Читать книгу Kurfürstenklinik Paket 1 – Arztroman - Nina Kayser-Darius - Страница 36

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»Schön langsam, Cora!« rief Karl Zapfmann seiner munteren Dackeldame zu. »Du weißt, daß ich nicht mehr der Schnellste bin. Du bist bedeutend jünger als ich, vergiß das bitte nicht!«

Aber Cora war an diesem Morgen nicht zu bremsen. Es war schönes Wetter, die Welt war voller interessanter Hunde, die alle beschnüffelt werden wollten, und auch die anderen Gerüche, die ihr in die feine Nase stiegen, waren so verlockend, daß sie kaum auf ihr Herrchen hörte. Sie war sonst eigentlich sehr gehorsam, aber manchmal ging ihre Lebenslust mit ihr durch. So war es heute, und sie zog den fünfundsiebzigjährigen Karl Zapfmann unerbittlich mal hierhin, mal dorthin.

Er kam bereits ins Schwitzen. Wirklich, was dachte sich dieser Hund, ihn in den frühen Morgenstunden bereits so durch die Gegend zu hetzen? Er hatte noch nicht einmal gefrühstückt, weil Cora es nach einer langen Nacht immer besonders eilig hatte, nach draußen zu kommen. Sie verbanden deshalb ihren ersten Spaziergang des Tages mit einem Besuch beim Bäcker.

Dort waren sie zum Glück schon gewesen, jetzt näherten sie sich langsam wieder dem kleinen Haus, in dem er wohnte. Der neue weiße Anstrich war weithin sichtbar, und er war froh, daß er sich zu der Verschönerungskur entschlossen hatte. Es sah gut aus, und die leuchtendblauen Fensterläden kamen jetzt viel besser zur Geltung. Ja, er liebte sein kleines Haus sehr – sein Haus und seinen Garten, den Cora natürlich als ihr Revier betrachtete. Wehe, ein Unbekannter betrat ihn, dann wurde sie ganz wild und war überhaupt nicht wiederzuerkennen.

Karl Zapfmann sah zum Himmel und fragte sich, ob er wohl auf seiner Terrasse würde frühstücken können. Für diesen Morgen war Regen angekündigt worden – aber vielleicht klappte es ja noch.

Cora lief jetzt immer schneller – allerdings in eine Seitenstraße und keineswegs nach Hause – und er beschloß, nun doch durchzugreifen. Er durfte sie nicht allzu sehr verwöhnen und ihr alles durchgehen lassen. »Cora!« rief er energisch und zog die Leine kürzer. »Ich hab’ dir doch gesagt, daß ich nicht so schnell kann! Hast du das nicht gehört?« Er blieb stehen, und notgedrungen tat Cora es ihm gleich.

In diesem Augenblick kam ein Radfahrer um die Ecke geschossen, der offensichtlich nicht damit gerechnet hatte, zu dieser frühen Stunde in einer ruhigen Wohnstraße von Berlin-Pankow schon jemandem zu begegnen. Er sah Herrchen und Hund erst in letzter Sekunde und versuchte noch auszuweichen, jedoch vergebens, denn er hatte die Leine zwischen beiden übersehen. Er verlor die Kontrolle über sein Rad und stellte sich zu allem Unglück auch noch äußerst ungeschickt an. Er riß also nicht nur Karl Zapfmann von den Beinen, sondern flog auch selbst in hohem Bogen vom Rad.

Laut aufjaulend rannte Cora auf ihr Herrchen zu und leckte ihm das Gesicht. Doch er sagte nichts, sondern stöhnte nur, so benommen war er. Und so lief sie zu dem anderen Mann, der ebenfalls stöhnend auf dem Asphalt lag. Aber auch dieser reagierte nicht auf ihre laut gebellte Aufforderung, schnellstens aufzustehen und sich um ihr Herrchen zu kümmern. Noch ein paarmal lief Cora jaulend und winselnd zwischen den beiden Männern hin und her, dann beschloß sie, Hilfe herbeizubellen.

Und so kam es, daß es in dieser sonst so ruhigen Wohnstraße Berlins an diesem Morgen ausgesprochen unruhig zuging.

*

»Könnte es sein, Adrian, daß du noch nicht ganz ausgeschlafen bist?« erkundigte sich die Internistin Dr. Julia Martensen bei ihrem herzhaft gähnenden Kollegen, dem Unfallchirurgen Dr. Adrian Winter.

Dr. Winter leitete die Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik in Berlin, und Julia Martensen hatte nach längerer Zeit wieder einmal Dienst dort. Meistens arbeitete sie auf der Inneren Station. Sie freute sich auf die Zeit in der Notaufnahme, denn sie arbeitete gern mit Adrian zusammen. Er war viel jünger als sie, und um so mehr bewunderte sie seine Ruhe und Gelassenheit, die er vor allem im Umgang mit Patienten nie verlor. Sie selbst war sehr offen und sagte ihre Meinung immer ziemlich deutlich, was nicht jeder gut vertragen konnte, doch mit Adrian hatte sie deshalb noch nie Probleme gehabt. Er konnte auch mit Kritik gut umgehen, wenn sie ihm einleuchtend erschien.

Er war ein gutaussehender Mann von Mitte Dreißig, während sie selbst sich den Fünfzig näherte. Der Altersunterschied zwischen ihnen hatte ein gutes kollegiales, sogar freundschaftliches Verhältnis nicht verhindern können. Sie wußte das sehr zu schätzen, denn in anderen Abteilungen gab es durchaus Streit und Unstimmigkeiten, die sich negativ auf die Arbeit auswirkten.

»Esther war noch da gestern abend«, antwortete Adrian auf ihre Frage. »Frau Senftleben hatte uns beide zum Essen eingeladen, und du weißt ja, daß die Frau am liebsten die Nacht zum Tage machen würde. Je später es wird, desto munterer wird sie. Und ich habe völlig vergessen, auf die Uhr zu sehen, weil wir uns ausgesprochen gut unterhalten haben. Außerdem hatte sie wieder einmal einen hervorragenden Rotwein.« Er lächelte vielsagend.

Julia erwiderte sein Lächeln. Sie konnte sich den Verlauf des Abends lebhaft vorstellen. Esther war Adrians Zwillingsschwester, die ebenfalls Medizin studiert hatte – sie arbeitete als Kinderärztin an der Charité. Sie war viel quirliger und temperamentvoller als ihr ruhiger Bruder, und sie hatte sicherlich eine Menge zu erzählen gehabt, denn die beiden sahen sich nicht allzu oft. Ihr anstrengendes Berufsleben ließ das einfach nicht zu.

Frau Senftleben war Adrians Nachbarin, eine sehr interessante und liebenswürdige ältere Dame, die für ihr Leben gern kochte.

Adrian aß öfter bei ihr als bei sich zu Hause – und diese Regelung war ihnen beiden nur allzu recht. Carola Senftleben aß lieber in Gesellschaft, und das galt auch für Adrian. Außerdem kochte er nicht besonders gern, aber er liebte die Küche seiner Nachbarin…

»Ich habe also einfach zu wenig geschlafen, mehr gegessen als nötig und wahrscheinlich zwei Gläser Rotwein zuviel getrunken«, stellte Adrian fest. »Aber da ich außerordentlich gut gelaunt ins Bett gegangen bin, geht es mir heute morgen nicht besonders schlecht. Die Müdigkeit verfliegt sicher, sobald hier die übliche Hektik ausgebrochen ist.«

Wie aufs Stichwort erschien Schwester Monika und rief: »Wir bekommen Arbeit! Ein alter Mann ist von einem Radfahrer angefahren worden, beide sind verletzt. Sie werden jeden Augenblick hier sein.«

»Der Radfahrer ist auch verletzt?« vergewisserte sich Adrian, während er bereits mit Julia zu einer der Notfallkabinen lief, um die notwendigen Vorbereitungen zu treffen.

»Ja, er hat den alten Mann zuerst umgefahren und ist dann auch selbst noch in hohem Bogen auf die Straße geflogen. Er muß ziemlich schnell gefahren sein. Außerdem hatte der alte Mann einen Hund bei sich, und der Radfahrer hat die Leine nicht gesehen…«

»Als gäbe es nicht ohnehin schon genug Unfälle«, seufzte

Adrian. »Da müssen die Leute auch noch unvernünftig und unachtsam sein. Hoffentlich sind die Verletzungen nicht so schlimm.«

Die Türen der Notaufnahme wurden aufgestoßen, und zwei Sanitäter brachten im Laufschritt einen älteren Mann herein, der sehr blaß war, aber die Augen geöffnet hielt. »Das ist Karl Zapfmann, der von dem Radfahrer umgefahren worden ist«, berichtete einer der Männer. »Er ist fünfundsiebzig Jahre alt, hat eine Kopfverletzung, Prellungen und Schürfwunden – und eine Hand ist verstaucht, vielleicht auch gebrochen. Wir bringen jetzt noch den Radfahrer, der hat eine leichte Gehirnerschütterung.«

»Wo ist Cora?« fragte der Patient leise. »Bitte, ich muß wissen, wo sie ist!«

Fragend sah Adrian auf die beiden Sanitäter, die sich bereits wieder zum Gehen gewandt hatten. »Cora ist sein Dackel, der so lange gebellt hat, bis jemand Hilfe geholt hat. Er kann von Glück sagen, daß das Tier keine Ruhe gegeben hat. Um die Zeit schlafen viele Leute noch. Das hätte ganz schön lange dauern können, bis ihn jemand gefunden hätte.«

»Und wo ist der Hund jetzt?« fragte Adrian.

»Bei einem von den Nachbarn. Die haben sofort gesagt, sie kümmern sich um ihn, bis Herr Zapfmann wieder nach Hause kommt.«

»Haben Sie das gehört, Herr Zapfmann?« fragte Adrian. »Sie müssen sich um Ihren Dackel keine Sorgen machen. Er ist bei Ihren Nachbarn gut untergebracht.«

Der alte Mann sagte nichts mehr, aber Adrian hatte nicht den Eindruck, daß er wirklich beruhigt war.

Julia Martensen hatte bereits angefangen, den Patienten zu untersuchen. Vorsichtig hatte sie seinen Bauch abgetastet, und jetzt untersuchte sie die Prellungen und Schürfwunden an seinen Armen, während Adrian die Kopfwunde näher betrachtete.

»Die muß genäht werden«, stellte er fest. »Und zur Vorsicht möchte ich, daß wir Ihren Kopf röntgen lassen, Herr Zapfmann. Es kann sein, daß Sie eine leichte Gehirnerschütterung haben, dann müssen Sie ein paar Tage das Bett hüten.«

»Aber…«, begann der Patient, doch Adrian unterbrach ihn mit seinem freundlichsten Lächeln.

»Kein ›aber‹, Herr Zapfmann. Wir sind für Ihre Gesundheit verantwortlich. Wenn wir nicht alles tun, um Ihnen zu helfen, machen wir uns strafbar. Zunächst einmal untersuchen und behandeln wir Sie – und danach denken wir über Cora nach und darüber, ob sie es ohne Sie aushalten kann. In Ordnung?«

Das Lächeln auf Karl Zapfmanns Gesicht war breit und so hell wie die aufgehende Sonne. Dieser junge Arzt war genau richtig, er hatte sofort verstanden, worum er sich Sorgen machte. »In Ordnung, Chef!« sagte er.

Adrian und Julia wechselten einen amüsierten Blick und setzten ihre Arbeit fort, bis der junge Mann hereingebracht wurde, der für den Unfall verantwortlich war.

»Till Kröger, neunzehn Jahre«, sagte einer der Sanitäter. »Kaum sichtbare Verletzungen, aber vermutlich Gehirnerschütterung.«

Sie dankten den Männern, die die Notaufnahme sofort wieder verließen, um zu ihrem nächsten Einsatz zu fahren. Julia ließ Adrian mit Karl Zapfmann allein und kümmerte sich um den neuen Patienten. Er war sehr blaß, sehr still und klagte über heftige Kopfschmerzen.

»Ich fahre mit ihm zum Röntgen, Adrian«, erklärte sie. »Oder brauchst du mich im Augenblick?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, danke, ich komme gut klar.«

Sie schob die Liege mit dem jungen Mann zum Aufzug und verschwand, während Adrian vorsichtig die Wunde an Karl Zapfmanns Kopf behandelte. Seine Müdigkeit war verflogen, genau wie er es vorhergesehen hatte. Jetzt dachte er an nichts anderes mehr als an seine Arbeit in der Notaufnahme.

*

Jessica Stolberg fühlte sich überfordert damit, gleichzeitig die Männer der Umzugsfirma mit den Möbeln in die richtigen Zimmer zu dirigieren und auf ihre kleine Tochter Nicole aufzupassen, die erst drei Monate alt war, aber sie tat ihr Bestes. Wenn Alexander nach seinem allerersten Arbeitstag in Berlin abends nach Hause kam, dann wollte er natürlich nicht, daß überall noch großes Chaos herrschte, aber sie wußte beim besten Willen nicht, wie sie bis dahin auch nur einigermaßen Ordnung schaffen sollte.

Sie hatten nicht früher umziehen können, obwohl es besser gewesen wäre, weil Alex seine Stelle antreten mußte. Doch die Vormieter waren zu spät ausgezogen, und dann hatten die Renovierungsarbeiten länger gedauert als geplant, so daß sich zum Schluß die Termine wirklich gedrängt hatten. Zu guter Letzt war nun also Alex’ erster Arbeitstag zugleich auch ihr Umzugstag – das nannte man schlechte Planung, aber es war einfach nicht zu ändern gewesen.

Jessica kannte niemanden in Berlin, und deshalb mußte sie den Umzug auch allein bewältigen – natürlich nicht ganz allein, denn sie hatten ja eine Firma beauftragt, also mußte sie nichts selbst schleppen. Aber sie allein war dafür verantwortlich, daß später alles an der richtigen Stelle stand. Außer den Männern von der Speditionsfirma war niemand da, der ihr geholfen hätte.

Ja, wenn sie noch in Freiburg gewesen wäre, wo alle ihre Freundinnen und Freunde lebten – da wäre der Umzug zu einem richtigen Fest umgestaltet worden. Aber Freiburg war weit weg, und ihr früheres Leben war es auch. Jetzt war sie eine verheiratete Frau von vierundzwanzig Jahren mit einer kleinen Tochter, und ihre Zukunft lag nicht länger verheißungsvoll vor ihr, sondern eher wie eine dumpfe Bedrohung. Unwillig über sich selbst schüttelte sie den Kopf. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich düsteren Gedanken hinzugeben.

»Halt!« rief sie. »Das Bett bitte in dieses Zimmer!«

»Aber ich dachte, das Schlafzimmer ist dort!« sagte einer der kräftigen Männer, die gerade die Treppe heraufgekeucht waren, verwundert.

»Eines der Schlafzimmer«, erwiderte Jessica kurz angebunden. »Hierher bitte. Ja, ganz da an die Wand. Genauso.«

Von unten drang leises Gegreine nach oben, und sie rannte die Treppe hinunter. »Nicky, was ist denn los?« flüsterte sie. »Nun wein doch nicht schon wieder. Ich weiß ja, daß es heute ein bißchen ungemütlich ist, aber du wirst sehen, wie schön wir es bald haben werden.«

Das Kind beruhigte sich sofort, und sie nahm es auf den Arm. Sacht schaukelte sie es hin und her und ging mit ihm zu einem der Fenster. »Guck doch mal, wie schön es hier ist«, sagte sie. »Eine ganz ruhige Straße mit lauter kleinen Häusern – man glaubt gar nicht, daß wir hier in einer riesengroßen Stadt sind. Und hier ist

alles grün, siehst du das? Es wird dir gefallen, das verspreche ich dir!«

Die kleine Nicole hörte ihr aufmerksam zu und gab leise Schmatzgeräusche von sich. Dann fielen ihr die Augen zu, und sie schlief ein.

»Wohin kommt der Tisch, junge Frau?« erkundigte sich einer der Möbelpacker.

Schweigend wies sie auf das große Wohnzimmer, vor dem sie standen, und er grinste erleichtert, daß sein Kollege und er nicht schon wieder die enge Treppe hochsteigen mußten. »Eine Stunde noch, dann sind wir fertig, schätze ich«, sagte er.

Sie nickte erfreut. Sie sehnte sich danach, allein zu sein mit ihrer kleinen Tochter und ganz in Ruhe durch dieses Haus zu laufen, in dem sie die nächsten zwei Jahre wohnen würde. Zwei Jahre Schonfrist, dachte sie. Und was mache ich dann?

Sie entdeckte einige ältere Leute auf der Straße, die zusammenstanden und über etwas diskutierten, das sie offenbar sehr aufregte. Einer der Männer wies zu einer Ecke und beschrieb mit den Armen eine Kurve bis zu der Stelle, an der er jetzt stand.

Sie fragte sich, was die Leute wohl so erregte, aber zugleich beruhigte es sie, ihnen zuzusehen. Hier ist es auch nicht anders als in Freiburg, dachte sie. Vielleicht habe ich Glück, und die Nachbarn sind nett. Vielleicht wohnt sogar irgendwo eine junge Frau, mit der ich mich anfreunden kann. Das wäre schön.

Jessica sah fast aus wie ein

Teenager, wie sie da am Fenster stand. Ihre dunkelblonden Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, wodurch ihre niedliche Stupsnase noch betont wurde, aber es waren die dunkelblauen Augen, die das feine Gesicht beherrschten. Sie trug Jeans und ein T-Shirt, was ihr bei ihrer schmalen Figur gut stand und viel dazu beitrug, daß sie ganz besonders jung wirkte.

Sie wußte nicht, daß die Leute auf der Straße bereits auf sie aufmerksam geworden waren und sich Gedanken darüber machten, wieso dieses junge Mädchen und das Baby mit den Leuten von der Umzugsfirma ganz allein waren. Wo mochten nur die Eltern sein? Niemand kam auf die Idee, daß ›das junge Mädchen‹ selbst bereits verheiratet und Mutter war.

Jessica betrachtete aufmerksam das Nachbarhaus zur linken. Es gefiel ihr. Es hatte offenbar vor kurzem einen neuen weißen Anstrich bekommen und erinnerte sie an ein kleines Hexenhaus mit seinen blau angestrichenen Fensterläden und dem üppig wuchernden Garten. Der Zaun wies etliche schadhafte Stellen auf, aber sonst war alles äußerst gepflegt und in Ordnung.

Langsam wanderte sie durch den Raum und blickte durch das Fenster auf die gegenüberliegenden Seite. Ihr rechtes Nachbarhaus gefiel ihr weit weniger. Es war von einer sterilen Rasenfläche umgeben, im Garten blühte nichts, es gab nur einige düstere, immergrüne Pflanzen, deren Namen sie nicht kannte, die sie aber sofort mit Friedhöfen in Verbindung brachte.

Sie ertappte sich dabei, daß sie sich die Bewohner der beiden Häuser vorstellte, und sie hoffte sehr, daß die ersehnte junge Frau aus der Nachbarschaft, mit der sie sich anfreunden wollte, in dem weißen Hexenhaus mit den blauen Fensterläden wohnte.

*

»Na, Herr Stolberg, zufrieden mit dem ersten Tag?« fragte Mathias Grüner, Alexander Stolbergs neuer Chef bei der Messegesellschaft.

»Sehr zufrieden, Herr Grüner. Es war ein bißchen viel auf einmal, aber das ist ja normal am ersten Tag, nicht wahr?«

»Sicher. Alles andere wäre ein Wunder.«

»Jedenfalls habe ich den Eindruck, daß mich hier sehr interessante Aufgaben erwarten.«

»Das freut mich, Herr Stolberg. Sie wissen, daß wir große Erwartungen in Sie setzen. Wir brauchen junge Leute wie Sie, die unsere Gesellschaft durch frische neue Ideen voranbringen.«

»Ich werde alles versuchen, um Sie nicht zu enttäuschen, Herr Grüner.«

Der andere lächelte. Der junge Mann gefiel ihm. Wenn er seine Erwartungen erfüllen sollte, konnte viel aus ihm werden. »Haben Sie sich denn schon ein wenig eingelebt in Berlin?«

Alexander verzog das Gesicht und lachte dann. »Eingelebt ist gut. Unser Umzug ist heute – aus verschiedenen Gründen hat es nicht vorher geklappt. Man muß also sagen, schlechter hätte es gar nicht anfangen können. Ich habe das Wochenende in einer Pension verbracht und gehe heute abend zum ersten Mal nach Hause. Zumindest hoffe ich das. Ich hatte noch nicht den Mut, bei der Umzugsfirma anzurufen und zu fragen, ob wenigstens heute alles geklappt hat. Wenn nicht, dann wollte ich es lieber erst nach meinem ersten Arbeitstag erfahren. Meine Frau konnte ich gar nicht erreichen, denn natürlich haben wir auch noch kein Telefon.«

»Du lieber Himmel!« rief sein Chef entsetzt. »Davon wußte ich ja gar nichts. Warum haben Sie denn nichts gesagt? Wir hätten Ihnen sicherlich für eine gewisse Übergangszeit aushelfen können.«

»Vielen Dank, Herr Grüner, das ist sehr nett, aber es ist ja auch so gegangen. Warum soll ich Sie mit unseren Problemen behelligen, wenn wir sie auch selbst lösen können?«

Auch diese Antwort gefiel seinem Chef. Ja, so hatte er sich den neuen Mann vorgestellt. Zupackend und energisch. Zumindest war er nicht gleich bei der ersten Schwierigkeit angelaufen gekommen und hatte gejammert. Um Hilfe hätte er allerdings ruhig bitten können.

»Da kommen Sie ja mitten ins Chaos«, vermutete er.

»Ja, das fürchte ich auch«, meinte Alexander. »Hoffentlich sind die Umzugsleute wenigstens schon verschwunden. Ich hatte letzte Nacht so einen Alptraum. Ich kam nach Hause, und die Männer von der Spedition hatten es sich gerade bei uns gemütlich gemacht. Es sah so aus, als wollten sie gar nicht mehr gehen.«

Sie lachten beide. Dann wurde Alexander wieder ernst. »Meine Frau hat bestimmt allein nicht allzuviel machen können. Ich fürchte, ich werde noch ein bißchen weiterarbeiten müssen, wenn ich gleich nach Hause komme.«

Auch das war ein Punkt, der Herrn Grüner gefiel. Alexander Stolberg war verheiratet, und er und seine Frau hatten sogar bereits eine kleine Tochter. Das deutete auf Verantwortungsgefühl und Stabilität hin. Erneut beglückwünschte er sich selbst dazu. gerade diesen jungen Mann als neuen Mitarbeiter gewonnen zu haben.

»Sie haben doch auch eine kleine Tochter, nicht wahr?«

Alexander nickte, aber er packte jetzt nicht die üblichen Anekdoten aus, mit denen junge Väter ihre Umgebung so gern auf die Nerven gehen.

»Nun«, fuhr Herr Grüner fort, »dann kann ich Ihnen nur wünschen, daß Sie die ersten Tage gut überstehen. In der zweiten Woche sieht es dann sicher schon besser aus. Alles Gute weiterhin, Herr Stolberg.«

»Danke, Herr Grüner, bis morgen.«

Sein Chef eilte davon, und Alexander folgte ihm langsam. Er war mittelgroß mit breiten Schultern und einem kräftigen Körperbau. Seine dichten dunkelblonden Haare legten sich nie so, wie er wollte, aber mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt und versuchte nicht mehr, sie in eine bestimmte Frisur zu zwängen.

Sein Gesicht wirkte gut zu seinem kräftigen Körperbau. Es war kantig und energisch, nur die braunen Augen schienen nicht recht dazu zu passen. Sie waren eigentlich zu sanft für den starken Mann, verliehen ihm aber etwas überaus Anziehendes.

Es zog ihn nicht nach Hause, aber der Grund war nicht das Chaos, das ihn dort vermutlich erwartete. Ob er vielleicht noch irgendwo ein Bier trinken und seinen ersten Arbeitstag überdenken sollte? Die Verlockung war groß, aber er entschied sich dagegen. Das wäre nicht fair Jessica gegenüber. Schließlich hatten sie eine Abmachung miteinander, und er mußte seinen Teil der Abmachung einhalten, ob ihm das nun gefiel oder nicht.

Er straffte sich und ging ein wenig schneller. Na los, Alexander, ermunterte er sich selbst. Fahr nach Hause!

*

»Ich will mit dem Arzt reden, bei dem ich zuerst war!« verlangte Karl Zapfmann störrisch.

Der Assistenzarzt, der im Augenblick Dienst auf der Inneren hatte, unterdrückte einen Seufzer. Er war noch sehr jung und unerfahren und wußte daher nicht, wie man mit schwierigen Patienten am besten umging. Dieser alte Mann jedenfalls würde ihn noch zur Verzweiflung bringen, wenn es so weiterging.

Die Notaufnahme hatte ihn geschickt, er sollte zwei Tage in der Klinik bleiben, damit er sich von dem Unfall, den er an diesem Morgen gehabt hatte, richtig erholte. Viel war ihm nicht passiert, aber immerhin hatte seine Kopfwunde genäht werden müssen, und Aufregung und Schmerzen hatten ihm ganz schön zugesetzt. In seinem Alter war auch ein leichter Unfall nichts, worüber man einfach hinweggehen sollte.

»Ich weiß nicht, wen Sie meinen, Herr Zapfmann!« behauptete er, obwohl er es genau wußte. Es waren Dr. Winter und Dr. Martensen gewesen, die den Patienten in der Notaufnahme behandelt hatten. Dr. Winter hatte in der Zwischenzeit sogar noch einmal angerufen, um sich nach dem Befinden des alten Herrn zu erkundigen, aber er war jetzt nicht mehr zuständig für den Patienten.

»Dr. Winter!« sagte Karl Zapfmann in diesem Augenblick triumphierend. »So heißt er, ich weiß es ganz genau. Ich muß unbedingt mit ihm reden!«

Seine Stimme war immer lauter geworden, die Erregung war ihm anzusehen, und der junge Arzt bekam es mit der Angst. Er wollte nichts falsch machen, und wer konnte schon wissen, ob dieser alte Mann sich nicht vielleicht in einen Erregungszustand hineinsteigerte, der ihm ernstlichen Schaden zufügen würde?

»Ich rufe in der Notaufnahme an!« versprach er hastig. »Beruhigen Sie sich bitte, Herr Zapfmann, es schadet Ihrem Kopf und Ihrem Herzen, wenn Sie sich so aufregen.« Mit diesen Worten floh er aus dem Zimmer und machte sein Versprechen wahr. Zu seiner überaus großen Erleichterung versprach Adrian Winter, innerhalb der nächsten halben Stunde zu kommen.

»Mein Dienst endet sowieso gleich, bestellen Sie Herrn Zapfmann das. Was will er denn, haben Sie eine Ahnung?«

»Nein!« stöhnte der junge Kollege. »Aber er macht mich verrückt, das kann ich Ihnen sagen.«

Vom anderen Ende der Leitung erklang ein vergnügtes Lachen. »Sie brauchen bessere Nerven, scheint mir.«

»Wenn Sie mich fragen, Herr Winter, ich glaube, er will einfach nur hier raus, obwohl ich ihm schon mehrfach gesagt habe, daß das nicht in Frage kommt.«

Das sah sein älterer Kollege nicht ganz so strikt, doch er äußerte sich nicht dazu. »Sagen Sie ihm, er soll sich gedulden. Eine halbe Stunde noch, vielleicht ein kleines bißchen länger, dann bin ich da.«

»Lieber kürzer!« flehte der Assistenzarzt, und wieder erklang das vergnügte Lachen Dr. Winters. Dann wurde aufgelegt.

Erleichtert machte sich der junge Mediziner auf den Weg zu dem störrischen Herrn Zapfmann. Zumindest dieses Problem würde er bald los sein.

*

Die Umzugsleute waren weg. Nicky schlief endlich tief, und Jessica hatte sich voller Energie an die Arbeit gemacht. Ihr Ehrgeiz war, daß Alexander wenigstens einen Teil des Hauses halbwegs eingerichtet vorfinden sollte. Freilich, sobald er ein wenig genauer hinsah, würde er das Chaos überall hervorschimmern sehen, aber sie wollte versuchen, den Eingangsbereich von Umzugskisten freizuhalten und dem Wohnzimmer einen einigermaßen gemütlichen Anstrich zu geben. Sie rannte unermüdlich hin und her, suchte und fand Tischdecken und Kissen, Kerzenleuchter und Kerzen, Blumenvasen und andere Dinge, die nicht unbedingt lebenswichtig waren, aber doch dazu beitragen konnten, einen Raum wohnlich erscheinen zu lassen.

Leider hatte sie keine Blumen, das war schade, denn ein Blumenstrauß hätte das Wohnzimmer gleich viel freundlicher wirken lassen, dachte sie. Dann fiel ihr Blick nach draußen auf den Rosenstock, der in ihrem Vorgarten wuchs, und kurz entschlossen lief sie hinaus, um ein paar Blüten abzuschneiden.

»Sie wohnen jetzt also hier«, sagte eine Stimme von der Straße her zu ihr, und sie fuhr herum. Eine Frau mit schmalen Lippen stand dort und betrachtete sie aufmerksam. Etwas Verbittertes ging von ihr aus.

Jessica wußte nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sie wollte nichts falsch machen, und so reagierte sie höflich, obwohl sie die Frau instinktiv nicht sympathisch fand. »Ja«, antwortete sie zurückhaltend. »Mein Name ist Jessica Stolberg. Wir sind heute eingezogen.«

»Naumann«, sagte die Frau würdevoll. »Ich wohne dort.« Sie wies auf das Nachbarhaus zur rechten, das Jessica nicht gefiel wegen des Rasens, der aussah, als würde er mit der Nagelschere gestutzt, und wegen der Friedhofsgewächse.

Sie nickte. »Dann sind wir jetzt Nachbarn«, sagte sie und wandte sich zum Gehen. »Ich muß weiter aufräumen, mein Mann wird bald kommen.«

Die kleine, dünne Frau auf der Straße zog die Stirn in Falten. »Ihr Mann?« fragte sie. »Sie sehen viel zu jung aus, um schon einen Mann zu haben.«

Das brachte Jessica zum Lachen. »Das sieht nur so aus, Frau Naumann, ich bin schon vierundzwanzig. Ich habe doch sogar schon eine Tochter. Auf Wiedersehen!«

Eilig rannte sie zurück ins Haus, bevor Frau Naumann weitere Fragen stellen konnte. Eine merkwürdige Frau, dachte sie. Eigentlich wirkte sie eben ganz nett, aber dieser schmale, zusammengepreßte Mund ist einfach zu schrecklich. Und dann erst das Haus mit dem furchtbaren Garten!

Sie stellte die Rosen in eine Vase und betrachtete ihr Werk sehr zufrieden. Doch, das Wohnzimmer konnte sich bereits sehen lassen! Dann fiel ihr ein, daß Alexander natürlich Hunger haben würde, wenn er kam, und daß sie bisher überhaupt noch nicht über das Essen nachgedacht hatte – dabei war das doch viel wichtiger als ein aufgeräumtes Wohnzimmer!

Aus mir wird nie eine gute Hausfrau, dachte sie unglücklich, während sie in die Küche stürzte und hastig ihre kargen Vorräte begutachtete. Schließlich entschied sie sich für Kartoffelsalat mit

Würstchen und machte sich mit Feuereifer an die Arbeit.

*

»Ich dachte schon, Sie hätten mich vergessen!« Karl Zapfmanns Stimme war so vorwurfsvoll wie der Blick, mit dem er Adrian Winter empfing.

»Wie kommen Sie denn auf die Idee, Herr Zapfmann? Jemanden wie Sie vergißt man doch nicht!«

Diese Antwort besänftigte den Patienten, und ruhiger fuhr er fort: »Ich kann nicht hierbleiben, Herr Dr. Winter. Es ist wirklich nett hier, und alle kümmern sich sehr gut um mich, aber Cora wird verrückt, wenn ich heute abend nicht nach Hause komme. Ich kenne sie. Das kann ich ihr nicht antun.«

»Cora ist Ihre Hündin, nicht wahr?«

»Der klügste Dackel, den es gibt«, erwiderte Herr Zapfmann voller Stolz. »Und sehr empfindsam. Sie weiß schließlich, daß mir etwas passiert ist, und niemand wird ihr gesagt haben, daß sie sich keine Sorgen zu machen braucht. Also wird sie verrückt sein vor Kummer und Sorge.«

Es gelang Adrian, völlig ernst zu bleiben. »Wie hätte man es ihr auch sagen sollen?« erkundigte er sich.

»Oh, sie versteht durchaus, was man ihr sagt, wenn man sich nur etwas Zeit nimmt«, versicherte sein Patient. »Meine Nachbarn sind sehr nette Leute, aber sie haben keine Ahnung von Hunden, Herr Dr. Winter.«

»Gibt es nicht noch mehr Nachbarn?« erkundigte sich der Arzt. »Vielleicht gibt es ja andere, die mehr von Hunden verstehen?«

»Das Haus auf der anderen Seite steht noch leer«, berichtete Herr Zapfmann. »Und die Leute von gegenüber sind zu alt, um für einen temperamentvollen Dackel zu sorgen. Nein, wirklich, ich muß nach Hause, Herr Dr. Winter.«

Adrian erkannte die Notlage, in der sich der alte Herr befand, und er sagte: »Ich rede mit den Kollegen. Aber damit eines klar ist: Sie gehen auf eigene Verantwortung, und Sie lassen sich jeden Tag hier blicken, bis wir völlig zufrieden mit Ihrem Zustand sind, verstanden?«

»Verstanden, Chef.« Karl Zapfmann lächelte sein sonnigstes Lächeln. »Ich wußte gleich, daß ich mit Ihnen reden muß, der andere macht sich ja vor Angst fast in die Hose, wenn er was entscheiden soll.«

Adrian sah ihn streng an. »Das war jetzt aber nicht nett, Herr Zapfmann. Der Kollege ist noch sehr jung, und ich finde es richtig, daß er vorsichtig ist.«

»Tut mir leid«, meinte sein Patient zerknirscht. »Ich wollte nicht schlecht über ihn reden, aber er ist wirklich schon immer ganz blaß geworden, wenn ich wieder was von ihm wollte.«

»Sie sind ihm also den ganzen Tag auf die Nerven gegangen?« erkundigte sich Adrian.

»Na ja«, Herr Zapfmann genierte sich sichtlich, »ein bißchen schon, glaube ich. Ich dachte ja, dann läßt er mich vielleicht endlich gehen, weil er froh ist, mich loszuwerden. Aber irgendwie hat das nicht so geklappt, wie ich gehofft hatte.«

»Natürlich nicht!« Irgendwie schaffte Adrian es, noch immer mit strenger Stimme zu sprechen, obwohl ihm das Lachen in der Kehle saß. Der alte Mann gefiel ihm. Er gefiel ihm sogar sehr. »Wir entlassen unsere Patienten doch nicht, weil wir sie loswerden wollen, sondern weil wir glauben, daß sie wieder gesund genug sind, um nach Hause zu gehen. Bei Ihnen sind wir der Ansicht, daß es besser wäre, wenn Sie noch hierblieben, aber ich sehe ein, daß die Sache mit Cora ein bißchen schwierig zu behandeln ist.«

Er stand auf. »Ich rede jetzt mit den Kollegen, und bis wir eine Entscheidung getroffen haben, bleiben Sie schön in Ihrem Bett liegen, Herr Zapfmann! Versprochen?«

»Versprochen«, antwortete der Patient so lammfromm, daß Adrian sich heftig auf die Lippen beißen mußte, um nicht doch noch in Gelächter auszubrechen, bevor er das Zimmer verlassen hatte.

Er war tatsächlich der Ansicht, daß man Herrn Zapfmann entlassen konnte. Der alte Herr war offenbar sehr gut in der Lage, auf sich selbst aufzupassen, und er würde bestimmt vorsichtig sein, wenn man ihm einschärfte, daß das notwendig war. Es schien ihm auf jeden Fall besser zu sein, wenn sich Herr Zapfmann um seine Hündin kümmern konnte, anstatt sich vielleicht die ganze Nacht Sorgen um sie zu machen. Das würde ihn nur unnötig aufregen und seiner Gesundheit weit mehr schaden als eine falsche Bewegung.

*

Alexander entschied sich, den Wagen auf der Straße stehen zu lassen. Zwar hatte das Haus auch eine Garage, aber er war nicht sicher, ob sie überhaupt leer war, und er war zu faul, um nachzusehen. Langsam ging er auf die Haustür zu, während er alles auf sich wirken ließ. Das Haus war klein, aber hübsch, ebenso wie der Garten. Er hatte es durch die Vermittlung seines Arbeitgebers bekommen, sonst wäre es ihm niemals gelungen, ein solches Schmuckstück in so kurzer Zeit zu finden – und dann noch in einer so ruhigen Straße. Es schien wie gemacht zu sein für eine kleine Familie…

An dieser Stelle befahl er seinen Gedanken, eine andere Richtung einzuschlagen, denn die vorherige war gefährlich, und er wußte, was geschah, wenn er diesen Fehler machte. Das war ihm schon einige Male passiert, und auf eine Wiederholung legte er besonders heute keinen Wert. Er brauchte seine Kräfte, denn sein neuer Job würde ihm viel abverlangen, und er wollte das Vertrauen, das man in ihn setzte, rechtfertigen. Er konnte sich jetzt nicht mit quälenden Gedanken beschäftigen, die sowieso am Ende zu nichts führten.

Er schloß auf und sah sich unvermittelt Jessica gegenüber, die ihn erwartungsvoll anblickte. »Hallo!« sagte er. »Du siehst munterer aus, als ich dachte nach einem solchen Tag.«

»Ich seh’ vielleicht so aus«, erwiderte sie, »aber ich bin’s nicht. Nicky hat dauernd geweint, solange die Umzugsleute noch im Haus waren, und ich konnte nichts Richtiges machen, weil ich denen immer im Weg stand. Aber seit sie weg sind, ist es besser. Hast du Hunger?«

»Großen sogar.«

»Ich hab’ Kartoffelsalat und Würstchen gemacht. Wie war dein erster Arbeitstag?«

»Ganz gut. Hätte schlimmer sein können. Ich wasch’ mir nur schnell die Hände.«

Jessica nickte und lief in die Küche. Alexander stellte seine Tasche ab, verschwand kurz im Bad und ging dann ins Wohnzimmer. »Hier sieht’s ja schon richtig gut aus!« staunte er.

»Findest du?« Sie lächelte schüchtern und errötete. »Ich habe versucht, wenigstens einen Raum ein wenig gemütlich zu machen. Oben ist es noch ziemlich schrecklich, das kannst du dir ja vorstellen.«

Er nickte, und dann setzten sie sich zum Essen. Beide schwiegen eine ganze Weile, bis Alexander sagte: »Schmeckt gut, wirklich.«

»Freut mich.«

Wieder breitete sich Schweigen aus, und sowohl Jessica als auch Alexander suchten verzweifelt nach einem weiteren Gesprächsthema, über das sie sich möglichst unbefangen unterhalten konnten. Doch ihnen fiel einfach nichts ein, und so beendeten sie die Mahlzeit ohne ein weiteres Wort gewechselt zu haben.

Danach stand Alexander auf und sah sich um. »Was soll ich tun?« fragte er. »Wobei brauchst du am dringendsten Hilfe?«

»Lampen anschließen, Fernseher und Stereoanlage aufstellen«, antwortete sie prompt. »Und die Gardinen sollten wir schnell aufhängen, sonst nehmen sämtliche Nachbarn hautnah an unserem Leben teil.«

Daran konnten sie nun wirklich kein Interesse haben, und so nickte Alexander bereitwillig. »Dann mal los!« sagte er. »Laß uns heute abend noch so viel wie möglich erledigen.«

Sie waren jetzt beide erleichtert, daß es etwas gab, das sie gemeinsam tun konnten. So mußten sie einander nicht länger stumm gegenübersitzen und sich anschweigen, weil sie nicht wußten, was sie sagen sollten.

Wenn man sie jetzt betrachtete, wie sie eifrig durch die Räume liefen und eine Arbeit nach der anderen erledigten, dann hätte man sie leicht für ein ganz normales junges Ehepaar halten können.

*

Karl Zapfmann hatte sich das erste Taxi seines Lebens geleistet, und als es vor seinem schneeweiß getünchten Haus mit den blauen Fensterläden hielt, da war es, als hielte die ganze Straße den Atem an. Er bezahlte und stieg langsam aus, dann atmete er tief durch. »Ich bin wieder da!« sagte er laut in die Abendstille hinein.

Das Taxi fuhr weiter, und er ging zur Haustür seiner Nachbarn und klingelte. Als sie geöffnet wurde, war die stille Straße im nächsten Augenblick von einem so wilden Freudengebell erfüllt, daß sich bald darauf ein paar Fenster öffneten, weil die Menschen sehen wollten, was in ihrer Straße nun schon wieder passiert war. Der Tag war ja an Ereignissen auch bisher schon nicht arm gewesen.

In Windeseile sprach sich herum, daß ›der Karl‹ wieder nach Hause gekommen war, und mehrere Nachbarn kamen aus ihren Häusern, um ihn zu begrüßen.

»Wir dachten, es hätte dich schlimmer erwischt!« sagte einer.

»Das dachten die Ärzte auch«, antwortete Karl Zapfmann, »aber ich habe gesagt, meine Cora versteht die Welt nicht mehr, wenn ich heute abend nicht nach Hause komme – und einer von denen war tatsächlich vernünftig und hat mich entlassen. Aber ich muß morgen und übermorgen noch mal in die Klinik, damit ganz sicher ist, daß nichts zurückbleibt.«

»Und der andere? Was ist denn mit dem, der dich umgefahren hat?«

»Gehirnerschütterung«, antwortete Karl Zapfmann lakonisch. »Der hat keinen Mucks mehr von sich gegeben, kann ich euch sagen. Ganz still muß er liegen.«

»Geschieht ihm völlig recht. Was muß er hier auch so rasen! Was ist mit deinem Kopf, Karl? Und mit deiner Hand?«

»Die Wunde am Kopf mußte genäht werden«, erzählte Karl. »Mir tut alles weh, aber gebrochen ist nichts. Blutergüsse und Prellungen habe ich, mehr nicht. Die Hand ist verstaucht, aber nur ein bißchen.«

Cora tanzte jaulend um ihr Herrchen herum, als könne sie seine Rückkehr noch immer nicht fassen. Er beugte sich zu ihr, kraulte ihr den Kopf und sagte zärtlich: »Wir gehen ja schon, Cora. Ist ja gut, komm mit!«

Laut bellend stürzte Cora voran, und Karl folgte ihr. »Bis morgen«, sagte er zu den anderen. »Jetzt muß ich erst mal ins Bett, ich habe den Ärzten versprochen, vernünftig zu sein.«

»Bis morgen!« riefen ihm die Nachbarn nach, erleichtert da­rüber, daß die Fast-Tragödie, die sich auf ihrer Straße abgespielt hatte, doch noch einmal glimpflich verlaufen war.

Als Karl einige Schritte gegangen war, blieb er stehen und drehte sich um. »Sind da neue Leute eingezogen?« fragte er und wies auf das Haus neben seinem. »Heute morgen stand es noch leer.«

»Kurz nachdem dich der Krankenwagen weggebracht hatte, kamen die Umzugsleute. Eine junge Familie mit einem Baby. Die Frau sieht aus, als wär’ sie selber noch ein Kind. Aber sie ist schon vierundzwanzig hat die Naumann gesagt.«

Karl Zapfmann lächelte. »Ihr seid ja schon wieder bestens informiert«, stellte er fest. »Schön, daß das Haus nicht mehr leersteht. Ich hab’ gern nette Leute neben mir wohnen.«

Pfeifend setzte er seinen Weg fort, öffnete das Törchen zu seinem Vorgarten, vor dem Cora aufgeregt bellend stand, und verschwand.

*

»Was ist denn da draußen bloß los?« wunderte sich Alexander, der mit Jessica gerade dabei war, die Gardinen aufzuhängen. »Das ist ja ein richtiger Aufstand – alle stehen um einen herum, der mit dem Taxi gekommen ist, und der Hund spielt verrückt. Jetzt geht er weg, der Mann mit dem Hund.«

Auch Jessica sah nun aus dem Fenster. »Tagsüber haben schon mal ein paar von den Nachbarn zusammengestanden und aufgeregt diskutiert«, erzählte sie. »Vielleicht ist dort etwas passiert. Der mit dem Hund war jedenfalls nicht dabei. Guck mal, er wohnt neben uns.«

»Hoffentlich sind das nicht lauter Leute, die nur hinter anderen herspionieren«, knurrte Alexander. »Irgendwie kommt es mir so vor, als wären wir auf dem Dorf gelandet. Wenn ich bedenke, daß wir in Berlin sind – wirklich kaum zu glauben.«

»Mir gefällt es hier«, gestand Jessica freimütig. »Es ist doch schön, daß die Leute miteinander reden, findest du nicht?«

»Schön«, gab er zu. »Aber es kommt auch noch darauf an, worüber sie reden, finde ich.«

»Ja, sicher«, erwiderte sie unsicher. »Aber es sieht doch recht gemütlich aus, wie sie alle dastehen und diskutieren. Jedenfalls scheinen sie sich zu kennen, und sie haben sich auch etwas zu erzählen. Ich dachte immer, in einer Großstadt geht es anonym und kalt zu. Aber hier ist es ein bißchen wie… zu Hause.«

Alexanders Gesicht wurde weich. »Hast du Heimweh?«

Sie nickte. »Ich bin in Freiburg aufgewachsen, alle meine Freunde leben dort, das weißt du doch. Aber darüber müssen wir nicht reden. Jetzt sind wir hier, und ich bin froh darüber. Wirklich, Alex. Ich werde dir nie vergessen, daß du mir geholfen hast.«

Sein Gesichtsausdruck wurde abweisend. »Schon gut. Sollen wir weitermachen?«

»Ja«, antwortete Jessica. Sie blickte auf das kleine weiße Hexenhaus und wußte nicht genau, ob sie sich freuen oder enttäuscht sein sollte. Eine junge Frau wohnte dort also nicht, sondern ein alter Mann mit einem Hund. Immerhin schien es ein sehr beliebter alter Mann zu sein, danach zu urteilen, wie er von den anderen Leuten in der Straße empfangen worden war. Vielleicht war er ja ganz besonders nett? Sie unterdrückte einen Seufzer. Es würde sicher einige Zeit dauern, bis sie sich hier heimisch fühlte.

Im Haus nebenan gingen jetzt nacheinander mehrere Lichter an, und sie konnte den alten Mann sehen, der langsam durch die Räume ging, während er offensichtlich mit seinem Hund sprach. Er hatte die Fensterläden noch nicht geschlossen, und so hatte sie völlig ungehinderten Einblick in das Hexenhaus. Es sah innen so gemütlich aus wie außen, und sie stellte fest, daß sie jetzt gern geweint hätte.

Dann merkte sie, daß Alexander sie fragend ansah, und sie riß sich zusammen. »Entschuldige«, sagte sie leise, »ich war gerade mit meinen Gedanken woanders. Was hast du gesagt?«

»Ob wir noch etwas tun müssen, wenn wir die Gardinen aufgehängt haben. Offen gestanden bin ich ziemlich müde, und ich möchte morgen gern fit sein – der Job ist anstrengend, ich werde nicht lange Schonfrist haben, weil ich neu bin.«

»Wir können danach aufhören. Morgen abend sieht es hier schon ganz anders aus, du wirst sehen. Dein Bett habe ich dir bereits gemacht, und ein paar von deinen Sachen hängen schon im Schrank, ich hoffe, für morgen ist alles dabei. Die restliche Kleidung habe ich noch nicht wiedergefunden.«

»Danke«, sagte er, mehr nicht. Dann arbeiteten sie schweigend weiter.

*

Frau Senftleben, Adrians Nachbarin, hatte ihm einen Zettel an die Wohnungstür gehängt mit der Aufforderung, mit ihr gemeinsam zu Abend zu essen. Als er ihn las, lächelte er vergnügt, verschwand kurz in seiner Wohnung, um sich ein wenig frisch zu machen, und klingelte gleich darauf an der Nachbartür.

Als Carola Senftleben öffnete, warf sie ihm einen prüfenden Blick zu, dann erklärte sie: »Sie machen einen entspannten Eindruck, Adrian, also kann Ihr Arbeitstag nicht allzu schlimm gewesen sein. Ich habe mir schon Sorgen gemacht, weil es ja gestern doch etwas länger geworden ist. Hinterher habe ich mir Vorwürfe gemacht, daß ich Sie und Ihre Schwester so lange aufgehalten habe.«

»Wieso?« fragte er. »Wir haben uns doch mit dem größten Vergnügen so lange aufhalten lassen. Es war ein wunderbarer Abend, Frau Senftleben, und ich frage mich, womit ich es eigentlich verdient habe, daß Sie mich heute schon wieder einladen.«

»Zum Reste-Essen«, erwiderte sie trocken. »Also, Ihr Tag war nicht allzu schlimm heute?«

»Er war sogar recht angenehm. Ich hatte einen Rentner zu versorgen, der von einem Radfahrer umgefahren worden war.«

»Kommen Sie endlich herein!« forderte seine Nachbarin ihn auf und lief zurück in ihre Küche. »Und was ist daran angenehm? Der arme Mann war doch sicher verletzt?«

»Natürlich«, gab Adrian zu. »Er sollte ein paar Tage bei uns bleiben, zur Vorsicht, weil er eben schon ziemlich alt ist.«

»Und?« erkundigte sich Frau Senftleben aufmerksam, während sie die Reste des köstlich duftenden Rinderbratens aus dem Backofen holte. Sie liebte es, wenn ihr Nachbar ihr von seiner Arbeit erzählte – so wie er es liebte, bei ihr in der Küche zu sitzen. Carola Senftleben war eine sehr selbständige, ungewöhnliche ältere Dame von sechsundsechzig Jahren, die am Leben Ihres Nachbarn regen Anteil nahm, wobei sie aber stets genügend Distanz wahrte, die ihr auch selbst sehr wichtig war.

»Er wollte nicht«, erzählte

Adrian. »Er wollte unbedingt nach Hause. Und wissen Sie, Frau Senftleben, was er gemacht hat, um zu erreichen, daß er entlassen wird? Er hat den jungen Kollegen, der Dienst hatte, unablässig auf Trab gehalten, weil er dachte, der entläßt ihn, wenn er ihm nur genug auf die Nerven geht.« Adrian lachte bei der Erinnerung an sein Gespräch mit Karl Zapfmann.

»Warum wollte er denn unbedingt nach Hause?« erkundigte sich Frau Senftleben stirnrunzelnd, während sie das Essen appetitlich auf dem Tisch anrichtete.

»Wegen seiner Hündin. Er hat mir erklärt, daß sie die Welt nicht mehr versteht, wenn er nicht nach Hause kommt. Schließlich habe ich nachgegeben und mich für seine vorzeitige Entlassung eingesetzt. Sie hätten sehen sollen, wie glückstrahlend er sich in das Taxi gesetzt hat, das wir für ihn gerufen haben.«

»Greifen Sie zu, Adrian!« ermahnte ihn seine Nachbarin.

Das ließ Adrian sich nicht zweimal sagen, er war ausgesprochen hungrig, und er wußte ja, wie gut seine Nachbarin kochte.

Frau Senftleben fuhr fort: »Und was wird jetzt aus dem Mann? Wenn es ihm zum Beispiel doch schlechter geht, als er zunächst dachte?«

Adrian schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß man sich um ihn Sorgen machen muß. Es war eher eine Vorsichtsmaßnahme, ihn noch zur Beobachtung dazubehalten. Er wird zurechtkommen, da bin ich sicher. Außerdem habe ich ihn dazu verdonnert, sich in den nächsten Tagen zur Kontrolle in der Klinik blicken zu lassen, bis wirklich kein Zweifel mehr daran bestehen kann, daß er völlig wiederhergestellt ist.«

»Es wäre sicher auch nicht gut für ihn gewesen, wenn er ständig an seine Hündin gedacht hätte«, meinte Frau Senftleben nachdenklich.

»Genau das habe ich mir auch gesagt.« Er lächelte seine Nachbarin strahlend an. »Sie denken wie ich, Frau Senftleben. Übrigens, habe ich Ihnen schon gesagt, daß dieser Rinderbraten ganz wunderbar schmeckt?«

»Gesagt haben Sie es heute noch nicht«, erwiderte sie trokken. »Aber gestern. Außerdem merke ich es an Ihrem regen Appetit und freue mich sehr darüber.«

Adrian spielte den Zerknirschten. »Ich esse immer zuviel, wenn ich bei Ihnen bin, Frau Senftleben.«

»Ich wäre beleidigt, Adrian, wenn es anders wäre! Haben Sie heute etwas von Ihrer Schwester gehört?«

Adrian schüttelte den Kopf. »Nein, sie hat wieder mal viel um die Ohren.«

Frau Senftleben nickte. So war das eben, wenn man jung war – und nicht nur dann. Sie hatte viel Verständnis für Leute, die ›viel um die Ohren‹ hatten, schließlich war es bei ihr selbst nicht anders, obwohl sie sich unaufhaltsam den Siebzig näherte. Langeweile war für sie ein Fremdwort, und es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, sich darüber zu beschweren, daß sie älter wurde und nicht mehr so viel unternehmen konnte wie früher. Sie war äußerst aktiv und neugierig auf das Leben, und das war es wohl auch, was Adrian so an ihr gefiel.

Sie aßen schweigend weiter. Auch das war etwas, was sie beide aneinander zu schätzen wußten. Sie mußten nicht immer reden, wenn sie zusammen waren. Das Schweigen zwischen ihnen hing nicht lastend im Raum, sondern es war eine friedliche Stille, die ihnen beiden angenehm war.

Schließlich lehnte sich Adrian zurück und sagte: »Mehr geht einfach nicht ’rein, Frau Senftleben. Beim besten Willen nicht, obwohl ich es sehr bedaure.«

Sie lächelte und schenkte ihm noch ein Glas Wein ein. »Dann trinken wir auf den angenehmen Tag mit Ihrem Rentner, der nach Hause zu seinem Dackel wollte!«

Sie lachten beide, und der angenehme Tag fand einen ebenso angenehmen Abschluß.

*

Alexander hatte das Haus an diesem Morgen schon sehr früh verlassen, und nun stand Jessica mit ihrer Tochter auf dem Arm inmitten von unausgepackten Umzugskisten und Gegenständen, die ihren Platz im Haus noch nicht gefunden hatten. Sie machte ein ratloses Gesicht. Wo sollte sie bloß anfangen?«

Gestern abend hatte sie noch gedacht, sie würde an diesem Tag sicher ein großes Stück weiterkommen, aber jetzt erschien es ihr so viel, was es noch zu tun gab, daß sie kurz davor war zu verzagen. Wenn sie nur nicht ganz allein gewesen wäre! Denn Nicky verlangte auch nach ihrer Aufmerksamkeit, und sie konnte das Kind nicht einfach schlafen legen, wenn es wach und munter war und unterhalten werden wollte.

Während sie noch darüber nachdachte, womit sie am besten anfangen und wie sie ihre Tochter beschäftigen sollte, ohne sich ständig um sie zu kümmern, klingelte es an der Haustür. Das kam so unerwartet, daß sie förmlich zusammenfuhr. Sie bahnte sich vorsichtig einen Weg zur Treppe, lief hinunter und öffnete.

Sofort erkannte sie den alten Herrn mit dem Dackel, der ein paarmal bellte, als er sie und Nicky sah. Es war ihr Nachbar aus dem Hexenhaus.

»Sei ruhig, Cora!« sagte er streng. »Das sind unsere neuen Nachbarn, das habe ich dir doch schon erklärt.«

Tatsächlich war der Dackel sofort still, ließ aber Jessica und ihre Tochter nicht aus den Augen.

»Guten Morgen, ich bin Karl Zapfmann und wohne in dem Haus neben Ihnen«, erklärte der alte Herr freundlich. »Und diese vorwitzige junge Dame da unten ist Cora. Sie muß sich erst an Sie gewöhnen, aber ich bin sicher, Sie werden sich bald mit ihr anfreunden. Am Anfang fremdelt sie immer ein bißchen.«

Er zwinkerte ein wenig, und Jessica lächelte unwillkürlich.

»Ich wollte mich nur gleich mit Ihnen bekannt machen«, fuhr ihr Nachbar fort, »und Ihnen sagen, wie froh ich bin, daß das Haus endlich wieder bewohnt ist. Und ganz besonders freue ich mich, daß es sich um junge Leute handelt, die eingezogen sind. Hier wohnen nämlich viel zu viele Alte, wissen Sie!«

Er lächelte verschmitzt, und auf einmal fühlte sich Jessica viel besser. »Kommen Sie bitte herein, Herr Zapfmann«, sagte sie. »Ich bin Jessica Stolberg, und das ist meine Tochter Nicole. Wir sagen immer Nicky zu ihr.«

»Guten Tag, Nicky«, meinte Karl Zapfmann freundlich und kitzelte das Baby ein bißchen unter dem Kinn. Nicky schenkte ihm dafür ein strahlendes zahnloses Lächeln.

»Was für ein aufgeschlossenes Baby!« sagte er entzückt. »Wir wollen Sie aber nicht stören, Frau Stolberg. Sie haben ja sicher jede Menge zu tun.«

»Das ist gerade mein Problem«, gestand Jessica. »Ich weiß überhaupt nicht, wo ich anfangen soll, und Nicky ist so munter, sie will unterhalten werden, da kann ich sie ja nicht einfach wieder hinlegen und Kisten auspacken.«

»Das sehe ich ein«, meinte Karl Zapfmann. »Vielleicht kann ich Ihnen sogar etwas helfen. Anstrengen darf ich mich allerdings nicht, ich hatte gestern nämlich einen Unfall.«

Er folgte Jessica ins Haus und erzählte ihr in wenigen Worten, was sich am Vortage ereignet hatte.

»Wir haben uns schon gedacht, daß etwas passiert sei«, meinte Jessica, als er seinen Bericht beendet hatte. »Es war ja ein richtiger Auflauf auf der Straße, als Sie zurückgekommen sind, Herr Zapfmann.«

»Ja, wir hängen hier alle sehr aneinander«, erklärte er schmunzelnd. »Wissen Sie was, Frau Stolberg? Ich setze mich da in den Sessel, Sie geben mir Ihre Tochter, die mich ja offenbar schon ins Herz geschlossen hat – und dann können Sie räumen, soviel Sie wollen. Was halten Sie davon?«

»Das wäre natürlich wunderbar«, antwortete Jessica. »Aber wird Ihnen das denn nicht zuviel? Und haben Sie nichts Besseres vor?«

»Ich?« lachte er. »Ich bin Rentner und habe keine Verpflichtungen mehr. Halt, das stimmt nicht ganz. Ich muß später noch in die Klinik – die wollten mich ja gestern zuerst gar nicht gehen lassen. Mann, haben die sich angestellt! Also mußte ich ihnen versprechen, daß ich jeden Tag vorbeikomme, bis sie mit meinem Zustand zufrieden sind.«

»Soll ich uns vielleicht zuerst mal einen Kaffee kochen?« schlug Jessica vor. »Und dann mache ich mich an die Arbeit – wenn Sie Ihr Angebot aufrechterhalten.«

»Aber ganz bestimmt tue ich das!« erwiderte Karl Zapfmann, streckte die Arme nach Nicky aus und ließ sich mit ihr zusammen in einen Sessel sinken. Cora beobachtete ihn aufmerksam. Als sie feststellte, daß ihr Herrchen offenbar die Absicht hatte, für eine Weile hierzubleiben, ließ sie sich am Fuße des Sessels nieder, legte den Kopf auf die Vorderpfoten und schloß die Augen.

Jessica verschwand in der Küche. Wie freundlich die Welt doch auf einmal war!

*

Alexanders Vormittag war sehr anstrengend, denn ihm wurde so viel erklärt, daß ihm der Kopf schwirrte. Außerdem hatte er noch immer nicht alle neuen Kollegen kennengelernt, und obwohl er über ein gutes Personen und Namensgedächtnis verfügte, verlor er allmählich die Übersicht. Aber er versuchte, sich nichts davon anmerken zu lassen, denn er wollte sich gerade in den ersten Tagen natürlich von seiner besten Seite zeigen.

Er war sehr froh, als es endlich hieß, man könne jetzt eine Stunde Pause machen. Er war müde und hungrig und hatte bereits beschlossen, das Gebäude zu verlassen, um frische Luft zu schnappen und ein wenig allein zu sein. Genau das tat er dann auch. Er aß eine Kleinigkeit in einem nahegelegenen Bistro, trank noch einen Kaffee und lief danach durch eine kleine Grünanlage. Er fühlte sich bereits viel besser.

Als sein Handy klingelte, verzog er ärgerlich das Gesicht. Eine blöde Erfindung, wirklich! Sehr praktisch natürlich und in vielen Notlagen auch äußerst hilfreich – aber wenn man für eine Weile allein und ungestört sein wollte, dann war es eine Plage. Natürlich hätte er es abstellen können, aber das mochte er nicht riskieren. Und er wollte später auch nicht stundenlang die gespeicherten Nachrichten abhören, also blieb ihm nichts anderes übrig, als sich zu melden. Außerdem konnte es sich ja tatsächlich um eine Notlage handeln…

»Ja, hallo?« sagte er, und er hörte selbst, wie unwillig seine Stimme klang.

»Alex? Hier ist Ben. Störe ich gerade?«

Ben – sein früherer bester Freund. Der hatte ihm wirklich gerade noch gefehlt! Und wieso tauchte er ausgerechnet jetzt wieder aus der Versenkung auf? Er hatte seit Monaten nichts mehr von ihm gehört.

»Nicht direkt. Was gibt’s?« fragte er knapp.

»Hör mal, ich möchte einfach mit dir reden. Du weißt schon, weshalb! Es tut mir wirklich leid, daß die Sache so gelaufen ist, aber…«

»Wenn es dir leid tut, warum ist sie dann so gelaufen?« fragte Alexander kalt. »Du hättest dich doch nur anders verhalten müssen.«

»Du weißt doch, wie das ist, das muß ich dir schließlich nicht erklären! Aber ich finde, das ist kein Grund, daß unsere Freundschaft daran kaputtgehen muß, oder? Wir waren so lange befreundet, Alex!«

»Ja«, sagte Alex langsam, »das stimmt. Und weißt du was? Darüber wundere ich mich am allermeisten.«

»Was soll das heißen? Du willst doch jetzt nicht wegen dieser blöden Sache mit Jessica einfach alles beenden, oder? Ich meine, wir haben so vieles gemeinsam, du und ich. Denk doch mal daran, was wir alles zusammen gemacht haben.«

»Ich dachte auch immer, daß wir vieles gemeinsam hätten. Aber ich glaube, ich habe mich einfach geirrt.«

Ben sprach hastig weiter. »Ich war in den USA in den letzten Monaten und weiß überhaupt nicht, wie die Sache ausgegangen ist – deshalb rufe ich auch an.«

Das war nun wirklich die Höhe, und Alexander spürte, wie die Wut in ihm aufstieg, die er schon lange gegen Ben hatte. Zu Beginn hatte er Erklärungen für dessen Verhalten gesucht, aber im Grunde hatte er es immer gewußt. Ben war charmant, aber er hatte kein Gewissen.

»Ach, du weißt nicht, wie die Sache ausgegangen ist? Du hattest es ja auch furchtbar eilig, dich aus dem Staub zu machen, und dann wußte merkwürdigerweise niemand, wo du eigentlich abgeblieben warst. Ein elender Feigling, das bist du. Und jetzt willst du mir erzählen, daß du nicht weißt, was passiert ist? Irgend jemand hat es dir doch garantiert längst erzählt. Du hast schon mal besser gelogen, Ben!«

Alexanders Stimme war immer ruhiger geworden. Er wußte, was er sagen mußte – er hätte es längst gesagt, wenn er die Möglichkeit dazu gehabt hätte.

Aber Ben machte noch einen weiteren Versuch, ihn zu besänftigen. »Ich verstehe ja, daß du sauer bist, Alex«, sagte er mit der gleichen beschwörenden Stimme wie zuvor. »Komm schon, jeder macht mal einen Fehler, du bist doch auch kein Heiliger…«

Doch Alexander hatte nicht die Absicht, sich Sand in die Augen streuen zu lassen. Unbeirrt fuhr er zu sprechen fort, als habe Ben überhaupt nichts gesagt. »Du bist einfach abgehauen, hast getan, als ginge dich das alles nichts an. Wo warst du denn das ganze letzte Jahr? Wie vom Erdboden verschluckt. Daß du in den USA warst, höre ich jetzt zum ersten Mal, denn gemeldet hast du dich ja bei niemandem!«

Nun hörte man seiner Stimme die Erregung doch an, unwillkürlich sprach er lauter. »Es war dir völlig gleichgültig, was du angerichtet hattest. Jetzt jedenfalls braucht dich auch niemand mehr, laß dir das gesagt sein. Und mich brauchst du nicht noch einmal anzurufen. Für mich bist du gestorben, Ben. Endgültig.« Er drückte auf die Taste, die das Gespräch beendete, und verstaute das Handy wieder in seiner Tasche.

Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, daß es Zeit wurde zurückzugehen. Schade, dachte er, ich hätte mich doch nicht melden sollen. Aber vielleicht war es gut so. Das alles mußte ja mal gesagt werden.

Mit schnellen Schritten kehrte er zurück an seinen Arbeitsplatz, wo die Kollegen bereits auf ihn warteten.

*

»Ohne Sie hätte ich das alles niemals geschafft, Herr Zapfmann«, sagte Jessica strahlend, während ihr neuer Nachbar und sie eine Pizza verzehrten, die sie sich hatten bringen lassen.

Er sah sich anerkennend um. »Hier unten sieht man überhaupt nicht mehr, daß Sie gerade erst eingezogen sind – aber Sie haben ja auch schwer geschuftet, Frau Stolberg.«

»Das mache ich gern, wenn ich sehe, daß ich vorankomme«, sagte sie. »Außerdem war es sehr angenehm, Gesellschaft zu haben. Nicky ist niedlich, aber unsere Unterhaltungen sind noch ein wenig einseitig, wissen Sie?«

Er lachte, die junge Frau hatte sein Herz bereits im Sturm erobert. »Ja, das kann ich mir gut vorstellen – so ähnlich wie bei mir und Cora, obwohl Cora natürlich versteht, was ich sage. Wenn Sie wollen, nehme ich Ihnen Nicky gern gelegentlich ab. Dann können Sie sich mit Freundinnen treffen und mal wieder so richtig über alles reden, was Ihnen auf der Seele liegt.«

Er bemerkte sofort, daß er offenbar einen wunden Punkt bei ihr berührt hatte, denn ein Schatten legte sich über Jessicas hübsches Gesicht. Sie lächelte mühsam und erwiderte: »Vielen Dank für das Angebot, das ist sehr lieb von Ihnen. Aber ich könnte mich mit niemandem in Berlin treffen, Herr Zapfmann, selbst wenn ich das gern wollte.«

»Und warum nicht?«

»Weil ich niemanden hier kenne.«

»Das wird sich schnell ändern«, versicherte er. »Sie werden sehen, schon bald haben Sie jede Menge neue Bekannte.«

»Vielleicht«, meinte sie, aber er hörte, daß sie keinesfalls davon überzeugt war. Er hatte ohnehin das Gefühl, daß Jessica Stolberg nicht ganz so fröhlich und unbeschwert war, wie eine jungverheiratete Frau von vierundzwanzig Jahren mit einer ausgesprochen niedlichen kleinen Tochter es eigentlich hätte sein sollen. Sicher, sie hatte sich gefreut wie ein Kind, daß sie so viel hatte schaffen können an diesem Tag – aber er hatte sie aufmerksam beobachtet. Wenn sie sich allein glaubte, dann war ihr Gesicht ernst und angespannt, als habe sie einen großen Kummer, den sie vor der Welt verbarg. Dabei mußte ihr Glück eigentlich vollkommen sein.

Aber vielleicht war sie auch nur erschöpft vom Umzug und vom Heimweh nach Freiburg. Dort hatte sie bisher gelebt, das wußte er bereits. Er beschloß, das Thema zu wechseln. Sie kannten einander noch nicht gut genug, um Probleme zu wälzen. Eine gute nachbarliche Beziehung mußte langsam wachsen, wie er aus eigener Erfahrung wußte.

Cora saß mit schiefgelegtem Kopf vor ihm und ließ ihn nicht aus den Augen. Er betrachtete das letzte Stückchen Pizza auf seinem Teller und sagte seufzend: »Na schön, Cora, weil du gestern Hilfe gerufen hast, als ich den Unfall hatte. Aber nur deshalb, verstanden? Sonst wird bei Tisch nicht gebettelt!«

Cora ließ ein langgezogenes Heulen hören, und er reichte ihr das Stück Pizza, das sie sofort schnappte und gierig verschlang.

Jessica lachte. »Sie ist so niedlich«, meinte sie. »Es kommt mir wirklich so vor, als verstünde sie jedes Wort, das Sie sagen.«

»Oh, das tut sie auch«, versicherte er. »Sie ist klug. Viel klüger als die meisten Menschen. Sagen Sie, Frau Stolberg, könnten Sie mir einen riesigen Gefallen tun?«

»Klar«, antwortete sie. »Wenn es mir möglich ist.«

»Es wird höchste Zeit, daß ich in die Klinik fahre«, sagte er. »Sonst schimpfen die Ärzte mit mir. Könnte ich Cora so lange bei Ihnen lassen? Sie ist nämlich nicht gern allein. Ich werde mit ihr reden, daß sie Ihnen nicht zur Last fallen darf. Sie wird ganz brav sein, das verspreche ich Ihnen – und ich bleibe ja auch nicht lange weg.«

»Ja, sicher können Sie sie hier lassen, sehr gern sogar. Aber was ist, wenn sie nicht bleiben will?«

»Oh, das wird sie«, versicherte Karl Zapfmann und wandte sich dem Dackel zu, der dem Gespräch aufmerksam gefolgt zu sein schien.

»Sie weiß genau, daß wir über sie geredet haben, merken Sie das?«

Jessica nickte fasziniert.

»Hör zu, Cora! Ich fahre jetzt noch einmal in die Klinik, und du bleibst so lange hier bei Frau Stolberg und Nicky, hast du das gehört? Die beiden können ein bißchen Gesellschaft gebrauchen, und du hast es ja auch lieber, wenn jemand bei dir ist, nicht? Außerdem kann ich dich nicht mitnehmen ins Krankenhaus. Was meinst du?«

Cora ließ ein leises Jaulen hören, dann schlich sie zum Sofa, auf dem Nicky lag und schlief, legte sich davor und schloß die Augen.

Jessica lachte. »Ich glaub’s einfach nicht, Herr Zapfmann! Hat sie wirklich verstanden, was Sie ihr erzählt haben?«

»Vielleicht nicht jedes Wort«, meinte der alte Herr, »aber den Sinn auf jeden Fall.« Er stand auf und ging zur Tür. »Bis später, Frau Stolberg. Ich gehe dann mal rüber und rufe mir ein Taxi, Sie haben ja noch kein Telefon, nicht wahr?«

»Erst Ende der Woche«, erwiderte Jessica bedauernd.

»Und geben Sie Cora bitte nichts mehr zu fressen, sie kann gar keinen Hunger mehr haben. Höchstens etwas Wasser darf sie trinken.«

»Keine Sorge«, erklärte Jessica. »Wir werden schon miteinander auskommen. Alles Gute in der Klinik!« Sie blickte ihm nach, wie er zu seinem Haus hinüberging, und schloß dann lächelnd die Haustür.

Wenige Minuten später fuhr draußen ein Taxi vor, und sie sah Herrn Zapfmann einsteigen. Lächelnd wandte er sich an Cora. »Wir haben viel Glück gehabt mit unserem neuen Nachbarn«, stellte sie fest. »Er ist ein ganz besonders netter Mann, Cora, wirklich. Und du bist, glaube ich, auch ein ganz besonderer Dackel.«

Cora hob kurz den Kopf und sah sie aus ihren klugen Augen an. Ihr kleiner Stummelschwanz schlug heftig auf den Boden. Dann ließ sie den Kopf wieder auf die Vorderpfoten sinken.

»Ich sehe, wir sind uns einig«, stellte Jessica fest. Sie vergewisserte sich, daß Nicky noch immer selig schlief, dann machte sie sich daran, weitere Kisten auszuräumen. Dieser Tag war bisher viel angenehmer verlaufen, als sie befürchtet hatte.

*

»In der Notaufnahme hatten wir Sie eigentlich nicht erwartet, Herr Zapfmann«, sagte Dr. Adrian Winter amüsiert. »Sie sollten sich oben auf der Station melden, damit meine Kollegen Sie noch einmal untersuchen können.«

»Ich komme aber lieber zu Ihnen«, erklärte der alte Herr ungerührt. »Da oben gefällt es mir nicht. Und Sie sind doch auch Arzt, da können Sie mich genausogut untersuchen wie Ihre Kollegen – oder etwa nicht?«

»Das kann ich schon, aber eigentlich sind wir hier eine Notaufnahme und für Fälle wie den Ihren gar nicht zuständig.«

»Gestern war ich auch hier.« Karl Zapfmann konnte sich hervorragend dumm stellen, wenn er sein Ziel erreichen wollte.

Adrian mußte sich schon wieder ein Lachen verkneifen. »Gestern waren Sie auch ein Notfall, Herr Zapfmann. Nun kommen Sie schon mit mir. Sie haben Glück, daß es bei uns ausnahmsweise etwas ruhiger zugeht als sonst.«

»Ich hätte auch gewartet«, verkündete der eigenwillige Patient. »Ich hab’s nicht besonders eilig.«

»Und wieso das nicht? Was ist mit Ihrem Hund? Cora – oder wie heißt sie noch?«

»Sie haben sich sogar ihren Namen gemerkt«, staunte Karl Zapfmann. »Ich habe neue Nachbarn – ein ganz junges Paar mit einem Baby. Den Mann kenne ich noch gar nicht, aber die Frau ist eine reizende Person. Ich habe auf ihr Baby aufgepaßt heute, und sie hat dafür Cora bei sich behalten, bis ich zurückkomme. Deshalb habe ich Zeit.«

»Soso«, sagte Adrian und begann, den Patienten zu untersuchen. Die Kopfwunde schien gut zu verheilen, und auch die verstauchte Hand bereitete Herrn Zapfmann offenbar keine großen Probleme. Er stellte ihm noch einige Fragen und nickte schließlich zufrieden. »Ich denke, Sie dürfen wieder nach Hause gehen. Soweit ist alles in Ordnung. Ich werde den Kollegen auf der Station Bescheid sagen, daß Sie hier gewesen sind, Herr Zapfmann.«

»Danke, Herr Dr. Winter. Bis morgen. Oder reicht das jetzt? Muß ich vielleicht gar nicht mehr wiederkommen?«

»O doch, Herr Zapfmann, und morgen gehen Sie bitte zu den Kollegen, wie abgesprochen.«

»Das kann ich nicht«, versicherte Karl Zapfmann treuherzig. »Wenn Sie das von mir verlangen, Herr Doktor, dann kommt mir morgen garantiert etwas ganz Wichtiges dazwischen.«

»Raus hier!« rief Adrian gespielt streng, aber seine Augen lachten dabei, und zufrieden lief der alte Herr zum Ausgang.

»Habe ich richtig gehört? Du hast eben einen ziemlich alten Patienten ’rausgeschmissen?« fragte Assistenzarzt Dr. Bernd Schäfer vorwurfsvoll. Bernd Schäfer hatte seit ein paar Tagen wieder einmal den Kampf gegen seine zahlreichen überschüssigen Pfunde aufgenommen, und er war deshalb in grämlicher Stimmung. Jeglicher Sinn für Humor schien ihm abhanden gekommen zu sein.

»Ja, aber wohlgemerkt erst, nachdem ich ihn untersucht hatte, Bernd, obwohl er sich eigentlich auf der Inneren hätte melden sollen, die er gestern auf eigenen Wunsch verlassen hat. Das war Herr Zapfmann – der Rentner mit dem Fahrradunfall von gestern. Ach so, das weißt du ja gar nicht, du hattest keinen Dienst.«

»Am liebsten wäre es mir, ich hätte heute auch keinen«, murrte Bernd. »Mir ist richtig schlecht vor Hunger, ich fühle mich gar nicht gut.«

Adrian sah ihn mitleidig an. »Mußt du denn mit allem übertreiben, Bernd? Du könntest doch insgesamt etwas weniger essen, nicht wahr? Oder du könntest mit deinem Gewicht leben – wir alle mögen dich so, wie du bist.«

»Ich mag mich so aber nicht!« Bernds Gesicht wurde immer grimmiger. »Und die Frauen mögen mich so auch nicht, das weißt du ganz genau!«

Adrian unterdrückte einen Seufzer. Bernd und die Frauen – das war ein Kapitel für sich. Er selbst war allerdings davon überzeugt, daß Bernds Erfolglosigkeit eher in seiner Schüchternheit begründet lag als in seiner Körperfülle. »Denk an Marlon Brando!« wandte er ein. »Den lieben die Frauen, ob er nun dünn ist oder dick. Das hat doch damit gar nichts zu tun.«

»Marlon Brando hat alle Frauen gehabt, die er wollte«, entgegnete Bernd mit düsterem Blick. »Außerdem bin ich nicht Marlon Brando.«

Dagegen ließ sich nur schwer etwas einwenden, und Adrian beschloß, das unergiebige Gespräch zu beenden. »Laß uns an die Arbeit gehen, Bernd«, sagte er friedlich. »In Kabine 4 liegt ein Junge, der unsere Hilfe braucht.«

Das war offenbar die richtige Erwiderung gewesen, denn gleich darauf hatte Bernd Schäfer seinen Hunger vergessen. Er beugte sich über den wimmernden Jungen, der sich bei einem bösen Sturz von einer Mauer ein Bein und eine Hand gebrochen hatte, und war auf einmal so zartfühlend und sanftmütig wie gewöhnlich.

Adrian vergewisserte sich, daß sein Kollege allein zurechtkam, und betrat die Nebenkabine. Die Untersuchung von Karl Zapfmann war nur eine kurze, angenehme Unterbrechung eines ansonsten harten Arbeitstages gewesen.

*

»Wo kommt denn der Hund her?« fragte Alexander Stolberg stirnrunzelnd, als er an diesem Abend nach Hause kam und unversehens einen bellenden Dackel vor sich hatte.

»Das ist Cora«, stellte Jessica vor. »Die Hündin von Herrn Zapfmann, unserem Nachbarn. Ruhig, Cora, das ist Alex, der wohnt hier.«

Cora bellte noch kurz weiter, um zu zeigen, daß sie sich nicht so leicht beeindrucken ließ, dann schlich sie zurück zum Sofa, wo Nicky lag und mit einer Rassel spielte, und ließ sich erneut nieder.

Alexander sah sich jetzt erst um und staunte. »Das ist ja Wahnsinn, wie das hier schon aussieht!«

Jessica freute sich, als er das sagte. »Ja, nicht? Das habe ich Herrn Zapfmann zu verdanken.«

Sie erzählte ihm, wie ihr Tag verlaufen war, und er stellte fest, daß sie viel gelöster wirkte als noch am Vorabend. Dieser Rentner von nebenan hatte offenbar Wunder bewirkt. Er war froh, daß es Jessica offensichtlich besser ging, denn manchmal machte sie einen arg traurigen Eindruck, fand er, und das bedrückte ihn dann auch.

Außerdem fiel ihm wieder einmal auf, wie hübsch sie war. Ja, davon hatte Ben auch immer geschwärmt, er hatte seine Worte noch deutlich im Ohr.

»Ben hat mich angerufen«, sagte er, und auf einmal war es sehr still.

Jessica war blaß geworden. Sie waren in die Küche gegangen, wo sie dabei war, das Essen herzurichten. Nach seinen Worten hielt sie kurz inne und stand für einige Sekunden regungslos da. Doch dann fuhr sie fort, die Teller zu füllen, und fragte mit einer Stimme, der er die Anstrengung, betont gleichmütig zu klingen, deutlich anhörte. »Von wo? Und was wollte er?«

»Ich nehme an, er ist wieder in Freiburg«, antwortete Alexander. »Angeblich war er in den USA. Und ich glaube, er wollte unsere Freundschaft wieder aufleben lassen. Er hatte meine Handy-Nummer – woher, weiß ich nicht.«

»Hat du ihm erzählt… was passiert ist?«

»Nein, ich sah keine Veranlassung dazu.«

Sie nickte. »Das ist gut so.«

Noch immer war sie sehr blaß, und er hätte sie gern in die Arme genommen und getröstet, aber das kam natürlich nicht in Frage. Sie liebte Ben noch immer, dessen war er sicher. Warum nur hatte er nicht verhindert, daß Ben sie kennenlernte? Schließlich kannte er ihn doch gut genug, er hätte vorhersehen müssen, was passieren würde. Ben hatte bisher noch jede hübsche Frau ›herumkriegen‹ müssen – so nannte er das. Für ihn war das ein Spiel, bei dem immer nur er gewann. Was dabei aus den Frauen wurde, kümmerte ihn nicht. Er war, was das betraf, absolut gewissenlos.

»Er wollte den Kontakt mit mir wieder aufnehmen«, fuhr er fort. »Jedenfalls hat er das gesagt. In Wirklichkeit wollte er herauskriegen, was läuft, da bin ich sicher. Irgend jemand wird ihm bestimmt erzählt haben, daß wir geheiratet haben.«

Jessica nickte, erwiderte aber nichts. »Guten Appetit«, sagte sie förmlich. Sie sah ihn dabei nicht an. Ihr Gesicht war sehr verschlossen.

»Guten Appetit«, murmelte Alex, aber er hatte auf einmal gar keinen Hunger mehr.

*

Karl Zapfmann war bester Laune, als er nach Hause kam. Ein-, vielleicht zweimal noch mußte er in die Klinik, schätzte er, dann war der Spuk vorüber. Dieser Dr. Winter war wirklich nett, er verstand Spaß. Natürlich würde er auch morgen wieder zu ihm gehen, und wenn viel los war in der Notaufnahme, dann würde er eben warten.

Er klingelte bei seinen neuen Nachbarn, und gleich darauf hörte er Coras aufgeregtes Bellen. Natürlich wußte sie, daß er es war. Er lächelte in sich hinein. Die junge Frau Stolberg und Cora hatten sich bestimmt gut verstanden.

Aber es war nicht Jessica, die ihm die Tür öffnete, sondern ihr Mann, den er bisher noch nicht kennengelernt hatte. Cora witschte an ihm vorbei und sprang begeistert an ihrem Herrchen hoch. Sie wurde liebevoll gekrault und begrüßt, dann sagte Karl Zapfmann höflich: »Guten Abend, Herr Stolberg, mein Name ist Zapfmann, ich bin Ihr neuer Nachbar. Ihre Frau war so freundlich, auf meinen Hund aufzupassen.«

»Ja, das hat sie mir erzählt, Herr Zapfmann«, erwiderte Alexander ebenso höflich, aber nicht das kleinste Lächeln stahl sich dabei in seine Augen. Jessica war nach dem Essen schweigend in ihrem Zimmer verschwunden und hatte sich seitdem nicht mehr blicken lassen. Er wußte, was das bedeutete: Sie dachte an Ben, und vielleicht weinte sie sogar. Er jedenfalls konnte ihr sicher nicht helfen.

»Meine Frau hat sich schon hingelegt, sie war sehr müde«, fügte er noch hinzu, um nicht allzu unhöflich zu erscheinen. Der alte Herr Zapfmann sah nett aus, aber er konnte ihn im Augenblick nicht gebrauchen. Hoffentlich begriff sein neuer Nachbar das und ging schnell wieder. Ihm stand jetzt nicht der Sinn danach, irgendwelche Belanglosigkeiten auszutauschen.

Tatsächlich hatte sich Karl Zapfmann bereits zum Gehen gewandt. Seine Enttäuschung darüber, daß er Jessica nicht mehr zu Gesicht bekam, verbarg er perfekt. »Sagen Sie Ihrer Frau nochmals vielen Dank«, bat er. »Kein Wunder übrigens, daß sie müde ist – sie hat wirklich schwer gearbeitet heute. Guten Abend, Herr Stolberg.«

Alexander schloß eilig die Tür und kehrte ins Wohnzimmer zurück. So, jetzt war er auch den Hund los. Nicky schlief bereits, nun würde er es sich endlich richtig gemütlich machen. Doch als er sich auf dem Sofa ausstreckte, stellte er fest, daß es ihm keinen Spaß machte, hier allein herumzusitzen.

Was war nur mit ihm los? Es lief doch alles wie geplant! Eigentlich hatte er allen Grund, glücklich und zufrieden zu sein. Er mußte sich jetzt nur noch auf seinen Job konzentrieren – alles andere war eigentlich nicht mehr sein Problem. Er hatte getan, was er konnte. Mehr war nicht möglich.

Doch dann sah er wieder Jessicas unglückliches Gesicht vor sich, und sein Magen zog sich zusammen. Wie blaß sie geworden war, als er Ben erwähnt hatte! Natürlich hatte sie ihn nicht vergessen können, schließlich war Nicky Bens Kind, auch wenn das niemand wußte.

Aber warum machte er sich darüber Gedanken? Er hatte eine klare Absprache mit Jessica. In zwei Jahren würden sie sich scheiden lassen – dagegen konnten auch Jessicas konservative Eltern nichts einwenden, das kam schließlich in den besten Familien vor. Ein uneheliches Kind dagegen hätte sie ihnen nicht nach Hause bringen dürfen…

Er selbst war gewissermaßen für Ben eingesprungen, weil er sich verantwortlich gefühlt hatte für das, was passiert war. Schließlich war er es gewesen, der Jessica und Ben miteinander bekannt gemacht hatte. Wie oft hatte er das schon bitter bereut!

Jetzt jedenfalls waren sie miteinander verheiratet, Jessica war einverstanden gewesen mit seinen Vorschlägen. Heirat für drei Jahre, von denen eines bereits vorüber war, dann Scheidung. Eine ganz klare und einfache Sache also: Jessica hatte den Schein gewahrt, und er hatte sein schlechtes Gewissen beruhigt, daß er eine so gute Freundin wie Jessica dem unverbesserlichen Ben praktisch selbst in die Arme gelegt hatte.

Aber er merkte allmählich, daß die Sache nicht ganz so klar und einfach war, wie er sich das gewünscht hatte. Als er Jessica und Ben einander vorgestellt hatte, da war Jessica eine gute Freundin für ihn gewesen, nichts weiter. Doch mittlerweile ertappte er sich immer öfter dabei, daß er sich ausmalte, wie es wäre, wenn sie sich nicht scheiden ließen, sondern zusammenblieben. Er wußte nicht genau, wann ihm dieser Gedanke zum ersten Mal gekommen war, doch seitdem kam er immer wieder und ließ sich nicht mehr verscheuchen. Dabei war das reiner Unsinn, sie hatten schließlich ein klares Abkommen getroffen.

Er stieß ein gequältes Lachen aus. Das fehlte gerade noch, dachte er, daß ich mich in meine eigene Frau verliebe, die in Wirklichkeit nur zum Schein meine Frau ist! Du lieber Himmel, was für ein Durcheinander. Er mußte sehen, daß er einen klaren Kopf behielt, denn Jessica liebte Ben immer noch, das hatte ihre Reaktion heute ja überdeutlich gezeigt. Und vielleicht wurde Ben eines Tages noch vernünftig, und er erkannte dann, was für eine tolle Frau die Mutter seiner kleinen Tochter war.

Allmählich verwirrten sich Alexanders Gedanken, und er schlief auf dem Sofa ein. Als er wieder aufwachte, war es bereits recht spät, es war höchste Zeit, ins Bett zu gehen. Aber bevor er sich entschließen konnte aufzustehen, war er auch schon wieder eingeschlafen.

*

»Was hältst du von unseren neuen Nachbarn, Cora?« erkundigte sich Karl Zapfmann bei seiner Hündin. »Der junge Mann wollte uns loswerden, hast du das gemerkt?«

Cora winselte ein bißchen und legte den Kopf schief.

»Vielleicht hatten sie sich gestritten, und sie hatte ein verweintes Gesicht und wollte mich deshalb nicht mehr sehen. Was denkst du?«

Da Cora kein Gespräch von sich gab, sprach ihr Herrchen leise weiter. »Ja, das wird es wohl sein. Denn daß sie sich schon hingelegt hatte, glaube ich einfach nicht – so wie sie den ganzen Tag durchs Haus gefegt ist, ohne sich auch nur einmal irgendwo hinzusetzen. Die hat mehr Energie als viele andere Frauen zusammen, Cora, das sage ich dir! Und als ich ging, wirkte sie kein bißchen müde, im Gegenteil!«

Cora legte sich auf ihre Decke und schloß die Augen, aber Karl Zapfmann achtete nicht auf sie. Er sprach weiter, denn die jungen Leute nebenan beschäftigten ihn. »Er war nicht besonders freundlich zu mir, aber er sah nett aus. Er hat sich über irgendwas Sorgen gemacht, das habe ich gleich gemerkt. Und wenn man eins und eins zusammenzählt, dann weiß man gleich, worüber er sich Sorgen gemacht hat. Über seine Frau!«

Karl Zapfmann ging in die Küche, um sich ein Bier zu holen. Zum Glück hatte er vergessen, in der Klinik zu fragen, ob er Bier trinken dürfe. Wer weiß, ob nicht jemand auf die Idee gekommen wäre, es ihm zu verbieten?

Obwohl Cora ihm nicht gefolgt war, setzte er seine Unterhaltung mit ihr fort. »Ich glaube, wir müssen uns um diese beiden jungen Leute ein bißchen kümmern, Cora. Da stimmt etwas nicht, das sagt mir mein Gefühl, und das irrt sich bekanntlich sehr selten. Die beiden brauchen Hilfe, und ich glaube, bei uns sind sie genau richtig!«

Zufrieden kehrte er mit seinem Bier ins Wohnzimmer zurück, wo Cora sich nur zu einem müden Schlagen mit dem Schwanz aufraffte, aber das störte Karl Zapfmann nicht. Er sah eine Aufgabe auf sich zukommen, und allein der Gedanke daran belebte ihn ungeheuer.

»Morgen gehen wir wieder hin, Cora«, versprach er. »Und dann sehen wir mal, was die hübsche junge Frau Stolberg für ein Gesicht macht, wenn sie uns sieht. Wetten, daß sie sich freuen wird?«

Er nahm einen großen Schluck Bier und streckte die Beine von sich, doch dann stand er noch einmal auf und schaltete den Fernsehapparat ein. »Mal sehen, was sie uns heute wieder für einen Mist anbieten«, brummte er. Aber er hatte Glück. Es gab einen Krimi mit seinem Lieblingskommissar, und schon nach wenigen Minuten hatte die Handlung seine Aufmerksamkeit so sehr gefesselt, daß er seine jungen Nachbarn für die nächsten anderthalb Stunden vergaß.

*

Jessica Stolberg weinte nicht, aber sie hätte trotzdem nicht behaupten können, daß es ihr gutging. Schade, dachte sie. Es war ein schöner Tag mit Herrn Zapfmann – und dann muß er so traurig enden.

Sie hatte Ben Görlach erfolgreich aus ihren Gedanken vertrieben – er war es einfach nicht wert, daß man seinetwegen unglücklich war, das hatte sie schon ziemlich schnell erkannt. Heute fragte sie sich, wie sie so dumm hatte sein können, sich überhaupt mit ihm einzulassen, aber sie war zum ersten Mal richtig verliebt gewesen und hatte jedes seiner Worte geglaubt. Alles war wunderbar gewesen, bis zu jenem Tag, an dem sie ihm gesagt hatte, daß sie schwanger war.

Er wollte, daß sie abtrieb, sie hatte das jedoch weit von sich gewiesen. Zwei Wochen später war er plötzlich weg gewesen – einfach verschwunden, und sie hatte dagestanden, völlig verzweifelt und allein. Wenn Alex nicht gewesen wäre…

Ihr guter Freund Alex, der sich bittere Vorwürfe gemacht hatte, die natürlich ganz überflüssig waren. Schließlich war sie erwachsen und für sich selbst verantwortlich. Aber Alex hatte gemeint, er hätte sie vor Ben schützen müssen, schließlich sei sie nicht die erste Frau, deren Herz er gebrochen habe.

Hatte Ben tatsächlich ihr Herz gebrochen? Sie prüfte sich gründlich und beantwortete ihre Frage dann mit ›Nein‹. Sie war unglücklich gewesen, sicher, aber schon bald hatte die Wut auf Ben das Unglück überwogen. Er war einfach ein mieser kleiner Frauenheld, weiter nichts.

Alex dagegen… Alex war ein richtiger Mann, der bereit war, Verantwortung zu tragen, aber das sah sie erst jetzt so. Früher hatte sie nie etwas anderes als einen guten Freund in ihm gesehen. Im Traum wäre es ihr nicht in den Sinn gekommen, sich in ihn zu verlieben. Er war einfach zu gutmütig, bei ihm prickelte es nicht – ganz anders als bei Ben.

Ja, ja, dachte sie voller Selbstironie. Das Prickeln hatte ich ja nun, und was ist dabei herausgekommen? Eine niedliche kleine Tochter und eine gerade noch verhinderte Katastrophe in meiner Familie.

Natürlich hatten ihre Eltern bemerkt, daß das Kind zu früh nach der Hochzeit gekommen war, aber sie hatten es offiziell einfach nicht zur Kenntnis genommen. Typisch war das, alles, was nicht so lief, wie es ihrer Meinung nach laufen sollte, wurde unter den Teppich gekehrt. Erfolge jedoch wurden überall verbreitet.

Jessica schüttelte sich. Schrecklich war das, aber es war nun einmal ihre Familie, und sie hätte es nicht ertragen können, in Zukunft das schwarze Schaf zu sein, das nur widerwillig geduldet wurde – wenn überhaupt. Sie wäre jedenfalls als ledige Mutter ihres Lebens nicht mehr froh geworden, wenn sie weiterhin mit ihrer Familie verkehren wollte, das war ihr sofort klar gewesen. Und aus dieser Situation hatte Alex sie gerettet. Sicher, ihre Scheidung würde auch ein dicker Brocken sein, den die Familie zu schlucken hatte – aber nicht zu vergleichen mit einem unehelichen Kind.

Sie beschloß, noch einmal nach unten zu gehen und zu sehen, was Alex machte. Als Herr Zapfmann geklingelt hatte, war sie nicht fähig gewesen, mit ihm ein paar unbefangene Worte zu wechseln. Ihr neuer Nachbar hatte so eine Art, einen anzusehen, als könne er Gedanken lesen, und das wäre ihr heute abend gar nicht recht gewesen.

Leise, um Nicky nicht zu wecken, ging sie nach unten und fand Alex schlafend auf dem Sofa vor. Wie abgespannt er aussah! Sie hatte ihn nicht einmal danach gefragt, wie es ihm heute an seinem Arbeitsplatz ergangen war. Sie überlegte, ob sie ihn wecken sollte, denn im Bett lag er sicherlich bequemer, aber dann ließ sie ihn doch schlafen. Sie legte nur eine leichte Decke über ihn und ging dann lautlos zurück in ihr Zimmer.

*

Als Alex aufwachte, war es erst halb sieben – reichlich früh zum Aufstehen. Er lag noch immer auf dem Sofa, dabei war er überzeugt davon, in der Nacht noch einmal aufgewacht und in sein Bett gegangen zu sein, doch ganz offensichtlich bildete er sich das nur ein. Zu seiner Verwunderung lag er unter einer leichten Decke, er konnte sich jedoch nicht daran erinnern, sich damit zugedeckt zu haben.

Er stand auf. Wenn er schon wach war, dann konnte ja zur Abwechslung einmal er das Frühstück machen. Er lauschte, aber Nicky schien noch fest zu schlafen, und auch aus Jessicas Zimmer drang kein Laut herüber. Zuerst also ins Bad und dann zum Bäcker. Es gab einen ganz in der Nähe, das wußte er schon.

Er zog die Vorhänge zurück und sah erstaunt nach draußen. Von dem strahlenden Wetter, das die ganze Zeit über geherrscht hatte, war nichts mehr zu sehen. Draußen trieben dunkle Wolken am Himmel, und ein ziemlich stürmischer Wind wehte. Jetzt hörte er ihn auch ums Haus pfeifen. »Na, so was!« murmelte er. Hoffentlich kam er überhaupt trocken bis zum Bäcker, es sah verdächtig nach Regen aus.

Er beeilte sich im Bad und rannte schon wenig später über die Straße. Er hatte Glück und kam schnell an die Reihe, und gerade bevor die ersten dicken Regentropfen aufs Pflaster klatschten, schloß er die Haustür wieder auf.

Jessica stand in der Küche, sie hatte bereits Wasser für den Kaffee aufgesetzt und war dabei, den Tisch zu decken. »Hast du wirklich Brötchen geholt?« fragte sie. »Ich habe es ja gehofft, als ich sah, da du nicht mehr auf dem Sofa lagst, aber richtig glauben konnte ich es eigentlich nicht.«

»Guten Morgen«, sagte er außer Atem. »Mann, das ist vielleicht ein Wetter – sieht aus wie ein Weltuntergang.«

»Ach, das verzieht sich schon wieder«, meinte Jessica sorglos. Sie hatte noch gar nicht richtig aus dem Fenster geschaut.

»Schläft Nicky noch?«

»Wie ein Murmeltier. Gestern war es wohl so aufregend mit Cora und Herrn Zapfmann und dem neuen Haus, daß sie völlig erschöpft ist.«

»Dann können wir ja in Ruhe frühstücken«, meinte Alexander zufrieden und warf Jessica heimlich einen prüfenden Blick zu. Geschwollene Augen hatte sie jedenfalls nicht, und besonders unglücklich wirkte sie auch nicht. Das freute ihn. Das freute ihn sogar sehr. »Geht es dir besser?« fragte er vorsichtig.

Sie sah ihn aus ihren klaren blauen Augen an und schien über seine Frage erstaunt zu sein. »Besser? Mir ging es nicht schlecht, Alex. Vielleicht war ich ein bißchen durcheinander, das schon. Und müde war ich natürlich.«

»Ich dachte, du wärest traurig«, murmelte er. »Weil ich dir gestern von Ben erzählt habe und du danach so schnell in deinem Zimmer verschwunden bist.«

»Ich wollte nachdenken«, erklärte sie. »Wenn Ben wieder hier ist, dann werde ich Kontakt zu ihm aufnehmen. Das ist das Ergebnis meiner Überlegungen.«

»Natürlich«, murmelte er niedergeschlagen. Was hatte er denn erwartet? Daß sie Ben endgültig aus ihrem Leben streichen würde? Sie sah also deshalb so gelassen aus, weil sie neue Hoffnungen geschöpft hatte!

»Ich werde ihn schon finden«, sagte Jessica zuversichtlich.

»Und dann?« fragte er vorsichtig.

Ihr Gesicht verschloß sich. »Wir werden sehen«, antwortete sie knapp.

Auf einmal war Alexander das Frühstück vergällt. Er schob seinen Teller mit einem angebissenen Brötchen von sich und stand auf.

»Willst du schon gehen?«

»Ja, ich hab’ keinen Hunger, und es kann nur gut sein, wenn ich ein bißchen früher im Büro bin als die anderen. Ich hab’ so viel zu lernen, weißt du.«

»Ja, sicher«, antwortete sie und bemühte sich, gleichgültig zu klingen. Was hatte er nur? Als er vom Bäcker zurückgekommen war, hatte er ganz zufrieden ausgesehen, doch jetzt war sein Gesicht ernst und verschlossen. Sie wurde einfach nicht klug aus ihm.

Sie folgte ihm bis zur Haustür und sah nun doch schaudernd in den düsteren Morgen, den sie noch eben kaum zur Kenntnis genommen hatte. »Was ist das nur für ein Wetter um diese Jahreszeit!« sagte sie schaudernd. »Das sieht ja aus wie der finsterste November! Am besten beeile ich mich mit den Einkäufen, die ich dringend machen muß. Immerhin regnet es jetzt nicht mehr.«

Bei ihren Worten änderte sich sein Gesichtsausdruck, er wirkte besorgt. »Paß auf dich auf«, sagte er. »Das sieht wirklich nicht gut aus.«

Sie nickte. »Mach’s gut, Alex«, meinte sie leise. »Hoffentlich hast du keinen allzu schweren Tag.«

»Tschüß, bis heute abend!« Er drehte sich um und lief eilig zu seinem Wagen, während der Wind ihm heftig durch die Haare fuhr und an seiner Kleidung zerrte. Er sah Jessica im Rückspiegel noch in der Tür stehen, bis er abbiegen mußte.

*

Es war reiner Zufall, daß Karl Zapfmann beobachtet hatte, wie Alexander Stolberg Abschied von seiner jungen Frau nahm, und er konnte sich nicht genug darüber wundern. Er hatte ihr keinen Kuß gegeben, sie nicht umarmt, ihr nicht einmal die Wange gestreichelt. Er hatt sie überhaupt nicht berührt.

Und Sie? Sie hatte ihm nachgeschaut, bis sein Wagen um die nächste Ecke verschwand, und dann hatte sie ganz langsam und traurig die Tür geschlossen. »Da stimmt was nicht, Cora, das sage ich dir«, teilte er seinem Dackel mit.

Cora war jedoch an diesem Morgen nicht ansprechbar. Sie war eine Hündin mit ausgeglichenem Gemüt, aber trübes Wetter und heraufziehenden Sturm konnte sie nicht ausstehen. Sie würde, wenn man sie ließ, den ganzen Tag mehr oder weniger verschlafen, bis die Sonne endlich wieder schien.

Auch Karl Zapfmann betrachtete den Himmel voller Sorge. An einem solchen Tag konnte er Cora nicht gut allein lassen – er kannte sie schließlich. Beherzt griff er zum Telefon, rief in der Kurfürsten-Klinik an und ließ sich mit der Notaufnahme verbinden. »Herrn Dr. Winter, bitte«, verlangte er.

»Da müssen Sie sich einen Augenblick gedulden, er ist gerade erst gekommen. Sein Dienst fängt jetzt an. Sie haben Glück, daß Sie ihn überhaupt erreichen«, teilte ihm eine freundliche Frauenstimme am Telefon mit.

»Ich kann warten«, erwiderte Karl.

Es dauerte aber gar nicht lange, da meldete sich die sympathische Stimme des jungen Arztes. »Winter, Notaufnahme.«

»Hier ist Zapfmann, guten Morgen, Herr Doktor Winter. Ich rufe Sie nur an, um Ihnen zu sagen, daß ich heute nicht kommen kann.«

»Herr Zapfmann!«

Karl hörte genau, daß der Arzt lächelte, und das freute ihn. Zwar sprach er immer ganz streng mit ihm, aber er meinte es nicht so, das hatte er gleich gemerkt. Sie verstanden sich eben, der Herr Dr. Winter und er!

»Ja«, sprach er schnell weiter, um den Vorwürfen des Arztes zuvorzukommen. »Wegen des Wetters. Bei Sturm kann ich Cora nicht alleinlassen. Sie kann fast alles vertragen, aber bei diesem Wetter dreht sie durch. Deshalb kann ich heute nicht kommen, aber ich möchte nicht, daß Sie denken, ich wolle mich drücken. So ist das nämlich nicht.«

»Sie hätten auf der Station anrufen und sich dort abmelden sollen«, erwiderte Dr. Winter. »Das hatten wir doch gestern so besprochen.«

»Moment mal, Herr Doktor. Sie haben das gesagt, aber ich war damit von Anfang an nicht einverstanden. Und ich habe auch nicht gesagt, daß ich heute auf die Station gehen will. Ich wäre wieder zu Ihnen gekommen – aber nun komme ich gar nicht. Sie sind mir doch nicht böse?«

Einen kurzen Augenblick lang war es ganz still in der Leitung, dann lachte Dr. Winter herzlich. »Nein, Herr Zapfmann. Es würde mir ja auch sowieso nichts nützen, oder?«

»Ich glaube nicht«, antwortete der alte Herr ehrlich. »Ich komme morgen, das verspreche ich Ihnen. Wahrscheinlich gibt es heute sowieso jede Menge Unfälle, die Sie verarzten müssen.«

»Beschreien Sie es nicht!« bat der Arzt. »Das sind so Tage, vor denen wir uns in der Notaufnahme fürchten, das können Sie sich ja bestimmt vorstellen, Herr Zapfmann. Jetzt versprechen Sie mir aber bitte, daß Sie sofort kommen, wenn Sie sich nicht wohl fühlen sollten – oder wenn überhaupt irgend etwas ist!«

»Dann komme ich natürlich«, sagte Karl großzügig. »Aber machen Sie sich nur keine Sorgen um mich – mir geht es großartig, Herr Dr. Winter. Die Hand tut natürlich ein bißchen weh und mein Kopf auch, aber ich ruhe mich aus und tue fast nichts. Sie wären bestimmt zufrieden, wenn Sie mich sehen könnten.«

»Dann will ich Ihnen das mal glauben«, erwiderte der Arzt lachend. »Und nun möchten Sie, daß ich wieder auf der Station Bescheid sage für Sie – sehe ich das richtig?«

»Völlig richtig«, bestätigte Karl Zapfmann zufrieden. »Auf Wiedersehen, Herr Dr. Winter. Bis morgen.« Er legte auf und sagte: »Entspann dich, Cora. Ich bleibe heute den ganzen Tag bei dir!«

Cora hob kurz den Kopf, sah ihn aus blanken Augen an, gähnte ungeniert und bettete den Kopf dann wieder auf ihre Vorderpfoten.

*

»Nun wein doch nicht, Nicky. Das ist doch nur ein bißchen Wind!« sagte Jessica zärtlich zu ihrer kleinen Tochter. Sie stand mit ihr in einer Telefonzelle. »Dir kann überhaupt nichts passieren. Wir gehen gleich wieder zurück nach Hause, hörst du?«

Nicky hörte auf zu weinen und sah ihrer Mutter mit großen Augen ins Gesicht.

»So ist es besser, mein Schätzchen. Ich muß nämlich telefonieren, und da ist es nicht gut, wenn du so schreist, verstehst du das?«

Sie wählte die Nummer der Auskunft und hatte Glück, daß sie sofort durchkam. »Eine Rufnummer in Freiburg bitte«, sagte sie. »Der Teilnehmer heißt Banjamin Görlach.«

»Die Nummer wird angesagt«, erklärte die freundliche Dame, und dann ertönte eine Computerstimme, die Jessica die gewünschte Auskunft erteilte.

Sie wählte die Nummer sofort. Es war noch so früh, daß sie vielleicht Glück hatte und Ben zu Hause erwischen würde. Ihr Herz klopfte heftig, und ihre Handflächen waren ganz feucht, aber das würde er ja nicht merken. Sie mußte nur darauf achten, daß ihre Stimme nicht zitterte. Den Triumph nämlich, daß er ihre Unsicherheit bemerkte, hätte sie ihm nicht gegönnt.

»Ja, hallo?« Seine Stimme klang sehr verschlafen. Natürlich, zu den Frühaufstehern hatte Ben noch nie gehört.

»Hier ist Jessica. Guten Morgen. Habe ich dich geweckt?«

»Jessica? Ach so… Jessica.«

Die gespielte Überraschung in seiner Stimme machte sie wütend, und das half ihr. Mit einem Mal war die Unsicherheit wie weggeblasen. »Ja, die Mutter deiner Tochter, falls du dich noch erinnerst«, sagte sie kühl.

»Meiner Tochter?« Seine Stimme klang ehrlich verblüfft. »Willst du damit sagen, du hast das Kind tatsächlich gekriegt?«

»Und willst du damit sagen, daß du nichts davon gewußt hast?« Er war ein hervorragender Schauspieler, sie glaubte ihm gar nichts – auch keine noch so ehrlich wirkende Verblüffung.

»Nein, natürlich nicht!« behauptete er.

»Erzähl keinen Unsinn, Ben!« sagte sie scharf. »Natürlich hast du es gewußt, und natürlich weißt du, daß das Kind von dir ist. Das ist schließlich der Grund, weshalb du so plötzlich verschwunden bist damals.«

»Das siehst du völlig falsch!« behauptete er. »Ich wollte mich ja noch von dir verabschieden, aber dann ging alles so schnell mit…«

»Ich habe keine Lust, mir diesen Unsinn länger anzuhören«, unterbrach sie ihn. »Du bist verpflichtet, Unterhalt für deine Tochter zu zahlen, und das ist auch der Grund, weshalb ich dich heute anrufe.«

»Unterhalt?« Seine Stimme klang so, als habe sie etwas völlig Abwegiges erzählt. »Hör mal, ich wollte kein Kind. Du kannst jetzt nicht einfach behaupten, du hättest eine Tochter von mir! Und niemand kann mich zwingen…«

Wieder unterbrach sie ihn, noch eine Spur kühler als ohnehin schon. »Wenn du kein Kind willst, dann mußt du verhüten, Ben. Nicole ist deine Tochter, und wenn du nicht freiwillig für sie zahlen willst, dann werde ich dich dazu zwingen, glaub mir das. Ein Vaterschaftstest wird die Wahrheit sehr schnell ans Licht bringen!«

Sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern legte einfach auf und verließ die Telefonzelle. Eilig lief sie mit Nicky auf dem Arm nach Hause.

So ein Mistkerl! Sie wollte in Wirklichkeit gar nicht, daß er für Nicky bezahlte – das würde wahrscheinlich nur Probleme geben, schließlich war das Kind offiziell Alex’ Tochter. Aber sie hatte seine Reaktion hören wollen, sie hatte eine Bestätigung für die Meinung gebraucht, die sie sich mittlerweile von Ben gebildet hatte. Diese Bestätigung hatte sie nun bekommen – er war sogar noch viel mieser, als sie ohnehin schon angenommen hatte.

Aber sie mußte auch an die Zukunft denken. Wenn sie geschieden war – konnte sie dann guten Gewissens Geld von Alex annehmen, das dieser ihr gar nicht bezahlen mußte? Nicky war schließlich nicht seine Tochter, auch wenn er vor der Welt als ihr Vater auftrat. Plötzlich wurde ihr bewußt, wie wenig sie bisher über diese Probleme nachgedacht hatte. Sie war so froh gewesen über Alex’ Angebot, sie zu heiraten. Alles andere würde sich schon finden, hatte sie damals gedacht.

Eilig schloß sie die Haustür auf. Ach was, ihr würde schon eine Lösung einfallen. Und bis zu dem Termin, den Alex und sie für ihre Scheidung festgesetzt hatten, war ja auch noch viel Zeit.

Sie legte Nicky auf das Sofa im Wohnzimmer, lief in die Küche, suchte ihren Einkaufszettel und griff zu zwei großen Taschen. Dann ging sie zum Fenster und studierte den Himmel. Die dunklen Wolken wollten sich einfach nicht verziehen. Immerhin regnete es gerade nicht, der Wind allerdings schien noch stärker geworden zu sein. Sie mußte sich beeilen mit ihren Einkäufen. Nicky konnte sie im Tragetuch mitnehmen, dann war sie beweglicher als mit dem großen Kinderwagen. Aber umständlich war es natürlich schon mit dem Kind, es würde länger dauern, als wenn sie allein losging.

Als es klingelte und sie gleich darauf Herrn Zapfmann vor sich sah, strahlte sie unwillkürlich. »Herr Zapfmann, Sie schickt mir der Himmel. Meinen Sie, Sie könnten eine halbe Stunde bei Nicky bleiben? Ich muß unbedingt einkaufen, und jetzt ist es zumindest gerade mal trocken. Aber kommen Sie doch herein und bleiben Sie nicht in dem Wind da draußen stehen. Wo haben Sie denn Cora gelassen?«

Karl Zapfmann strich sich die zerzausten Haare glatt. »Die geht bei dem Wetter nicht vor die Tür – nicht einmal mit mir. Komisch, nicht wahr? Sie ist sonst so eine couragierte Person, also eine couragierte Hündin, wollte ich sagen, aber lassen Sie nur ein bißchen Wind heulen, da verkriecht sie sich in eine Ecke und rührt sich nicht, bis alles vorüber ist.«

»Na, so was!« wunderte sich Jessica. »Das hätte ich gar nicht vermutet.«

»Nicht wahr? Aber so kann man sich täuschen. Kann ich Nicky mit nach drüben nehmen? Wegen Cora, meine ich. Oder meinen Sie, die Kleine fürchtet sich?«

»Bestimmt nicht, Herr Zapfmann. Sie kennt dieses Haus ja auch noch nicht. Und Sie haben doch gestern schon mit ihr Freundschaft geschlossen. Außerdem bleibe ich ja nicht lange weg. Ich muß nur dringend einen Großeinkauf machen. Soll ich Ihnen etwas mitbringen bei der Gelegenheit?«

»Butter, Milch und Brot!« antwortete Herr Zapfmann. »Das paßt ja großartig, Frau Stolberg. Ich wäre nämlich nicht gern losgegangen, muß ich sagen, ein bißchen wackelig auf den Beinen bin ich immer noch.«

»Gut. Warten Sie einen Augenblick. Ich hole nur das Geld und die Tasche, dann trage ich Nicky zu Ihnen rüber, ja?«

Kurz darauf verließen sie das Haus, und auf den wenigen Metern, die sie zurücklegen mußten, bis sie in Herrn Zapfmanns engem Flur standen, wurden sie bereits ordentlich durchgepustet.

»Du liebe Zeit!« japste Jessica völlig außer Atem. »Ich muß ja direkt aufpassen, daß ich nicht wegfliege.«

»Gehen Sie lieber schnell los!« riet ihr Nachbar besorgt. »Das gefällt mir nicht da draußen.«

»Ich bin ziemlich stabil«, versicherte Jessica. »Bis gleich, Herr Zapfmann. Tschüß, meine Süße!« Sie drückte ihrer Tochter einen Kuß auf die winzige Nase und verschwand.

*

»Das wird Arbeit geben heute«, meinte Dr. Julia Martensen zu Dr. Adrian Winter. »Ich ahne nichts Gutes.«

»Da könntest du leider recht haben«, erwiderte er seufzend. Sie hatten bereits zwei harte Stunden hinter sich und gönnten sich die erste Pause mit einer Tasse Kaffee, die sie stehend an einem Fenster einnahmen. Draußen war es so dunkel, daß man hätte denken können, es sei Abend und nicht mitten am Vormittag.

»Mal ganz abgesehen von den Unfällen, mit denen man rechnen muß, ist eine solche Wetterlage auch für Patienten mit Kreislaufproblemen Gift.«

Sie nickte. »Ich hoffe, die alte Dame, die wir auf die Innere geschickt haben, erholt sich bald. Fünfundachtzig Jahre – und geistig noch so fit! Wirklich beeindruckend. Aber wenn der Körper nicht mehr mitspielt, dann nützt dir dein wacher Geist auch nicht viel.«

»Sie kommt bestimmt schnell wieder auf die Beine«, erwiderte Adrian beruhigend. »Es war nichts Ernstes, Julia. Es sah schlimmer aus, als es ist.«

Monika Ullmann, die hübsche und tatkräftige Schwester, mit der sie oft zusammenarbeiteten, kam eilig auf sie zugelaufen. »Ein schwerer Verkehrsunfall ganz in unserer Nähe. Mindestens vier Verletzte, sie werden jeden Augenblick hier sein.«

Wie auf Kommando stellten Julia und Adrian ihre Kaffeetassen ab und folgten Schwester Monika. In Windeseile trafen sie Vorbereitungen für die erwarteten Patienten, als der erste auch schon gebracht wurde.

Die Sanitäter rannten noch schneller als sonst, und dabei rief einer von ihnen den Ärzten die nötigsten Informationen zu. »Zweiunddreißigjähriger Mann mit schweren Verletzungen am Oberkörper. Bekommt kaum Luft, hat bereits eine Menge Blut verloren, klagt über Taubheit im rechten Arm…«

Sie betteten den Mann um und beugten sich bereits über ihn, während der Sanitäter fortfuhr, ihnen alles zu sagen, was er über den Zustand des Mannes wußte.

»Bleiben Sie ruhig«, sagte Adrian. »Wir helfen Ihnen. Hören Sie, was ich sage?«

»Ja«, brachte der Mann heraus. »Luft!«

»Sauerstoffmaske!« kommandierte Adrian. Schwester Monika hielt sie bereits in der Hand und setzte sie dem Patienten auf.

»Kochsalzinfusion, Moni«, sagte Adrian. »Und dann ruf bitte im OP an, er muß operiert werden – wahrscheinlich ist die Lunge verletzt. Schnell, schnell!«

Sie arbeiteten fieberhaft, um den Mann so weit so stabilisieren, daß er operiert werden konnte. Wenige Minuten später war es soweit: Der Patient wurde nach oben gefahren, wo bereits ein OP-Team auf ihn wartete. Adrian hoffte, daß er gerettet werden könnte. Julia und er jedenfalls hatten alles in ihrer Macht Stehende für ihn getan.

Von nun an kam das Team in der Notaufnahme nicht mehr zur Ruhe. Tatsächlich war es so, daß die Auswirkungen des Sturms sogar noch schlimmer ausfielen als befürchtet. Ständig wurden neue Patienten gebracht, und ganz Berlin schien erfüllt zu sein vom Heulen der Sirenen von Rettungswagen und Feuerwehr.

*

»Puh!« keuchte Jessica, als sie nach ihren Einkäufen griff und merkte, wie schwer die beiden Taschen waren, die sie bis obenhin vollgepackt hatte.

Die Kassiererin lächelte. »Da haben Sie sich ja ganz schön viel vorgenommen. Oder sind Sie mit dem Auto da?«

Jessica schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich hab’s nicht weit. Nur zwei Straßen weiter, das werde ich wohl schaffen.«

»Sieht aus wie der Weltuntergang draußen, nicht wahr? Deshalb ist hier auch so wenig los heute, glaube ich. Sonst ist der Laden um diese Uhrzeit immer brechend voll.«

»Wenn ich nicht in der Nähe wohnen würde, wäre ich auch nicht gekommen«, meinte Jessica. »Es ist draußen wirklich ziemlich unheimlich, ich habe so ein Wetter noch nie erlebt. Es ist düster und stürmisch, aber es regnet nicht.«

»Das kommt erst, wenn der Wind nachläßt«, prophezeite die junge Frau an der Kasse. »Warten Sie’s ab. Und jetzt laufen Sie besser los, dann haben Sie’s schnell hinter sich.«

»Auf Wiedersehen«, sagte Jessica und schenkte der freundlichen Frau ein Lächeln. »Ich beneide Sie, offen gesagt, daß Sie hierbleiben können.«

»Oh, wenn Sie wollen, können Sie auch gern bleiben, dann hab’ ich jemanden zum Reden. Ist nämlich ein bißchen langweilig, wenn nichts los ist.«

»Ein anderes Mal«, versprach Jessica. »Meine kleine Tochter ist bestimmt froh, wenn ich wieder daheim bin – der gefällt das Wetter auch nicht. Unser neuer Nachbar paßt auf sie auf, ein furchtbar lieber alter Herr. Ich will ihn nicht zu lange warten lassen.«

»Wie alt ist sie denn, Ihre Tochter?«

»Drei Monate erst.«

»So klein noch, ach du liebe Güte, dann aber mal los!«

»Ja, klein ist sie. Aber sie merkt schon, wenn ich nicht da bin. Also, auf Wiedersehen.«

»Guten Heimweg!« rief die Kassiererin ihr noch nach, und im nächsten Augenblick stand Jessica auf der Straße, und der Wind zerrte mit beachtlicher Kraft an ihr. Sie stemmte sich dagegen und lief los.

»Das ist ja wirklich ein Ding!« murmelte sie. »Ich wußte gar nicht, daß es so ein schlechtes Wetter überhaupt gibt.« Tapfer kämpfte sie sich vorwärts. Außer ihr war niemand auf der Straße. Ab und zu fuhr ein Auto vorbei, aber das war auch alles. In den Häusern brannte Licht, und gelegentlich sah man jemanden am Fenster stehen und fassungslos nach draußen blicken. Offenbar sahen die meisten Menschen dieses Weltuntergangs-Wetter zum ersten Mal.

Jessica atmete auf, als sie die Straße erreicht hatte, in der sie wohnte. Ganz am Ende konnte sie Herrn Zapfmanns weißes Haus schon leuchten sehen, sie hatte es also gleich geschafft! Ihre Arme schmerzten von den schweren Taschen, und am liebsten wäre sie einen Augenblick stehengeblieben und hätte sie abgesetzt, um sich auszuruhen – aber ein Blick gen Himmel belehrte sie eines Besseren. Es würde nicht mehr lange dauern, und dann würde ein wahrer Wolkenbruch über sie hereinbrechen.

In diesem Augenblick kam eine besonders heftige Böe, und der Wind heulte förmlich durch die schmale Straße. Die Bäume bogen sich tief, und Blätter wirbelten durch die Luft. Unwillkürlich blieb Jessica stehen, denn es kostete sie zuviel Kraft, so schwerbepackt wie sie war, weiterzulaufen. Den Kopf hielt sie gesenkt und leicht vom Wind abgewandt, denn er trieb ihr die Tränen in die Augen.

Diese Haltung war auch der Grund dafür, daß sie den Dachziegel nicht sah, den der Wind von einem der Häuser riß und durch die Luft wirbelte wie einen Fetzen Papier. Er trieb genau auf Jessica zu und fiel an der Stelle zu Boden, an der sie stand. Mit großer Wucht traf er sie am Kopf und am Hals.

Sie spürte einen ungeheuren Schlag, der sie völlig überraschend traf und dem sie deshalb ganz und gar schutzlos ausgeliefert war. Während ihr die Beine wegknickten und sie noch fühlte, daß die schweren Taschen ihren Fingern entglitten, breitete sich auch schon Dunkelheit um sie aus. Sie spürte nicht einmal mehr, daß sie auf die Straße stürzte.

*

»Deine Mama kommt gleich wieder, Nicky«, versprach Karl Zapfmann, der immer wieder beunruhigt zum Fenster ging, um zu sehen, wo Jessica wohl blieb. Er versprach es eher sich selbst als dem Baby, das ganz friedlich auf dem Sofa lag und den Blick nicht von Cora wandte, die es sich davor bequem gemacht hatte. Offenbar dachte sie, sie müsse auf das Kind aufpassen, und Karl

fand das rührend. Cora litt unter dem Wetter, aber für Nicky hatte sie ihren Lieblingsplatz verlassen und sich vor das Sofa gelegt. Brauchte er noch mehr Beweise für die Außergewöhnlichkeit seines Dackels? Ganz bestimmt nicht!

Karl setzte sich wieder. Hätte Frau Stolberg nicht eigentlich schon längst zurück sein müssen? Er sah auf die Uhr, stellte aber fest, daß er leider nicht genau wußte, wann seine junge Nachbarin sich auf den Weg gemacht hatte. Ihm kam es jedoch so vor, als sei sie schon recht lange weg.

»Na ja«, brummte er, »sie hat ja gesagt, daß sie viel kaufen muß, da braucht sie natürlich etwas länger.«

Er hörte die Sirene eines Rettungswagens – die wievielte eigentlich an diesem Morgen? Aber diese hier klang sehr nah, so kam es ihm vor. In diesem Augenblick verstummte sie auch schon. Karl stand wieder auf und ging in die Küche, und Cora folgte ihm. Es war das erste Mal, daß sie sich rührte, seit sie sich vor das Sofa gelegt hatte.

»Hast du Hunger, Cora?« fragte Karl, aber die Hündin wedelte nur müde mit dem Schwanz, drehte sich um und kehrte zurück ins Wohnzimmer. »Du bist launisch heute, Cora!« rief er ihr nach. Dann schenkte er sich aus seiner Thermoskanne noch eine Tasse Kaffee ein. Die würde ihn zwar nicht beruhigen, aber sie zu trinken lenkte ihn ein wenig ab. Doch als er sie geleert hatte, war er noch immer allein mit dem Baby und seinem Hund.

Bestimmt zum hundertsten Mal eilte er zu einem der Fenster, das zur Straße ging, und sah nach draußen, aber nirgends war eine Spur von Jessica zu erkennen. »Das kann doch einfach gar nicht sein!« brummte er. »Sie hat selbst gesagt, daß sie ganz schnell zurückkommt. Und eine Bekannte kann sie auch nicht getroffen haben, denn sie kennt ja noch niemanden hier. Ich verstehe das nicht!«

Er überlegte kurz und griff zum Telefonbuch. Dann würde er eben in dem Laden anrufen, in dem Jessica hatte einkaufen wollen. Vermutlich war es eine dumme Idee, denn es war zwar nur ein kleiner Supermarkt, aber er war doch groß genug, daß die Kassiererinnen wahrscheinlich nicht auf das Aussehen ihrer Kundinnen achteten. Deshalb konnten sie sich bestimmt gar nicht an Jessica erinnern, aber er wollte es trotzdem versuchen. Allmählich wurde er nervös von der Warterei, und dagegen mußte er dringend etwas unternehmen.

Nach längeren Suchen im Branchenbuch hatte er den Laden endlich gefunden und wählte die Nummer. Eine Männerstimme meldete sich und sagte etwas, das ihm völlig unverständlich erschien.

»Zapfmann hier«, sagte Karl und erklärte dann so schnell wie möglich, warum er anrief. »Verstehen Sie?« fragte er schließlich. »Ich mache mir Sorgen um meine Nachbarin. Sie müßte längst wieder zurück sein.«

Der Mann am anderen Ende hatte ihm schweigend zugehört. »Moment mal!« sagte er. »Hier ist sehr wenig los, ich rufe mal die Linda, die sitzt nämlich heute an der Kasse. Es ist nur eine Kasse offen, so wenig Betrieb herrscht hier.«

Der Hörer wurde geräuschvoll abgelegt, und Karl faßte sich in Geduld. Mit einem Ohr lauschte er, ob es nicht vielleicht doch noch klingelte und Jessica Stolberg plötzlich vor seiner Tür stand, um ihre kleine Tochter abzuholen. Was hätte er darum gegeben, wenn sie jetzt aufgetaucht wäre! Aber alles blieb still.

Nach einer halben Ewigkeit rief jemand freundlich: »Hallo, sind Sie noch dran?«

»Ja«, antwortete Karl. »Sind Sie die Dame, die an der Kasse sitzt?«

»Bin ich. Wie sieht denn die Kundin aus, die Sie meinen? Mein Chef hat mir gerade gesagt, daß Sie auf jemanden warten.«

»Eine sehr hübsche junge Frau«, begann Karl. »Dunkelblonde Haare, sie hat einen Pferdeschwanz getragen heute morgen, Jeans und…«

»Ich weiß, wen Sie meinen!« rief die Frau am anderen Ende der Leitung. »Die mit der kleinen Tochter! Sind Sie der Nachbar, der auf das Baby aufpaßt?«

»Das hat Sie ihnen erzählt?« fragte Karl Zapfmann aufgeregt. »Ja, genau das ist sie. Jessica Stolberg.«

»Sie ist gerade erst gegangen, nicht wahr? Wir haben noch geulkt, daß sie sich beeilen muß, bei dem Wetter nach Hause zu kommen.«

»Aber sie ist bisher nicht nach Hause gekommen, das ist es ja, was mich so beunruhigt! Wissen Sie, wie lange es her ist, daß sie bei Ihnen weggegangen ist?«

»Lange!« antwortete die Kassiererin wie aus der Pistole geschossen. »Über eine halbe Stunde auf jeden Fall. Sie war unheimlich bepackt, aber sie hat gesagt, das sei kein Problem, sie hätte es nicht weit bis nach Hause. Es klang jedenfalls nicht so, als müsse sie eine halbe Stunde laufen – das hätte sie mit den schweren Taschen auch gar nicht geschafft, glaube ich.«

»Höchstens sechs, sieben Minuten hat sie zu laufen!« rief Karl. »Kann es sein, daß sie noch irgendwo anders hingehen wollte?«

»Das weiß ich natürlich nicht, gesagt hat sie jedenfalls nichts davon. Sie hat nur davon geredet, daß sie schnell nach Hause zurück wolle, weil Sie und ihre kleine Tochter auf sie warten.«

»Dann muß etwas passiert sein«, murmelte Karl. »Jedenfalls danke ich Ihnen sehr für Ihre Auskunft.«

»Nichts zu danken. Machen Sie sich keine allzu großen Sorgen. Vielleicht ist ihr ja wirklich etwas eingefallen, das sie noch brauchte. Sie wissen doch, wie das ist.«

»Ja, ja«, sagte Karl abweisend, »natürlich weiß ich, wie das ist. Nochmals recht herzlichen Dank für Ihre Mühe.« Er legte auf.

Cora hatte gemerkt, daß etwas nicht in Ordnung war, denn sie stand auf, trottete zu ihm herüber und leckte ihm die Hände. Dabei sah sie ihm mit einem so treuherzigen Blick in die Augen, daß er sie gerührt hinter den Ohren kraulte.

»Du bist sowieso die Beste, Cora«, sagte er. »Aber was machen wir nun? Jetzt sitzen wir ganz schön dumm da. Und bald wird auch Nicky merken, daß etwas nicht in Ordnung ist, und dann ist hier garantiert die Hölle los. Abgesehen davon, daß ich mir allmählich richtige Sorgen um die junge Frau mache.«

Cora legte den Kopf schief und winselte leise.

»Na, schön, wie du meinst«, seufzte Karl. »Eine halbe Stunde warte ich noch, aber dann muß ich etwas unternehmen, Cora!«

*

Alexander Stolberg blickte ungläubig nach draußen. Einen so schwarzen Himmel mitten an einem Vormittag hatte er noch nie gesehen, soweit er sich erinnerte. Richtig furchterregend wirkte das, fand er. Heute mittag jedenfalls würde er das Gebäude nicht verlassen, das stand fest. Zum Glück gab es eine Kantine im Haus, die würde er dann eben ausprobieren.

Er konnte nur hoffen, daß bis zum Abend das Schlimmste überstanden war. Bei diesem Wind war auch das Autofahren kein Vergnügen. Merkwürdig war nur, daß es noch immer nicht richtig regnete. Ab und zu wurden zwar ein paar vereinzelte Tropfen an die Fensterscheibe geklatscht, aber es war der Wind, der die Stadt im Griff hatte, nicht der Regen.

Er war froh, daß Jessica nicht irgendwo unterwegs zur Arbeit war, es hätte ihn beunruhigt, sie jetzt draußen zu wissen. Aber um sie und Nicky mußte er sich keine Sorgen machen, sie waren in ihrem neuen Zuhause sicher untergebracht. Allerdings hatte Jessica erwähnt, daß sie einkaufen gehen müsse, doch es waren ja nur ein paar Schritte bis zum nächsten Laden, das hatte sie bestimmt längst erledigt. Wenn das Telefon schon funktioniert hätte, dann hätte er sie gern angerufen, doch das ging leider noch nicht.

»Na, Herr Stolberg, haben Sie schon mal ein solches Wetter erlebt?«

Hastig drehte er sich um. Sein Chef, Herr Grüner, stand in der Tür und lächelte ihn freundlich an. Hoffentlich stand er noch nicht allzu lange da, es machte sicher keinen guten Eindruck, wenn ein neuer Mitarbeiter träumend am Fenster lehnte, statt eifrig zu arbeiten.

»Nein, habe ich nicht«, gestand er und versuchte, sich seine Verlegenheit nicht anmerken zu lassen.

»Ihre Frau ist hoffentlich nicht unterwegs?« erkundigte sich Herr Grüner, und Alexander war ihm für diese Frage dankbar.

»Daran habe ich gerade gedacht«, gestand er. »Ich bin froh, daß sie zu Hause ist, ehrlich gesagt. Das sieht ja aus wie der reinste Weltuntergang. Haben Sie so ein Wetter in Berlin öfter, oder ist das auch für Sie etwas Besonderes, Herr Grüner?«

»Keine Sorge, es ist etwas Besonderes, obwohl wir hier manchmal tatsächlich extremes Wetter haben. Nein, wirklich, Herr Stolberg, Sie müssen jetzt nicht damit rechnen, daß sich der Himmel hier ständig verdüstert.«

Sie mußten beide lachen, und dann bat Herr Grüner seinen neuen Mitarbeiter, ihn zu einem Gespräch mit anderen Kollegen zu begleiten. Dieses Gespräch entwickelte sich zu einer ausgesprochen hitzigen Diskussion um zukünftige Strategien der Messegesellschaft. Alexander hörte zunächst nur zu, beteiligte sich aber schließlich an der Debatte. Der schwarze Himmel und die Gedanken an Jessica waren fürs erste vergessen.

*

Dr. Adrian Winter sah völlig erschöpft aus, genauso wie seine anderen Kollegen auch. Ihr Dienst hatte erst vor wenigen Stunden begonnen, aber schon jetzt hatten sie mehr Patienten behandeln müssen als manchmal an einem ganzen Tag. Zum Glück ließ der Wind allmählich nach, dafür goß es jetzt auf einmal in Strömen.

Wieder öffneten sich die Türen der Notaufnahme, und im Laufschritt stürmten zwei Sanitäter herein, die eine blutüberströmte junge Frau brachten. »Jungs, wir können keine Patienten mehr aufnehmen«, wandte Adrian Winter ein, doch mehr konnte er nicht vorbringen.

»Ihre Halsschlagader ist verletzt!« keuchte derjenige der Sanitäter, der seine Hand fest auf eine Wunde am Hals der Patientin preßte. »Sie muß sofort operiert werden – tut uns leid, Herr Dr. Winter, aber es sieht in jeder Notaufnahme der Stadt genauso aus wie hier. Wir wissen nicht mehr, wohin wir die Patienten noch bringen sollen.«

Adrian schrie bereits. »Ein OP-Team für eine verletzte Halsschlagader, und dann her zu mir, wer immer gerade abkömmlich ist!« Danach wandte er sich wieder an die Sanitäter. »Was ist passiert?«

»Ein herunterfallender Dachziegel hat sie getroffen«, antwortete einer der Männer. »Sie war bewußtlos, ist aber unterwegs zu sich gekommen.«

Adrian nickte nur, die Patientin wurde umgebettet. Nun übernahm Adrian es, seine Hand fest auf die Wunde zu drücken, um das rhythmisch pulsierende Blut zurückzuhalten, während die Sanitäter die Klinik bereits eiligst wieder verließen.

»Ich brauche Hilfe!« schrie Adrian noch einmal, und im nächsten Augenblick stand Schwester Monika neben ihm.

»Blutgruppe feststellen, Blutkonserven bereithalten, Kreislauf überprüfen, Infusion anlegen – und so schnell wie möglich ab in den OP mit ihr!« sagte er. »Außerdem muß noch jemand kommen und mich hier ablösen beim Zuhalten der Wunde, damit ich die Patientin untersuchen kann.«

»Claudia!« rief Monika. »Komm hierher, du wirst hier gebraucht!« Während sie sprach, hatte sie bereits begonnen, die Anweisungen ihres Chefs in die Tat umzusetzen, während sich

Adrian, die Hand noch immer fest auf den Hals der Patientin gedrückt, über sie beugte.

»Wie heißen Sie?« fragte er.

Die Antwort erfolgte so leise, daß sie kaum zu verstehen war. »Jessica Stolberg.«

»Frau Stolberg, machen Sie sich keine Sorgen, wir werden Ihnen helfen. Haben Sie das verstanden?«

»Ja…«, antwortete sie mühsam. »Ich will… nicht sterben.«

»Das werden Sie auch nicht!« versicherte Adrian, aber sie hörte ihn nicht mehr, denn sie war erneut bewußtlos geworden.

Schwester Claudia erschien gleich darauf und erfaßte die Situation mit einem Blick. Ohne daß Adrian auch nur ein Wort sagen mußte, legte sie ihre Hand an den Hals der Patientin, um das Blut weiterhin zurückzuhalten.

»Wer hat im OP angerufen?« fragte Adrian und untersuchte die Patientin rasch und gründlich, nachdem er seine Hand gewaschen hatte.

»Ich«, antwortete Claudia, »gerade eben. Es steht kein Gefäßspezialist zur Verfügung. Aber einen OP können wir haben. Sie müssen selbst operieren, Herr Dr. Winter.«

»Auch das noch«, murmelte Adrian. »An diesem Tag geht wirklich alles schief. Wie sieht es aus, Moni? Kann sie nach oben?«

»Ja, sie ist jetzt stabil.«

»Was für ein Team steht zur Verfügung?«

»Dr. Roloff«, antwortete Schwester Claudia. »Ich glaube, eine OP-Schwester ist nicht abkömmlich, aber…«

»Sie kommen mit!« kommandierte Adrian knapp. »Los, los, wir müssen uns beeilen, diese junge Frau hat keine Zeit zu verlieren! Was ist mit Bernd Schäfer? Kann er mir assistieren?«

»Ich glaube nicht«, antwortete Schwester Monika. »Er kämpft gerade um das Leben eines Mannes, der zwei Stunden unter einem Ast eingeklemmt war.«

Adrian biß sich auf die Lippen und schob gemeinsam mit Schwester Claudia im Eiltempo die Liege mit der Patientin zum Fahrstuhl. Immerhin war Werner Roloff dabei!

*

»Ich kann doch da jetzt nicht raus!« murmelte Karl Zapfmann. »Bei diesem Unwetter hab’ ich doch überhaupt keine Chance, das muß ich gar nicht erst probieren. Aber ich kann auch nicht einfach hier sitzen und nichts tun. Was mach’ ich bloß? Ob ich die Polizei anrufen soll? Aber die haben heute bestimmt auch was anderes zu tun. Wahrscheinlich nehmen sie noch nicht einmal den Hörer ab.«

Nicky fing an zu weinen, und es zerriß ihm fast das Herz. »Du bekommst bestimmt auch bald Hunger, was, Schätzchen?« murmelte er. »Ein bißchen Milch habe ich ja noch, die könnte ich dir warm machen. Aber wie kriege ich sie in dich hinein, das ist die große Frage! Ich habe ja kein Fläschchen!«

Er nahm das Kind auf den Arm und sang ihm etwas vor. Dabei schaukelte er es sanft hin und her, und tatsächlich beruhigte sich die Kleine bald wieder und schlief sogar ein. Erleichtert legte er sie wieder aufs Sofa. »Ein Aufschub«, murmelte er vor sich hin. »Eine Lösung ist das nicht.«

Plötzlich erhellte sich sein Gesicht, als ihm einfiel, daß sich in seinem Haushalt eine Schnabeltasse befand. Seine Frau war einmal schwer krank gewesen, und da hatten sie diese Tasse angeschafft. Aus der würde Nicky trinken können.

Er lief in die Küche, um die Tasse zu suchen, froh, daß er wenigstens für ein paar Minuten etwas zu tun haben würde. Doch er hatte kaum im ersten Schrank nachgesehen, als das Telefon klingelte. »Cora, das ist bestimmt Frau Stolberg!« teilte er seinem Dackel mit und meldete sich voller Hoffnung.

»Naumann«, hörte er gleich darauf, und die Stimme der mißmutigen alten Dame, die zwei Häuser weiter wohnte, auf der anderen Seite von Stolbergs, ernüchterte ihn sofort.

»Frau Naumann«, sagte er erstaunt. »Was verschafft mir denn die Ehre?«

»Keine Ehre«, knurrte Frau Naumann. »Es ist eine traurige Pflicht, die ich erfülle. Die junge Frau, die jetzt zwischen uns wohnt, ist verunglückt, das wollte ich Ihnen nur sagen. Ihr ist ein Dachziegel auf den Kopf gefallen – was mußte sie auch bei diesem Wetter aus dem Haus gehen!«

»Sie war einkaufen!« rief Karl Zapfmann. »Woher wissen Sie das überhaupt, Frau Naumann?«

»Meine Freundin wohnt in dem Haus, vor dem es passiert ist. Sie hat sofort einen Rettungswagen gerufen und zum Glück auch gefragt, wo sie sie hinbringen, sie hat sie nämlich gleich erkannt. Sie ist in der Kurfürsten-Klinik.«

Karl Zapfmann hatte weiche Knie und mußte sich setzen, so war ihm der Schreck in die Glieder gefahren. »Wie schlimm ist es denn?« fragte er.

»Sehr schlimm«, antwortete Frau Naumann. Sie war immer sehr direkt, Feingefühl gehörte nicht unbedingt zu ihren Tugenden. »Alles war voller Blut, und einer der Sanitäter hat gesagt: Bei der ist alles zu spät. Das hat meine Freundin selbst gehört.«

Karl Zapfmann spürte, wie ihm schlecht wurde. »Und Sie sind ganz sicher, daß hier kein Irrtum vorliegen kann?«

»Na, hören Sie mal!« antwortete Frau Naumann beleidigt. »Frau Stolberg sieht schließlich nicht so aus, daß man sie leicht mit jemanden verwechseln könnte, Herr Zapfmann!«

Da hatte sie allerdings recht. »Danke, daß Sie mich gleich angerufen haben«, sagte er kraftlos.

»Ich dachte mir, daß Sie sicher Bescheid wissen wollen«, erwiderte Frau Naumann ein wenig spitz. »Sie haben sich ja offenbar schon mit ihr angefreundet, nicht wahr?«

Er brummte nur, während er überlegte, ob er ihr von dem Baby erzählen sollte. Aber nein, dachte er, sie wird mir auch nicht helfen können. Er bedankte sich noch einmal und legte dann auf.

Sekundenlang blieb er regungslos sitzen, bevor er ein weiteres Mal zum Telefon griff. Er rief, wie an diesem Tag schon einmal, in der Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik an, wo er behauptete, Jessica Stolbergs Vater zu sein. Er hüte gerade seine Enkelin, erklärte er, und nun komme seine Tochter nicht nach Hause. Eine Nachbarin habe ihm von einem Unfall erzählt… Niemand bezweifelte seine Identität, und so gelang es ihm in relativ kurzer Zeit die Auskunft zu bekommen, die er haben wollte: Eine junge Frau namens Jessica Stolberg war tatsächlich vor kurzem in die Klinik eingeliefert worden. Sie war schwer verletzt und wurde jetzt im Moment operiert – voraussichtlich würde die Operation noch einige Stunden dauern.

Erschüttert legte er nach dem Gespräch den Hörer auf. Frau Stolberg lebte also, und es war keineswegs ›alles zu spät‹, wie Frau Naumann berichtet hatte. Aber natürlich war es möglich, daß die junge Frau in Lebensgefahr schwebte. Allein der Gedanke daran war schrecklich.

Er war so durcheinander, daß er erst nach einer Weile merkte, wie jämmerlich Nicky weinte. Er stand auf, suchte die Schnabeltasse, wärmte die Milch und beeilte sich, das kleine Mädchen zu beruhigen. Als das Kind schließlich satt und zufrieden in seinem Arm lag, fing er an nachzudenken, was nun zu tun sei. Bald stand sein Entschluß fest: Er mußte in die Kurfürsten-Klinik fahren, um sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, wie es Jessica ging. Hoffentlich gelang es ihm. Dr. Winter zu finden – der würde ihm sicher helfen.

*

Jessica Stolberg lag sehr schmal und wachsbleich auf dem Operationstisch. Ihr Atem ging flach, und der Anästhesist Dr. Werner Roloff ließ sie nicht eine Sekunde aus den Augen. Das Leben dieser jungen Frau, das wußte er ebenso wie die anderen im OP, hing an einem seidenen Faden. Sie hatte Glück im Unglück gehabt, daß sie überhaupt noch lebend in die Klinik gekommen war.

Niemand wagte, auch nur ein überflüssiges Wort zu sagen. Dr. Winter war völlig auf seine Arbeit konzentriert, die außerordentlich kompliziert war: Zahlreiche winzige Gefäße waren durchtrennt worden und mußten wieder zusammengefügt werden. Er war ein hervorragender Operateur, aber normalerweise führten nur Gefäßspezialisten solche Operationen durch. Ein solcher hatte aber nicht zur Verfügung gestanden, und das bedeutete, daß die junge Frau mit Sicherheit hätte sterben müssen, wenn Adrian sich nicht bereiterklärt hätte, sie zu operieren. Daher lastete ein enormer Druck auf ihm, zumal die Aufgabe, die er sich vorgenommen hatte, nicht nur schwierig, sondern auch langwierig war – und er selbst war nach den vergangenen Stunden in der Notaufnahme auch nicht mehr frisch und ausgeruht. Außerdem stand er unter höllischem Zeitdruck, denn der Zustand der Patientin war bereits bei ihrer Einlieferung kritisch gewesen. Sie hatte viel Blut verloren, obwohl der Rettungswagen schnell zur Stelle gewesen war und die Sanitäter den Ernst der Situation sofort erfaßt hatten. Es war ihnen dann in der Notaufnahmen zwar gelungen, den Zustand der Patientin zu stabilisieren, aber das bedeutete nicht, daß sie bereits gerettet war. Nach wie vor war ihr Zustand kritisch.

Dr. Werner Roloff, der hagere, grauhaarige Anästhesist, war Adrian Winter in dieser Situation eine große Hilfe – ebenso wie Schwester Claudia, die eigentlich keine OP-Schwester war, sich aber dieser ungewohnten Arbeit mit ihrer üblichen Gründlichkeit und Sorgfalt annahm. Sie paßte auf, und jeder ihrer Handgriffe saß.

»Wie sieht’s aus, Werner? Hält sie durch?«

»Mit meiner Hilfe wird sie das schon tun«, antwortete Werner Roloff ruhig. »Keine Sorge, Adrian, sie ist jung und gesund, sie hat eine Menge Kraftreserven.«

Ihm entging Adrians erleichterter Seufzer nicht. Er hatte sofort begriffen, daß sein junger, hochgeschätzter Kollege unter stärkerem Streß als gewöhnlich stand – kein Wunder, hatte er doch sicher bereits einiges hinter sich in seiner Notaufnahme an diesem Tag, an dem sogar das Wetter verrückt spielte. Und dann mußte er noch eine solche Operation vornehmen, die selbst für jemanden, der sich darauf spezialisiert hatte, schwierig genug gewesen wäre.

Werner Roloff bewunderte

Adrians Mut – und sein chirurgisches Können. Adrian arbeitete mit unglaublicher Präzision, und er würde diese junge Frau retten, davon war er überzeugt.

*

Fassungslos blickte Karl Zapfmann auf die völlig überfüllte Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik. So ein Chaos hatte er ja in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen! Immerhin war er bereits zweimal hier gewesen, und jedesmal war es ihm relativ ruhig vorgekommen. Aber das! Überall saßen oder lagen Menschen mit kleinen oder größeren Verletzungen, mit Kreislaufbeschwerden, mit Schmerzen. Einige jammerten, andere weinten, wieder andere gaben keinen Laut von sich, sondern starrten nur blicklos vor sich hin.

Er hatte noch eine ganze Weile zu Hause abgewartet und sich dann ein Taxi gerufen. Nicky hielt er auf dem Arm, und Cora hatte er erklärt, daß sie ausnahmsweise allein zu Hause bleiben müsse. Als wisse die Hündin, in welcher Notsituation er sich befand, hatte sie keinen Einspruch erhoben, sondern ihn gehen lassen. Vermutlich trug auch die allmähliche Wetterbesserung ihrer Verständigkeit bei. Es regnete zwar noch, aber es war längst nicht mehr so dunkel wie zuvor, so hatte Cora jetzt auch nicht mehr solche Angst.

Er hielt Ausschau nach jemandem, den er wegen Frau Stolberg befragen konnte. Schließlich sah er eine gutaussehende, schmale Frau um die Fünfzig, die ihm vertrauenerweckend erschien. »Frau Doktor, entschuldigen Sie bitte«, begann er höflich, und sie wandte sich ihm zu. Sie trug ein Namensschild, auf dem Dr. Martensen stand. Sie sah müde und erschöpft aus, fand er, und er glaubte, sie schon einmal gesehen zu haben.

»Ist etwas mit der Kleinen?« fragte sie sofort.

Er schüttelte den Kopf. »Nein, nein«, erklärte er hastig. »Ich suche nach… nach meiner Tochter, Jessica Stolberg. Sie ist hier eingeliefert worden, ein Dachziegel ist ihr auf den Kopf gefallen, und…«

»Ach, das ist Ihre Tocher? Mein Kollege operiert sie seit geraumer Zeit…«

»Dr. Winter?« fragte Karl erfreut. »Ich kenne Dr. Winter…«

Sie sah ihn nachdenklich an. »Ich habe das Gefühl, daß ich Sie auch kenne«, murmelte sie nachdenklich. »Waren Sie schon einmal hier?«

»Ja, ich hatte kürzlich einen kleinen Unfall. Mein Name ist Zapfmann.« Er hatte kein Interesse daran, das Thema zu vertiefen, sonst kam womöglich noch heraus, daß er gar nicht Jessica Stolbergs Vater war. »Wo ist sie? Jessica, meine ich.«

Frau Dr. Martensen sah auf die Uhr und sagte: »Die Operation müßte eigentlich bald beendet sein. Gehen Sie doch auf die OP-Station und warten Sie dort auf Dr. Winter. Er wird Ihnen alle Informationen geben, Herr Zapfmann.«

Sie erklärte ihm den Weg, er bedankte sich und eilte davon. Das war ja einfacher gewesen, als er befürchtet hatte.

*

»Vielen Dank, Werner, vielen Dank, Schwester Claudia«, sagte Adrian, als er sich endlich aufrichtete und damit die Operation an Jessica Stolberg für beendet erklärte. »Das war’s, und ich kann nur hoffen, daß wir das Leben der Patientin wirklich retten konnten.«

Die beiden Ärzte verließen den OP, während Jessica Stolberg bereits von Schwester Claudia auf die Intensivstation gebracht wurde. »Gute Arbeit, Adrian«, sagte Werner Roloff aufrichtig bewundernd. »Ich weiß nicht, wie du das eigentlich machst – Gefäßchirurgie ist schließlich nicht dein Fachgebiet.«

»Ich hätte es nicht gemacht, wenn ein Spezialist frei gewesen wäre«, gestand Adrian. »Aber die Frau hatte keine andere Chance als eine schnelle Operation.«

Sie zogen die OP-Kleidung aus, wuschen sich und betraten den Stationsflur. »Mir scheint, in letzter Zeit sehen wir uns nur noch, wenn’s brennt«, meinte Werner Roloff. »Ich hoffe, daß wir es bald wieder einmal schaffen, ein Bier zusammen zu trinken.«

»Nichts lieber als das, Werner. Aber jetzt muß ich zurück in meine Notaufnahme. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es da aussah heute morgen.«

»Sagen wir mal so: Ich ahne es. Tschüß, Adrian. Bis irgendwann einmal! Auf mich wartet bereits der nächste Patient im OP!«

»Tschüß, Werner!«

Adrian war in Gedanken noch bei der soeben beendeten Operation, und deshalb sah er Karl Zapfmann erst, als der alte Herr direkt vor ihm stand.

»Herr Dr. Winter, kann ich Sie kurz sprechen?«

»Sie?« fragte Adrian. »Sie wollten doch heute nicht kommen, Herr Zapfmann! Oder? Und wer ist das? Ich dachte, Sie hätten nur einen Hund, nun haben Sie auch noch ein Baby. Ihre Enkelin?«

»Sozusagen«, antwortete Karl Zapfmann verlegen. »Sie ist Jessica Stolbergs Tocher. Und Frau Stolberg ist meine neue Nachbarin. Wie geht es ihr?«

»Den Umständen entsprechend. Sie hat die Operation überstanden – aber sie hat unglaubliches Glück gehabt. Wieso ist dieses Baby sozusagen Ihre Enkelin? Was bedeutet das alles, Herr Zapfmann?«

»Ich mußte doch wissen, was mit Frau Stolberg ist, und da habe ich behauptet, daß sie meine Tochter sei, sonst hätte man mir keine Information gegeben. Und dann habe ich gehört, daß sie operiert wird, weil…«

»Langsam, langsam, Herr Zapfmann, so schnell kann ich Ihnen nicht folgen. Ich hatte seit vielen Stunden keine Pause mehr und bin deshalb zur Zeit ein wenig begriffsstutzig. Also: Wieso ist Frau Stolbergs Tochter bei Ihnen?«

»Entschuldigung, Herr Dr. Winter!« Karl holte tief Luft, und während er neben dem jungen Arzt zum Aufzug ging, erklärte er ihm, was passiert war. »Verstehen Sie jetzt?« fragte er zum Schluß, »daß ich zu dieser kleinen Notlüge greifen mußte?«

Adria nickte nachdenklich. »Ich denke, in diesem Fall läßt sie sich vertreten.«

»Kann ich sie sehen?« bat Karl. »Ein paar Sekunden nur, Herr Dr. Winter. Dann fahre ich wieder nach Hause und warte auf Herrn Stolberg. Der hat ja noch gar keine Ahnung, was passiert ist.«

Adrian überlegte nicht lange. »Kommen Sie mit«, sagte er knapp.

Kurz darauf betraten sie die Intensivstation. Nicky hatten sie bei einer freundlichen Schwester gelassen, um sie nicht zu erschrecken.

Adrian ging voran in das Zimmer, in dem Jessica lag, und Karl Zapfmann folgte ihm zögernd. Er war noch nie auf einer Intensivstation gewesen und wirkte entsprechend eingeschüchtert. Ängstlich blickte er auf die blasse Gestalt hinunter, die regungslos auf dem Bett lag – mit Schläuchen in Mund und Nase und einem großen Verband um den Hals. »Sie sieht ganz verändert aus«, flüsterte er. »So eine schöne junge Frau – und jetzt ist sie so blaß und schmal, daß man es mit der Angst zu tun bekommt.«

»Das ändert sich bald wieder, Herr Zapfmann«, tröstete Adrian. Dann schwiegen sie beide für einige Augenblicke, in denen der alte Herr sichtlich um seine Fassung rang.

Schließlich sagte Adrian: »Kommen Sie bitte, Herr Zapfmann! Wir sollten nicht länger hierbleiben.«

Karl nickte, strich Jessica einmal zart über den Arm und folgte dem Arzt aus dem Zimmer. Er nahm Nicky wieder in Empfang, und dann verließen sie die Intensivstation.

»Ich muß dringend zurück in die Notaufnahme, vermutlich sind meine Kolleginnen und Kollegen dort dem Zusammenbruch nahe«, erklärte Adrian.

»Das reine Chaos herrscht dort«, berichtete Karl. »Es war ganz anders als sonst. Ich nehme doch an, Sie sind froh, daß ich heute nicht auch noch gekommen bin, um mich untersuchen zu lassen?«

»Herr Zapfmann, Sie sind wirklich unverbesserlich!« Trotz seiner Müdigkeit mußte Adrian lächeln. »Aber wenn Sie es unbedingt hören wollen: Ja, darüber bin ich froh.«

Karl war jetzt wieder ganz ernst. »Sie wird doch wieder gesund? Frau Stolberg, meine ich?«

»Das hoffe ich. Wie gesagt, sie hat die Operation gut überstanden, und sie ist noch jung. Da übersteht man vieles, weil man eine Menge Reserven hat.«

»Danke, Herr Dr. Winter«, sagte Karl Zapfmann. »Ich bin froh, daß ich Sie kennengelernt habe. Und daß Sie nun auch Frau Stolberg operiert haben, sehe ich als gutes Zeichen an.«

Mit diesen Worten schüttelte er dem jungen Arzt die Hand und verließ die Klinik. Adrian blickte ihm nach. Wieder lächelte er trotz seiner Müdigkeit. Das Schöne an seinem Beruf war, daß er dadurch Menschen wie Karl Zapfmann kennenlernte.

*

Alexander Stolberg hätte nicht sagen können, warum er es an diesem Tag so eilig hatte, nach Hause zu kommen. Wind und Regen hatten sich inzwischen gelegt, es war zwar noch trübe, aber sonst wies nichts mehr auf das Unwetter hin, das am Morgen über die Stadt niedergegangen war. Es gab also keinen Grund für die große Unruhe, die Alexander verspürte.

Als er die Haustür aufschloß, wußte er im selben Augenblick, daß Jessica und Nicky nicht da waren. Das verstärkte seine Unruhe noch. Wo konnten sie denn jetzt noch sein? Obwohl er nicht mit einer Antwort rechnete, rief er laut: »Jessica? Wo bist du?«

Wie erwartet blieb alles ruhig. Trotzdem sah er in jedem Zimmer nach. Nirgends fand er einen Hinweis darauf, wohin die beiden gegangen sein könnten. Schließlich betrat er die Küche, um sich etwas zu trinken zu holen. Er hatte das Glas gerade geleert, als es klingelte. Erleichtert lief er zur Tür. Das mußten sie sein!

Aber es war statt dessen der alte Herr Zapfmann, der vor der Tür stand. Er machte ein merkwürdiges Gesicht, aber am seltsamsten war es, daß er Nicky auf dem Arm hatte. Auch sein Dackel war dabei, der allerdings bereits an Alexander vorbei ins Haus geflitzt war.

Alexander rief: »Nicky!« und streckte die Arme nach dem Kind aus. Und obwohl er bereits wußte, daß etwas passiert sein mußte, fragte er Herrn Zapfmann: »Wo ist Jessica?« während er die Kleine liebevoll an sich drückte.

»Kann ich hereinkommen?« fragte der alte Herr. Er hatte seine Stimme nicht richtig unter Kontrolle, und Alexander fühlte, wie eine eisige Hand nach seinem Herzen griff.

»Bitte«, sagte er hastig. Er ging voran ins Wohnzimmer, bot seinem Nachbarn einen Sessel an und setzte sich selbst mit Nicky auf den äußersten Sofarand. »Was ist passiert?« fragte er.

»Sie ist verunglückt, Ihre Frau. Ein Dachziegel ist ihr auf den Kopf und den Hals gefallen – sie mußte operiert werden. In der Kurfürsten-Klinik.«

Alexanders Mund fühlte sich so trocken an, daß er zunächst gar nicht sprechen konnte. Schließlich brachte er heraus. »Lebt sie?«

»Ja, aber sie war schwer verletzt.« Karl riß sich zusammen und schaffte es nun, dem jungen Mann einen einigermaßen zusammenhängenden Bericht der Ereignisse zu geben. »Ich habe sie gesehen, Herr Stolberg. Sie hängt an lauter Schläuchen, aber sie lebt. Und Dr. Winter hat gesagt, ihre Aussichten seien ganz gut.«

»Ihre Aussichten«, wiederholte Alexander mit leerem Blick. »Meine Güte, Herr Zapfmann, wenn Jessica…«

Aber der alte Herr ließ ihn nicht ausreden. »Ich wollte nur sagen, Nicky kann heute abend bei mir bleiben, wenn Sie wollen – ich bräuchte nur Windeln und Fläschchen und was es sonst noch so gibt.«

»Das ist sehr nett von Ihnen, Herr Zapfmann.«

Alexander rührte sich nicht, er hatte noch immer diesen leeren Blick, und Karl erkannte, daß er etwas tun mußte, um ihn aus seiner Erstarrung zu wecken. »Kommen Sie!« sagte er. »Wir packen die Sachen für Nicky zusammen, und dann fahren Sie in die Kurfürsten-Klinik zu Ihrer Frau.«

Aber noch immer rührte sich der junge Mann nicht, und Karl bekam es allmählich mit der Angst zu tun. »Herr Stolberg?«

»Ich liebe sie«, sagte der junge Mann tonlos. »Ich liebe Jessica, Herr Zapfmann.«

»Natürlich lieben Sie Ihre Frau, Herr Stolberg.« Karl wurde allmählich nervös. Alexander Stolberg benahm sich immer merkwürdiger, fand er.

»Das ist gar nicht natürlich«, sagte Alexander leise. Er stand auf. Jetzt endlich kam Leben in ihn. »Ich erzähle es Ihnen, wenn ich zurückkomme – aber vielleicht bleibe ich auch in der Klinik.«

»Kein Problem«, versicherte Karl.

»Es ist sehr nett von Ihnen,

daß ich Nicky bei Ihnen lassen kann«, erklärte Alexander. »Kommen Sie mit mir, damit wir die Sachen gemeinsam zusammensuchen? Ich… ehrlich gesagt, ich bin nicht direkt ein Fachmann für Babies.«

In der nächsten Viertelstunde waren die beiden Männer beschäftigt, und danach kehrte Karl Zapfmann mit Kind und Hund in sein kleines Haus zurück, während sich Alexander in sein Auto setzte und in die Klinik jagte.

*

»Das war der härteste Tag seit langem«, stellte Julia Martensen fest, als Adrian Winter und sie endlich nach Hause gehen konnten.

»Ja«, bestätigte Adrian und streckte seine Glieder, die ihm allesamt verkrampft und verspannt zu sein schienen.

»Und?« fragte Julia. »Bekommst du jetzt von Frau Senftleben eine Einladung zum Abendessen?«

»Keine Ahnung«, murmelte

Adrian. »Ich geh’ erst noch bei Jessica Stolberg vorbei – du weißt schon, bei der jungen Frau mit dem Dachziegel.«

»Ihr Vater war hier«, erinnerte sich Julia. »Der kam mir so bekannt vor, und er hat auch gesagt, daß er kürzlich einen Unfall hatte, aber ich konnte mich nicht erinnern…«

Adrian unterbrach sie lächelnd. »Karl Zapfmann, der renitente Hundebesitzer, der wegen seines Dackels unbedingt früher entlassen werden wollte…«

»Richtig!« sagte Julia. »Und der ist also Jessica Stockmanns Vater? Jetzt fällt mir erst auf, daß sie einen ziemlich alten Vater hat. Eher könnte er eigentlich ihr Großvater sein.«

»Er hat ein bißchen geflunkert, er ist ihr Nachbar. Aber wenn er das gesagt hätte, dann hätte er keine Auskunft bekommen. Also…«

»Ganz schön findig, der alte Herr«, meinte Julia lächelnd.

Adrian eilte auf die Intensivstation, wo ihn der Stationsarzt mit den Worten empfing: »Frau Stolbergs Zustand ist stabil, Herr Winter. Deshalb sind Sie doch hier, oder?«

»Ja, danke für die Auskunft. Ich war ein bißchen beunruhigt ihretwegen, das muß ich gestehen.«

»Bisher gibt es keinen Grund, wirklich nicht. Herr Stolberg ist übrigens gerade gekommen – es wäre schön, wenn Sie vielleicht auch noch mit ihm reden könnten. Er ist ziemlich durcheinander.«

»Sicher, gern«, erwiderte Adrian und betrat das Zimmer, in dem Jessica lag. Ihr Mann stand neben dem Bett und weinte lautlos.

Adrian räusperte sich leise. »Herr Stolberg?«

Der andere hob den Kopf und blickte ihn an. »Ja«

»Ich bin Dr. Winter, ich habe Ihre Frau operiert. Es geht ihr recht gut, auch wenn Sie ihr momentanes Aussehen sicher erschreckend finden. Aber das liegt an all den Schläuchen und Maschinen. Sobald sie die nicht mehr braucht, wird sie wieder ganz vertraut aussehen, glauben Sie mir das.«

»Es hätte ganz leicht schlimm ausgehen können, oder?« fragte Alexander Stolberg. »Wenn der Dachziegel nur ein bißchen anders gefallen wäre, dann…« Er beendete den Satz nicht, aber

Adrian wußte, was er hatte ausdrücken wollen.

»Ja«, gab er zu. »Es hätte tatsächlich schlimm ausgehen können. Aber es ist noch einmal gutgegangen. Ihre Frau hat einen Schutzengel gehabt, der sehr gut auf sie aufgepaßt hat.«

Nun weinte Alexander Stolberg noch heftiger. Adrian wußte, daß es nötig war, ihn eine Zeitlang weinen zu lassen. Schließlich faßte sich der junge Mann und bat: »Sagen Sie mir alles, was Sie wissen, bitte.«

Das tat Adrian, und der andere hörte ihm aufmerksam zu. Als der Arzt geendet hatte, fragte er: »Darf ich bei ihr bleiben?«

»Nein, das wird nicht gehen. Es ist schon eine Ausnahme, daß man Sie so kurz nach der Operation überhaupt zu ihr gelassen hat. Kommen Sie morgen früh wieder, dann können Sie sicher schon mit ihr sprechen.«

»Ein paar Minuten noch, ja?« bat Alexander Stolberg, und wieder liefen ihm die Tränen über das Gesicht.

Adrian nickte, verabschiedete sich und gab dem Stationsarzt Bescheid. Dann verließ er langsam die Klinik. Er war hart im Nehmen, aber dieser Tag hatte es wirklich in sich gehabt!

*

Karl Zapfmann hatte sich gedacht, daß man Alexander nicht erlauben würde, bei seiner Frau zu bleiben, und so hatte er sich vorsichtshalber wach gehalten. Das war ihm nicht schwergefallen, denn er hätte ohnehin nicht schlafen können, weil ihm einfach zu viel im Kopf herumspukte.

Als es schließlich klingelte, beeilte er sich zu öffnen. »Da sind Sie ja«, sagte er freundlich.

»Ich sah, daß Sie noch Licht hatten«, erwiderte Alexander Stolberg, »sonst hätte ich nicht gewagt, Sie noch zu stören.«

»Sie stören nicht«, versicherte Karl. »Im Gegenteil. Ich könnte jetzt sowieso nicht schlafen, der Tag war zu aufregend. Da bin ich froh, wenn ich noch ein wenig menschliche Gesellschaft habe – meine Gespräche mit Cora sind manchmal wenig ergiebig. Ein Bier?«

»Gern«, sagte Alexander und ließ sich in den Sessel fallen, den der alte Herr ihm angeboten hatte.

»Flasche oder Glas?«

»Flasche reicht. Schläft Nicky?«

»Wie ein Engel. Sie ist ein sehr liebes kleines Mädchen.«

»Sie ist nicht meine Tochter, hätten Sie das gedacht.«

»Nein«, antwortete Karl überrascht. »Wie hätte ich das auch denken sollen? Der erste Eindruck, den ich von Ihnen hatte, war, daß Ihr Glück vollkommen sein muß: Ein glückliches junges Paar mit einem gesunden, niedlichen Baby…«

»Ich habe Jessica geheiratet, weil sie in ihrer Familie erledigt gewesen wäre und mit einem unehelichen Kind. Ihre Eltern sind schrecklich konservativ, die hätten das nie und nimmer akzeptiert. Jessica und ich waren immer gut miteinander befreundet, und dann habe ich sie eines Tages mit einem meiner Freunde bekannt gemacht – mit Ben. Er hat nicht eher Ruhe gegeben, bis er eine Frau herumgekriegt hat, und genauso hat er’s auch mit Jessica getan. Sie können sich nicht vorstellen, Herr Zapfmann, wie viele Vorwürfe ich mir schon deswegen gemacht habe.«

»Aber Ihre Frau ist erwachsen«, warf Karl ein. »Sie mußte selbst wissen, was sie tat.«

»Schon«, gab Alexander zu, »aber ich kannte Ben schließlich, ich hätte die ganze Sache also verhindern können. Ich hab’ nur gedacht, ihr passiert das nicht, sie ist nämlich ziemlich zurückhaltend sonst…«

»Und da waren Sie enttäuscht von ihr, daß sie auf Ihren Freund hereingefallen ist?«

»Ein bißchen schon«, gab Alexander zu.

»Ich verstehe«, sagte Karl ziemlich nachdenklich. »Andererseits hatten Sie ein schlechtes Gewissen, weil Sie die beiden zusammengebracht haben. Und deshalb haben Sie ihr den Vorschlag gemacht, sie zu heiraten, damit zumindest nach außen hin alles in Ordnung ist.«

»Ja, genauso war es«, erwiderte Alexander leise. »Wir haben abgemacht, uns nach einer bestimmten Zeit wieder scheiden zu lassen. Das wird ihren Eltern auch nicht gefallen, aber es ist nicht so schlimm für sie wie ein uneheliches Kind – jedenfalls wird Jessica deshalb nicht aus der Familie ausgestoßen werden.«

»Ist denn die Familie so wichtig für sie?«

»Ich glaube schon. Sie sagt immer, sie hat nun einmal konservative Eltern, und es seien die einzigen, die sie hat.«

Karl lächelte. »Schön gesagt«, meinte er. »Und wann haben Sie gemerkt, daß Sie sich in Ihre eigene Frau verliebt haben?«

»Ganz richtig bewußt geworden ist es mir erst, als ich es vorhin zu Ihnen gesagt habe«, gestand Alexander. »Was soll ich jetzt bloß tun?«

»Das fragen Sie noch? Sie sagen es ihr, sobald sie die Augen aufschlägt, Herr Stolberg!«

»Aber…«

»Ich will jetzt keinen Satz hören, der mit aber anfängt!« Karl erhob seine Stimme und klang auf einmal sehr energisch. »Sie beide sind füreinander bestimmt, das habe ich gleich gesehen. Und Ihre Frau liebt Sie auch, Herr Stolberg – wenn Sie nicht so blind wären, dann hätten Sie das längst bemerkt!«

»Sie irren sich! Ben hat mich neulich angerufen, und das habe ich ihr erzählt. Ihre Reaktion hat mir gezeigt, daß sie ihn immer noch liebt. Sie will sogar wieder Kontakt mit ihm aufnehmen.«

»Wahrscheinlich, um ihm endlich die Hölle heiß zu machen, wie er es verdient«, stellte Karl trocken fest. »Ganz bestimmt nicht, um sich erneut mit ihm einzulassen.«

»Woher wollen Sie das wissen?« fragte Alexander, doch seine Augen waren auf einmal voller Hoffnung.

»Erfahrung von fünfundsiebzig Jahren«, antwortete Karl gemütlich. »Dachten Sie vielleicht, ich sei in meinem Leben nie verliebt gewesen und hätte mich dabei dumm angestellt?«

Er sah das Gesicht seines Gegenübers und lachte. »Tut mir leid, aber ich finde wirklich, daß Sie sich dumm anstellen, Herr Stolberg. Aber das tun Männer ja oft, wenn es um die Liebe geht! Fahren Sie morgen früh in die Klinik, reden Sie mit Ihrer Frau, und Sie werden ja sehen…«

»Kann ich Nicky wirklich bei Ihnen lassen?«

»Ich würde sie gar nicht hergeben, wo sie jetzt so schön schläft«, erwiderte Karl. »Und nun gehen Sie ins Bett und schlafen wenigstens noch ein paar Stunden – sonst sehen Sie morgen genauso blaß aus wie Ihre Frau, und sie bekommt einen Schrecken. Das wollen Sie doch bestimmt nicht, oder?«

Der junge Mann ergriff seine Hand, drückte sie ganz fest und stürzte aus dem Haus, aber Karl hatte doch noch gesehen, daß seine Augen verdächtig feucht geworden waren.

*

Dr. Adrian Winter hatte nur wenige Stunden geschlafen, aber er fühlte sich trotzdem erfrischt. Das Abendessen bei Frau Senftleben hatte er ausnahmsweise einmal ausgeschlagen und sich statt dessen sofort ins Bett gelegt, als er nach Hause gekommen war. Das war eine weise Entscheidung gewesen.

Nun stand er bereits wieder am Bett von Jessica Stolberg, und zu seiner größten Freude war sie wach. »Guten Morgen«, sagte er freundlich. »Mein Name ist Dr. Winter, ich habe Sie gestern operiert.«

»Operiert?« fragte sie ungläubig. »Ich bin doch nicht krank.«

»Wenn man von dem Dachziegel absieht, der Ihnen auf den Kopf gefallen ist, sind Sie kerngesund«, gab Adrian lächelnd zurück.

»Dachziegel?« fragte sie staunend, und er erzählte ihr in wenigen Worten, was passiert war. Er hatte seinen Bericht gerade beendet, als der Stationsarzt hinter ihm sagte: »Herr Stolberg ist da und möchte zu seiner Frau.«

»Dann gehe ich jetzt mal wieder«, erklärte Adrian. »Bis später, Frau Stolberg.«

»Bis später«, sagte sie leise, aber ihre Augen suchten bereits den Mann, der blaß und voller Angst zu ihr trat.

Adrian hörte gerade noch, wie er sagte: »Jessica, ich hatte solche Angst um dich.« Zufrieden machte er sich auf den Weg in die Notaufnahme. Die Liebe war immer eine große Hilfe bei schweren Verletzungen.

Alexander Stolberg hatte sich unterdessen über Jessica gebeugt und fragte wieder und wieder: »Es geht dir wirklich gut? Ganz bestimmt?«

»Ganz bestimmt«, versicherte sie. »Ich bin nur sehr müde, das ist alles.«

»Ich liebe dich«, sagte er plötzlich. »Weißt du das eigentlich? Ich glaube, ich wußte es selbst nicht richtig, bis ich gemerkt habe, wie schrecklich es für mich wäre, wenn du nicht mehr da wärst.«

Sie erwiderte nichts, und sofort bekam er es mit der Angst zu tun. »Du liebst Ben immer noch, stimmt’s? Deshalb hast du neulich auch so merkwürdig reagiert, als ich dir erzählt habe…«

»Ich habe Ben überhaupt nicht geliebt«, unterbrach sie ihn. »Ich war verliebt in ihn, das stimmt. Aber Liebe? Ach, Alex, dazu gehört mehr als ein bißchen Prickeln und Herzklopfen. Das habe ich jetzt endlich erkannt. Ich war einfach dumm damals, ich habe geglaubt, was er mir gesagt hat. Aber schon als er forderte, daß ich das Kind abtreiben solle, wußte ich, daß er nicht der Richtige für mich ist.«

»Soll das heißen«, fragte er vorsichtig, »ich meine, willst du damit andeuten, daß du auch, also daß wir…«

»Ich liebe dich, das soll es heißen«, sagte sie zärtlich. »Hast du das denn immer noch nicht verstanden?«

»Meine Frau liebt mich!« murmelte er überwältigt. »Da hatte Herr Zapfmann also doch recht.«

»Herr Zapfmann?« fragte sie erstaunt. »Wieso denn Herr Zapfmann?«

»Erzähl ich dir später«, versprach er. »Du liebst mich wirklich, Jessica?«

Sie nickte.

»Ich kann es noch gar nicht fassen. Bitte, sag es noch einmal!«

»Ich liebe dich«, murmelte Jessica, der die Augen zufielen, so erschöpft war sie bereits von diesem kurzen Gespräch. »Schon lange, Alex!«

Das überwältigte ihn. Er beugte sich über sie und küßte sie vorsichtig auf die Stirn. Dann setzte er sich neben sie, hielt ihre Hand und beobachtete, wie sie ganz allmählich, mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen, wieder einschlief.

*

Als Jessica aus der Klinik entlassen wurde, suchten sie und ihr Mann Dr. Adrian Winter noch einmal auf, um sich bei ihm zu bedanken.

»Sie haben ihr das Leben gerettet, das werde ich Ihnen nie vergessen, Herr Dr. Winter«, sagte Alexander, der einen Arm beschützend um seine schmale junge Frau gelegt hatte. Er strahlte vor Glück.

Adrian blickte die beiden an. »Sie sehen so aus, als hätten Sie gerade erst geheiratet.«

»In gewisser Weise stimmt das auch«, sagte Jessica und sah ihren Mann verliebt an. »Aber das ist eine ziemlich lange Geschichte, Herr Dr. Winter.«

»Sie machen mich wirklich neugierig«, gestand Adrian. »Wenn man zwei Menschen sieht, die so offensichtlich glücklich miteinander sind, dann möchte man natürlich gerne das Geheimnis wissen, das dahintersteckt.«

Alexander gab seiner jungen Frau einen Kuß und erläuterte: »Wir haben eine Vernunftehe geschlossen, Herr Dr. Winter. Und nun ist eine Liebesgeschichte daraus geworden. Das ist eigentlich schon alles.«

»Besser so als umgekehrt«, meinte Adrian nachdenklich.

»Ja, nicht wahr?« erwiderte Alexander vergnügt. »Man kann unser Rezept nur empfehlen.«

»Mein nächstes Baby bekomme ich in der Kurfürsten-Klinik, Herr Dr. Winter«, versprach Jessica.

»Aber bitte nicht in der Notaufnahme«, wehrte Adrian erschrocken ab.

Lachend verabschiedeten sie sich voneinander, und die Heiterkeit dieses Augenblicks begleitete den Arzt noch lange.

Kurfürstenklinik Paket 1 – Arztroman

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