibens vor den Tisch niederzuknien. Als ich meine Umhängetasche auf den Boden stelle und den vor vielen Jahren bestimmt mal modernen PC einschalte, drehen sich alle vier Mädchen zu mir um und schauen mich fragend an. Den Kaffee stelle ich neben die Tastatur und grüße freundlich, indem ich in ihre Richtung nicke. Die Schreiberin der gemeinsamen Arbeit traut sich das Wort für die Gruppe zu ergreifen:
»Du, da ist besetzt. Wir müssen hier für ein Referat arbeiten.« Das selbstbewusste Auftreten des Erstsemester-Mäuschens überrascht mich mindestens genauso wie ihre Selbstverständlichkeit, universitäre PC-Plätze wie touristische Hotelliegen in Reservierung zu nehmen. Doch mit Frauen in Gruppen ist bekanntlich nicht zu scherzen, daher gilt es meine mögliche Reaktion auf diese Aussage nun ganz genau abzuwägen. Jetzt sind Empathie und Handlungsgeschick die einzigen Komponenten, die über Erfolg oder Misserfolg in meinem Vorhaben, eine E-Mail zu schreiben, entscheiden können. Verbünden sich nämlich weibliche Geschlechter in einer verbalen Auseinandersetzung gegen einen, hat man schnell verloren. Dann verschmelzen auf einmal sämtliche X-Chromosomen zu einem großen, homozygoten Klumpen, vor dem man mit seinen viel kleineren XY-Chromosomenpaaren lebensbejahend nur die Flucht ergreifen kann. Mittlerweile ist der Anmeldebildschirm erschienen. Ich beginne Nutzername und Passwort einzutippen und erwidere der Rudelführerin parallel in ruhiger und wirklich verständnisvoller Stimme:
»Du, ist sofort wieder frei. Ich muss hier nur eben schnell ne E-Mail schreiben.«
»Es kommen aber gleich noch zwei Leute dazu, dann müssen wir den PC hier auch noch belegen, ne?«
»Ja… ja« antworte ich ihr sehr langsam, vielleicht einen Ticken zu gleichgültig, mit geradem Blick auf den Bildschirm gerichtet.
Zwei der kleinen Mädchen schütteln abschätzig ihren Kopf. Keine Ahnung, was die Tussis für ein Problem haben. Die sollen sich mal nicht so anstellen. Gerade noch Abitur gemacht und nun zu fünft selten freie PC-Arbeitsplätze an der Uni belegen. Der greise Computer vor mir rattert und rattert. Ich nehme einen Schluck Kaffee und klicke das endlich erschienene Icon vom Internet-Browser an. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis er sich öffnet und ich mich in meinem E-Mail-Account einloggen kann. Die E-Mail wiederum ist schnell getippt, ich bitte nur kurz um Entschuldigung für mein krankheitsbedingtes Fehlen und weise darauf hin, ein ärztliches Attest in kommender Woche nachzureichen. So! Abschicken, ausloggen, runterfahren, fertig. Im Aufstehen nehme ich einen weiteren tiefen Schluck des fad schmeckenden Kaffees und denke erstmalig darüber nach, welchen Arzt ich in naher Zukunft aufsuchen sollte. Und dann spricht mich erneut die Führerin des Erstsemester-Treffs vorwurfsvoll an.
»Trinken ist hier übrigens verboten. Das ist ein PC-Raum.«
Sie zeigt auf das Schild, das in 90 cm Luftlinie vor mir an der Wand klebt. Auf dem Schild, das lediglich die Gestalt eines laminierten Schwarz-Weiß-Ausdrucks hat, der lieblos mit viel zu viel Tesafilm etwas windschief an die Wand gepappt wurde, sind Messer, Gabel und eine Flasche deutlich durchgestrichen zu erkennen.
»Jetzt stell dich mal nicht so an!«, antworte ich ihr mit einer nunmehr etwas ungehaltenen Stimme. »Ich bin ja schon wieder weg. Eure anderen Leute sind ja auch noch nicht gekommen. Also, ist doch alles in Ordnung, oder? Ciao.«
»Trinken ist hier trotzdem nicht erlaubt. Find ich echt nicht gut von dir. Mega ignorant. Wenn du da dein Getränk verschüttest, ist die Tastatur hin. Das ist ein Arbeitsplatz.«
»Ja, sorry«, sage ich mit vorgespielter Unterwerfung, weil mir die ganze Sache echt zu bunt wird. »Hast Recht. Macht man nicht. Ähm… tschüss!«
»Ja, tschüss!«, entgegnet sie mir konsequent patzig. Die mutmaßlich bedrohlich untervögelte Erstsemesterin beginnt mich zunehmend zu nerven, aber da der Klügere ja bekanntlich nachgibt, erwidere ich ihr nichts und versuche ruhig zu bleiben, indem ich lediglich tief ein- und ausatme. Im Gegensatz zu mir und ihren Referatspartnerinnen bleibt sie jedoch noch immer nicht ruhig.
»Ich find das echt unglaublich. Wozu hängen hier denn überall die Schilder?« Ich ziehe mir kommentarlos meine Tasche über die Schulter als sie kopfschüttelt ein »pfff« und ein ganz leises, fast flüsterndes »Spacken« nachlegt, womit mir mein bis hierhin erstaunlich stabiler Geduldsfaden dann letztlich doch noch reißt. Den Rest meines inzwischen nur noch lauwarmen Kaffees exe ich und haue den leeren Pappbecher vor ihr auf den Tisch, als hätte ich gerade einen wirklich harten Schnaps getrunken. Kleine, braune Spritzer landen auf Tisch und Tastatur. Das war jetzt wirklich ignorant.
»Auf dem Schild ist eine Flasche abgebildet, demnach sind hier Flaschen verboten. Siehst du hier irgendwelche Flaschen?« Sie schaut mich sprachlos und zugleich irritiert an. Damit wird sie mit ihrer lächerlichen Lebenserfahrung von höchstens 19 Jahren nicht gerechnet haben. So eine beschissen doofe Erstsemesterin. Mit großen Augen mache ich ein fragendes Gesicht, das auf eine Antwort wartet. Als keine kommt, gebe ich ihr einen Tipp indem ich auf ihren Pulk zeige und meinen Finger über ihren vier Köpfen kreisen lasse. Und dann bekomme ich ihn doch noch zu Gesicht, den homozygoten Klumpen. Als sich nun auch die anderen Mädchen erbost zu Wort melden und ich Gefahr laufe, ihren nunmehr zelebrierten Teamgeist zu spüren zu bekommen, bin ich bereits auf dem schnellsten Weg nach draußen. Ein recht solider Abgang. Nichts wie weg hier, einfach nur raus.
In der Bahn Richtung Stadtzentrum, sitze ich im hinteren Waggon. Hier allerdings ganz vorne auf den Zweier-Logenplätzen mit unmittelbarem Blick auf die verspiegelten Scheiben hinter dem unbesetzten Führerhäuschen. Wie ich so in spiegelverkehrter Perspektive die städtischen Leute beobachte, die nach und nach hinter mir dazu- und aussteigen und mit meist grimmigem Gesichtsausdruck durch die Gegend blicken, bleibt mein Blick immer wieder bei mir und meinen Haaren hängen, die noch immer unmöglich aussehen. Da hilft auch kein Zuzwinkern mehr. Ich schaue genauso grimmig, wie die übrigen Fahrgäste. Nur um mich von diesem unschönen Anblick abzulenken, beginne ich Lena eine Nachricht zu schreiben:
»Guten Tag liebe Lena! Alles gut? Kennst du einen guten Arzt? Brauche nämlich dringend ein Attest fürn Gremberg. Wie sehen deine Pläne fürs Wochenende aus? Würd dich gerne sehen! Grüße, Mikka.«
»Nächster Halt: Neumarkt!« Mittels dieser blechernen Durchsage teilen mir die Kölner Verkehrsbetriebe in gewohnt monotoner Stimmlage mit, dass für mich hier schon Endstation ist. Da Michael erst zum frühen Abend nach Hause kommen wird - soweit er nicht doch noch spontan bei Anja ist und mir kurzfristig absagt - muss ich ohne Haustürschlüssel irgendwie die Zeit überbrücken. Ich schlendere in der Folge ziellos durch die Schildergasse und beobachte all die vielen Menschen, die mir entgegenkommen oder mich überholen. Ein Obdachloser in rot kariertem Baumfällerhemd kreuzt meinen Weg. Er ist betrunken, raucht eine selbstgedrehte Zigarette und stammelt leeren Blickes irgendwelche Laute vor sich hin. In genau dem Moment, in dem er an mir vorbeischlurft, halte ich die Luft an, weil ich eine grundsätzliche Abneigung verspüre, Gerüche oder Ausdünstungen fremder Menschen in meine Lungen aufzunehmen. Ein gewisser Teil von ihm wäre andernfalls in mir drin. Ganz tief. In Fußgängerzonen oder auf Bürgersteigen, unterscheide ich zudem gerne zwei Sorten von Passanten: Die Weitergeher und die Platzmacher. Die Weitergeher lassen sich dabei genauer unterscheiden. Manche Leute sind tatsächlich so dreist, dass sie in Zweier- oder Dreierreihen nebeneinander laufen und glauben, entgegenkommende Passanten würden ihr Verhalten kompromisslos dulden und bei nahender Kollision von sich aus, ein oder zwei Schritte zur Seite gehen. Zumeist handelt es sich dabei um betrunkene Jungen oder aber junge Mädchen, die in geschlossener Clique von Modegeschäft zu Modegeschäft pilgern. Letztere unterhalten sich dann immer sehr laut, gackern viel und schleppen große Einkaufstüten mit sich. Sie fühlen sich dann autonom, reich und sexy. So wie in Sex and the City. Wer da nicht Platz macht, erntet schnell zickige Blicke. Anders gehen da manche unserer Mitmenschen aus sozial benachteiligten Milieus vor. Auch Weitergeher. Hierbei ist die Größe der Gruppe aber völlig egal. Auch als Einzelperson wird ein Ausweichen des Gegenübers als grundnormal angesehen. Bleibt man stur, stößt man zusammen und bekommt Schläge oder fremdländische Flüche an den Kopf geworfen. Besonders lustig kann es aber werden, wenn sich in einem Szenario zwei Platzmacher gegenüberstehen und sich beide mehrmals hintereinander für die gleiche Richtung zum Ausweichen entscheiden. Das passiert oft. Ich bin ein Platzmacher. Heute muss ich aber kaum ausweichen, das erledigen schon die Anderen. Ich vermute wegen meines Aussehens. Ein attraktives Mädchen kreuzt meinen Weg. Ich atme ausnahmsweise tief ein und rieche teures Parfüm.
Hinter den dicht fluktuierten Einkaufsstraßen erreiche ich den Heumarkt. Dort hole ich mir an einem Kiosk eine Flasche Bier, um mich nachfolgend am Rheinufer auf einer Mauer niederzulassen. Die Sonne scheint mir seitlich ins Gesicht und ein leichter, milder Wind streicht durch meine kaputten Haare. Das Gemurmel der Passanten auf der Rheinpromenade wird von sanften Möwenschreien idyllisch untermalt. Ein bisschen Urlaubsgefühl kommt auf. Hier und da haben sich junge Verliebte mit Decke auf die bereits satten Grünflächen gesetzt. Aus weiterer Entfernung sind seichte Klänge der Streichinstrumente von Straßenmusikanten zu hören. Als ich so gedankenversunken den Schleppern auf dem Rhein hinterher schaue und gelegentlich den gläsernen Flaschenhals zu meinem Mund führe, reißt mich plötzlich eine vibrierende Hosentasche aus meinem frühsommerlichen Tagtraum. Mein Handy! Ich denke sofort an Lena und greife in kindlicher Vorfreude hastig in die Tasche, um dann aber mit einer gewissen Enttäuschung festzustellen, dass nicht Lena, sondern Sophie versucht anzurufen. Mit reichlich Verzögerung drücke ich auf die Taste mit dem grünen Telefonhörer und nehme ihren Anruf entgegen.
»Vogelwarte Helgoland, Strabotzki mein Name, guten Tag?«
»Lustig. Hallo Mikka.«
»Oh, hallo Kleine. Alles klar?«
»Hi. Ja, alles klar soweit. Und selbst?«
»Joa, geht so. Die Trottellummen wollen dieses Jahr einfach nicht brüten.«
»M-i-k-k-a!«
»Okay, ist ja gut. Hier ist nicht die Vogelwarte, ich bin’s. Bist voll drauf reingefallen, oder? Es geht mir aber trotzdem nur geht so. Hab’s nicht rechtzeitig zum Gremberg geschafft, jetzt muss ich mir’n Attest besorgen, um keine unentschuldigte Fehlstunde zu bekommen, was ja den unweigerlichen Ausschluss aus seinem Seminar bedeuten würde.«
»Oh nein. Wie blöd, das tut mir Leid. Weißt du denn schon, zu welchem Arzt du dafür gehst?«
»Nee, noch nicht. Ich werde mich mal umhören. Hab ja theoretisch noch ne Woche Zeit.« Seit ich in Köln wohne, bin ich zu keinem Arzt mehr gegangen. Fremde Ärzte mag ich nicht und mein ehemaliger Hausarzt, der mich seit meiner Geburt zu seinen Patienten zählen darf, hat seine Praxis 60 Kilometer außerhalb von Köln. Außerhalb von so ziemlich allem. Streng genommen bin ich also ein Kind des Hinterlandes. Oder auch des Niemandslandes. Was ich lange Zeit noch weniger mochte als fremde Ärzte, waren die temporär zu zahlenden Praxisgebühren, die ich gerne und konsequent einsparte. Im Krankheitsfall kurierte ich, getrieben durch den Geiz, meine Wehwehchen daheim. Jammernd und sozial isoliert. Bei gelungener Regeneration begann ich sodann mit der Resozialisierung, bei der die eingesparten zehn Euro rituell des Nachts auf den Kopf gehauen wurden.
»Ja, schieb das mal nicht auf die lange Bank! Du solltest dich ohnehin mal nach einem neuen Hausarzt umsehen. Soll ich mich auch mal umhören?«
»Ja, mach das mal. Ist lieb von dir.« Das ist wirklich lieb von ihr. Ein kleiner Engel, dem ich nicht würdig bin und doch bedingungslos mein Eigen nennen darf.
»Und was machst du gerade?«
»Ähm… gerade? Bier trinken und Zeit totschlagen.«
»Hä?« Ich erkläre Sophie meinen Fauxpas mit dem Haustürschlüssel und den nun irgendwie unbefriedigenden wie zeittotschlagenden Charakter der gelebten Situation. Ich könnte ja vielleicht bei Sophie vorbeischauen.
»Oh… ja dann komm doch gleich bei mir vorbei. Hab eigentlich erst um halb fünf Feierabend, kann aber heute bestimmt was eher Schluss machen. Wollte dich ohnehin gefragt haben, ob wir heute Abend was zusammen machen wollen. Würde mich voll freuen.« Ich sage ihr, dass ich dann trotzdem erst gegen halb oder viertel vor fünf bei ihr sein werde, wegen des Fußballspiels jedoch abends mit Michael verplant sei. Dann wünsche ich noch einen schönen Rest-Arbeitstag. Sie freut sich. Ich mich weniger, sehe es aber als willkommene Möglichkeit, die restliche Wartezeit so schneller rumzukriegen. Es steigt in mir eine gewisse Unzufriedenheit auf. Ich will eigentlich heute gar nicht zu Sophie. Im Grunde bräuchte ich noch ein wenig Zeit für mich, um die Situation näher zu ergründen, wie es um meine Gefühle zu ihr und zu Lena steht. Letztere geht mir einfach nicht aus dem Kopf. Viel zu oft muss ich an die gemeinsame Nacht mit ihr auf der WG-Party denken. Und noch öfter an diesen unglaublichen Kuss im abendlichen Regensturm. Lena, Lena, Lena. Nach einem weiteren Bier vom Kiosk, fühle ich mich leicht angetrunken, was im fehlenden Mittagessen zu begründen sein wird. Langsamen Schrittes begebe ich mich auf den Weg zu meiner Freundin, von der ich nicht weiß, ob sie noch länger meine Freundin sein kann. Ob sie noch länger meine Freundin sein sollte.