Читать книгу Kurfürstenklinik Paket 1 – Arztroman - Nina Kayser-Darius - Страница 24

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Der Zusammenprall kam für die junge Frau völlig unerwartet. Sie war so in ihre Gedanken versunken gewesen, daß sie gar nicht aufgepaßt hatte, wohin sie gelaufen war. Und nun fand sie sich unversehens in den Armen eines Mannes wieder, der freundlich: »Hoppla!« sagte.

»Entschuldigung!« stammelte sie verlegen und trat einen Schritt zurück. Dann erst sah sie auf, direkt in sehr dunkle Augen, die sie amüsiert musterten.

»Alles in Ordnung?« fragte der Mann, und sie fragte sich, was für ein Akzent das war, den sie heraushörte. Er war nicht sehr ausgeprägt, aber doch unverkennbar.

»Ja, danke«, antwortete sie, noch immer verlegen. »Ich war mit meinen Gedanken woanders, tut mir wirklich leid.«

»Es ist ja nichts passiert. Haben Sie es sehr eilig? Sonst lade ich Sie auf einen Kaffee oder Tee ein oder was immer Sie möchten, damit Sie sich von dem Schreck erholen können.«

Sein Deutsch war tadellos, aber er war kein Deutscher, da hätte sie wetten können. Unwillkürlich wurde sie mißtrauisch. Vielleicht hatte er den Zusammenstoß ja auch herbeigeführt? Vielleicht war das eine Art, Frauen anzumachen? Aber dann trafen sich ihre Augen erneut, und sie wußte, daß es nicht so war. Nein, er hatte es ganz sicher nicht nötig, auf solche Mittel zurückzugreifen, um Frauen kennenzulernen.

»Warum nicht?« fragte sie. »Mein Dienst ist zu Ende, und ich habe nichts anderes vor.«

»Wunderbar!« sagte er, und sie sah, daß er sich freute. »Übrigens, mein Name ist Timothy Brown, ich arbeite an der Kurfürsten-Klinik. Meine Freunde nennen mich Tim. Es würde mich freuen, wenn Sie das auch tun würden.«

Sie starrte ihn so entgeistert an, daß er begann, sich unbehaglich zu fühlen. »Das sollte kein Annäherungsversuch sein«, erklärte er hastig. »Aber ›Timothy‹ ist ziemlich umständlich und für Deutsche ungewohnt, und ›Herr Brown‹ hört sich schrecklich förmlich an, finden Sie nicht?«

Sie riß sich zusammen. »Darum geht’s doch gar nicht«, erklärte sie. »Sagen Sie bloß, Sie sind der sagenhafte Arzt aus Südafrika, über den die ganze Klinik redet?«

»Sagenhaft?« fragte er verwirrt. »Was meinen Sie damit?«

Aber sie antwortete ihm nicht. Auf einmal war sie sehr vergnügt. »Das erzähle ich Ihnen beim Kaffee«, erklärte sie. »Ich bin übrigens Schwester in der Kurfürsten-Klinik, mein Name ist Caroline Stellmann. Wohin wollen wir gehen?«

Sie gefiel ihm. Sie gefiel ihm sogar sehr, und unwillkürlich fielen ihm sämtliche Warnungen seiner besorgten Familie vor den europäischen Frauen wieder ein. Seine Eltern wollten, daß er eine Südafrikanerin heiratete, und das möglichst bald. Er war zu ihrem großen Unglück ihr Einziger geblieben, und nun ruhten all ihre Hoffnungen auf ihm, daß er ihnen viele Enkelkinder bescherte, denn sie träumten von einer großen, weitverzweigten Familie. Deshalb hatte es ihnen auch gar nicht gefallen, daß er für ein Jahr nach Deutschland gehen wollte.

Aber er hatte ihre Sorgen und Befürchtungen beiseite gewischt. Bisher hatte es noch keine Frau gegeben, für die er seine Freiheit, sein ungebundenes Leben hätte aufgeben wollen. Und jetzt fiel ihm diese junge Frau mit ihren blauen Augen und den schönen blonden Haaren in die Arme und hatte sich mit ihrem fröhlichen Lachen bereits in sein Herz geschlichen.

Er riß sich gewaltsam von diesen Gedanken los, schließlich war er kein Teenager mehr, sondern ein erwachsener Mann von dreiunddreißig Jahren. »Sollen wir mal ein bißchen verrückt sein?« fragte er. »Im Hotel King’s Palace kann man sehr gut sitzen, dort gibt es ein Café im obersten Stock mit einer herrlichen Dachterrasse. Es ist noch relativ neu.«

»King’s Palace?« staunte Caroline. »Da bin ich noch nie gewesen. Das ist doch nur was für ganz reiche Leute.«

Er winkte ab. »So schlimm ist es auch nicht. Außerdem haben wir was zu feiern, finden Sie nicht? Wir arbeiten zwar an der gleichen Klinik, aber kennengelernt haben wir uns ganz woanders. Das verdient einen Ausflug ins King’s Palace.«

Sie zögerte nicht länger. »Einverstanden«, sagte sie. »Es ist schließlich Ihr Geld, das Sie verschwenden!«

Er lachte über ihre Schlagfertigkeit. Was für eine hinreißende Frau, dachte er.

*

»Ich war sicher, daß Caroline heute abend Dienst hat«, sagte Dr. Adrian Winter verwirrt, als er in der Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik eintraf und dort sofort Oberschwester Walli begegnete.

Die hübsche, ein wenig mollige Walli schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, du mußt schon mit mir vorliebnehmen, Dr. W.«, sagte sie und lächelte breit. »Ich verstehe zwar, daß die schöne blonde Caroline dein Herz erfreut, aber in dieser Nacht hat die…«

»… auch sehr ansehnliche dunkelhaarige Oberschwester W. Dienst«, vollendete er den Satz. Sie lachten beide. »Schon gut, Walli, ich hab’ wohl was durcheinander gebracht.«

Sie nickte, jetzt wieder völlig ernst. »Ich hab’ Caroline noch gesehen, bevor sie gegangen ist. Sie sagte, daß es tagsüber ziemlich ruhig gewesen sei.«

»Das hat bestimmt nichts Gutes zu bedeuten«, seufzte Adrian und fuhr sich mit der Hand durch seine kurzen dunkelblonden Haare. Er war Chirurg und leitete die Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik mit großem Engagement. »Wahrscheinlich ist heute nacht hier die Hölle los. Wer hat sonst noch Dienst?«

»Julia, Bernd und Moni. Sind alle schon da.«

Er nickte zufrieden über das Team. Seine Kollegin Julia Martensen war Internistin, Bernd Schäfer Assistenzarzt der Chirurgie, und Monika Ullmann war, wie Walli auch, eine ausgezeichnete Schwester. »Großartig«, sagte er. »Dann will ich mal sehen, was sie machen.«

Doch dazu kam er nicht, denn die Türen der Notaufnahme flogen auf, und Sanitäter brachten den ersten Patienten für die Nachtschicht. »Ein kleiner Junge, er ist von einem Balkon im zweiten Stock gefallen«, sagte einer der Männer. »Mehrere Knochenbrüche, aber er hat Glück im Unglück gehabt.«

Adrian vergaß alles um sich herum und begann unverzüglich, den Jungen zu untersuchen, der leise weinte und erschreckend blaß war. Immerhin war er bei Bewußtsein.

Walli machte sich unterdessen schleunigst auf die Suche nach Dr. Martensen, damit sie Adrian unterstütze – und als wenige Minuten später die beiden nächsten beiden Patienten gebracht wurden, herrsch­te in der Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik bereits das ganz normale Chaos.

*

»Es ist wunderbar hier oben«, sagte Caroline verträumt. »Wie sind Sie denn überhaupt darauf gekommen, hierher zu gehen? Hat jemand Sie auf die Idee gebracht?«

Er nickte. »Ja, eine Bekannte von mir arbeitet hier als Assistentin des Direktors – deshalb sehe ich auch den luxuriösen Rahmen gar nicht mehr, ich habe mich wohl schon daran gewöhnt. Sie hat mir das ganze Hotel gezeigt, und jetzt habe ich fast ein familiäres Gefühl, wenn ich hier bin.«

Stefanie Wagner war mehr als eine Bekannte, sie war eine gute Freundin, aber er hatte das Gefühl, daß es besser war, sich neutral auszudrücken. Er wollte nicht, daß Caroline einen falschen Eindruck bekam.

»Der Blick ist so schön«, sagte sie fast andächtig. »Man sieht das ganze Gewimmel da unten – und trotzdem ist man weit genug davon entfernt, um seine Ruhe zu haben.«

»Und jetzt erzählen Sie mir, was Sie mit Ihrer Bemerkung vorhin gemeint haben«, verlangte er. »Haben Sie gehört, daß jemand über mich gesprochen hat?«

Sie lachte fröhlich. »Also wirklich, Tim!« Aufmerksam betrachtete sie sein Gesicht, aber er schien wirklich nicht zu wissen, daß er das Gesprächsthema der Klinik war.

»Alle reden über Sie«, erklärte sie. »Die Frauen finden Sie geheimnisvoll und attraktiv, die Männer sind verunsichert über die plötzliche Konkurrenz aus Südafrika, und die Patienten sind, wie man so hört, begeistert von Ihrer Kunst.«

Er war jetzt sehr verlegen. »Reden Sie nicht so«, bat er. »Ich weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll.«

»Gelassen«, riet sie ihm ungerührt. »Ich sage nämlich die Wahrheit, aber Sie brauchen sich trotzdem nichts darauf einzubilden. Das ist bei jedem Neuzugang so. Ich bin ja selbst noch nicht sehr lange an der Klinik, und mir ist es genauso gegangen. Alle Männer schienen es auf mich abgesehen zu haben, die Frauen wußten nicht, was sie von mir halten sollten – aber zum Glück bin ich mit den Patienten gut klargekommen, und jetzt hat sich die ganze Aufregung gelegt. Das wird bei Ihnen auch so sein. Sobald der nächste neue Arzt auftaucht, wenden sich alle von Ihnen ab und dem Neuen zu. So ist das nun mal.«

Ihr Charme und ihre Natürlichkeit entzückten ihn. »Danke«, erwiderte er ernsthaft, »daß Sie mir das erklärt haben. Jetzt kann ich sicher leichter damit umgehen. Ich habe mich nämlich schon gefragt, ob ich etwas Merkwürdiges an mir habe, weil mir die Blicke aufgefallen sind, mit denen ich betrachtet werde.«

»Gar nicht drum kümmern!« riet sie. »Das geht vorbei, glauben Sie mir. Aber nun erzählen Sie mir bitte etwas über Südafrika. Und darüber, wie Sie dort leben!«

Das tat er nur zu gern. Was konnte es Angenehmeres geben, als mit einer schönen Frau auf der Dachterrasse eines eleganten Hotels in Berlin zu sitzen und ihr von der geliebten Heimat zu erzählen, während sie mit großen Augen aufmerksam zuhörte?

*

Stefanie Wagner sah auf die Uhr und seufzte. Schon wieder so spät! Dabei hatte sie heute eigentlich ausnahmsweise einmal früh nach Hause gehen wollen, aber das Hotel fraß sie einfach auf. Sie mußte wirklich aufpassen, daß es sie nicht mit Haut und Haaren verschlang. Doch das Problem war, daß sie ihre Arbeit liebte – sie liebte das King’s Palace, sie liebte die Hektik, die jeder Tag mit sich brachte, und vor allem liebte sie es, Probleme zu lösen, die eigentlich als unlösbar betrachtet wurden.

Vielleicht lag es an dieser besonderen Fähigkeit, daß Andreas Wingensiefen, der Direktor des Hotels, sie immer selbständiger arbeiten ließ. Längst galt sie als heimliche Chefin des King’s Palace, aber sie benahm sich nicht so, und deshalb liebten die Angestellten sie. Stefanie Wagner arbeitete härter als jeder andere im Hotel, und sie hatte für alle ein offenes Ohr.

Sie hatte eigentlich damit gerechnet, daß Tim Brown, den sie von früher her kannte, sich noch einmal melden würde, aber er war wahrscheinlich in der Klinik aufgehalten worden. Als sie gehört hatte, daß er ausgerechnet an jener Klinik für ein Jahr arbeiten würde, an der auch Adrian Winter arbeitete, hatte sie sich zunächst sehr gefreut. Vielleicht würde ihr Kontakt zu dem Arzt auf diese Weise endlich etwas enger werden als bisher. Aber das schien ein Trugschluß gewesen zu sein. Sie hatte Adrian Winter, so kam es ihr zumindest vor, schon ewig lange nicht mehr gesehen. Dabei war er der einzige Mann, für den sie sich überhaupt interessierte.

Wieder seufzte sie. Ihr ehemaliger Freund Oliver Mahnert hatte noch immer nicht verstanden, daß es zwischen ihnen beiden endgültig aus war. Ständig rief er sie an und wollte mit ihr ausgehen. Manchmal gab sie nach und begleitete ihn, aber hinterher schwor sie sich immer, daß es das letzte Mal gewesen sei. Er war lieb, daran gab es keinen Zweifel, aber er langweilte sie.

Sie stand auf, strich sich die langen blonden Locken nach hinten, sah in einem kleinen Spiegel nach, ob ihr Make-up noch in Ordnung war, und verließ ihr Büro. Aber als sie vor dem Aufzug stand, kam ihr der Gedanke, noch kurz nach oben zu fahren und den Blick von der Dachterrasse auf das nächtliche Berlin zu genießen.

Das tat sie dann auch, und so kam es, daß sie gleich darauf Tim Brown im Gespräch mit einer attraktiven Blondine sah. Amüsiert dachte sie: Kein Wunder, daß er vergißt, mich anzurufen, wenn er etwas Besseres zu tun hat. Sie verzichtete auf den Blick über die Stadt und fuhr wieder nach unten. Tim konnte jetzt keine Störung gebrauchen, das hatte sie sofort gesehen.

*

Adrian Winter schlief bis in den Nachmittag hinein. Zum Glück hatte er jetzt keinen Nachtdienst mehr. Vor ihm lag ein freies Wochenende, und danach würde er erst einmal wieder tagsüber arbeiten. Das Wetter war schön, und so sprang er voller Tatendrang aus dem Bett. Er war mit seiner Zwillingsschwester verabredet für diesen Abend, und vorher hatte er noch einiges zu erledigen.

Als er wenig später seine Wohnung verließ, zögerte er und klingelte kurz entschlossen bei seiner Nachbarin Carola Senftleben. Von drinnen hörte er Husten, sonst nichts, und das beunruhigte ihn. »Frau Senftleben?« rief er. »Ich gehe einkaufen, soll ich Ihnen etwas mitbringen?«

Das war ein ungewöhnliches Angebot von seiner Seite. Normalerweise war es nämlich so, daß eher seine Nachbarin für ihn sorgte als umgekehrt. Die zierliche, überaus energiegeladene Frau Senftleben ging zwar auf die siebzig zu, aber das sah man ihr nicht an. Sie war eine großartige Köchin, und es hatte sich so eingespielt, daß sie oft für Adrian mitkochte, der sich das nur allzu gern gefallen ließ. Wenn er sie fragte, wie er sich bei ihr revanchieren könnte für das, was sie für ihn tat, lachte sie ihn nur aus.

»Ich koche gern, Adrian«, sagte sie dann immer. »Und ich esse lieber in Gesellschaft als allein. Also, wo ist das Problem? Wollen Sie vielleicht lieber allein essen?«

Nein, das wollte er natürlich nicht, und so hatte er das Thema schon länger nicht mehr angeschnitten. Aber natürlich konnte er ihr mal ein paar Einkäufe abnehmen, wenn seine karge Freizeit das erlaubte.

Jetzt hörte er langsame, fast schlurfende Schritte, und auch das war höchst ungewöhnlich. Frau Senftleben lief sonst leicht und schnellfüßig. Gleich darauf wurde die Tür geöffnet, und Adrian rief entsetzt: »Frau Senftleben, was ist denn mit Ihnen los?«

»Krank!« krächzte seine sonst so muntere Nachbarin. Ihre unschuldigen blauen Augen, die schon so manchen zu einem falschen Urteil über sie verleitet hatten, glänzten nicht wie gewöhnlich, sondern ihr Blick war trüb, und ihre sonst so schönen grauen Haare, die sie kurz und glatt trug, was ihr sehr gut stand, klebten ihr am Kopf. Außerdem konnte sie sich ganz offensichtlich kaum auf den Beinen halten.

Er hatte die Situation mit einem Blick erfaßt und sagte nichts, sondern betrat ihre Wohnung, schloß die Tür hinter sich, nahm ihren Arm und führte sie vorsichtig zurück in ihr Schlafzimmer. Dort untersuchte er sie und sagte streng: »Sie haben eine böse Grippe, Frau Senftleben! Wie lange geht es Ihnen schon so schlecht?«

»Paar Tage«, murmelte sie.

Siedendheiß fiel ihm ein, daß er sie, was selten genug vorkam, seit vier Tagen nicht gesehen hatte – wegen seines Nachtdienstes. Er war ja abends, wenn sie gewöhnlich gemeinsam aßen, nicht zu Hause gewesen. Carola Senftleben war eine Nachteule, sie blieb die halbe Nacht wach und schlief bis in den späten Vormittag. Und er selbst hatte in der vergangenen Woche bis nachmittags geschlafen und dann jedesmal schon bald das Haus verlassen.

Warum hatte er nicht vorher schon einmal bei ihr geklingelt, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen?

»Ich hatte Nachtdienst!« sagte er zerknirscht.

»Weiß ich doch«, kam die leise Antwort. »Geht bald… besser.«

»Sie hätten mir Bescheid sagen müssen!« schimpfte er. »So geht das nicht, Frau Senftleben! Zu einer guten Nachbarschaft gehört auch, daß man um Hilfe bittet, wenn man sie braucht!«

»Nicht schimpfen«, bat sie matt.

Seine Stimme wurde sofort sanft und liebevoll. Er hatte seine Nachbarin sehr gern, und sie hatte ihm einen richtigen Schrecken eingejagt. Nur deshalb war er so außer sich geraten. »Ich schimpfe ja gar nicht. Ich lasse Sie jetzt ein paar Minuten allein, weil ich ein paar Medikamente holen muß. Wann haben Sie das letzte Mal etwas gegessen? Und was?«

Sie dachte nach und sagte schließlich: »Stück Brot… heute morgen.«

»Gut, dann weiß ich Bescheid. Bis gleich.«

Er stürzte aus der Wohnung, rief seine Schwester an und erklärte ihr hastig die Lage. Sie versprach, abends vorbeizukommen und ihm zu helfen.

Dann suchte er die notwendigen Medikamente zusammen und machte eine heiße Brühe mit Hilfe eines Brühwürfels. Er wußte, daß Frau Senftleben niemals Brühwürfel benutzen würde und normalerweise strikt abgelehnt hätte, ›so etwas‹ zu sich zu nehmen. Aber er hatte keine Zeit, jetzt sofort eine richtige Rinderbrühe zu kochen. Für dieses Mal mußte es eben so gehen.

Seine Einkäufe verschob er, und wenige Minuten später betrat er die Wohnung seiner Nachbarin erneut.

*

Caroline hatte einen Termin bei ihrer Gynäkologin, und sie machte sich zeitig auf den Weg, da sie noch einiges einkaufen wollte. Ihr Kühlschrank war fast leer, sie hatte wenig Zeit gehabt in den letzten Wochen. Jetzt aber hatte sie ein paar freie Tage, und sie war froh dar­über.

Sie fühlte sich so glücklich wie schon lange nicht mehr. Es war ihr, als schwebe sie, und sie fragte sich, ob sie vielleicht auf dem besten Wege sei, sich zu verlieben. Dieser Tim Brown ging ihr nicht aus dem Kopf, obwohl sie sich immer geschworen hatte, niemals etwas mit einem Arzt anzufangen. Es gab so viele Geschichten über Verhältnisse zwischen Ärzten und Schwestern, aber die wenigsten gingen gut aus.

Ein Verhältnis kam für sie sowieso nicht in Frage. In dieser Hinsicht war Caroline sehr altmodisch. Sie wollte etwas Festes haben, einen Mann, mit dem sie zusammenbleiben und eine Familie gründen konnte. Alles andere war nichts für sie. Sie hatte ein paar Freunde gehabt, aber immer hatte sich herausgestellt, daß es doch nicht das Richtige gewesen war, und so hatte sie sich ohne allzu großes Bedauern jedesmal wieder getrennt. Zur Zeit hatte sie keinen Freund, aber vielleicht…

Ich bin ja verrückt, dachte sie. Der Mann ist Südafrikaner, er ist ein großartiger Arzt, er hat eine glänzende Zukunft vor sich. Der kann jede Frau haben, wenn er will. Der wird gerade auf mich gewartet haben.

Sie hatte die Praxis erreicht, meldete sich an und nahm im Wartezimmer Platz. Dort nahm sie ihren Gedankenfaden wieder auf. Tim Brown hatte sicher nicht auf sie gewartet, aber er hatte sie mehrmals auf eine Art und Weise angesehen, dort oben auf dieser wunderbaren Dachterrasse, daß ihr abwechselnd heiß und kalt geworden war. Und er hatte sie um ein Wiedersehen gebeten – außerhalb der Klinik.

Sie hatte eingewilligt, wobei sie die warnende Stimme in ihrem Inneren absichtlich überhört hatte. Was war schon dabei, wenn sie sich zum Essen mit einem Mann verabredete, den sie nett fand? Das hieß ja noch längst nicht, daß etwas zwischen ihnen war.

»Frau Stellmann? Kommen Sie bitte, Sie sind die nächste.«

Lächelnd folgte Caroline der Sprechstundenhilfe, die hochschwanger war. »Wann ist es denn soweit?« fragte sie.

»Erst in zwei Monaten, aber ich habe das Gefühl, wenn ich noch dicker werde, platze ich«, stöhnte die junge Frau, aber ihre Augen strahlten dabei.

Zu ihrer großen Überraschung entdeckte Caroline an sich selbst ein Gefühl, das ihr eigentlich fremd war. Sie war neidisch.

*

Tim Brown sah sich die eitrige Wunde des Patienten Sven Mohntal aufmerksam an. Es war ein offener Unterschenkelbruch, der nicht verheilen wollte. Den jungen Mann quälten schlimme Schmerzen, und er wußte, daß man bereits über eine Amputation nachdachte.

»Bitte, helfen Sie mir, Herr Doktor!« sagte er flehentlich. »Ich brauche mein Bein! Es kann doch nicht sein, daß ich es verliere bloß wegen so eines blöden Bruches!«

»Machen Sie sich bitte keine Sorgen«, sagte Tim freundlich zu ihm. »Ich denke, wir werden einen Weg finden, Ihr Bein zu retten.« Dann wandte er sich dem jungen Assistenzarzt Dr. Bernd Schäfer zu, der ihn gebeten hatte, sich den Patienten einmal anzusehen. »Können wir uns irgendwo in Ruhe unterhalten?« fragte er.

Bernd Schäfer nickte. Sie verließen das Patientenzimmer und zogen sich in einen leerstehenden Raum zurück. »Stimmt es«, fragte Bernd, »daß Sie eine Idee haben, was wir machen können, um das Bein zu retten?«

»Ich denke schon«, sagte der Südafrikaner ruhig. »Zumindest hoffe ich, daß es noch nicht zu spät ist.« Er machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach. »Ich weiß, daß es eklig klingt und aussieht, aber wir haben die allerbesten Erfahrungen mit Maden gemacht.«

»Maden?« fragte Bernd Schäfer entsetzt. Er war ein Mann, der für sein Leben gern aß, was man ihm auch ansah. Allein der Gedanke an Maden schien jedoch geeignet zu sein, ihm den Appetit zu verderben.

Tim Brown setzte gleich noch einen drauf. »Wir setzen Maden in die Wunden, die den Eiter fressen – gesundes Gewebe rühren sie nicht an. Sie haben mir doch gesagt, daß Ihr Patient etliche Antibiotika nicht verträgt und daß sich sein Zustand in den letzten Tagen sehr verschlechtert hat. Sein Bein ist wirklich in großer Gefahr, wenn nicht sehr schnell Abhilfe geschaffen wird.«

»Das stimmt«, gab der junge Assistenzarzt zu.

»Also, was spricht denn gegen Maden? Sie wissen doch sicher, daß das die schonendste Methode zur Wundreinigung ist, die es gibt? Antibiotika haben sehr oft unerwünschte Nebenwirkungen – ganz abgesehen davon, daß Herr Mohntal eine Überempfindlichkeit gegenüber zahlreichen Medikamenten hat. Mit dem Skalpell verletzt man leicht gesundes Gewebe, weil man so präzise gar nicht arbeiten kann – Maden dagegen tun ihre Arbeit in unserem Sinn und schaden überhaupt nicht. Bleibt also der Ekel über den Anblick. Und diesen Ekel kann man überwinden, wenn man weiß, daß die Methode in diesem speziellen Fall die einzig richtige ist.«

Bernd Schäfer schluckte und sagte dann: »Ich habe schon davon gehört, aber ich glaube nicht, daß hier in der Klinik schon einmal mit Maden gearbeitet worden ist. Und ich habe mir auch noch nie ausgemalt, wie das wohl aussehen könnte.«

Sein afrikanischer Kollege lächelte verständnisvoll. »Den meisten geht es wie Ihnen, Herr Schäfer. Ich selbst fand den Anblick am Anfang auch unangenehm – das vergesse ich immer wieder, weil ich schon seit Jahren mit dieser Methode vertraut bin und sie auch oft anwende. Ich habe schon überall in Afrika gearbeitet – auch in den ärmsten Ländern, wo es am Nötigsten fehlt. Dort greift man gern auf Methoden zurück, die zugleich wirksam und preiswert sind. Und manchmal ist es eben so, daß es auch in einem reichen Land, in dem es sämtliche modernen Hilfsmittel der Medizin gibt, am besten ist, auf ein ganz einfaches Mittel zurückzugreifen. Mir scheint, Maden sind die einzige Chance, die Ihr Patient noch hat, wenn er sein Bein behalten will.«

»Ich weiß nicht, ob er sich damit einverstanden erklären wird«, wandte Bernd Schäfer ein. »Also, ehrlich gesagt, ich weiß nicht einmal, ob ich es täte.« Er schüttelte sich.

Tim lächelte und sagte sanft: »Wenn Sie die Wahl hätten, Ihr Bein zu verlieren oder statt dessen ein paar Ekelgefühle zu überwinden – ich garantiere Ihnen, daß Sie sich für letzteres entscheiden würden.«

»Kann sein«, gab Bernd zu. »Aber dann kommen Sie jetzt bitte mit mir und machen dem Patienten das klar. Allein bin ich damit überfordert.«

Tim nickte nur, und gemeinsam betraten sie das Zimmer des Patienten erneut, der ihnen voller Hoffnung, gemischt mit Angst, entgegensah.

*

»Es hat sie wirklich schlimm erwischt«, sagte Carola Senftlebens Hausarzt mit sorgenvollem Gesicht zu Adrian Winter und dessen Zwillingsschwester. Esther Berger, die als Kinderärztin in der Charité arbeitete, war sofort nach ihrem Dienst zu ihrem Bruder gefahren. Auch sie war schon oft bei Frau Senftleben zu Gast gewesen.

Sie standen jetzt im Wohnzimmer von Adrians Nachbarin, die nach einer Spritze, die der Arzt ihr gegeben hatte, sofort eingeschlafen war. »Können Sie sich in den nächsten Tagen ein wenig um sie kümmern?« fragte der Hausarzt. »Sonst lasse ich sie nämlich ins Krankenhaus einweisen. Allein kann sie nicht bleiben, sie braucht auf jeden Fall Betreuung.«

»Ich habe das ganze Wochenende frei«, antwortete Adrian. »Danach wird es schwierig – Urlaub kann ich im Augenblick schlecht nehmen.«

»Aber ich kann am Montag meinen Dienst für die Woche tauschen«, sagte Esther. »Du hast doch tagsüber Dienst nächste Woche, Adrian, oder nicht?«

Er nickte. »Gut«, fuhr sie entschlossen fort, »dann übernehme ich nächste Woche den Nachtdienst und kann tagsüber hier sein. Das wird schon gehen.«

»Gut, wenn Sie beide das so hinkriegen, bin ich einverstanden. Rufen Sie mich bitte jederzeit an, wenn etwas sein sollte. Morgen komme ich vormittags noch einmal vorbei, um zu sehen, ob die Medikamente einschlagen und ob sie sie verträgt.«

»Vielen Dank, daß Sie sofort gekommen sind«, sagte Adrian und brachte seinen älteren Kollegen zur Tür.

»Ach, wissen Sie, Herr Winter«, antwortete dieser, »Frau Senftleben ist schon sehr lange meine Patientin, aber sie ist fast nie krank gewesen. Ich bin richtig froh, wenn ich einmal etwas für sie tun kann. Sie läßt sich regelmäßig untersuchen, aber sie hat eine unverwüstliche Gesundheit.«

»Dafür hat es sie jetzt aber auch richtig umgehauen«, meinte Adrian.

»Aber sie kommt bestimmt bald wieder auf die Beine, Herr Winter, anders hält sie das gar nicht aus.«

»Hoffentlich«, meinte Adrian, der sich noch immer große Sorgen um seine Nachbarin machte. Erst im Laufe der letzten Stunden war ihm klargeworden, wie groß die Rolle war, die sie in seinem Leben spielte.

Als er zurückkehrte, fand er Esther nicht mehr im Wohnzimmer, sondern er hörte sie leise in Frau Senftlebens Küche klappern. »Was machst du denn hier?« erkundigte er sich erstaunt.

»Rinderbrühe«, antwortete sie lakonisch. »Ein Wunder-Heilmittel, das solltest du eigentlich wissen. Ich habe noch schnell Fleisch und Knochen und ein bißchen Gemüse gekauft. Wir können Frau Senftleben schließlich keine Tütensuppe anbieten.«

Er wurde verlegen. »Hab’ ich schon gemacht«, gestand er.

»Echt?« Sie schüttelte den Kopf mit den kurzen blonden Haaren, die sie viel jünger erscheinen ließen, als sie tatsächlich war. »Und was hat sie gesagt?«

»Nichts. Sie hat sie geschluckt. Aber du hättest mal ihr Gesicht sehen sollen.«

*

Frau Dr. Hallwachs, Carolines Gynäkologin, ließ sich Zeit mit ihrer Untersuchung. Ab und zu murmelte sie vor sich hin, dann griff sie zu dem Stab, der zum Ultraschallgerät gehörte, und führte ihn ein. Aufmerksam sah sie auf den Monitor, die Augenbrauen zusammengezogen, während sie den Stab in Carolines Unterleib vorsichtig bewegte.

»Ist etwas nicht in Ordnung, Frau Dr. Hallwachs?« fragte Caroline schließlich, als das Schweigen der Ärztin ihr zu lange dauerte.

»Es sieht ganz so aus, Frau Stellmann«, lautete die Antwort. »Die kleine Zyste am rechten Eierstock, die wir beim letzten Mal festgestellt hatten, ist seitdem enorm gewachsen, das gefällt mir überhaupt nicht. Außerdem sitzt jetzt am linken Eierstock ebenfalls eine. Ich dachte zunächst, ich hätte mich vielleicht getäuscht, aber so ist es leider nicht.«

Sie zog den Stab heraus und setzte ihre Untersuchung mit den Händen fort.

»Was heißt das?« fragte Caroline.

»Das heißt, daß die gutartige Geschwulst bösartig geworden sein könnte«, antwortete die Ärztin. »Das muß nicht so sein, aber es ist möglich. Klarheit wird nur eine Operation bringen.«

Caroline war so erschrocken, daß sie zunächst gar nichts sagen konnte. Mit einem solchen Untersuchungsergebnis hatte sie nicht gerechnet, das mußte sie erst einmal verarbeiten.

Frau Dr. Hallwachs beendete ihre Untersuchung und sagte ruhig: »Sie können sich jetzt wieder anziehen, Frau Stellmann. Dann überlegen wir, was wir machen.«

Caroline erhob sich wie betäubt von dem Untersuchungsstuhl und verschwand in der Umkleidekabine. War sie das wirklich gewesen, die vor einer Stunde überaus fröhlich von zu Hause weggegangen war? Die sich in Tagträumen über einen Mann namens Timothy Brown­ verloren hatte?

Sie kehrte in das Sprechzimmer der Ärztin zurück und nahm auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz.

»Sie müssen sich operieren lassen, Frau Stellmann«, sagte ihre Ärztin ernst. »Das ist die einzige Möglichkeit, um Klarheit zu gewinnen.«

»Wenn… also, wenn es ein bösartiger Tumor ist«, sagte Caroline leise, »was bedeutet das dann? Daß ich niemals Kinder bekommen kann?«

Frau Dr. Hallwachs nickte. »Wenn es so ist, dann müssen beide Eierstöcke und auch die Gebärmutter entfernt werden. Alles andere wäre zu gefährlich.« Sie sah in das blasse Gesicht ihrer Patientin und fügte hinzu: »Aber es ist genauso gut möglich, daß die Geschwulst gutartig ist.«

»Glauben Sie das?« fragte Caroline.

»Ich kann Ihnen darauf keine Antwort geben, Frau Stellmann. Das starke Wachstum gefällt mir nicht – das könnte ein Indiz für die Bösartigkeit sein. Ich sage ausdrücklich ›könnte‹, denn auch gutartige Tumore wachsen.«

Sie machte eine kleine Pause und fuhr dann fort: »Sie müssen sich operieren lassen, dann sind wir sicher. Bei dieser Operation wird ein sogenannter Schnellschnitt gemacht – und je nachdem, wie das Ergebnis ist, wird lediglich die Geschwulst entfernt oder eben auch die Organe.«

»Was für eine Aussicht«, sagte Caroline schwach. »Man läßt sich in Narkose versetzen und weiß nicht, was einen erwartet, wenn man wieder aufwacht: Ist man noch ein ganzer Mensch oder nicht?«

»Ein ganzer Mensch werden Sie in jedem Fall sein!« Die Stimme der Ärztin war warm und ruhig. »Sie dürfen sich jetzt nicht von Ihren Phantasien verrückt machen lassen, Frau Stellmann.«

»Würde es Ihnen anders gehen, wenn Sie an meiner Stelle wären?« fragte Caroline leise. »Würden Sie ruhig bleiben?«

Frau Dr. Hallwachs dachte nach und antwortete ehrlich: »Nein, wahrscheinlich nicht.« Dann sah sie in ihren Unterlagen nach und fragte: »Sie arbeiten doch in der Kurfürsten-Klinik, nicht wahr? Sie sollten sich dort operieren lassen, die Chirurgie hat einen ausgezeichneten Ruf.«

»Ich weiß nicht, ob ich von Leuten operiert werden will, die ich kenne und mit denen ich hinterher zusammenarbeiten muß«, entgegnete Caroline. »Darf ich wenigstens noch ein paar Tage darüber nachdenken?«

Die Ärztin gab ihre Antwort indirekt. »Sie sollten sich so bald wie möglich operieren lassen, Frau Stellmann.«

*

»Du siehst großartig aus. Dir bekommt Berlin offenbar gut«, stellte Stefanie Wagner fest, nachdem sie Tim Brown in einem der Restaurants des King’s Palace begrüßt hatte, wo sie zusammen zu Mittag essen wollten. Es war die einzige Möglichkeit, sie zu sehen, hatte sie ihm erklärt. Sie hatte einfach zu viel um die Ohren im Augenblick, um sich mit jemandem abends zu verabreden. Oft genug blieb sie bis zehn oder sogar noch länger im Hotel.

»Ja«, bestätigte er lächelnd. »Berlin tut mir gut. Ich hab’ mich verliebt, Steffi.«

Sie tat, als sei sie über die Maßen überrascht. Schließlich mußte er nicht wissen, daß sie das schon gemerkt hatte, als sie ihn auf der Dachterrasse mit dieser schönen Blonden hatte sitzen sehen…

»Wie schön, Tim! Da werden sich deine Eltern aber freuen, daß die heißersehnte große Familie endlich in den Bereich des Möglichen rückt!«

Aber Tim winkte erschrocken ab. »So weit ist es noch längst nicht, Steffi. Die Frau weiß ja noch gar nichts von ihrem Glück. Vielleicht erwidert sie meine Gefühle überhaupt nicht. Es ist ja auch noch ganz frisch, ich habe sie schließlich gerade erst kennengelernt…«

Sie unterbrach ihn lachend. »Aber trotzdem bist du dir schon so sicher, daß du mir von ihr erzählst. Das muß ja dann Liebe auf den ersten Blick gewesen sein.«

»Auf den ersten nicht«, erwiderte er. »Aber ich glaube, es war ungefähr der dritte oder vierte. Auf jeden Fall ist es ziemlich schnell gegangen, da hast du schon recht.«

»Und wer ist sie? Wie hast du sie kennengelernt?« fragte Stefanie neugierig.

Er erzählte ihr, wie Caroline ihm buchstäblich in die Arme gefallen war. »Und stell dir vor, sie ist Krankenschwester an der Kurfürsten-Klinik!«

»Und dort habt ihr euch noch nie gesehen?«

Er schüttelte den Kopf. »Das ist ja ein riesiger Komplex, da läuft man sich nicht ständig über den Weg. Wahrscheinlich können zwei Leute dort jahrelang arbeiten, ohne sich jemals zu begegnen.«

»Arzt und Krankenschwester«, sagte sie nachdenklich, »das klingt fast wie aus einem Roman.«

»Oder wie direkt aus dem Leben«, meinte er. »Du weißt doch, daß manche Romane dem Leben sehr nahekommen. Es ist nun einmal so, daß die meisten Menschen sich am Arbeitsplatz kennenlernen. Ärzte und Schwestern verbringen sehr viel Zeit miteinander – oft mehr als mit ihren jeweiligen Partnern. Bei Chefs und Sekretärinnen ist das doch ganz ähnlich.«

»Ich weiß«, seufzte sie und dachte an Andreas Wingensiefen. Ihr Chef war ein sehr attraktiver Mann, der seine Freundinnen häufig wechselte. Er hatte auch schon mit einer seiner Sekretärinnen eine Affäre gehabt, die sich dann hinterher einen anderen Job hatte suchen müssen. Das war eine höchst unerfreuliche Geschichte gewesen, die sie ihm sehr übel genommen hatte.

»Also, und wie geht das nun weiter mit dir und Caroline?« fragte sie. »Seid ihr schon wieder verabredet?«

Er nickte strahlend. »Ja, morgen. Ich habe sie zum Essen eingeladen, und ich kann dir nur sagen, daß ich mich fühle wie mit fünfzehn. So aufgeregt bin ich schon lange nicht mehr gewesen.«

»Ich wünsche dir viel Glück«, sagte sie aufrichtig.

»Und wie sieht’s bei dir mit der Liebe aus?« fragte er. »Mit Oliver bist du doch nicht mehr zusammen, oder?«

Sie schüttelte den Kopf. »O nein, schon längst nicht mehr. Er hat mich einfach zu sehr eingeengt, Tim. Dauernd wollte er genau wissen, was ich den ganzen Tag über gemacht hatte, und wenn ich es ihm nicht erzählt habe, weil es einfach zuviel gewesen war, dann wurde er böse.«

Sie machte eine komische kleine Grimasse. »Das ist ja heute noch so, wenn wir uns treffen. Er kann es einfach nicht lassen, mich zu bevormunden und zu kontrollieren. Wirklich, er ist ein sehr lieber Mensch, aber jedenfalls nicht der Richtige für mich.«

»Das fand ich damals schon«, gestand er. »Ich habe ihn ja kennengelernt, erinnerst du dich?«

»Und ob«, sagte sie schaudernd. »Er hat mich noch tagelang gelöchert, wer du bist und woher ich dich kenne und ob auch wirklich nie etwas war zwischen uns. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, daß ich dich auf meiner Afrika-Reise kennengelernt habe und daß wir seitdem befreundet sind.«

»Das hast du mir nie erzählt.« Tim amüsierte sich. »Ich meine, daß er eifersüchtig war. Das schmeichelt mir sogar. Der arme Oliver. Was für Qualen muß er ausgestanden haben.«

Ihre Miene hellte sich wieder auf. »Heute finde ich es auch eher komisch, aber damals war es schrecklich, das kannst du mir glauben.«

»Also?« fragte er. »Was ist nun mit der Liebe?«

»Leider nichts«, gestand sie.

»Ich hoffe, du gehörst nicht zu den Frauen, die außer ihrer Arbeit an nichts anderes denken können.«

»Eher umgekehrt«, meinte sie nachdenklich. »Ich arbeite viel, damit ich an nichts anderes denke. Ab und zu bin ich gern allein, das weißt du, aber im Augenblick geht es mir ziemlich auf die Nerven, wenn ich nach Hause komme, und es ist niemand da, der mich erwartet.«

Er nickte verständnisvoll mit dem Kopf. »Das kann ich mir gut vorstellen. Gibt es denn wirklich niemanden? Ich kann mir das gar nicht vorstellen, wenn ich ehrlich sein soll.«

Sie zögerte. »Es gibt einen Mann, den ich interessant finde – schon seit einiger Zeit. Und er scheint sich auch immer zu freuen, wenn er mich sieht. Aber es geht einfach nicht weiter. Wir treffen uns, unterhalten uns wunderbar miteinander – und das war’s dann wieder für einige Wochen.«

»Vielleicht hat er eine Frau oder Freundin«, vermutete Tim.

»Soviel ich weiß, nicht«, entgegnete sie.

»Was macht er?«

Diese Frage hatte sie erwartet. »Er ist Arzt«, antwortete sie. »An der Kurfürsten-Klinik.«

Er wartete, aber sie sprach nicht weiter. »Du willst mir wohl nicht sagen, wer er ist?«

»Nein, Tim«, antwortete sie. »Das will ich ganz bestimmt nicht.«

»Schade«, meinte er. »Vielleicht hätte ich herausfinden können, warum es mit euch beiden nicht weitergeht.«

»Das möchte ich auf gar keinen Fall«, rief sie erschrocken und fügte dann hastig hinzu: »Vergiß einfach, was ich dir eben erzählt habe, okay? Vergiß jedes Wort davon, Tim. Versprich mir das.«

»Ich werde es versuchen«, log er, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Genau das Gegenteil würde er tun. Er würde alles daransetzen herauszufinden, was hinter der merkwürdigen Geschichte steckte, die sie ihm eben erzählt hatte. Dieser geheimnisvolle Mann, der sich ihr nicht näherte, obwohl er doch spüren mußte, daß sie offenbar verliebt in ihn war oder daß sie sich zumindest in ihn verlieben würde, wenn er es zuließe – dieser Mann mußte sich doch finden lassen!

*

»Bitte, trinken Sie die Brühe, Frau Senftleben«, bat Adrian, »damit Sie wieder zu Kräften kommen. Meine Schwester hat sie extra zubereitet – aber seitdem haben Sie sich ja leider geweigert, überhaupt noch etwas zu sich zu nehmen.«

»Kein Hunger«, murmelte Frau Senftleben. Sie sah erschreckend blaß und teilnahmslos aus. Immerhin war sie wach und hatte keinen ihrer Fieberträume, die sie in der letzten Nacht gequält hatten.

»Trotzdem«, sagte er mit sanftem Nachdruck und half ihr, sich ein wenig aufzurichten. »Ein bißchen essen müssen Sie, glauben Sie mir das.«

Sie gab ihren Widerstand auf. Tapfer schluckte sie, als er ihr die Tasse an den Mund hielt. Es dauerte ziemlich lange, aber schließlich hatte sie sie doch geleert.

»Bravo!« sagte Adrian zufrieden. »Sehen Sie, es geht doch!«

»War ganz gut«, sagte Frau Senftleben, und sie wirkte nicht mehr ganz so matt wie zuvor. »Fehlte das Lorbeerblatt und ein bißchen Pfeffer, aber sonst war sie… ganz gut.«

Adrian jubelte innerlich. Wenn Frau Senftleben schon wieder feststellen konnte, daß der Geschmack der Suppe nicht perfekt war, dann mußte es ihr bessergehen.

Sie schien seine Gedanken zu erraten, denn jetzt sagte sie: »Keine Sorge, Adrian – das Schlimmste… ist vorbei. Aber ich fühle mich schrecklich schwach.«

Er setzte sich zu ihr. »Kein Wunder. Sie haben sich nicht bewegt, fast nichts gegessen, Antibiotika genommen – und Ihr Körper kämpft noch immer mit der Grippe. Aber wenn Sie jetzt vernünftig sind und wieder essen, dann werden Sie sich schnell erholen.«

»Hoffentlich«, seufzte sie. »Kranksein ist langweilig.«

»Ja, da haben Sie wohl recht.«

»Haben Sie überhaupt Zeit, ständig hier zu sein?« fragte sie.

»Ich habe frei«, erzählte er. »Und nächste Woche wechseln wir uns ab, Esther und ich. Sie hat den Nachtdienst übernommen – so kann sie tagsüber hier sein, falls Sie es brauchen. Und nachts bin ich dann da.«

Ihre Augen waren feucht. Es war das erste Mal, daß er seine Nachbarin so gerührt sah. »Alles meinetwegen?« murmelte sie.

»Na, hören Sie mal, Frau Senftleben«, sagte er, »ich esse öfter bei Ihnen als bei mir, Sie sorgen wie eine Mutter für mich – und dann soll ich Sie krank und allein hier liegen lassen? Wofür halten Sie mich eigentlich?«

»Für einen sehr netten Menschen«, antwortete sie, nun doch erschöpft von der Unterhaltung. »Und jetzt will ich noch etwas schlafen.«

»Nur zu«, sagte er. »Ich räume in der Zwischenzeit ein bißchen auf.«

Das tat er, und als er das nächste Mal nach ihr sah, schlief sie fest. Zufrieden ließ er sich in einen ihrer gemütlichen Sessel sinken und griff nach dem Krimi, den er gestern angefangen hatte zu lesen. Aber sehr weit kam er nicht. Entweder war er von der Pflege der Nachbarin selbst müde, oder ihre regelmäßigen Atemzüge wirkten beruhigend – jedenfalls hatte er noch keine drei Seiten gelesen, als das Buch seinen Händen entglitt, weil er ebenfalls eingeschlafen war.

*

Seit Sven Mohntals eitrige Wunde am Unterschenkel auf Geheiß von Dr. Brown von Maden saubergehalten wurde, war er schlagartig der interessanteste Patient der Kurfürsten-Klinik geworden. Jeder, der die Möglichkeit hatte, wollte gern einen Blick auf seinen Unterschenkel werfen, nur um sich schaudernd wieder abzuwenden.

Und auch das Interesse an dem hochgewachsenen Südafrikaner Tim Brown war noch größer geworden, als es ohnehin schon gewesen war. Es nützte nichts, daß etliche Ärzte versicherten, die eigenwillige Therapie, die er vorgeschlagen hatte, sei auch in Deutschland keineswegs unbekannt – einmal mehr stand der Name Dr. Brown für Exotik und Abenteuer.

Sven selbst hatte gar nicht lange überzeugt werden müssen – im Gegensatz zu dem, was Bernd Schäfer prophezeit hatte. Er hatte sich Dr. Browns Erklärungen angehört und gesagt: »Von mir aus, Herr Doktor. Machen Sie, was Sie wollen – wenn nur mein Bein endlich abheilt. Ich hab’ nix gegen Maden, wenn Sie meinen, die helfen mir.«

Jetzt war es Bernd Schäfer, der an seinem Bett saß und die Wunde untersuchte. Es fiel ihm schwer, sich zusammenzunehmen, aber er wollte sich vor dem jungen Mann, der Ekelgefühle nicht zu kennen schien, keine Blöße geben. Dennoch kostete es ihn immer noch Überwindung, sich Sven Mohntals Bein auch nur anzusehen.

Tapfer biß er die Zähne zusammen und beugte sich über die Wunde. Und dann vergaß er seinen Ekel. Statt dessen betrachtete er den Unterschenkel, der noch vor kurzem entsetzlich ausgesehen hatte, genauestens von allen Seiten. Schließlich schüttelte er den Kopf und murmelte: »Unglaublich.«

»Was ist unglaublich?« fragte Sven Mohntal sofort. Er hatte bereits ungeduldig auf eine Äußerung des Assistenzarztes gewartet.

»Wie gut das bereits aussieht«, antwortete Bernd nachdenklich. »Dr. Brown hat offenbar die richtige Idee gehabt. Die Wunde eitert nicht mehr, und ich glaube, sie heilt bereits ab.«

»Wirklich?« fragte der Patient. »Heißt das, mein Bein ist gerettet?«

»Ich möchte nicht voreilig sein«, meinte Bernd lächelnd und erhob sich. »Aber wenn sich das so weiter entwickelt, dann würde ich sagen: Ja, das Bein ist gerettet.«

»Mann!« Sven Mohntal war völlig überwältigt. »Wenn Sie wüßten, was das für mich bedeutet, Herr Doktor.«

»Nun werden Sie mir nur nicht übermütig, verstanden?« mahnte Bernd. »Sie haben noch einen langen Weg vor sich, Herr Mohntal.«

»Egal«, kam die Antwort. »Von mir aus kann der Weg so lang sein, wie er will – die Hauptsache ist, ich kann ihn auf zwei Beinen gehen.«

Bernd verabschiedete sich von seinem glückstrahlenden Patienten und machte sich auf die Suche nach Dr. Brown, um ihm die gute Nachricht zu überbringen. Zu seiner Enttäuschung war der Südafrikaner aber nirgends aufzutreiben, weil er gar keinen Dienst hatte.

Dann würde er es ihm eben ein anderes Mal mitteilen, dachte Bernd und beschloß, etwas zu essen, um seinen revoltierenden Magen zu beruhigen. Diese Wirkung hatte ein Besuch bei Sven Mohntal in den letzten Tagen jedesmal auf ihn gehabt.

*

Heute würde sie also mit Tim Brown essen gehen – es war der Termin, der sie noch vor zwei Tagen schier verrückt gemacht hatte vor Glück. Und jetzt?

Trübselig starrte Caroline sich selbst im Spiegel an. Sie fand, daß sie katastrophal aussah, weil sie sich so fühlte. In Wirklichkeit stimmte das keineswegs. Zwar wirkten ihre blauen Augen traurig, aber gerade das verlieh ihrem schönen Gesicht einen ganz eigenen Reiz – doch dafür hatte Caroline selbst keinen Blick. Sie fand sich blaß und unglücklich und gefiel sich nicht.

Außerdem wußte sie nicht, wie sie Tim Brown klarmachen sollte, daß dies der erste und zugleich letzte Abend sein würde, den sie gemeinsam verbrachten. Sie konnte nicht mit einem Mann ausgehen, in den sie sich vielleicht sogar schon verliebt hatte, wenn sie damit rechnen mußte, schwer krank zu sein. Zwar hatte ihre Ärztin gesagt, möglicherweise könne der Tumor auch gutartig sein, aber das war eben nicht sicher.

Am besten, ich sage ihm, wie es ist, dachte sie unglücklich. Er ist schließlich Arzt, und ich bin Krankenschwester. Wir haben beide ständig mit Krankheiten zu tun – was liegt da näher, als offen dar­über zu sprechen.

Bevor sie noch länger darüber nachdenken konnte, klingelte es bereits. Er hatte darauf bestanden, sie abzuholen. Ihr Herz fing an wild zu klopfen, sie warf einen letzten Blick in den Spiegel, nahm ihre Handtasche und eine Jacke und verließ die Wohnung. Ich hätte absagen sollen, dachte sie. Warum habe ich das nicht getan und mir diese Quälerei erspart?

Dann stand er auch schon vor ihr, und seine dunklen Augen strahlten sie an. »Ich hatte ständig Angst, Sie würden absagen, Caroline«, sagte er leise. »Dabei habe ich mich so sehr darauf gefreut, Sie wiederzusehen.«

Sie wollte schon sagen, daß auch sie sich sehr gefreut habe, aber in letzter Sekunde biß sie sich auf die Lippen und sagte nur: »Hallo, Tim. Wohin gehen wir?«

Er warf ihr einen kurzen Blick zu, aber wenn er enttäuscht war über diese Begrüßung, dann ließ er es sich nicht anmerken. Leicht nahm er ihren Arm und sagte: »Lassen Sie sich überraschen. Mein Wagen steht da drüben, kommen Sie.«

Sag es ihm jetzt, jetzt gleich! befahl sie sich. Warte nicht länger, später wird es nur schwerer. Aber kein Wort kam über ihre Lippen. Es war so schön, daß er neben ihr ging und sie seine Hand ganz leicht an ihrem Ellbogen spürte. Ein verrücktes Glücksgefühl überkam sie, und sie brachte es nicht fertig, dieses Gefühl durch ein paar nüchterne Worte zu zerstören.

*

»Du bist vielleicht ein Krankenpfleger!« schimpfte Esther liebevoll und strich ihrem Zwillingsbruder über die stoppelige Wange.

Verwirrt öffnete Adrian Winter die Augen und rappelte sich hoch. War er tatsächlich in Frau Senftlebens Sessel eingeschlafen? Nein, das war eigentlich nicht möglich, wahrscheinlich träumte er. Aber seine Schwester sprach weiter, und das bedeutete, daß er vielleicht doch wach war.

»Ich bin nur mal vorbeigekommen, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist«, fuhr Esther fort. »Zum Glück hattest du mir ja einen Schlüssel zu dieser Wohnung gegeben. Ich habe geklingelt, aber niemand hat geöffnet. Wie lange sitzt du denn schon hier und schläfst?«

Adrian war noch immer benommen. »Keine Ahnung«, gestand er. »Wie spät ist es denn?«

»Nach sieben«, antwortete sie, und jetzt fuhr er erschrocken auf und machte Anstalten, sich zu erheben.

»Frau Senftleben!« sagte er. »Ich muß dringend…«

Sie drückte ihn mit sanfter Gewalt zurück in den Sessel. »Du mußt gar nichts, ich habe schon nach ihr gesehen. Sie hat noch ein bißchen Brühe getrunken, ein Stück Brot gegessen, mit mir etwas geredet, und dann ist sie wieder eingeschlafen. Sie hat das Schlimmste überstanden, jetzt ist sie erschöpft und könnte dauernd schlafen. Aber sie hat kaum noch Fieber und sieht auch schon besser aus.«

»Es ist doch nicht möglich«, sagte Adrian sichtlich erschüttert, »daß ich drei Stunden in diesem Sessel geschlafen habe.«

»Wenn du vorher auf die Uhr gesehen hast und es ungefähr vier war, dann würde ich sagen, es ist doch möglich«, versetzte seine Schwester trocken. »Was ist, hast du Hunger?«

Er nickte. »Aber nicht auf Rinderbrühe«, gestand er.

Esther lachte. »Ich bin an einem sehr guten China-Restaurant vorbeigekommen, die haben auch Essen zum Mitnehmen. Wie wär’s mit Frühlingsrollen, Gemüsesuppe und knuspriger Ente?«

Mit einem Schlag war Adrian hellwach. »Das ist schon alles hier?« fragte er hungrig.

»Und noch ganz heiß«, sagte er lächelnd. »Komm mit in die Küche.«

Das ließ er sich nicht zweinmal sagen. Als sie sich an Frau Senftlebens Küchentisch gegenübersaßen und ihre Suppe aßen, stellte Adrian fest: »Nicht schlecht, aber überhaupt nicht mit Frau Senftlebens Suppen zu vergleichen.«

»Das wäre ja auch noch schöner«, ertönte die Stimme seiner Nachbarin von der Tür her.

Sie fuhren beide erschrocken auf und riefen wie aus einem Mund: »Frau Senftleben, Sie sollen doch…«

»Ins Bad werde ich ja sicher gehen dürfen«, unterbrach Carola Senftleben sie sanft, aber entschieden. »Keine Sorge, danach verschwinde ich wieder in meinem Bett. Jedenfalls wird es Zeit, daß ich wieder gesund werde. Essen zum Mitnehmen in meiner Küche!« Kopfschüttelnd wandte sie sich ab und ging langsam zum Badezimmer.

Esther und Adrian kicherten wie Kinder, die man bei etwas Verbotenem erwischt hat, und löffelten ihre Suppe weiter.

*

Tim Brown war verwirrt. Etwas war los mit Caroline, aber sie rückte nicht mit der Sprache heraus. Sie war völlig verändert, das war ihm schon bei der Begrüßung aufgefallen, aber sie wollte offenbar nicht darüber reden. Ihre Augen blickten traurig, das strahlende Gesicht wirkte heute ernst. Ihre Unbekümmertheit, das vergnügte Lachen – alles war verschwunden. Am liebsten hätte er sie in den Arm genommen und getröstet. Denn sie wirkte so, als brauche sie Trost.

Er beschloß, sie direkt zu fragen. Versteckspiel lag ihm nicht, außerdem hatte er sich so sehr auf diesen Abend mit ihr gefreut. Er wollte nicht, daß etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen stand.

»Ist etwas passiert, Caroline?« fragte er behutsam.

Sie sah ihn erschrocken an – es kam ihm zumindest so vor, als sei sie erschrocken. Oder wirkte sie nicht eher wie jemand, den man ertappt hat? Er wurde noch verwirrter, stellte seine Frage aber trotzdem noch ein zweites Mal. »Sie wirken so bedrückt«, sagte er leise. »Bitte, sagen Sie mir doch, was Sie quält.«

Caroline schluckte. Wie schön wäre es, jetzt einfach zu reden, diesen dunklen Augen anzuvertrauen, was ihr Leben seit dem Besuch bei ihrer Ärztin überschattete. Sie hatte die besten Absichten, sie wollte ihm die Wahrheit sagen, aber als sie schließlich den Mund öffnete, um ihm zu antworten, da kamen ganz andere Worte heraus, als sie gewollt hatte. »Ich bin nur ein bißchen müde, Tim, das ist alles. Kein Grund zur Beunruhigung.«

Er war enttäuscht. Sie hatte kein Vertrauen zu ihm, was hatte er auch erwartet? Sie kannten sich schließlich kaum, und nur weil er sich gleich in sie verliebt hatte, mußte es ihr nicht genauso gehen. Er hätte sie nicht fragen sollen, schließlich stand ihm eine solche Frage gar nicht zu.

»Tut mir leid«, sagte er, und er hörte selbst, wie steif das klang und wie distanziert sich seine Stimme auf einmal anhörte. Das hatte er gar nicht gewollt, aber er mußte sich wappnen gegen die riesige Welle von Schmerz und Enttäuschung, die jetzt auf ihn zurollte. Caroline empfand offensichtlich nicht so für ihn wie er für sie. Er war zu schnell gewesen – wie so oft in seinem Leben. Wenn er ein Ziel hatte, dann stürmte er bedenkenlos darauf zu, und oft genug hatte er andere Menschen dadurch nur verschreckt.

»Wir sollten bestellen«, sagte er, und nun klang seine Stimme schroff, als wolle er den Abend möglichst schnell hinter sich bringen.

Genauso verstand es Caroline. Warum sagte sie ihm nicht die Wahrheit? Jetzt konnte sie es noch tun, vielleicht würde dann die steile Falte auf seiner Stirn wieder verschwinden, seine Augen würden wieder warm und freundlich blicken, und er würde ihr sagen, daß das alles halb so schlimm sei und daß er natürlich immer für sie dasein werde…

Doch sie sagte nichts. Und auch Tim schwieg eigensinnig. Sie waren beide erleichtert, als der Kellner schließlich kam, denn nun hatten sie wenigstens etwas zu tun, das sie ablenkte.

*

»Was ist denn heute für ein Tag?« fragte Frau Senftleben ein wenig verwirrt, als Adrian am Montagmorgen auf Zehenspitzen in ihr Zimmer trat, da er angenommen hatte, sie würde noch schlafen.

»Montag«, antwortete Adrian. »Montagmorgen, Frau Senftleben, ich muß in die Klinik. Meine Schwester kommt sicher jeden Augenblick, machen Sie sich keine Sorgen.«

»Ich mache mir keine Sorgen«, erwiderte seine Nachbarin lächelnd. »Sie machen sich welche. Das müssen Sie aber nicht, Adrian, mir geht es wirklich schon viel besser, und zur Not komme ich jetzt auch allein zurecht.«

»Ich möchte aber nicht, daß Sie allein sind, Frau Senftleben«, sagte er hartnäckig. In diesem Augenblick wurde die Wohnungstür aufgeschlossen, und er atmete auf. »Da ist Esther ja schon«, sagte er erleichtert. »Na, das hat ja wunderbar geklappt.«

Esther rief leise: »Adrian?«

»Hier bin ich, bei Frau Senftleben«, rief er zurück. »Komm ruhig herein, unserer Patientin geht es viel besser.«

»Guten Morgen«, sagte Esther, als sie Frau Senftlebens Schlafzimmer betrat. »Tut mir leid, Adrian, daß ich so spät bin, aber wir hatten noch ein Zwillingspärchen, das uns Kummer gemacht hat. Und du weißt ja, Zwillinge üben eine magische Anziehungskraft auf mich aus – kein Mensch weiß, warum das so ist!« Sie gab ihrem Zwillingsbruder einen liebevollen Kuß auf die Wange und wandte sich dann der Patientin zu.

»Frau Senftleben, wieso sind Sie denn schon wach? Adrian behauptet doch immer, daß Sie die reinste Nachteule sind und den halben Vormittag verschlafen.«

Carola Senftleben lächelte, sie wirkte tatsächlich ziemlich verschlafen. »Es ist eben im Augenblick alles ziemlich durcheinander. Das kommt durch die Krankheit. Aber keine Sorge, wenn alles wieder normal läuft, dann nehme ich meine liebgewordenen alten Gewohnheiten wieder auf.«

»Ich muß los«, sagte Adrian. »Wiedersehen, Frau Senftleben, tschüß, Esther. Bis heute abend.«

Weg war er. Die beiden Frauen lächelten einander an, dann sagte Frau Senftleben besorgt: »Sie sind doch sicher völlig kaputt, Esther! Legen Sie sich nur gleich hin, um mich müssen Sie sich nicht kümmern, mir geht’s schon wieder gut.«

Aber Esther schüttelte energisch den Kopf. »So schnell muß ich nicht schlafen. Zuerst einmal möchte ich etwas essen, und ich denke, Ihnen würde ein Frühstück auch nicht schaden, wo Sie doch nun schon einmal wach sind.«

»Frühstück?« fragte Frau Senftleben erstaunt. »Um diese Zeit? Es ist doch noch fast Nacht.«

Esther lachte und war bereits auf dem Weg in die Küche. »Von wegen!« rief sie. »In einer Viertelstunde, Frau Senftleben. Und wehe, Sie schlafen mir vorher wieder ein!«

*

Das Telefon klingelte, und Stefanie Wagner meldete sich sofort. Sie war immer schon sehr früh im Hotel, weil sie dann am besten arbeiten konnte. Viele der Angestellten wußten das und riefen sie deshalb frühmorgens an, um ihr ihre Probleme vorzutragen.

Am Anfang hatte es sie gestört, weil sie zu den Dingen, die sie sich vorgenommen hatte, oft genug nicht kam, aber mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt und fand es sogar gut. Die aktuellen Probleme im Hotel waren schließlich am wichtigsten. Alles andere konnte in der Regel warten. Oft jedenfalls hatte sie schon sehr viel erledigt, wenn ihre Kolleginnen und Kollegen überhaupt erst eintrafen.

Aber diesmal war es niemand aus dem Hotel, sondern jemand von außerhalb. »Steffi?« fragte eine wohlvertraute Stimme.

»Tim!« rief sie erfreut. »Was macht die Liebe? Treibt sie dich etwa so früh aus dem Bett?«

»Nein«, antwortete er niedergeschlagen.

»Was ist los?« fragte sie. »Ihr habt euch doch noch einmal getroffen, oder?«

»Ja, eben. Und es war eine einzige Katastrophe, Steffi.«

»Wieso?«

Er erzählte es ihr. Nach einem rundum gelungenen Abend klang es wirklich nicht, das mußte sie zugeben. »Aber so schnell gibt man nicht auf«, sagte sie energisch. »Ihr kennt euch kaum, also ist es nicht verwunderlich, daß sie dir nicht sofort ihr Herz ausschüttet. Vielleicht ist das Problem auch so geartet, daß man nicht gern darüber spricht. Frag sie beim nächsten Mal etwas eindringlicher, sie wird schon reden.«

»Dann hätte sie es jetzt auch schon tun können«, wandte er nicht ganz zu Unrecht ein.

»Trotzdem finde ich, daß du dich zu schnell entmutigen läßt«, sagte sie. »Vielleicht hat sie nicht gewußt, wie sie das, was sie bedrückt, zum Ausdruck bringen soll. Du kennst solche Situationen doch auch, Tim. Ich kann mir nicht vorstellen, daß du bei den ersten kleinen Schwierigkeiten schon aufgibst.«

»Ich gebe nicht auf«, versicherte er, »aber ich bin mutlos. Die Sicherheit, die ich neulich hatte, daß sie meine Gefühle erwidert, ist weg. Ich zweifele, und ich bin sehr unglücklich seit diesem Abend.«

»Verständlich«, meinte Stefanie. »Ruf sie an und frag sie, was los war.«

»Nein, das mache ich nicht. Ich warte, bis wir uns wiedersehen. Du meinst also, es muß noch nicht alles verloren sein?«

»Das meine ich sogar ganz bestimmt!« sagte sie energisch. »Was ist los mit dir? So verzagt kenne ich dich ja gar nicht!«

»Die Liebe«, sagte er in dem kläglichen Versuch, sich über sich selbst lustig zu machen, »verändert eben auch den stärksten Mann.«

»Halt mich auf dem laufenden«, bat sie.

»Mach ich«, antwortete er und legte auf.

Sie dachte noch einen Augenblick über dieses Gespräch nach. Es tat ihr leid, aber sie sah nicht, wie sie ihm hätte helfen können. Dann klingelte das Telefon erneut, und einer der hektischen Arbeitstage im Hotel King’s Palace hatte begonnen. Bis zum späten Abend kam sie nicht mehr dazu, noch einmal an ihren im Augenblick so unglücklichen Freund Tim Brown zu denken.

*

»Besonders erholt siehst du nicht aus«, meinte Bernd Schäfer kritisch, als er Adrian begrüßt hatte. »Dabei hattest du doch mehrere Tage frei – im Gegenteil zu anderen Leuten, die unablässig arbeiten mußten.«

»Meine Nachbarin ist krank und brauchte ein bißchen Pflege«, erzählte Adrian, hatte aber wenig Lust, dieses Thema zu vertiefen. »Was gibt’s Neues?«

»Ich war in den letzten Tagen nicht hier in der Notaufnahme, sondern auf der chirurgischen Station«, berichtete Bernd. »In der Notaufnahme hat sich nichts Dramatisches getan, soviel ich weiß, aber ich kann dir eine neue Geschichte von unserem südafrikanischen Arzt erzählen.«

Adrian verzog das Gesicht. »Jetzt fang du nicht auch noch damit an, Bernd. Laßt doch den armen Dr. Brown endlich in Ruhe. Der will hier nur seine Arbeit machen.«

»Aber genau davon will ich dir doch gerade erzählen – von den Maden!« rief Bernd eifrig.

Adrian blieb stehen und sah den anderen mißtrauisch an. »Drehst du jetzt völlig durch? Von welchen Maden willst du erzählen?«

Bernd berichtete ihm in kurzen Sätzen von Sven Mohntal und dessen hoffnungslos vereiterter Wunde. »Und was soll ich dir sagen? Das sieht jetzt ganz großartig aus, Adrian!« Bernd Stimme klang begeistert. »Ich hab’ mich zuerst ja ziemlich geekelt…«

Adrian konnte ein breites Grinsen nicht unterdrücken. »Und jetzt erzählst du mir wahrscheinlich noch, daß es dir den Appetit verschlagen hat, was?«

»Am Anfang schon«, gestand Bernd verlegen. »Aber jetzt nicht mehr. Inzwischen bin ich von dieser Methode völlig überzeugt.«

»Diese Methode ist keineswegs so sensationell, wie du anscheinend glaubst«, stellte Adrian nüchtern fest. »Und glaub ja nicht, daß sie in Afrika erfunden worden ist. Aber bei uns wird sie nicht gern angewandt, weil die meisten so reagieren wie du, nämlich vol­ler Ekel. Der junge Mann hatte jedenfalls recht, sich sofort darauf einzulassen, zumal er ja viele Medikamente offenbar nicht verträgt. Die Geschichte wird also gut ausgehen?«

Bernd nickte. »Ja, alles spricht dafür. Und Dr. Brown ist deshalb mal wieder der Held der Klinik.«

»Der arme Kerl«, murmelte Adrian mitleidig. »Er hat sich sein Jahr in Deutschland sicher auch anders vorgestellt. Bestimmt hat er nicht damit gerechnet, daß hier ständig so ein Rummel um seine Person herrscht.«

»Na ja«, meinte Bernd großzügig, »er sieht sehr gut aus, das muß man ihm lassen. Ich verstehe schon, daß die Frauen hinter ihm her sind.«

Adrian war stumm vor Staunen, als er das aus dem Mund seines beliebten Kollegen hörte, der eigentlich immer verliebt war – und zwar jede Woche in eine andere Frau. Aber wegen seiner Schüchternheit wurde aus all diesen möglichen Romanzen nie etwas. Oft genug hatte er sich schon neidisch über andere Männer geäußert, die mehr Glück hatten als er. Und nun diese Großzügigkeit…

»Aber er hat bisher noch keine angesehen«, fuhr Bernd fort. »Wahrscheinlich wartet in Kapstadt eine auf ihn.«

»Kann sein«, murmelte Adrian, den das überhaupt nicht interessierte. Er fand Tim Brown, mit dem er sich ein paarmal unterhalten hatte, sehr nett und angenehm. Außerdem war er ein ausgezeichneter Chirurg, sie hatten sofort gefachsimpelt. Was der andere in seinem Privatleben trieb, ging ihn dagegen nichts an, und am liebsten wollte er auch nichts darüber hören.

»Was liegt denn an?« fragte er ein wenig ungeduldig. Es war schließlich Montagmorgen, er wollte endlich mit der Arbeit beginnen.

Bernd verstand die indirekte Rüge und beeilte sich, den Notaufnahmechef zu informieren.

*

Caroline hatte im Augenblick Dienst auf der OP-Station. Etwas Schlimmeres, fand sie, hätte ihr gar nicht passieren können. Wann immer sie einen Patienten sah, der gerade aus einem der Operationssäle geschoben wurde, dachte sie: ›Bald schieben sie mich hier auch heraus. Und sie werden alle vor mir wissen, ob ich Krebs habe oder nicht.‹

Sie mußte sich sehr anstrengen, um sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Mehr als einmal verschwand sie in einem der Waschräume, um sich kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen und tief durchzuatmen. Sie war blaß und fühlte sich elend.

Dennoch schienen ihre Kolleginnen und Kollegen nichts davon zu merken, daß etwas mit ihr nicht stimmte, und sie war froh darüber. Aber sehr lange würde sie diese Fassade nicht aufrechterhalten können. Sie mußte möglichst bald etwas unternehmen.

Als ihr Dienst zu Ende war, hatte sie sich entschieden, was sie tun wollte. Sie machte sich auf den Weg in die Notaufnahme und suchte nach Dr. Winter. Er war eine Vertrauensperson für sie – mit ihm würde sie über ihr Problem sprechen können. Und er war auch imstande, ihr einen guten Rat zu geben, schließlich war er Chirurg und einer mit einem ausgezeichneten Ruf noch dazu.

Als sie ihn gefunden hatte, war er gerade dabei, eine ältere Dame zu versorgen, die sich bei einem Sturz in ihrer Wohnung eine böse Gesichtsverletzung zugezogen hatte und deren Kreislauf infolge dieses Unfalls völlig zusammengebrochen war.

»Caroline«, sagte er erfreut, »haben Sie auch Dienst bei uns? Ich habe Sie schon vermißt.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht«, antwortete sie ehrlich. »Aber ich würde gerne mit Ihnen sprechen – privat, wenn es geht.«

Er warf ihr einen forschenden Blick zu und begriff sofort, daß es ein größeres Problem war, das sie mit ihm erörtern wollte. Freundlich nickte er. »Es wird noch eine Viertelstunde dauern, bis ich hier fertig bin. Danach steht mir ohnehin eine Pause zu – wenn Sie wollen, können wir sie gemeinsam verbringen.«

»Sehr gern«, antwortete sie. »Kann ich Ihnen solange helfen?«

Er nickte, und schweigend arbeiteten sie, bis die Patientin so weit stabilisiert war, daß man sie auf die Innere schicken konnte.

Dr. Winter meldete sich daraufhin bei seinen Kollegen ab und fragte Caroline: »Wie wär’s mit einem Salat außerhalb der Klinik?«

Sie war erleichtert, denn nichts fürchtete sie mehr als unerwünschte Mithörer oder neugierige Blicke. »Ja, das wäre mir recht«, antwortete sie, und sie machten sich sofort auf den Weg.

Kurz darauf saßen sie in einem kleinen Restaurant, gaben ihre Bestellungen auf, und Adrian fragte: »So, Caroline, was haben Sie auf dem Herzen?«

Sie biß sich auf die Lippen. Eben war es ihr noch so einfach erschienen, ihm alles zu erzählen, aber jetzt, wo er vor ihr saß und sie erwartungsvoll ansah, kam es ihr auf einmal unendlich schwierig vor.

»Sie haben ein Problem«, sagte er ruhig, »und wissen nicht, was Sie tun sollen. Aber Sie möchten doch einen Rat von mir hören, oder?«

Sie nickte wortlos, und er fuhr fort: »Ich mache Ihnen einen ganz einfachen Vorschlag: Fangen Sie am Anfang an, und erzählen Sie der Reihe nach.«

Mit diesen Worten erreichte er, was er hatte erreichen wollen. Sie entspannte sich und berichtete nun, was ihre Ärztin ihr gesagt und was sie sich seitdem zu diesem Thema überlegt hatte.

Adrian hörte ihr geduldig zu und unterbrach sie nicht. Er ahnte, was eine solche Diagnose für eine bis dahin gesunde junge Frau wie Caroline bedeutete. Schließlich schwieg sie, und er hatte noch immer nicht genau verstanden, was sie nun eigentlich genau von ihm wollte.

Er überlegte, wie er sie danach am besten fragen könnte, ohne sie erneut zu verwirren, und sagte schließlich: »Ich verstehe, daß ein möglicherweise bösartiger Tumor an einem Ihrer Eierstöcke Sie durcheinanderbringt, Caroline – aber da gibt es doch gar keine Frage: Ihre Ärztin hat recht, Sie müssen sich operieren lassen. Und wenn es Ihnen unangenehm ist, das in der Kurfürsten-Klinik machen zu lassen, wo so viele Leute Sie kennen, dann gehen Sie in ein anderes Krankenhaus. Ist das Ihr Problem? Daß Sie nicht wissen, wo Sie sich operieren lassen sollen?«

Sie schüttelte den Kopf, ohne ihn anzusehen. Die Hände, die vor ihr auf dem Tisch lagen, fuhren unruhig hin und her. Er wartete geduldig, bis sie erneut zu sprechen begann.

»Das auch«, sagte sie endlich, »aber das Hauptproblem ist ein anderes.«

Aha, dachte er. Nun kommt’s also. Er hatte die junge Schwester noch nie so durcheinander gesehen und fragte sich besorgt, was sie ihm wohl als nächstes anvertrauen würde.

»Ich glaube, ich war gerade dabei, mich zu verlieben, Herr Dr. Winter«, sagte Caroline in diesem Augenblick. »Und ich denke, ich müßte dem Mann sagen, was mit mir ist, oder?« Sie hob den Kopf und sah ihn an. »Wir waren neulich zum Essen verabredet, und ich wollte es ihm ganz bestimmt erzählen, aber ich habe es nicht fertiggebracht. Und er hat überhaupt nicht gewußt, was mit mir los ist und warum ich so komisch war. Zum Schluß war er ganz in sich gekehrt. Ich habe alles falsch gemacht, ich wollte ihn doch nicht verletzen, aber ich habe einfach die richtigen Worte nicht gefunden. Können Sie sich das vorstellen?«

Jetzt weinte sie, und erschrocken stand er auf und setzte sich neben sie. Er legte einen Arm um sie, zog sie an sich und strich ihr beruhigend über die schönen blonden Haare. »Nicht weinen«, sagte er leise. »Das läßt sich doch alles klären, Caroline. Sie erzählen ihm eben beim nächsten Mal, was mit Ihnen los ist. Natürlich müssen Sie es ihm sagen…«

»Aber vielleicht habe ich gar keinen Krebs, dann muß er von der Operation doch überhaupt nichts erfahren«, weinte sie.

»Und warum nicht?« fragte Adrian. »Sie sagen, Sie sind dabei, sich in den Mann zu verlieben – warum wollen Sie ihm dann verschweigen, was Sie im Augenblick stark bewegt und auch beunruhigt? Es ist vielleicht ein bißchen viel für eine ganz junge Liebe, wenn sie gleich mit solch existentiellen Fragen belastet wird, aber Sie tun niemandem einen Gefallen, wenn Sie darüber schweigen. Und schon gar nicht, wo der Mann ja bereits gemerkt hat, daß Sie verändert sind. Er ist ja sicher auch darüber beunruhigt.«

Jetzt nickte sie, holte ein Taschentuch heraus und wischte sich damit die Tränen ab. »Tut mir leid«, sagte sie. »Ich wollte Ihnen wirklich nicht unbedingt etwas vorheulen.«

»Kein Problem«, versicherte er lächelnd. »Geht’s wieder?«

Sie nickte, aber er sah, daß ihr noch immer Tränen in den Augen standen, und so blieb er neben ihr sitzen.

»Könnten Sie mich nicht operieren?« fragte sie plötzlich.

»Sie wissen, daß ich Unfallchirurg bin«, gab er zu bedenken. »Normalerweise führe ich solche Operationen nicht durch.«

»Das weiß ich, aber zu Ihnen habe ich Vertrauen.«

»Ich operiere Sie gern, wenn Sie das unbedingt wollen«, sagte er ruhig, »aber ich finde, Sie sollten darüber noch einmal in Ruhe nachdenken.«

Sie schüttelte so heftig den Kopf, daß ihr die blonden Haare ins Gesicht flogen. »Ich muß dar­über nicht mehr nachdenken. Bei Ihnen würde ich mich sicher fühlen, Herr Dr. Winter. Ich habe ohnehin schon Angst genug – die wäre bei einem anderen Arzt noch viel größer, das können Sie mir glauben.«

Adrian gab nach. »Na schön. Aber lassen Sie mich wenigstens vorher mit den Kollegen darüber reden – ich will nicht, daß es böses Blut gibt, weil ich meine Kompetenzen überschreite.«

Sie nahm das nicht ernst. »Wenn Sie operieren wollen, gibt es bestimmt kein böses Blut. Alle wissen doch, was Sie können, Herr Dr. Winter.«

Er lächelte über dieses Kompliment, sagte aber nichts dazu. »Und wann?« fragte er.

»Meine Ärztin hat gesagt, so schnell wie möglich.«

Er nickte. »Dann reden Sie mal sofort mit Ihrem Freund, Caroline«, sagte er. »Wenn es geht, operieren wir Sie noch diese Woche.«

*

Tim Brown verließ die Kurfürsten-Klinik mit eiligen Schritten. Er wollte außerhalb etwas essen, wo er nicht von neugierigen oder aufmunternden Blicken verfolgt wurde. In den letzten Tagen war es eher noch schlimmer geworden mit der allgemeinen Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde. Er wußte nicht, woran das lag, aber er hoffte inständig, daß es bald wieder aufhörte. Er konnte es nicht leiden, so im Mittelpunkt zu stehen, und er verstand auch nicht, was die Leute so sehr an ihm faszinierte. Es konnte doch nicht nur daran liegen, daß er zur Zeit der einzige Südafrikaner an der Klinik war? So wahnsinnig interessant war das auf Dauer schließlich auch nicht. Er war ja noch nicht einmal dunkelhäutig – seinem Äußeren nach hätte er ohne weiteres als Einheimischer durchgehen können.

Er seufzte unwillig und wandte sich dann in Gedanken wieder dem Thema zu, das ihn augenblicklich am stärksten beschäftigte: Caroline. Seit dem verunglückten Abendessen hatte er sie nicht wiedergesehen. Noch immer wußte er nicht, was er von jenem Abend halten sollte. Was war nur los gewesen? Hatte es an ihm gelegen? Aber er war sich keiner Schuld bewußt, sie war schon von Anfang an merkwürdig gewesen, also mußte vorher etwas passiert sein, das diesen Stimmungsumschwung bei ihr bewirkt hatte.

Er war gekränkt, daß sie ihn nicht ins Vertrauen gezogen hatte. Denn er war ganz sicher gewesen, daß auch sie ihn gern hatte – es hatte bei ihnen beiden auf Anhieb gefunkt. So konnte er sich nicht geirrt haben! Aber vielleicht hatte sie das bei ihrer ersten Begegnung genauso gesehen und dann später festgestellt, daß sie sich getäuscht hatte? Das kam schließlich vor, es war noch nicht einmal ungewöhnlich. Beim ersten Mal fand man jemanden ganz großartig, aber auf den zweiten Blick fragte man sich dann, wo man eigentlich seine Augen gehabt hatte…

Er blieb stehen, als er in Gedanken soweit gekommen war. War es wirklich möglich, daß es sich bei Caroline so verhielt? Das wäre eine Katastrophe für ihn. Denn er selbst hatte sie bei ihrem zweiten Treffen noch anziehender gefunden als beim ersten Mal. Er war seiner Gefühle ganz sicher gewesen und hatte sich unglaublich gefreut, sie wiederzusehen.

Außerdem hatte er in der kommenden Woche einige Tage Urlaub, und insgeheim hatte er darauf gehofft, daß Caroline sich vielleicht auch freinehmen könnte. Dann hätten sie gemeinsam irgendwohin fahren können. Doch nun sah es nicht so aus, als würden sich diese Träume verwirklichen lassen.

Langsam ging er weiter, und direkt vor sich sah er auf einmal die Frau, über die er gerade so heftig nachdachte. Sie saß auf der Terrasse eines kleinen Restaurants, und sie war nicht allein. Tim blinzelte ein paarmal, weil er hoffte, er habe sich geirrt, und die schöne blonde Frau, die Dr. Adrian Winter dort drüben in den Armen hielt und zärtlich streichelte, sei gar nicht Caroline.

Wie in Trance ging er noch einige Schritte weiter, bis er so nahe war, daß es nicht mehr den geringsten Zweifel an der Richtigkeit seiner Wahrnehmung geben konnte. Dort saßen Caroline und Dr. Winter, und es war offensichtlich, wie nahe sie sich standen.

Hastig drehte er sich um und ging den gleichen Weg zurück, den er gekommen war. Sie hatten ihn nicht gesehen, zum Glück nicht. Das wäre ungeheuer peinlich gewesen. So war das also. Das erklärte natürlich Carolines Verwirrung bei ihrem letzten Treffen. Sie hatte ihn zwar nett gefunden, aber keineswegs war sie in ihn verliebt gewesen. Und als sie dann hatte feststellen müssen, daß er anfing, sich Hoffnungen zu machen, da war es ihr peinlich gewesen, ihn in seine Schranken weisen zu müssen.

Ich Idiot, beschimpfte er sich selbst. Sie hat mich nett gefunden, mehr nicht! Und ich habe mir Gott weiß was eingebildet…

Unglücklich setzte er seinen Weg fort. Sie war also mit Dr. Adrian Winter zusammen, einem der wenigen Kollegen, die ihm von Anfang an rundum sympathisch gewesen waren. Der Notaufnahmechef hatte einen ausgezeichneten Ruf als Chirurg und schien sich grundsätzlich nicht am Klinikklatsch zu beteiligen. Er hatte den neuen Arzt aus Südafrika mit großer Selbstverständlichkeit begrüßt und ihm weder dumme noch aufdringliche oder neugierige Fragen gestellt.

Dr. Winter und Caroline, dachte er noch immer wie betäubt. Warum hat sie nichts davon gesagt? Aber das war eine dumme Frage, wie er sehr wohl wußte. Warum sollte Caroline ihm intime Einzelheiten aus ihrem Privatleben erzählen, wo sie einander doch kaum kannten?

Weil ich in sie verliebt bin! dachte er verzweifelt. Ich will alles über sie wissen, weil ich in sie so verliebt bin, daß ich gar nicht weiß, wie ich jetzt weiterleben soll.

Dann fiel ihm zu seinem Entsetzen ein, daß sie für den nächsten Tag noch einmal verabredet waren. Er selbst hatte darauf gedrängt, weil er gehofft hatte, dieser mißglückte Abend sei eine Art Unfall, und er werde sich nicht wiederholen. Jetzt erinnerte er sich auch daran, daß sie selbst eher zögernd gewirkt, aber schließlich doch eingewilligt hatte.

Wahrscheinlich, dachte er voller Verzweiflung, will sie morgen erzählen, daß sie gebunden ist. Aber soweit werde ich es gar nicht mehr kommen lassen.

*

Zufrieden lächelnd verschloß Stefanie Wagner ihre Bürotür. Es war noch relativ früh, und sie würde endlich wieder einmal einen Abend für sich haben. Das war schon lange nicht mehr vorgekommen, und die Aussicht auf ein paar freie Stunden ohne Streß und Hektik hatte sie in geradezu strahlend gute Laune versetzt. Überhaupt war der Tag großartig gewesen – einer von den Tagen, an denen einfach alles geklappt hatte.

Sie drehte sich um und prallte fast mit Tim Brown zusammen, der plötzlich vor ihr stand. »He!« rief sie übermütig. »Du kommst mir gerade recht, Tim. Ich werde heute einen freien Abend haben – willst du mit zu mir kommen, und wir reden ein bißchen über alte Zeiten?«

»Gern«, sagte er, und etwas an seiner Stimme ließ sie aufmerksam werden.

»Was ist los?« fragte sie beunruhigt. »Ist etwas passiert?«

»Ja«, antwortete er knapp. »Aber ich würde lieber erst darüber reden, wenn wir bei dir sind.«

Sie ließ sich nicht anmerken, was sie dachte, sagte nur: »Gut«, und ging dann voraus zu ihrem Wagen.

Die Fahrt zu ihrer Wohnung legten sie schweigend zurück. Ab und zu warf Stefanie ihrem Begleiter einen forschenden Blick von der Seite zu, aber sie stellte keine Frage mehr, und er war ihr dankbar dafür.

Es muß mit der Frau zu tun haben, dachte sie. Himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt – genauso kam er ihr vor. War dieser unsäglich traurig vor sich hin starrende Mann der gleiche wie der glücklich verliebte, mit dem sie erst vor wenigen Tagen gesprochen hatte? Aber die erste Verabredung von Tim und der jungen Frau war dann ja schon nicht so gut verlaufen, offenbar war das doch kein Zufall gewesen.

Sie parkte den Wagen und ging voran zu ihrer eleganten kleinen Wohnung. »Geh schon mal ins Wohnzimmer, Tim«, sagte sie. »Ich will mich nur ein wenig frisch machen. Wie ist es. Hast du Hunger?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein«, antwortete er mit belegter Stimme. »Wirklich nicht.«

»Aber ein Glas Wein trinkst du mit mir?«

Wieder schüttelte er den Kopf. »Ein Glas Wasser wäre mir lieber, Steffi.«

Ohne Kommentar verschwand sie und tauchte einige Minuten später in bequemer Freizeitkleidung mit einer Flasche Wasser, einer Chipstüte und zwei Gläsern wieder auf.

»So, und nun sag mir, was mit dir los ist!« forderte sie den Freund auf.

»Kannst du dir das nicht denken?« Seine Stimme klang so bitter, daß sie erschrak. Die Sache mußte schlimmer sein, als sie zunächst angenommen hatte.

»Es hängt mit der Frau zusammen, in die du dich verliebt hast, oder?« fragte sie.

Er nickte. »Sicher.« Die Bitterkeit in seiner Stimme hatte sich noch verstärkt. »Ich muß sie furchtbar in Verlegenheit gebracht haben mit meinen stürmischen Gefühlen, die man mir bestimmt meilenweit an der Nasenspitze angesehen hat.«

»Wieso in Verlegenheit?« fragte Stefanie. »Hat sich jetzt herausgestellt, daß sie diese Gefühle nicht erwidert?«

»Das kann man wohl sagen, daß sich das herausgestellt hat.« Er erzählte ihr in wenigen Sätzen, daß er sie in einem Restaurant mit einem anderen Mann gesehen hatte – in zärtlicher Umarmung.

»Was genau hast du gesehen?« wollte sie wissen.

»Na, er saß neben ihr, hatte einen Arm um ihre Schultern gelegt und streichelte ihr zärtlich übers Haar. Und sie hat sich an ihn gelehnt. Die beiden haben überaus vertraut gewirkt, das kannst du mir glauben, Steffi.« Er schluckte kurz und fügte dann hinzu: »Ich bin sogar noch ein bißchen näher herangegangen, um ganz sicher zu sein. Zuerst habe ich nämlich gedacht, ich würde mich vielleicht irren.«

Stefanie setzte sich neben ihn und streichelte ihm übers Haar. »War es ungefähr so?« fragte sie.

Er verstand sie nicht und sah sie fragend an.

»Ich meine«, erklärte sie, »hat er so neben ihr gesessen wie ich jetzt neben dir und hat ihr das Haar gestreichelt, so wie ich es jetzt bei dir tue?«

»So ungefähr«, meinte er.

»Und wenn uns jetzt jemand sähe, würde er ja sicher auch denken, daß wir sehr vertraut miteinander sind«, fuhr Stefanie fort.

»Ich weiß schon, was du sagen willst«, wehrte er ab. »Aber so wie Caroline und Dr. Winter nebeneinander gesessen haben, das war eindeutig, glaub mir das bitte, Steffi.«

Sie antwortete nicht, und es dauerte eine Weile, bis ihm ihr Schweigen auffiel. Dann blickte er auf und sah, daß ihr Gesichtsausdruck sich verändert hatte. Sie biß sich ganz fest auf die Lippen, während ihre Augen starr in eine Richtung sahen.

»Steffi?« fragte er vorsichtig, aber sie reagierte nicht. Es dauerte noch einige Augenblicke, bevor der Groschen fiel. »Oh, du liebe Güte, Steffi, jetzt sag bloß nicht, daß der Mann, den du interessant findest, Dr. Adrian Winter ist?«

Endlich wandte sie den Kopf und sah ihn mit ausdruckslosem Gesicht an. »Ist wohl zwecklos, jetzt zu leugnen, oder? Doch, er ist es. Und jetzt habe ich wenigstens endlich eine Erklärung dafür, warum das mit uns nicht richtig weitergeht. Er findet mich nett und geht gern mal mit mir essen – aber er hat eine Freundin, in die er verliebt ist.«

»Es tut mir so leid«, sagte er hilflos. »Ehrlich, Steffi, wenn ich das gewußt hätte, dann hätte ich meinen Mund gehalten.«

»Dir muß gar nichts leid tun«, entgegnete sie mechanisch. »Es ist ja nicht deine Schuld, Tim. Außerdem hätte es mir gar nicht geholfen, wenn du deinen Mund gehalten hättest. An den Tatsachen würde das schließlich nichts ändern, oder?«

»Und warum denkst du jetzt auf einmal nicht mehr, daß ich mich vielleicht geirrt habe, als ich die beiden sah? Immerhin kann es ja wirklich sein, daß er sie nur getröstet hat, weil sie Kummer hatte – das wolltest du mir doch gerade vorher klarmachen, oder?«

Sie nickte langsam. »Ja, das wollte ich. Aber da wußte ich noch nicht, daß der Mann Dr. Winter ist. Und daß das, was du gesehen hast, nicht nur das merkwürdige Verhalten deiner Caroline dir gegenüber erklärt, sondern auch das von Dr. Winter mir gegenüber. Es wäre ein bißchen zuviel Zufall, wenn das alles überhaupt nichts zu bedeuten hätte, findest du nicht?«

Er nickte unglücklich. »Ja, das wäre es. Wenn ich mir überlege, was ich fragen wollte, ob sie ein paar Tage mit mir wegfährt, Steffi…«

»Hast du Urlaub?«

»Ja, nächste Woche, ein paar Tage nur. Ich hatte mich so darauf gefreut, aber jetzt ist mir allein der Gedanke daran einfach schrecklich. Lauter leere Tage, und ich weiß nicht, womit ich sie füllen soll.«

Sie griff nach seiner Hand und sagte nichts mehr. Bis vor wenigen Minuten war dies ein wunderbarer Tag gewesen – und jetzt? Sie schloß die Augen. Am liebsten hätte sie geweint, aber das würde sie nicht tun, solange Tim da war. Sie würde warten, bis er sie allein ließ. Und dann, wenn sie in ihrem Bett lag, würde sie ihren Tränen freien Lauf lassen.

*

Caroline war fertig angezogen und stand am Fenster, als sie Tim Brown in seinem Wagen vorfahren sah. Sie hatte die Sätze, mit denen sie ihm ihre Situation erklären wollte, auswendig gelernt. Das war notwendig gewesen, weil sie sicher war, daß sie sonst überhaupt kein Wort herausbringen würde.

In diesem Augenblick klingelte er, gleich würde sie ihm also gegenüberstehen. Erneut wurde ihr das Herz schwer, aber diesmal mußte sie einfach mit ihm reden, das wußte sie. Doch ganz soweit war es noch nicht. Zunächst einmal mußte sie sich bei ihm für ihr Verhalten bei ihrem letzten Treffen entschuldigen. Sie wollte nicht, daß dieser Mißklang zwischen ihnen bestehen blieb.

Sie lief die Treppen hinunter. Entschuldige dich sofort! befahl sie sich streng. Keine Ausflüchte und keine Verzögerungen, Caroline.

»Hallo«, sagte sie daher schüchtern lächelnd und ein wenig außer Atem, als sie endlich vor ihm stand. »Ich habe mich schon gefragt, ob Sie überhaupt kommen würden, nachdem ich mich beim letzten Mal so komisch benommen habe, Tim. Das tut mir sehr leid, und ich muß es jetzt auch sofort loswerden. Bitte entschuldigen Sie.«

Unter anderen Umständen wäre das der Auftakt für ein offenes Gespräch gewesen, aber Caroline wußte nicht, daß Tim sie mit Dr. Winter gesehen hatte, und so reagierte er völlig anders auf ihre Worte, als sie erwartet und gehofft hatte.

»Kein Problem«, erwiderte er ohne zu lächeln. »Ich war ja auch nicht gerade in Hochform. Außerdem wird dies unser letzten Treffen sein, ich nehme an, das ist ganz in Ihrem Sinne? Es war nicht meine Absicht, Sie in Verlegenheit zu bringen, Caroline, aber manchmal geht mein Temperament mit mir durch. Verzeihen Sie.«

Sie verstand nicht, wovon er redete. Das einzige, was sie ganz unmißverständlich gehört hatte, war ›dies wird unser letztes Treffen sein‹. Warum hatte er das gesagt? »Wie meinen Sie das?« fragte sie verwirrt. »Wollen Sie mich nicht mehr sehen?«

Ihre Unverfrorenheit machte ihn einen Augenblick lang sprachlos, dann antwortete er kühl: »Ich dachte, das beruht auf Gegenseitigkeit, Caroline, das hat unser Abendessen neulich doch deutlich gezeigt, nicht wahr? Es war sehr amüsant, wie wir uns kennengelernt haben, aber man muß daraus ja nicht unbedingt eine Freundschaft fürs Leben machen.«

Sie war verletzt, das sah er, und es tat ihm nun doch leid. Er hatte souverän sein wollen, aber statt dessen ging seine Gekränktheit mit ihm durch. Jetzt konnte er seine Worte nicht mehr zurücknehmen.

»Warum haben Sie sich dann heute noch einmal mit mir treffen wollen?« fragte sie.

Nun wurde er wütend. Sie hatte einen Freund, aber sie tat so, als sei er derjenige, der sich etwas zuschulden kommen ließ. Er hatte nicht die Absicht, sich von ihr in die Rolle des Sündenbocks drängen zu lassen.

»Um unsere kurze Bekanntschaft zu einem würdigen Abschluß zu bringen«, antwortete er kurz.

Ihr stiegen tatsächlich Tränen in die Augen, als er das sagte, aber sie grub ihre Zähne ganz fest in die Unterlippe, bis die Gefahr, daß sie ihr über die Wangen liefen, gebannt war. »Das ist hiermit passiert«, sagte sie mit einer Stimme, der anzumerken war, wieviel Anstrengung es sie kostete, das herauszubringen. Im nächsten Augenblick hatte sie sich bereits umgedreht und war zurück ins Haus gelaufen.

Er sah ihr verblüfft nach. Das Gespräch war nicht ganz so verlaufen, wie er erwartet hatte. Sie hatte echt verletzt gewirkt, und verwirrt fragte er sich, wieso eigentlich. Schließlich war doch er derjenige gewesen, der getäuscht worden war!

Seine Mutter und ihre Warnungen vor den europäischen Frauen fielen ihm ein. Vielleicht hätte er doch besser auf sie hören sollen. Langsam kehrte er zu seinem Wagen zurück, ließ ihn an und fuhr, ganz untypisch für ihn, mit aufheulendem Motor davon.

*

»Gut«, sagte Adrian zu seinen Kollegen in der Chirurgie, denen er das Problem mit Caroline Stellmanns Operation erklärt hatte. »Wenn also niemand etwas einzuwenden hat, dann operiere ich Frau Stellmann Anfang nächster Woche.«

Die anderen nickten. Der Operationsplan für die laufende Woche war so voll, daß es unmöglich gewesen war, die junge Frau dazwischenzuschieben, zumal noch etliche Untersuchungen vor der Operation gemacht werden mußten.

Adrian nickte den Kollegen noch einmal zu und verabschiedete sich. Niemand hatte Einspruch erhoben, daß der Notaufnahmechef selbst einen solchen Eingriff vornehmen wollte, ganz im Gegenteil. Alle waren froh über die Entlastung gewesen.

Er eilte den Gang hinunter, als ihm Tim Brown entgegenkam, mit dem er schon seit einiger Zeit nicht mehr gesprochen hatte. Er freute sich aufrichtig über dieses Zusammentreffen, und so begrüßte er seinen südafrikanischen Kollegen besonders freundlich.

»Hallo, Herr Brown«, sagte er lächelnd. »Na, sind Sie immer noch so zufrieden mit Ihren Arbeitsmöglichkeiten an unserer Klinik?«

Der andere sah ihn mit einem Blick an, den Adrian nicht zu deuten wußte, antwortete aber nicht sofort.

Unbefangen fuhr Adrian fort. »Ich habe von der offenen Unterschenkelfraktur gehört und dem Erfolg, den der Einsatz von Maden an der eitrigen Wunde gebracht hat. Gute Idee, wir machen das hier viel zu selten, finde ich.«

Das war eine Einladung zu einem kurzen Gespräch unter Kollegen, wie sie es schon einige Male freundschaftlich geführt hatten. Aber diesmal reagierte Dr. Brown nicht so aufgeschlossen wie sonst.

»Danke, sehr freundlich«, sagte er knapp, nickte Adrian zu und eilte weiter.

Vor Überraschung blieb Adrian stehen und sah ihm nach.

»Was ist denn mit dem los?« murmelte er verwundert. »Ob ich ihm irgendwas getan habe?«

Er setzte seinen Weg fort, aber so sehr er sein Gedächtnis auch anstrengte, ihm wollte nichts einfallen, womit er Tim Brown erzürnt haben konnte.

*

Caroline hatte das Gefühl, ganz ausgetrocknet zu sein vom vielen Weinen. Wie kam dieser eingebildete südafrikanische Arzt nur dazu, sie so zu behandeln? Sie hatte sich bei ihm entschuldigen wollen, aber er hatte sie ja nicht einmal zu Wort kommen lassen! Und nun würden sie einander nie wieder sehen – es sei denn, zufällig in der Klinik. Aber sie konnte nur hoffen, daß ihr das erspart blieb.

Sie wusch ihr Gesicht lange unter kaltem Wasser, bevor sie sich auf den Weg zu ihrer Gynäkologin machte. Frau Dr. Hallwachs hatte sie gebeten, noch einmal zu kommen, bei der Gelegenheit konnte sie ihr gleich sagen, daß der OP-Termin zu Beginn der kommenden Woche sein würde.

Sie war froh, daß Dr. Winter eingewilligt hatte, sie zu operieren, das machte die ganze Sache irgendwie weniger schlimm. Obwohl das natürlich albern war, denn wenn sie Krebs hatte, dann half Dr. Winter auch nicht weiter. Aber es war trotzdem tröstlich zu wissen, daß er als erster erfahren würde, was ihr fehlte.

Als sie eine halbe Stunde später ihrer Ärztin gegenübersaß, machte diese ein besorgtes Gesicht. »Kind, wie sehen Sie denn aus?« fragte sie. »Ich könnte schwören, daß Sie abgenommen haben, seit Sie bei mir waren – dabei ist das erst ein paar Tage her. Was ist denn los?«

Da waren sie schon wieder, die dummen Tränen, und nichts half, um sie zurückzudrängen. Schluchzend sagte Caroline: »Ich bin nur unglücklich, sonst nichts.«

Die Ärztin, eine kluge Frau von sechzig Jahren, lächelte über diese Formulierung. »Über die Möglichkeit eines bösartigen Tumors an Ihrem Eierstock – oder über etwas anderes?« fragte sie behutsam.

»Über einen Mann«, weinte Caroline. »Ich dachte, er ist verliebt in mich, aber das hat gar nicht gestimmt.«

»Hat es etwas mit Ihrem Tumor zu tun?« fragte die Gynäkologin.

»Davon weiß er doch gar nichts, ich bin ja nicht mehr dazu gekommen, es ihm zu erzählen«, sagte Caroline und wischte sich die Tränen ab. »Wir müssen jetzt auch nicht mehr darüber reden, ich werde schon damit fertig, Frau Dr. Hallwachs.«

»Vielleicht hat es ein Mißverständnis zwischen Ihnen und diesem Mann gegeben«, sagte die Ärztin ruhig. »Reden Sie noch einmal mit ihm und sagen Sie ihm, daß Sie im Augenblick große Sorgen haben. Es kann ja sein, daß Sie sich ein wenig seltsam verhalten haben – und er hat das auf sich bezogen.«

Caroline nickte, obwohl sie wußte, daß es so nicht sein konnte. Denn dann hätte er ja ihre Entschuldigung angenommen und sie wenigstens erklären lassen, was mit ihr losgewesen war an jenem unglückseligen Abend. Aber er hatte sie ja sofort verletzen müssen mit seinen kalten Worten und der eisigen Stimme…

»Anfang nächster Woche werde ich operiert«, sagte sie in dem Bemühen, das Thema zu wechseln. »Dr. Winter wird mich operieren. Er ist der Leiter der Notaufnahme und macht so etwas normalerweise nicht, aber…«

»Ich kenne Dr. Winter«, erklärte Frau Dr. Hallwachs zu ihrer Überraschung, und ihre klugen Augen leuchteten. »Ein ausgezeichneter Arzt – und ein großartiger Chirurg. Wie haben Sie ihn denn dazu gebracht, Sie zu operieren und seine geliebte Notaufnahme zumindest vorübergehend zu verlassen?«

»Oh, er operiert öfter«, erklärte Caroline. »Immer, wenn Not am Mann ist, springt er ein, und die anderen Chirurgen sind froh dar­über, weil er sie oft entlastet. Ich habe in letzter Zeit ziemlich viel Dienst in der Notaufnahme gehabt, deshalb kenne ich ihn ganz gut. Wir arbeiten gern zusammen. Er hat sich sofort bereit erklärt, mich zu operieren.«

»Und warum wollten Sie so gern, daß er es macht?« fragte die Ärztin neugierig.

»Weil ich weiß, wie er arbeitet«, erklärte Caroline nachdenklich. »Und weil ich weiß, was für ein Mensch er ist. Er macht keine Witze auf Kosten der Patienten, im Gegenteil. Wenn jemand so etwas in seiner Gegenwart tut, dann kann er ziemlich giftig werden, obwohl er doch sonst immer die Ruhe selbst ist. Und er ist, wie Sie selbst gesagt haben, ein ausgezeichneter Chirurg. Bei ihm würde ich mich in jeder Hinsicht sicher fühlen. Und wenn…«

Sie stockte. Die Worte wollten ihr nicht so einfach über die Lippen kommen, aber schließlich sprach sie doch aus, was sie dachte: »Und wenn ich wirklich Krebs haben sollte, dann ist es mir lieb, wenn er derjenige ist, der es mir sagt.«

»Aber davon gehen wir nicht aus!« erklärte Frau Dr. Hallwachs nachdrücklich. »Es ist möglich, daß der Tumor bösartig ist, aber mehr auch nicht. Ich bin jedenfalls froh, Frau Stellmann, daß Sie sich entschlossen haben, in die Kurfürsten-Klinik zu gehen. Bei Dr. Winter sind Sie in den besten Händen. Grüßen Sie ihn bitte von mir, ja?«

Caroline nickte und verabschiedete sich. Als sie in ihrem Auto saß, fing sie schon wieder an zu weinen. Und wenn ich Krebs habe, ist es mir auch egal, dachte sie unglücklich. Es kümmert ja doch niemanden, ob ich gesund bin oder nicht.

*

Esther schlief fest, als Adrian Frau Senftlebens Wohnung betrat. Sie lag zusammengerollt wie eine Katze auf dem Sofa, die blonden Haare völlig verstrubbelt. Adrian betrachtete sie eine Weile, dann ging er leise in Frau Senftlebens Schlafzimmer.

Seine Nachbarin war erstaunlich munter. Sie saß in ihrem Bett und las. Als sie ihn hereinkommen hörte, ließ sie ihr Buch sinken und sah ihm mit ihren unschuldigen blauen Augen entgegen. »Ihre Schwester, die Ärmste ist völlig erschöpft«, teilte sie ihm zur Begrüßung mit. »Sie hatte nämlich eine furchtbare Nacht in der Charité, müssen Sie wissen – und dann hatte sie auch noch Arbeit mit mir. Das war alles zuviel für sie, Adrian.«

»Das glaube ich nicht«, entgegnete er lächelnd, »daß Esther mit Ihnen Arbeit hatte. Sie sind doch schon wieder auf dem Sprung, Frau Senftleben. Ich sehe Ihnen an der Nasenspitze an, daß es Ihnen schwerfällt, immer noch im Bett zu bleiben.«

»Stimmt«, gab sie zu.

»Aber einen oder zwei Tage müssen Sie noch durchhalten«, ordnete er an, ganz der strenge Arzt. »Sie sollten wenigstens ein paar Tage fieberfrei sein. Ein Rückfall wäre ganz schlecht für Sie, glauben Sie mir. Haben Sie lieber noch ein bißchen Geduld. Ist es denn wirklich so schlimm, wenn Sie mal im Bett bleiben müssen?«

Sie lächelte verlegen und antwortete schließlich zögernd: »Ich will Sie nicht kränken, vor allem, wo Sie sich so rührend um mich kümmern. Aber begnadete Köche sind Sie beide nicht. Ich würde furchtbar gern so schnell wie möglich in meine Küche zurück.«

Einen Augenblick war er völlig verblüfft, dann ging ihm auf, was sie gesagt hatte. Er fing schallend an zu lachen und konnte sich zunächst gar nicht wieder beruhigen.

»Pst!« sagte Frau Senftleben. »So seien Sie doch endlich still, Adrian! Sie wecken Ihre Schwester noch auf, wenn Sie so laut lachen. Außerdem verstehe ich Ihren Heiterkeitsausbruch überhaupt nicht. Ich wollte wirklich keinen Witz machen.«

»Ich weiß«, lachte er, »ach, Frau Senftleben, wenn Sie wüßten, wie sehr auch ich mich darauf freue, wenn Sie endlich wieder kochen! Glauben Sie denn, Sie sind die einzige, die gelitten hat? Wir können nicht gut kochen, Esther und ich, und wir tun es ja auch ausgesprochen ungern!«

»Sie wollen also damit ausdrücken«, sagte sie ernsthaft, während der Schalk in ihren Augen saß, »daß Sie für mich sogar gekocht haben, ist ein ganz besonderer Liebesbeweis?«

Endlich hörte er auf zu lachen und nickte feierlich. »So ist es, Frau Senftleben. Besser hätte ich es gar nicht ausdrücken können.«

*

»Herr Brown? Haben Sie einen Augenblick Zeit für mich – oder ist es jetzt ungünstig?«

Tim, der gerade einen der OPs verließ, blickte auf und nickte dem Kollegen, der ihn angesprochen hatte, zu. »Nein, kein Problem, ich habe Zeit. Worum geht es denn? Sie machen so ein sorgenvolles Gesicht.«

»Ich habe auch Sorgen«, gestand sein Kollege – ein netter älterer Chirurg, mit dem Tim sich gut verstand. Er fuhr fort: »Sie sind nächste Woche in Urlaub, richtig?«

»Ja. Ist das etwa Ihr Problem?«

»Zumindest ein Teil davon. Ich wollte Sie fragen, ob Sie etwas gebucht haben – oder könnten Sie nicht schon diese Woche Ihren Urlaub antreten und dafür früher wiederkommen? Wir haben ab Mitte der nächsten Woche einen bösen Engpaß.«

Tim brauchte nicht lange zu überlegen, dieser Vorschlag kam ihm wie gerufen. Er hatte zwar Stefanie Wagner gegenüber gestöhnt, daß er nicht wisse, wie er die kommenden freien Tage herumbringen solle, aber noch schlimmer fand er es im Augenblick, jeden Tag in der Klinik darauf gefaßt sein zu müssen, Caroline über den Weg zu laufen. Was er brauchte, war Abstand – und zwar je eher, desto besser.

»Ich habe nichts gebucht«, antwortete er dem wartenden Kollegen. »Es ist überhaupt kein Problem für mich, den Urlaub etwas vorzuziehen. Wie wäre es denn zeitlich am günstigsten? Heute habe ich noch drei Operationen, und morgen operiere ich auch den ganzen Tag, soviel ich weiß. Wie es danach aussieht, kann ich noch gar nicht sagen.«

»Wenn Sie ab übermorgen Ihren Urlaub nehmen, ist alles in Ordnung«, sagte der andere. »Ehrlich, ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Ständig muß ich den OP-Plan ändern, weil sich etwas Unvorhergesehenes ereignet. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen, daß Sie zugestimmt haben. Sie sind der einzige, Herr Brown!«

»Freut mich«, erwiderte Tim, »daß ich Ihnen helfen konnte.«

»Ich trage es gleich ein«, sagte sein Kollege und eilte davon. »Ab übermorgen dann also für eine Woche!«

Tim behielt für sich, wie froh er über diese Regelung war. Als er sich jetzt auf den Weg machte, um den nächsten Patienten zu operieren, fühlte er sich bedeutend besser. Ab übermorgen, dachte er, bin ich erst einmal für eine Woche weg – und danach ist das Schlimmste hoffentlich vorüber.

Er ahnte, daß er sich etwas vormachte in diesem Punkt, aber er fühlte sich nicht stark genug, um der Wahrheit ins Auge zu sehen. Denn das hätte bedeutet, daß er vor sich selbst hätte zugeben müssen, wie unglücklich er war, Caroline Stellmann für immer verloren zu haben. So unglücklich nämlich, daß er noch sehr lange brauchen würde, um darüber hinwegzukommen. Weitaus länger jedenfalls als eine Woche.

*

Caroline hatte nur wenigen Kolleginnen und Kollegen die Wahrheit gesagt. Die meisten dachten, sie gehe in Urlaub, als sie sich verabschiedete und sich ein wenig vage ausdrückte über den Zeitpunkt, zu dem sie ihre Arbeit wiederaufnehmen würde.

Natürlich würde es sich herumsprechen, wo sie war – aber noch nicht sofort. In einem großen Haus wie der Kurfürsten-Klinik dauerte das seine Zeit, und das war ihr nur recht. Im Augenblick wollte sie so wenig wie möglich angesprochen werden auf die Operation, die ihr bevorstand. Sie war ohnehin schon unglücklich genug.

Immerhin hatte Tim Brown Urlaub genommen, das hatte sie zu ihrer großen Erleichterung rein zufällig erfahren. Es hätte ihr nicht gefallen, ihm gerade jetzt zufällig zu begegnen. Es ging ihn nichts mehr an, was mit ihr war, fand sie, und er würde es auch niemals erfahren. Sie hatte es ihm erzählen wollen, aber er war ihr ja gleich über den Mund gefahren.

Sie wußte nicht, daß Adrian Winter hinter den Kulissen dafür gesorgt hatte, daß Caroline möglichst wenig behelligt wurde, als sie auf der gynäkologischen Abteilung eintraf. Er hatte es so organisiert, daß sie sich sofort etlichen Untersuchungen unterziehen mußte, so daß ihr nicht viel Zeit zum Grübeln blieb. Alle, die mit ihr zu tun hatten, hatte er ausdrücklich gebeten, besonders freundlich, aber zurückhaltend zu sein. Und so geschah es, daß Caroline nach einigen Stunden Klinikaufenthalt eher gespannt war. Niemand hatte blöde Bemerkungen gemacht oder indiskrete Fragen gestellt, und sie war dankbar dafür. Vielleicht würde ja doch noch alles gut ausgehen.

Abends klopfte es zaghaft an ihre Tür, und Bernd Schäfer steckte seinen Kopf zur Tür herein. Als er sah, daß sie in ihrem Bett lag und allein war, schob er seinen massigen Körper ins Zimmer. »Ich dachte, ich seh’ mal schnell nach, wie’s dir geht«, sagte er verlegen.

»Ganz gut soweit«, antwortete sie. »Du weißt doch, Bernd, wir arbeiten in einer erstklassigen Klinik. Mich behandeln hier alle wie ein rohes Ei.«

»Das gehört sich auch so«, meinte er. »Und wie geht es nun weiter mit dir?«

»Morgen werden die restlichen Untersuchungen vorgenommen, dann darf ich mich noch zwei Tage ausruhen und innerlich auf das vorbereiten, was kommt – und am Montagmorgen komme ich als erste unters Messer.«

Sie sprach ein bißchen schnoddrig, so, als mache ihr das alles nicht allzu viel aus, aber Bernd Schäfer ließ sich nicht täuschen. »Es ist gut, daß du die Operation sofort machen läßt«, stellte er ruhig fest. »Unsicherheit macht erst recht krank, weißt du? Und ich finde es auch gut, daß Adrian dich operiert.« Er machte eine Pause.

»Er hat mir erzählt, daß er dich gern als Assistenten dabei hätte«, sagte Caroline in die Stille hinein. »Ich habe nichts dagegen, Bernd.«

Er strahlte über das ganze Gesicht. »Das wollte ich dich gerade fragen. Er hat mir das zwar schon gesagt, aber ich wollte doch ganz sicher gehen, daß das auch stimmt. Du hast es nicht nur gesagt, weil es sein Wunsch ist?«

Sie schüttelte den Kopf. Bernd Schäfer war ein sehr liebenswerter Mann. Viel zu dick und viel zu schüchtern, aber ausgesprochen einfühlsam, wenn es darauf ankam. »Nein, natürlich nicht, Bernd. Du solltest wissen, daß ich es schon gesagt hätte, wenn ich nicht einverstanden gewesen wäre.«

»Ja, das stimmt«, gab er zu. »Ich bin froh, daß du nichts dagegen hast. Und ich glaube ganz sicher, wir werden dir eine gutartige Geschwulst wegnehmen, Caroline.«

Sie nickte, und er sah, daß ihre Beherrschung gefährlich ins Wanken geriet. »Ich geh’ dann mal wieder«, sagte er eilig, denn weiblichen Tränen gegenüber war er völlig hilflos. »Schlaf schön, bis morgen.«

»Bis morgen«, erwiderte Caroline leise und schaffte es genauso lange, ihre Tränen zurückzuhalten, bis die Tür hinter dem Assistenzarzt ins Schloß gefallen war.

*

Dr. Adrian Winter war müde. Er gestand es sich nur ungern ein, aber die Doppelbelastung der letzten Tage war doch anstrengend gewesen: erst der Dienst in der Klinik und danach die Pflege von Frau Senftleben im Hause. Wobei das Wort ›Pflege‹ höchstens für die ersten Tage stimmte, denn danach hatte seine muntere Nachbarin darauf bestanden, soviel wie möglich wieder selbst zu übernehmen. Aber allzuviel war das noch nicht gewesen, da sie nach wie vor das Bett hüten sollte.

Doch jetzt neigte sich diese Zeit dem Ende zu. Sie wurde immer unruhiger, und das lag nicht nur daran, daß sie wieder selbst kochen wollte. Sie fing auch sonst an, sich zu langweilen, und das wunderte ihn nicht. Carola Senftleben war eine überaus muntere ältere Dame, die normalerweise ständig auf den Beinen war. Es mußte eine Qual für sie sein, mehr oder weniger unbeweglich im Bett zu liegen.

Er hatte die Klinik ausnahmsweise sehr pünktlich verlassen können, und bis Esther zu ihrem Nachtdienst aufbrechen mußte, blieb ihm noch Zeit. Kurz entschlossen lenkte er seinen Wagen auf den Weg zum King’s Palace. Er hatte Stefanie Wagner, wie es bei ihnen üblich war, wieder einmal seit längerem nicht gesehen, und er hoffte, daß sie vielleicht die Zeit fand, mit ihm einen Espresso zu trinken.

Er würde sich einen Vorwand ausdenken, der ihn angeblich ins Hotel geführt hatte. Es kam jedenfalls nicht in Frage, ihr die Wahrheit zu sagen: daß er sie nämlich unbedingt wiedersehen wollte und daß er nur deshalb gelegentlich in der Bar des King’s Palace aufkreuzte. Wäre nicht ihr Freund gewesen, mit dem er sie schon einmal zusammen gesehen hatte, dann hätte er seinen Mut vielleicht zusammengenommen. Aber so…

Er überließ sein Auto einem Hotelbediensteten und eilte zielstrebig auf die Bar zu. Kurz hatte er überlegt, ob er zu Stefanie Wagners Büro gehen und sie dort überraschen sollte, aber er entschied sich dagegen. Es erschien ihm eleganter, sie von der Bar aus anzurufen.

Doch soweit kam er nicht, denn schon vorher sah er, daß Stefanie bereits an der Bar saß. Er freute sich und wollte gerade freudig auf sie zugehen, als er bemerkte, daß sie nicht allein war. Er konnte die andere Person nicht sehen, da sie durch eine Säule verdeckt war, aber Stefanie sprach in ihrer lebhaften Art auf jemanden ein.

Natürlich ist sie nicht allein, dachte Adrian und ärgerte sich ein wenig über sich selbst. Wie hatte er das nur annehmen können? Warum sollte die Assistentin des Hoteldirektors wohl allein in der Hotelbar sitzen?

Sicher hatte sie eine geschäftliche Besprechung. Langsam ging er weiter. Vielleicht war diese Besprechung ja bald beendet, und er konnte sie dann doch noch zu einem gemeinsamen Espresso überreden. In diesem Augenblick streckte die schöne Frau Wagner einen Arm aus und beugte sich zu ihrem Gesprächspartner. Das sah nicht besonders geschäftlich aus, fand Adrian. Saß sie etwa mit ihrem Freund in der Bar?

Seine Neugier war geweckt, zugleich ärgerte er sich über sein heftig klopfendes Herz. Ich benehme mich wie ein Dreizehnjähriger, dachte er, nicht wie ein erwachsener Mann. Hoffentlich sieht mich niemand. Das ist ja wirklich total lächerlich, was ich hier mache, einer Frau nachzuspionieren, die ich – leider – kaum kenne.

Aber seine Gedanken hinderten ihn nicht daran, sich immer weiter der Bar zu nähern, bis er sehen konnte, wem Stefanie Wagner genau in dieser Sekunde zärtlich über die Wange strich. Es war Dr. Timothy Brown, sein südafrikanischer Kollege.

Er machte auf dem Absatz kehrt und verließ das King’s Palace wie von Furien gejagt. Der Hotelbedienstete, der sein Auto vor nicht einmal drei Minuten auf einem Parkplatz abgestellt hatte, zuckte mit keiner Wimper, als er ihn bat, es ihm sofort wieder zu holen, und diese vollkommene Beherrschung trug ihm ein wahrhaft fürstliches Trinkgeld ein.

*

»Wenn ich dir doch bloß helfen könnte, Tim«, sagte Stefanie unglücklich. Sie griff nach seiner Hand und hielt sie fest. »Allmählich mache ich mir richtige Sorgen um dich, weißt du das? Du bist ganz bleich, und abgenommen hast du auch. Dich nimmt die ganze Sache offenbar sehr mit – dabei hast du selbst gesagt, daß sie kaum begonnen hatte.«

Sie saßen an der Hotelbar und tranken einen Kaffee – für mehr reichte Stefanies Zeit nicht, das hatte sie dem Freund sofort erklärt. Aber er hatte sie so sehr darum gebeten, daß sie ihm ein kurzes Treffen nicht abschlagen wollte.

»Ich weiß!« Mit trüben Augen starrte er vor sich hin. »Ich fahre für ein paar Tage aufs Land, Steffi, das wollte ich dir nur sagen. Ich habe jetzt schon Urlaub, weil es Probleme in der Klinik gab, und mir ist das ganz recht. Mal was anderes sehen, mit anderen Leuten reden, das wird mir gut tun. Vielleicht kann ich ein bißchen reiten, alles vergessen, was mir hier das Herz schwermacht.«

»Schade, daß ich nicht mitfahren kann«, sagte sie bedauernd. »Das würde mir jetzt auch gut gefallen, Tim. Aber ich fürchte, das werden wir verschieben müssen. Ich wünsche dir jedenfalls, daß du diese Enttäuschung bald überwindest.«

»Und was ist mit deiner Enttäuschung?« fragte er. »Besonders gut siehst du nämlich auch nicht aus, wenn ich dir das mal sagen darf.«

Ihr Lächeln war nicht heiter, es sah eher traurig aus. »Ich fühle mich auch nicht besonders gut, aber dafür gibt es eigentlich keinen Grund, nicht wahr? Ich kenne Dr. Winter noch weniger als du deine Caroline.«

»Sag nicht ›meine Caroline‹«, bat er, »das ist sie schließlich nicht. Und ich glaube nicht, daß wir uns besser gekannt haben als ihr euch. Immerhin habt ihr euch öfter getroffen.«

»Das stimmt«, gab sie nachdenklich zu. »Aber näher sind wir uns trotzdem nicht gekommen. Es war eben eine Illusion, Tim. Ich denke manchmal an ihn und überlege mir, wie es wohl wäre, wenn… Und dann verbiete ich mir diese Gedanken, weil sie leider zu nichts führen.« Sie sah ihn forschend an. »Hast du dir eigentlich überlegt, vielleicht doch noch einmal mit Caroline zu reden?«

Jetzt lächelte er. »Damit ich für mich und für dich herausfinde, was zwischen ihr und Dr. Winter wirklich ist?«

Sie senkte verlegen die Augen. »Na ja«, murmelte sie, »war ja nur so eine Idee. Immerhin gibt es Mißverständnisse, das weißt du doch. Vielleicht hast du die Situation falsch interpretiert.«

»Ach«, spottete er liebevoll, »du hast also deine Meinung geändert? Hast du mir nicht neulich erst erzählt, daß diese Beziehung alles erklärt? Sowohl Carolines Verhalten mir gegenüber als auch Dr. Winters Verhalten dir gegen­über? Und daß es so viele Zufälle auf einmal nicht gibt?«

»Du hast ja recht«, gestand sie mit einem Seufzer ein. »Es war ja auch nur so eine Idee, Tim.«

Er gab ihr einen Kuß auf die Wange und erhob sich. »Ich melde mich, wenn ich wieder zurück bin. Kopf hoch, Steffi, wir beide werden uns doch nicht unterkriegen lassen, oder?«

»Natürlich nicht!« sagte sie und versuchte, ihre Stimme fest und sicher klingen zu lassen. Aber sie selbst hörte, wie wenig ihr das gelang.

*

Esther war schon weg gewesen, als Adrian bei Frau Senftleben eingetroffen war, und nun saß er seiner Nachbarin zum ersten Mal seit längerem wieder in der Küche gegenüber. Sie hatte einen hübschen nachtblauen Morgenmantel angezogen, ihre Haare waren frisch gewaschen, und ihre blauen Augen blickten so klar in die Welt wie eh und je. Ganz ohne Zweifel war Frau Senftleben auf dem Wege der Besserung. Sie hatte sogar darauf bestanden, zumindest einen Salat selbst zuzubereiten, und dieser schmeckte so köstlich, daß Adrian die eigene Unzulänglichkeit in der Küche wieder einmal bewußt wurde. Aber allzuviel machte er sich nicht daraus, es gab andere Dinge, die er besser konnte.

»Sie wirken nicht besonders zufrieden heute«, bemerkte seine Nachbarin, nachdem sie eine Weile schweigend gegessen hatten. Sie betrachtete ihn forschend und machte sich ihre eigenen Gedanken über Adrian, die sie aber, wie meistens, für sich behielt. Er war ihr während ihrer Krankheit noch mehr ans Herz gewachsen. Daß Esther und er sich so rührend um sie gekümmert hatten, würde sie den beiden nie vergessen. Aber es lag ihr nicht, darüber viele Worte zu verlieren. Sie würde einen anderen Weg finden, ihre Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen.

Adrian ließ sich Zeit mit der Erwiderung, und sie drängte ihn nicht. »Bin ich auch nicht«, gab er schließlich fast widerwillig zu. Er besprach vieles mit Frau Senftleben, aber eben doch nicht alles. Die Geschichte mit Stefanie Wagner, die eigentlich gar keine Geschichte war, hatte er jedenfalls bis jetzt für sich behalten, und dabei sollte es auch bleiben.

Wie erwartet, versuchte Frau Senftleben nicht, ihn auszufragen. Die Intimsphäre eines Menschen war ihr heilig, nie wäre sie auf die Idee gekommen, ihn zu drängen, daß er sich ihr anvertraute. Nach einer Weile sagte sie wie beiläufig: »Wollen Sie nicht heute wieder einmal in Ihrer eigenen Wohnung schlafen, Adrian?«

»Wäre Ihnen das lieber?« fragte er sofort. »Ist es Ihnen lästig, wenn ich hier bin?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich war sehr froh die ganze Zeit, daß Sie hier waren, Sie und Esther, das wissen Sie doch. Wenn man sich elend fühlt, ist es ein schreckliches Gefühl, allein zu sein und sich im Notfall nicht helfen zu können. Aber jetzt geht es mir wieder besser – ich habe kein Fieber mehr, und ich kann sehr gut allein aufstehen.«

Ihre Augen ruhten freundlich auf ihm, und ihn beschlich das Gefühl, daß sie mehr über seine Gemütslage wußte, als ihm recht war. »Ich glaube«, faßte sie ihre Ausführungen zusammen, »Sie brauchen eine Pause von mir, Adrian. Ich habe ihr das gestern abend schon gesagt, und sie war wenigstens so ehrlich zuzugeben, daß sie erleichtert über das Ende der Krankenpflege während der Freizeit war.«

Er mußte lachen. »Na schön«, sagte er offen, »ich habe auch nichts dagegen, mal wieder in meinem eigenen Bett zu schlafen, Frau Senftleben, das muß ich zugeben.«

»Ich sehe, wir sind uns einig«, stellte sie zufrieden fest. »Sie dürfen mir allerdings noch helfen, hier ein bißchen Ordnung zu schaffen, und dann gehe ich wieder ins Bett. Ich merke schon, daß ich noch ein bißchen wacklig auf den Beinen bin.«

»Immer langsam«, meinte er ruhig. »So schnell werden Sie mich nicht los, Frau Senftleben. Die Küche räume ich alleine auf, Sie dürfen so lange noch sitzen bleiben und mir dabei zusehen. Und dann warte ich, bis Sie im Bett liegen, und morgen früh komme ich und mache Ihnen das Frühstück. Und genauso werden wir es in den nächsten Tagen auch machen. Ich kehre zwar in meine Wohnung zurück – aber die Oberaufsicht über Sie und Ihre Gesundheit habe ich noch, bis auch Ihr Hausarzt der Ansicht ist, daß Sie wieder ganz allein für sich sorgen können.«

»Na schön«, seufzte sie und lehnte sich lächelnd zurück. »Dann räumen Sie mal meine Küche auf, Adrian.«

*

Caroline wanderte auf dem Stationsflur herum, weil sie sich langweilte. Sonst hatte sie Wochenenden sehr gern, und sie hätte ohne weiteres gemütlich im Bett liegen und ein Buch lesen können, wie sie es zu Hause oft tat, wenn sie frei hatte.

Aber sie war eben nicht zu Hause, sondern sie lag als Patientin in der Klinik und wußte nicht, was auf sie zukam. Und außerdem war sie unglücklich, obwohl sie versuchte, möglichst wenig an Tim Brown zu denken. Doch das war leichter gesagt als getan. Immer wieder schlich er sich in ihre Gedanken, ohne daß sie etwas dagegen tun konnte. Jedenfalls konnte sie sich nicht auf ein Buch konzentrieren.

Sie verließ die Station, weil sie es allmählich langweilig fand, immer hin und her zu laufen. Niemand hinderte sie daran, als sie beschloß, einen kleinen Ausflug in den Klinikgarten zu machen. Das Wetter war schön, da konnte sie sich ruhig ein wenig nach draußen setzen.

Sie hatte kaum auf einer der Bänke Platz genommen, als ein junger Mann an Krücken herangehumpelt kam und sich neben sie auf die Bank fallen ließ.

»Hallo, ich heiße Sven Mohntal«, stellte er sich vor. »Ich liege auf der Chirurgischen.«

»Caroline Stellmann«, erwiderte sie. Sie wollte sich nicht unbedingt unterhalten, aber er war nicht unsympathisch und hatte ein nettes Gesicht mit freundlichen Augen.

»Weshalb sind Sie denn hier?« erkundigte er sich unbefangen.

»Ich hab’ einen Tumor am Eierstock«, antwortete sie automatisch und wunderte sich im selben Augenblick, warum sie diesem Unbekannten gegenüber so offen war.

»Bösartig?« erkundigte er sich sachlich.

»Das weiß man noch nicht.«

»Oh«, sagte er mitfühlend. »Muß ein schlimmes Gefühl sein.«

»Ja«, bestätigte sie, »das ist es. Und wie ist das bei Ihnen? Haben Sie sich das Bein gebrochen?«

Er nickte. »Den Unterschenkel. Aber der Bruch war gar nicht so schlimm – bloß die Wunde wollte nicht heilen. Sie hat sich entzündet, und ich bin gegen viele Antibiotika allergisch, deshalb ist es immer schlimmer geworden. Sechs Wochen hänge ich jetzt schon hier rum – bloß wegen so ’ner Wunde, die nicht heilen wollte, das muß man sich mal vorstellen.«

»Das tut mir leid«, sagte sie ehrlich. »Ist es denn jetzt besser?«

»O ja.« Er warf ihr einen Blick von der Seite zu und grinste breit. »Soll ich Ihnen sagen, was sie gemacht haben? Aber ich wette, Sie werden mir nicht glauben. Die meisten Leute, denen ich es bisher erzählt habe, haben gedacht, ich will sie auf den Arm nehmen.«

Er hatte es tatsächlich geschafft, ihre Neugier zu wecken. Es fiel ihr selbst gar nicht auf, daß sie nicht mehr an ihr eigenes Unglück dachte, seit sie mit ihm ins Gespräch gekommen war. »Dann versuchen Sie es mal«, forderte sie ihn auf. »Ich glaube Ihnen bestimmt.«

Er strahlte über das ganze Gesicht. »Die haben hier ’nen Südafrikaner, ich weiß nicht, ob Sie von dem schon gehört haben? Also, ich meine, einen Arzt aus Südafrika, von dem alle Frauen schwärmen.«

Er wartete ihre Antwort nicht ab, und das war gut so, denn er hätte sonst lange warten müssen. Schlagartig war Caroline ganz steif geworden. Ihr Körper verkrampfte sich vor lauter Abwehr, und unwillkürlich rückte sie ein Stück zur Seite.

Aber Sven Mohntal bemerkte davon überhaupt nichts, so begeistert war er von der Geschichte, die er ihr erzählen wollte.

»Also«, sprach er weiter, »dieser Dr. Brown aus Südafrika hatte eine sensationelle Idee.« Er machte eine Pause, um die Spannung hochzutreiben, und ließ dann die Bombe platzen. Sehr betont sagte er: »Er hatte die Idee, Maden zur Wundreinigung einzusetzen.«

Nun war es heraus! Er warf Caroline einen Blick zu, aber sie reagierte nicht, und das enttäuschte ihn zutiefst. Alles mögliche hatte er schon erlebt, wenn er seine Geschichte zum Besten gegeben hatte, aber es war noch nicht ein einziges Mal vorgekommen, daß jemand überhaupt nicht reagiert hatte.

Er wartete einen Moment, dann wiederholte er, was er gesagt hatte. Doch abermals zeigte sich keine Regung auf ihrem Gesicht. Er beschloß, seine Geschichte ein wenig auszuschmücken, um sie endlich aus der Reserve zu locken, doch mitten in einer ganz besonders drastischen Passage stand Caroline plötzlich auf.

»Tut mir leid, Herr Mohntal, aber ich habe etwas vergessen, ich muß dringend auf mein Zimmer zurück. Ihre Geschichte ist jedenfalls sehr interessant, ich glaube sie Ihnen auf jeden Fall!« Und dann stürzte sie davon, als sei ein Verfolger hinter ihr her, der ihr ans Leben wollte.

Sven Mohntal sah ihr kopfschüttelnd nach. Dann murmelte er: »Aber ganz cool tun, das haben wir gern. Wahrscheinlich übergibt sie sich jetzt erst einmal in aller Ruhe.« Mißmutig streckte er sich auf der Bank aus, die er nun ganz für sich allein hatte. Sie hatte nicht so zimperlich ausgesehen, aber er hatte sie wohl unterschätzt. Jedenfalls hatte sie genauso blöd reagiert wie die anderen Frauen auch, denen er die Sache mit den Maden erzählt hatte.

*

Tim war nicht sehr weit aus der Stadt herausgefahren. Auf einmal hatte er keine Lust mehr gehabt, im Auto zu sitzen, und so hatte er sich in einem Dorf eingemietet, wo es ihm auf Anhieb gut gefiel. Hier war es ruhig, von Hetze, Lärm und Streß einer Großstadt war man Lichtjahre entfernt, obwohl Berlin in einer Stunde zu erreichen war.

Es gefiel ihm, aber genießen konnte er es nicht. Immer wieder fiel ihm ein, wie er davon geträumt hatte, vielleicht ein paar Tage mit Caroline zusammensein zu können, und wie dann dieser Traum zerplatzt war wie eine Seifenblase. Warum nur hatte sie ihm nicht sofort gesagt, daß sie gebunden war? Oder hatte sie sich wirklich nichts dabei gedacht, sich mit ihm zu verabreden? Er verstand die ganze Geschichte immer weniger.

Er hörte Hufgetrappel hinter sich und sah sich um. Eine hübsche blonde Frau kam näher. Als sie ihn sah, zügelte sie das Pferd und sagte leise: »Ruhig, Luna, ganz ruhig.« Die hübsche braune Stute schnaubte ein bißchen, blieb aber brav neben ihm stehen.

»Guten Tag!« sagte die Frau und lächelte ihn strahlend an. Er war sicher, sie noch nie gesehen zu haben, aber trotzdem kam sie ihm bekannt vor. »Machen Sie Urlaub?« fragte sie.

»Ja, ein paar Tage«, antwortete er. »Urlaub vom Großstadt-Streß. Es ist wunderschön hier, ich bin zum ersten Mal in dieser Gegend.«

»Sie sind kein Deutscher, nicht wahr?« fragte sie. »Entschuldigen Sie meine Neugier, Sie sprechen wirklich fast ohne Akzent…«

»Aber nur fast«, unterbrach er sie lächelnd. »Ich komme aus Südafrika, aber ich habe als Student zwei Jahre in Deutschland verbracht, und jetzt arbeite ich seit einigen Wochen hier.«

»Und da haben Sie die Sprache so gut gelernt?« staunte sie. »Ich bin beeindruckt. Übrigens, ich heiße Esther Berger.«

»Timothy Brown.«

Sie krauste die Nase, was ihr sehr gut stand. »Den Namen habe ich doch schon mal gehört«, meinte sie nachdenklich. »Sie arbeiten nicht zufällig an der Kurfürsten-Klinik?«

»Doch«, antwortete er verblüfft. »Woher wissen Sie das?«

»Mein Bruder hat Ihren Namen erwähnt«, antwortete sie und fügte erklärend hinzu: »Dr. Winter, Adrian Winter. Ich nehme an, Sie kennen ihn, wenn er von Ihnen gesprochen hat.«

Adrian Winter, ausgerechnet! Mußte ihn dieser Mann denn auch noch in seinem Urlaub verfolgen? »Ja, ich kenne ihn«, antwortete er, mühsam beherrscht.

Sie mußte gemerkt haben, daß etwas nicht in Ordnung war, doch sie ging darüber hinweg. »Er war sehr beeindruckt von Ihnen, Herr Brown. Jetzt fällt es mir auch wieder ein, daß er gesagt hat, mit Ihnen ließe sich so gut fachsimpeln. Das tut er nämlich für sein Leben gern.« Sie wechselte abrupt das Thema.

»Reiten Sie?«

»Ja, sehr gern sogar.«

»Dann kommen Sie«, sagte sie. »Dort vorn ist der Bauernhof, auf dem mein Pferd untergebracht ist. Sie haben noch mehr Pferde, es ist bestimmt eins dabei, mit dem Sie sich gut verstehen. Es ist viel schöner, zu zweit auszureiten. Machen Sie mir doch die Freude und begleiten Sie mich!«

Es war schwer, ihr zu widerstehen, und er sagte sich, daß sie ja von seinen Gefühlen nichts wissen konnte. Schließlich war es nicht ihre Schuld, wenn ihr Bruder ausgerechnet mit der Frau zusammen war, in die er selbst sich unsterblich verliebt hatte.

»Gern«, willigte er ein. Vielleicht brachte ihn diese temperamentvolle junge Frau auf andere Gedanken – sofern sie nicht ständig von ihrem Bruder redete, aber das würde er schon zu verhindern wissen.

»Herrlich, daß wir uns getroffen haben!« strahlte sie. »Und wissen Sie, was das Allerbeste ist? Ich kann bis Montag hierbleiben, da habe ich nämlich auch noch frei.« Sie wurde plötzlich ernst. »Wenn Sie lieber allein sein wollen, dann sagen Sie es mir bitte, ja? Ich schieße manchmal in der ersten Begeisterung ein bißchen übers Ziel hinaus.«

Er konnte nicht anders, er mußte lachen. Sie war wirklich nett. »Keine Sorge«, versicherte er, »ich weiß mich schon zu wehren.«

»Dann ist ja alles bestens«, meinte sie übermütig. »Worauf warten wir noch?«

Im nächsten Augenblick preschte sie auf ihrer Stute davon, und er folgte ihr gemächlich zu Fuß. Vielleicht würde dieser Kurzurlaub doch nicht so schrecklich werden, wie er zunächst befürchtet hatte.

*

»Heute operieren Sie also die junge Frau mit dem Tumor?« fragte Carola Senftleben, die wieder ihren nachtblauen Morgenmantel trug. Sie sah jetzt jeden Tag ein bißchen besser aus, fand er, und er war aufrichtig froh darüber. Sogar über seine Sorgen in der Klinik konnte er wieder mit ihr reden.

»Ja«, bestätigte er. »Heute ist es soweit. Sie ist gleich die erste Patientin heute morgen. Ich wünschte, wir wüßten bereits, daß der Tumor nicht bösartig ist, Frau Senftleben. Sie ist sowieso im Augenblick so unglücklich.«

»Liebeskummer?« erkundigte sich seine Nachbarin.

»Sicher, was sonst?« Er zwang sich zu einem Lächeln, aber ihr entging nicht, daß dieses Lächeln seine Augen nicht erreichte. Er sah auf die Uhr. »Ich muß bald los, Frau Senftleben.«

»Ich weiß«, sagte sie ruhig. »Machen Sie sich bloß keine Gedanken, Adrian, mir geht es wirklich gut.«

»Das würde ich ja gern glauben«, meinte er, »aber allein die Tatsache, daß Sie zu dieser frühen Stunde mit mir am Frühstückstisch sitzen, spricht dagegen. Wenn es Ihnen richtig gut ginge, dann wären Sie vor elf Uhr überhaupt nicht ansprechbar, Frau Senftleben. Schon vergessen? Sie sind eine richtige Nachteule.«

»Mag sein«, gab sie zu, »aber bedenken Sie, daß ich nur im Bett gelegen habe, und das nun schon seit über einer Woche. Da kann kein Mensch mehr müde sein. Ich bin einfach ausgeschlafen. Es macht mir keinen Spaß mehr, im Bett zu liegen. Ich brauche endlich wieder Bewegung.«

Er blieb skeptisch. »Wir werden ja sehen, wie das mit Ihnen weitergeht. Heute abend dürfen Sie mir mehr erzählen. Ich bin gespannt, ob Sie dann immer noch so munter sind wie jetzt.«

Sie überging seine Bemerkung. »Es wäre lieb, wenn Sie mir erzählen würden, wie das Ergebnis der Operation ausfällt«, sagte sie. »Es ist mir fast, als würde ich die junge Frau kennen. Jedenfalls geht mir ihr Schicksal sehr zu Herzen.«

»Natürlich sage ich Ihnen das Ergebnis«, versicherte er. »Also, bis heute abend, Frau Senftleben. Und sollte doch etwas sein…«

Sie unterbrach ihn. »Sie sind ja schlimmer als eine Glucke!« schimpfte sie liebevoll. »Wenn wirklich etwas sein sollte, dann schaffe ich es bestimmt noch bis zum Telefon, um meinen Hausarzt anzurufen. Zur Abwechslung darf der sich dann mal wieder um mich kümmern. Und jetzt auf Wiedersehen. Ihre Patientin wartet sicher schon darauf, daß es endlich losgeht.«

Er gab ihr einen Kuß auf die Wange und verließ die Wohnung.

*

Caroline starrte an die Zimmerdecke. Die Nacht vor einer Operation ist die reinste Folter, dachte sie. Nie zuvor war ihr eine Nacht so lang erschienen wie die vergangene. Nichts hatte die schleichenden Sekunden und Minuten beschleunigen können.

»Alles in Ordnung?« fragte die Schwester, die jetzt geschäftig zu Caroline ins Zimmer kam und sich über sie beugte. »Haben Sie schlafen können?«

»Ja, danke«, sagte Caroline leise. Es war sinnlos zu erzählen, daß sie alle paar Minuten aufgewacht war, weil sie sicher gewesen war, jetzt müsse es aber Morgen sein, und jeden Augenblick werde man sie abholen und in den OP bringen. Aber jedesmal hatte sie feststellen müssen, daß seit ihrem letzten Blick auf den Wecker höchstens eine halbe Stunde vergangen war, meistens weniger.

Aber nun war es offensichtlich wirklich soweit. Direkt nach der Schwester kam Dr. Winter zur Tür herein, und sein Anblick war eine Beruhigung für Caroline. Auch er beugte sich über sie, aber er stellte keine Frage, sondern sah sie nur forschend an. Schließlich sagte er mit ruhiger Stimme: »Bald wissen wir mehr, Caroline.«

»Ja, zum Glück.« Sie versuchte zu lächeln, aber es mißlang ihr kläglich. »Ich bin froh, daß es endlich losgeht. Die Nacht war ziemlich mies.« Den letzten Satz sagte sie so leise, daß die Schwester ihn nicht hören konnte.

»Das sind Nächte vor Operationen eigentlich immer«, erwiderte er ruhig. »Sie bekommen jetzt schon mal eine Spritze, und wenn wir uns das nächste Mal unterhalten, haben Sie bereits alles hinter sich. Machen Sie sich auf jeden Fall keine unnötigen Sorgen – Sie können das Ergebnis der Operation sowieso nicht beeinflussen.«

»Leider nicht, das stimmt. Ich bin froh, daß Sie’s machen, Herr Dr. Winter«, sagte sie.

Er tätschelte ihr die Wange. »Kopf hoch, Caroline. Ich geh’ schon mal los. Bis dann.«

»Ja«, sagte sie, »bis dann.«

Als die Kollegin mit der Spritze kam, streckte sie sofort ihren Arm aus. Sie war froh darüber, daß sie bald schlafen und nichts von der Operation mitbekommen würde.

Sie spürte den Einstich kaum. Das hat sie gut gemacht, dachte sie. Richtig gut. Die wenigsten Schwestern können schmerzlos spritzen.

An dieser Stelle verwirrten sich ihre Gedanken bereits, und als kurz darauf ihr Bett aus dem Zimmer geschoben wurde, schlief sie.

*

»Schade, daß dies schon mein letzter Tag ist«, seufzte Esther, als sie Tim Brown morgens in seiner Pension abholte. Sie wollten gemeinsam ausreiten. »Aber morgen muß ich wieder in die Charité zu meinen Kindern.«

»Nehmen Sie bitte noch einen Augenblick Platz, bis ich meinen Kaffee ausgetrunken habe«, bat Tim und fügte, als sie ihm gegen­übersaß, hinzu: »Ich glaube fast, ich werde Sie vermissen, Frau Berger.«

Sie lachte. »Das will ich auch hoffen. Schließlich habe ich Ihnen die schönsten Plätze dieser Gegend gezeigt, die Sie ohne mich niemals gefunden hätten.«

Das stimmte, und er gab es auch sofort zu. Es war überhaupt sehr angenehm gewesen, mit ihr zusammenzusein. Sie waren mehrmals gemeinsam ausgeritten und hatten sich gut vertragen. Wäre Esther nicht Adrian Winters Schwester gewesen, dann hätte Tim sich durchaus vorstellen können, sich mit ihr anzufreunden. So aber war er immer ein wenig auf der Hut gewesen, während sie sich unterhielten.

»Darf ich Ihnen eine Frage stellen?« fragte Esther in diesem Augenblick. »Auf die Gefahr hin, daß Sie mich ein wenig indiskret finden?«

Er sah sie erstaunt an und nickte dann zögernd.

»Irgend etwas stimmt nicht zwischen Ihnen und meinem Bruder, Herr Brown, oder?«

Sie hatte es also doch gemerkt! Er ärgerte sich, daß es ihm nicht besser gelungen war, seine Gefühle zu verbergen. »Wie kommen Sie darauf?« fragte er, um Zeit zu gewinnen.

»Es stimmt also«, stellte sie fest, ohne seine Frage zu beantworten, »sonst würden Sie mir nicht ausweichen.«

Auf einmal hatte er keine Lust mehr zu diesem Versteckspiel. Warum sollte er es ihr nicht sagen? Wahrscheinlich würde Adrian Winter es seiner Schwester sowieso bald erzählen, denn er wußte sicher Bescheid. Bestimmt hatte Caroline ihm gestanden, daß sie mit dem südafrikanischen Kollegen ausgegangen war.

»Ihr Bruder ist mit der Frau zusammen, in die ich mich gerade verliebt hatte«, sagte er schroff. »Leider hat sie mich nicht sofort darauf hingewiesen, daß sie gebunden ist, so daß wir einen sehr peinlichen Abend miteinander verbracht haben.«

»Mein Bruder?« fragte Esther erstaunt. »Ich glaube, Sie irren sich, Herr Brown.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe sie zusammen gesehen«, sagte er. »Es war – nun, eine eindeutige Situation.«

»Was verstehen Sie unter eindeutig?« fragte Esther, und auf ihrer Stirn erschien eine steile Falte. »Entschuldigen Sie bitte meine Hartnäckigkeit, aber Adrian ist mein Zwillingsbruder – das wußten Sie wahrscheinlich nicht. Besonders viele Geheimnisse haben wir nicht voreinander. Ich bin ziemlich sicher, daß ich es wüßte, wenn er eine Freundin hätte.«

Sie verunsicherte Tim für einen Moment, aber dann sah er wieder Caroline und Dr. Winter vor sich, und er wußte, daß er sich nicht geirrt hatte.

Er erklärte Esther, was er gesehen hatte, doch sie schüttelte temperamentvoll den Kopf. »Sie haben die Situation falsch interpretiert!« erklärte sie kategorisch.

Aber so schnell ließ er sich nicht überzeugen. »Sie ist Krankenschwester an der Kurfürsten-Klinik«, sagte er. »Vielleicht ist dieses Verhältnis ja noch ganz neu, so daß er es Ihnen noch gar nicht erzählt hat.«

»Nein!« sagte Esther, und jetzt blitzten ihre Augen. Zugleich wurde sie nachdenklich. Sie hegte schon länger den Verdacht, daß Adrian verliebt war – aber es handelte sich, wenn sie sich alles richtig zusammengereimt hatte, um eine Frau, die im King’s Palace arbeitete. Doch diese Geschichte ging den südafrikanischen Arzt nichts an, und sie würde kein Wort darüber verlieren, zumal Adrian sich sogar ihr gegenüber an diesem Punkt beharrlich ausschwieg. Über Andeutungen war er bisher nicht hinausgegangen. Was aber hatte es jetzt mit dieser Krankenschwester auf sich, von der Tim Brown sprach?

Und dann fiel ihr auf einmal ein, daß Adrian ihr an einem Abend in Frau Senftlebens Küche von einer Schwester erzählt hatte, die er operieren sollte. Verdacht auf Eierstockkrebs. Adrian schätzte die junge Frau sehr und hatte sich nach Rücksprache mit seinen Kollegen bereit erklärt, die Operation durchzuführen. Heute, wenn sie sich recht erinnerte. Konnte es da einen Zusammenhang geben? Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum, während ihr Gehirn auf Hochtouren arbeitete.

»Sehen Sie!« rief Tim, der ihre Miene falsch deutete. »Jetzt werden Sie selbst unsicher. Sie können mir glauben, Frau Berger, daß ich nicht phantasiere. Die beiden sind ein Liebespaar!«

Aber Esther war mittlerweile zu einem Ergebnis gekommen. Sie hatte sich zusammengereimt, wie diese Operation, von der Adrian gesprochen hatte, mit dem, was Tim Brown ihr soeben erzählt hatte, zusammenhing. Wenn eine junge Frau befürchten mußte, Eierstockkrebs zu haben, dann war sie mit Sicherheit zutiefst unglücklich und deprimiert…

»Nein, nein, nein!« sagte sie heftig. »Wenn er überhaupt verliebt ist, dann in eine völlig andere Person, das garantiere ich Ihnen.«

»Eine völlig andere Person?« fragte er ungläubig. »Was soll das denn heißen?« Gegen seinen Willen und wider jegliche Vernunft keimte plötzlich die verrückte Hoffnung in ihm auf, daß sie vielleicht recht haben könnte. War Caroline nicht wirklich sichtlich verletzt gewesen, als er sie bei ihrem letzten Zusammentreffen so kalt behandelt hatte?

»Ich gebe Ihnen einen guten Rat, Herr Brown«, erklärte Esther eindringlich: »Fahren Sie sofort nach Berlin und reden Sie mit meinem Bruder über diese Krankenschwester. Mehr sage ich zu der Angelegenheit nicht. Aber Sie sollten keine Zeit verlieren.«

»Ich verstehe überhaupt nicht…«, stammelte er.

»Macht nichts«, unterbrach sie ihn. »Tun Sie einfach, was ich Ihnen sage. Sie werden es später ganz bestimmt verstehen.«

Als er sich noch immer nicht rührte, wurde sie ungeduldig. »Nun machen Sie schon!« fuhr sie ihn fast unfreundlich an. »Ich kann Ihnen nicht mehr sagen, haben Sie das nicht verstanden? Fragen Sie meinen Bruder – oder haben Sie Angst, sich lächerlich zu machen? Dann kann es mit Ihrer Liebe aber nicht allzu weit her sein!«

Das hatte endlich die gewünschte Wirkung. »Ich muß verrückt sein, auf Sie zu hören«, murmelte er und stand auf. »Aber ich tu’s!«

»Gut so«, sagte sie knapp. Dann reichte sie ihm ihre Visitenkarte. »Bitte sehr, falls Sie mir danach etwas zu erzählen haben.«

Er nahm die Karte wortlos, drehte sich um und stürmte davon.

*

Caroline lag reglos auf dem Operationstisch, und im Saal herrsch­te fast gespenstische Stille. Das Team wartete auf das Ergebnis des Schnellschnitts und damit auf das Signal für den weiteren Verlauf der Operation.

Dr. Adrian Winter hatte sich perfekt in der Gewalt. Niemand konnte seinem Gesicht ansehen, was er dachte. Er strahlte wie immer Ruhe und Gelassenheit aus, die sich in der Regel auf die anderen übertrug. Diesmal allerdings war die Spannung so groß, daß auch Dr. Winters scheinbare Ruhe sie nicht zu lösen vermochte.

In Wirklichkeit war auch Adrian keineswegs ruhig, sondern er fieberte dem Ergebnis der Laboruntersuchung entgegen. Die Größe des einen Tumors hatte ihn erschreckt, während der andere noch ziemlich klein war. Beide würden sich ohne Probleme entfernen lassen – wenn sie gutartig waren.

»Wie lange dauert das denn noch?« knurrte Dr. Werner Roloff, der Anästhesist, den Adrian um seine Mitwirkung an dieser Operation gebeten hatte. Er war ein sehr erfahrener Mann, der sich ebenfalls nicht leicht aus der Ruhe bringen ließ. Aber jetzt sah sein Gesicht unter der wilden grauen Mähne sorgenvoll aus. Wie alle anderen auch berührte ihn das mögliche Schicksal dieser schönen jungen Frau, die er gut kannte. Caroline und er hatten schon oft zusammen gearbeitet. Jeder, der an dieser Operation mitwirkte, wünschte der Patientin einen glücklichen Ausgang.

»Mann, das nervt!« knurrte in diesem Augenblick auch Bernd Schäfer, der neben Adrian stand und vor Aufregung noch heftiger schwitzte als sonst. Wieder einmal nahm er sich vor, doch ein paar von seinen überschüssigen Pfunden abzunehmen – sie waren im OP besonders hinderlich.

In diesem Augenblick klingelte das Telefon, und Monika Ullmann, eine der Schwestern, mit denen Adrian Winter am liebsten zusammenarbeitete, nahm den Anruf entgegen. Es wurde noch stiller, alle Gesichter waren der temperamentvollen Schwester zugewandt. Sie hörte zu, dann rief sie mit einer Stimme, die vor unterdrücktem Jubel zitterte: »Negativ!«

Sofort setzte lebhaftes Gemurmel ein, überall waren frohe Gesichter zu sehen. Doch jetzt galt es, keine Zeit mehr zu verlieren.

»An die Arbeit«, sagte Adrian, nachdem er einen Blick tiefster Erleichterung mit Werner Roloff gewechselt hatte. »Wir entfernen zunächst den kleinen Tumor.«

Erneut kehrte Ruhe ein, alle konzentrierten sich, und die Operation wurde fortgesetzt.

*

Erst als er schon fast wieder in Berlin war, fragte sich Tim, warum ihm Esther geraten hatte, mit ihrem Bruder zu sprechen und nicht mit Caroline. Doch so sehr er auch grübelte, er konnte keine Antwort auf diese Frage finden. Aber er beschloß, auf sie zu hören. Vielleicht war es sogar einfacher, Dr. Winter zu fragen statt Caroline. Schließlich war ihr letztes Zusammentreffen sehr unerfreulich verlaufen.

Auf dem Klinikparkplatz stellte er seinen Wagen ab und stürmte in die Notaufnahme. »Ist Dr. Winter nicht hier?« fragte er Dr. Julia Martensen.

Die Internistin schüttelte bedauernd den Kopf. »Er operiert heute morgen – aber vielleicht haben Sie Glück, es ist ja schon ziemlich spät. Es könnte sein, daß er inzwischen fertig ist.«

»Danke!« sagte er und stürmte davon. Julia Martensen sah ihm mit hochgezogenen Brauen nach. Das sah ja sehr dringend aus. Was mochte der südafrikanische Kollege wohl von Adrian wollen?

Tim hatte tatsächlich Glück. Das Team um Dr. Winter verließ gerade den OP, als er den Stationsflur betrat. »Herr Dr. Winter!« rief er außer Atem. »Kann ich Sie einen Augenblick sprechen? Es ist dringend.«

Adrian zuckte zusammen. Ausgerechnet Dr. Brown, dachte er resigniert, während er ihn vor seinem inneren Auge erneut zusammen mit Stefanie Wagner im King’s Palace sah. »Bitte«, sagte er müde. »Worum geht’s denn?«

Der andere sah sich um und senkte die Stimme. »Ich möchte mit Ihnen allein sprechen, wenn möglich. Es ist vertraulich.«

Adrian begann sich zu wundern. Soweit er wußte, hatte er nichts Vertrauliches mit Timothy Brown zu besprechen. Aber zugleich wurde er neugierig. »Kommen Sie mit«, sagte er kurz und steuerte ein leerstehendes Arztzimmer an.

Tim schloß die Tür hinter sich und sagte: »Ich habe Ihre Schwester kennengelernt. Sie hat mich zu Ihnen geschickt. Lieben Sie Caroline, Herr Winter?«

Adrian verschlug es die Sprache. »Wie bitte?« fragte er. »Wovon sprechen Sie, Herr Brown?«

»Habe ich mich nicht klar ausgedrückt?« fragte Tim. »Bitte, sagen Sie mir, ob Sie Caroline Stellmann lieben. Es ist wichtig für mich, Herr Winter. Lebenswichtig.«

Adrian fühlte sich benommen. »Ich verstehe nicht, worum es geht«, sagte er langsam. »Wie kommen Sie darauf, daß ich Caroline liebe? Ich habe privat gar keinen Kontakt zu ihr. Ich habe sie gerade operiert, aber das wissen Sie ja sicher.«

»Operiert?« rief Tim entsetzt. »Nein, das wußte ich nicht! Was fehlt ihr denn?«

Adrian blickte ihn an. Bevor er es verhindern konnte, war ihm schon die Frage herausgerutscht. »Lieben Sie Stefanie Wagner, Herr Brown?«

»Steffi? Wie kommen Sie denn darauf? Natürlich nicht! Ich liebe Caroline! Steffi ist eine gute Freundin von mir, schon lange. Was ist mit Caroline?«

Adrian ließ sich auf einen Stuhl sinken und sagte bedächtig: »Ich glaube, wir sollten ein ausführliches Gespräch miteinander führen, Herr Brown. Am besten fangen wir ganz am Anfang an. Also, was ist mit Ihnen und Caroline?«

*

Caroline war sicher, daß sie träumte, als sie Tims Gesicht sah, das sich voller Liebe über sie beugte. Sie schloß die Augen und öffnete sie erneut, aber das Gesicht verschwand nicht.

»Caroline«, sagte eine Stimme zärtlich, »warum hast du mir nichts gesagt? Ich war so unglücklich deinetwegen – so schrecklich unglücklich.«

»Ich auch«, hauchte sie. »Warum warst du… so kalt zu mir?«

»Ich hatte dich mit Dr. Winter zusammen gesehen und dachte, ihr beide…«

Sie machte ein erstauntes Gesicht. »Dr. Winter und ich? Wir haben über die Operation gesprochen. Und… über dich…« Sie mußte sich anstrengen, daß ihr die Augen nicht zufielen, aber sie wollte noch wach bleiben. Sie war so glücklich, daß er da war, so unendlich glücklich. Dann fiel ihr wieder ein, daß sie ja operiert worden war. »Hab’ ich Krebs?« fragte sie leise.

»Nein, hast du nicht«, antwortete er, beugte sich über sie und gab ihr einen Kuß. »Wir können also jede Menge Kinder bekommen, du und ich.«

»Gut«, murmelte sie. »Das machen wir.«

»Ich liebe dich so sehr«, sagte er innig.

»Ich liebe dich auch, Tim.«

Im nächsten Augenblick war sie wieder eingeschlafen, und Tim fragte sich, wie er sich bei Esther Berger jemals in seinem Leben angemessen bedanken sollte für das, was sie getan hatte.

*

»Herr Winter!« sagte Stefanie Wagner erstaunt, als Adrian nach kurzem Anklopfen ihr Büro betrat. Sie versuchte, ihre Nervosität über sein so plötzliches Auftauchen zu verbergen, und faltete vorsichtshalber ihre Hände, damit sie nicht hektisch auf die Schreibtischplatte trommelten.

»Gehen Sie mit mir essen?« fragte er vergnügt. »Jetzt, wo ich Ihren Freund Tim Brown mit seiner Angebeteten zusammengeführt habe, habe ich mir ein Abendessen in Ihrer Gesellschaft verdient, finde ich.«

»Was haben Sie gemacht?« fragte sie. Sie verstand kein Wort. Was war denn nun mit der Schwester, die angeblich in Dr. Winters Armen gelegen hatte? Das war doch Tims ›Angebetete‹ – oder etwa nicht?

»Ich erzähle es Ihnen beim Essen«, versprach Adrian. »Oder haben Sie schon eine Verabredung?«

Sie schüttelte den Kopf, und er war erleichtert. Er wußte ja, daß sie diesen Freund hatte, auch wenn sie ihn nie erwähnte. Aber zumindest hatte sie keinen neuen Freund, wie er befürchtet hatte, als er sie neulich in trautem Zusammensein mit Tim Brown gesehen hatte.

Er mußte sich einfach irgendwann einmal trauen, sie nach jenem Mann zu fragen, der sie einmal in seinem Beisein zärtlich ›Schatz‹ genannt und sie auf die Wange geküßt hatte… Aber nicht heute. Er hatte schon zu viele klärende Gespräche hinter sich an diesem Tag.

»Und wo ist Tim?« fragte Stefanie, die noch immer nicht wußte, was sie von alledem halten sollte.

»In der Klinik bei seiner Caroline. Ich habe sie heute vormittag operiert«, erklärte er, als sei damit alles Wichtige gesagt. »Wie sieht’s aus: Können wir nicht sofort gehen? Ich habe einen Bärenhunger.«

Allmählich begann sie zu begreifen, daß Dr. Winter und diese Caroline offenbar doch kein Paar waren, wie Tim noch vor kurzem steif und fest behauptet hatte, und auf einmal erschien

ihr die Welt paradiesisch schön. Hatte sie heute wirklich soviel Streß und Ärger gehabt, daß sie wieder einmal überlegt hatte, ob sie nicht kündigen sollte?

Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Sie strahlte den so überaus attraktiven Mann, der vor ihrem Schreibtisch stand, an und sagte: »Ich auch, Herr Winter. Gehen wir!«

*

Das erste Menü, das Frau Senftleben nach ihrer Krankheit kochte, bestand aus Pilzsuppe, Kaninchenragout und Zitronensoufflé. Sie kochte es eine Woche später für Esther und ihren Bruder – zum Dank für alles, was sie für sie getan hatten.

»Es ist ein Wunder, Frau Senftleben«, stellte Adrian fest, nachdem er auch den letzten Rest des Desserts säuberlich aus dem Schälchen gekratzt hatte, »daß Sie Esthers und meine Kochkünste überlebt haben.«

Frau Senftleben schwankte sichtlich zwischen dem Wunsch, höflich zu sein, und ihrem angebotenen Drang zur Ehrlichkeit. Letzterer trug schließlich den Sieg davon. »Ja«, seufzte sie, »eigentlich finde ich das auch, Adrian. Haben Sie mir nicht am ersten Tag sogar eine Tütensuppe vorgesetzt? Oder war das ein Alptraum, den mir das hohe Fieber beschert hat?«

Adrian senkte beschämt den Kopf, und Esther fing schallend an zu lachen.

»Es stimmt also«, stellte Frau Senftleben fest, und nun funkelten ihre Augen vergnügt. »Mal sehen, ob ich mich bei Gelegenheit revanchieren kann.«

»Bitte nicht, Frau Senftleben. Es kommt bestimmt nie wieder vor, ich verspreche es Ihnen.«

»Das will ich auch hoffen! Und nun erzählen Sie mir bitte, was es Neues gibt.«

Während Esther erzählte, wie sie Tim Brown dazu gebracht hatte, seinen Urlaub abzubrechen und zurück nach Berlin zu fahren, verlor sich Adrian in Gedanken an Stefanie Wagners strahlendes Lächeln, mit dem sie ihm beim Essen gegenübersaß.

Ja, er mußte sie bald nach ihrem Freund fragen, das stand fest. Denn irgendwann würde er es einfach nicht mehr aushalten, ihr gegenüber höfliche Zurückhaltung zu wahren. Irgendwann würde er sie einfach küssen…

Kurfürstenklinik Paket 1 – Arztroman

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