Читать книгу Kurfürstenklinik Paket 1 – Arztroman - Nina Kayser-Darius - Страница 30

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»Willst du mich heiraten, Inga?« fragte Holger.

Sie lagen nebeneinander unter einer Palme, und Inga sah träge auf das aquamarinblaue Meer, das sich vor ihr ausbreitete. Das reine Paradies, dachte sie. Es waren nur wenige Menschen an diesem Strand, der Sand war schneeweiß, die Palmen bogen sich sanft in der leichten Brise, die vom Meer herüberwehte, und das Wasser lag ruhig und still wie ein See vor ihnen. Nur ab und zu kräuselte es sich zu kleinen Wellen, die über den Strand züngelten. Vor Beginn der Reise hatte sie nicht erwartet, daß es in Südafrika so schön sein würde. Hier könnte ich es sehr lange aushalten, dachte sie.

»Inga?« Holgers Stimme klang ungeduldig. »Hast du nicht gehört, was ich gefragt habe?«

Endlich wandte sie den Kopf und sah ihn an. Er war ein gut aussehender Mann mit blonden Locken und einem noch sehr jungenhaften Gesicht, obwohl er vor einiger Zeit seinen dreißigsten Geburtstag gefeiert hatte. Sie selbst war siebenundzwanzig, aber sie fand, daß sie viel reifer war als Holger. Seine blauen Augen waren erwartungsvoll auf sie gerichtet, und sie unterdrückte nur mit Mühe einen Seufzer. Natürlich hatte sie seine Frage gehört, aber sie war sicher gewesen, daß er nur Spaß gemacht hatte. Offenbar war das ein Irrtum. Er meinte es ernst.

Sie waren für drei Wochen nach Südafrika geflogen, um sich das Land anzuschauen und sich am Meer zu erholen. »Drei Wochen ohne Streß und Hektik!« hatte Inga vor der Reise zu ihrer älteren Schwester gesagt. »Ach, Lolly, ich stelle es mir einfach himmlisch vor.«

Jetzt erinnerte sie sich auch daran, daß Lolly etwas vor sich hin gebrummt hatte von der Art: »Wie soll das denn gehen: Mit Holger, aber ohne Streß? Das paßt nicht zusammen!« Aber Lolly konnte Holger nun mal nicht leiden, deshalb durfte man solche Bemerkungen nicht allzu ernst nehmen. »Dieser Kerl«, sagte sie immer, wenn sie von ihm sprach, oder auch »dieses unreife Bürschchen.«

Und jetzt kam also ›dieser Kerl‹ mit einer solch entscheidenden Frage an. Was war nur in ihn gefahren? Sie waren noch nicht einmal eine Woche hier, und sie hatte gerade damit begonnen, sich zu entspannen, da fing er an, solche…

»Inga!«

Sie kannte diesen Tonfall. Er war imstande, ihr den ganzen Urlaub zu verderben. »Ja!« sagte sie leicht genervt und wollte schon hinzufügen: »Natürlich habe ich dich gehört«, aber Holger kam ihr zuvor, und es zeigte sich, daß er ihre Antwort anders aufgefaßt hatte, als sie gemeint gewesen war.

»Warum hast du mich denn so lange zappeln lassen?« fragte er und beugte sich über sie, um sie zu küssen. »Ich dachte schon, du willst mich nicht heiraten!« Sein Tonfall verriet, daß er das keineswegs gedacht hatte, denn Holger fand sich selbst unwiderstehlich, was Inga wiederum eher rührend fand. Aber ihr Verhältnis zu Holger war sowieso nicht ganz geklärt. Manchmal liebte sie ihn heiß und innig, dann wieder ging er ihr furchtbar auf die Nerven.

Als er sie nun leidenschaftlich küßte, begriff sie erst, daß sie das einem Mißverständnis zu verdanken hatte: Er nahm an, daß sie seinen Heiratsantrag soeben angenommen hatte. Sie erwiderte seinen Kuß und wollte ihn schon sacht zurückschieben, um das Mißverständnis aufzuklären, aber dann überlegte sie es sich anders. Warum sollte sie das tun und sich so mit ziemlicher Sicherheit den Urlaub verderben? Sie konnte auch später noch sagen, daß sie sich geirrt hatte. Oder sie konnte Holger heiraten, denn manchmal liebte sie ihn ja wirklich sehr…

Er richtete sich auf. »Ich geh ein bißchen schwimmen«, sagte er. »Kommst du mit?«

Sie schüttelte den Kopf. »Zu faul«, erklärte sie. »Ich bleib lieber hier liegen.«

Er küßte sie noch einmal. »Angenehme Tagträume«, wünschte er und sprang auf. Gleich darauf warf er sich in das klare blaue Wasser. Inga schloß die Augen. Was für eine verrückte Idee, ihr hier am Strand einen Heiratsantrag zu machen. Aber das war wieder einmal typisch Holger. Und wenn sie ehrlich war, dann war es ja auch das, was ihr an ihm gefiel: Seine verrückten Ideen, seine Spontanität, seine Jungenhaftigkeit. Aber genau diese Dinge gingen ihr häufig genug auf die Nerven. Dann fand sie ihn verantwortungslos, oberflächlich und kindisch.

Aber sie würde sich einfach keine Gedanken mehr über eine mögliche Hochzeit machen, solange sie beide in Urlaub waren. Es würde sich schon alles finden. Inga schlief ein, und sie hatte einen wundervollen Traum: Sie lag ganz allein irgendwo an einem weißen Sandstrand unter einer Palme, es war sehr warm, aber ein sanfter Wind kühlte ihre Haut, und sie hatte das blaue Meer sanft plätschernd vor sich…

*

Dr. Adrian Winter fuhr sich verlegen mit beiden Händen durch die dichten dunkelblonden Haare. Seine Kollegin Julia Martensen wartete geduldig. Es war offensichtlich, daß er mit ihr über etwas Wichtiges sprechen wollte, aber er wußte wohl noch nicht so recht, wie er anfangen sollte.

»Sag mal, Julia«, sagte er endlich, »könntest du dir vorstellen, die Notaufnahme eine Weile stellvertretend zu leiten?«

Mit allem hatte sie gerechnet, nur damit nicht. »Was soll das denn, Adrian?« fragte sie überrascht. »Willst du etwa weg aus Berlin? Oder weg von der Kurfürsten-Klinik?«

Der fünfunddreißigjährige Unfallchirurg Dr. Adrian Winter leitete die Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik, und niemand hätte das engagierter tun können als er. Er war allgemein beliebt und anerkannt – und wenn man einmal von Thomas Laufenberg, dem neuen Verwaltungsdirektor der Klinik, absah, dann gab es niemanden, mit dem er nicht gut auskam.

»Nein, ich will nicht weg von hier«, erklärte er seiner Kollegin jetzt. Julia Martensen war Internistin, und sie war mehr als zehn Jahre älter als Adrian. Die beiden arbeiteten hervorragend zusammen und vertrauten einander. »Aber ich muß eine Zeitlang woanders arbeiten – auf einer anderen Station, meine ich. Ich merke, daß sich mein Horizont verengt, wenn ich immer nur in der Notaufnahme Dienst habe, verstehst du? Ihr anderen habt zwischendurch auch manchmal Stationsdienst, aber als Leiter der Notaufnahme bin ich immer hier – ich fühle mich irgendwie ausgelaugt. Kannst du das verstehen, oder klingt das für dich merkwürdig?«

Julia Martensen sah ihn nachdenklich an. »Das klingt überhaupt nicht merkwürdig, Adrian. Niemand arbeitet so viel wie du, das weiß doch jeder hier. Ich habe mich schon oft gefragt, wie du das eigentlich schaffst – du hast ja ebensowenig wie ich eine Familie, die dich wieder aufbaut, wenn du abends nach Hause kommst.«

»Ich habe immerhin Frau Senftleben«, murmelte Adrian.

Julia mußte lachen. »Ich kenne deine Nachbarin ja leider nicht, aber ich kann dich nur um sie beneiden. Wenn auch nur die Hälfte von dem stimmt, was du manchmal erzählst, dann muß sie völlig unbezahlbar sein.« Sie wurde wieder ernst. »Aber zurück zu dir. Was genau hast du denn vor?«

»Das weiß ich noch nicht. Wenn ich mich mit Herrn Laufenberg ein bißchen besser verstehen würde, dann könnte ich zu ihm gehen, ihm mein Problem vortragen und hoffen, daß ihm etwas dazu einfällt. Aber so, wie die Dinge liegen, werde ich das natürlich nicht tun.«

»Vielleicht würde ihm wirklich etwas einfallen«, meinte Julia. »Ich würde ihn an deiner Stelle fragen – egal, wie eure Beziehungen zur Zeit aussehen. Vielleicht würden sie sich dadurch sogar endlich normalisieren. Es ist absolut albern, daß sich ausgerechnet zwei hochmotivierte und talentierte Männer wir ihr nicht verstehen.«

»Von ›hochmotiviert‹ habe ich bei ihm bisher noch nichts bemerkt«, entgegnete Adrian mit verschlossenem Gesicht. »Und was seine Talente betrifft, die sind mir auch verborgen geblieben, muß ich gestehen.«

»Weil du eine vorgefaßte Meinung hast, von der du nicht abgehen willst«, bemerkte Julia tadelnd und betrachtete ihn kopfschüttelnd. »So kenne ich dich gar nicht, Adrian! Und das paßt auch nicht zu dir. Als Arzt bist du so besonnen – aber was Herrn Laufenberg betrifft, da kann ich nur sagen, daß du ein ausgesprochen ­unreifes Verhalten an den Tag legst!«

»Ist mir egal«, erwiderte Adrian grimmig. »Ich mag ihn nicht, und damit basta. Außerdem will ich mit dir gar nicht über ihn reden, sondern ich will wissen, ob ich auf dich zählen kann, wenn ich mich wirklich darum bemühe, der Notaufnahme mal für ein paar Wochen den Rücken zu kehren. Ich wüßte nicht, wer mich sonst vertreten sollte. Bernd ist noch nicht soweit, und Werner ist als Anästhesist ständig im Einsatz. Außerdem könnte ich mir vorstellen, daß ihm das auch zu stressig ist, er ist immerhin schon Ende fünfzig.«

»Er hat aber noch nie darüber geklagt, daß er sich ausgelaugt fühlt«, sagte Julia spitz. Sie ärgerte sich noch immer über Adrian, weil er sich in ihren Augen wie ein bockiger kleiner Junge verhielt, wenn es um den neuen Verwaltungsdirektor ging.

Adrian wurde rot, dann lächelte er verlegen. »Sei nicht böse auf mich«, bat er. »Ich weiß auch nicht, warum ich auf den Namen Laufenberg immer so gereizt reagiere.«

»Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung«, murmelte Julia. »Um deine Frage zu beantworten: Natürlich kannst du auf mich zählen. Ich finde, daß das eine gute Idee von dir ist, die eigentlich Schule machen sollte. Für jeden von uns wäre es gut, von Zeit zu Zeit aus dem gewohnten Trott auszubrechen.«

»Danke«, sagte Adrian, und nach kurzem Zögern schloß er seine schlanke Kollegin in die Arme und küßte sie auf beide Wangen. Dabei flüsterte er ihr ins Ohr: »Und du bist auch die einzige, die mir von Zeit zu Zeit mal die Meinung sagen darf!«

»Das tue ich sowieso, ob ich das nun darf oder nicht«, erwiderte Julia. »Und wie willst du das mit der anderen Station machen? Du weißt doch ganz genau, daß du mit Herrn Laufenberg darüber reden mußt – oder?«

»Darüber denke ich noch nach«, antwortete Adrian. »Ich hoffe, daß mir eine andere Lösung einfällt, eine interne, wenn du so willst. Es ist ein bißchen blöd, ihn wegen dieser Sache zu fragen, wo ich mich dauernd bei ihm darüber beschwere, daß wir hier zu wenig Personal haben – und dann komme ich auch noch an und will selbst für ein paar Wochen von der Station verschwinden. Das will ich nun gerade ihm nicht unbedingt sagen.«

»Unverbesserlich, der Mann«, meinte Julia.

»Wer?« erkundigte sich Bernd Schäfer interessiert. Der junge Assistenzarzt der Chirurgie war zu seinem Leidwesen in einen ständigen Kampf mit seinen zahlreichen überschüssigen Pfunden verwickelt. Außerdem war er Frauen gegenüber schüchtern, und deshalb war er meistens allein. Aber er tat so, als mache ihm das nur wenig aus. Er war oft verliebt, aber meistens erfuhren die betreffenden Frauen es nicht einmal. Nur die Kollegen in der Notaufnahme, mit denen er oft zusammenarbeitete, wußten über sein ›Liebesleben‹ recht gut Bescheid.

»Adrian«, antwortete Julia kurz angebunden. »Kaum fällt der Name Laufenberg, schon verwandelt sich der sonst so vernünftige Mann in einen unverständigen kleinen Jungen. Aber ich sage zu dem Thema nichts mehr. Wenn du willst, Bernd, dann kannst du ja dein Glück mal versuchen.«

Bernd hob abwehrend beide Hände. »O nein!« rief er. »Das Thema ist tabu, Julia!«

Er wechselte einen verschwörerischen Blick mit seiner Kollegin.

Adrian hatte genug. »Wollen wir uns vielleicht endlich mal wieder unseren eigentlichen Aufgaben zuwenden?« fragte er. »Oder möchtet ihr noch länger über mich sprechen? Dann geh ich schon mal vor.«

Bernd grinste breit,und Julia tat es ihm nach. Adrian gab sich geschlagen. »Ihr habt gewonnen«, sagte er. »Aber das nächste Mal ist einer von euch dran, darauf könnt ihr euch verlassen. Jeder Mensch hat seine schwachen Seiten, vergeßt das nicht.«

»Wem sagst du das?« fragte Bernd Schäfer und klopfte sich betrübt auf seinen runden Bauch.

In diesem Augenblick öffneten sich die Türen der Notaufnahme, und mehrere Unfallopfer wurden hereingebracht. Schlagartig änderte sich die Stimmung, von Ruhe war jetzt nichts mehr zu spüren. Die Schmerzensschreie der Verletzten erfüllten die Station, während die Ärzte sie in fliegender Eile untersuchten und erste Hilfsmaßnahmen einleiteten. In der nächsten halben Stunde fiel kein privates Wort mehr. So lange dauerte es, bis die Patienten soweit versorgt und stabilisiert waren, daß sie zur Weiterbehandlung in die Operationssäle geschickt werden konnten.

Als die Aufregung etwas nachließ, gestattete sich Julia Martensen einen prüfenden Blick zu

Adrian Winter. Nichts war zu spüren gewesen davon, daß er sich ausgelaugt fühlte. Völlig souverän hatte er dafür gesorgt, daß die Patienten behandelt wurden, nicht eine Sekunde lang hatte er die Übersicht verloren.

Ihr fiel niemand ein, der imstande gewesen wäre, eine so kritische Situation ebenso gelassen zu meistern wie er. Sie fragte sich, ob er wußte, wie gut er als Chef der Notaufnahme war. Vielleicht wußte er es nicht. Und vielleicht war genau das sein Problem.

*

An diesem Samstagmorgen saß Lolly Matthäus-Kleber mit ihrem Mann Burkhard beim Frühstück und studierte die Post. »Eine Karte von Inga!« sagte sie erfreut. »Die ist aber schnell angekommen, sie war nicht einmal eine Woche unterwegs, stell dir das mal vor.«

Burkhard Kleber nickte, ohne von seiner Zeitung aufzusehen. Das tat er erst, als seine Frau einen ziemlich schrillen Schrei ausstieß. »Was ist los, Lolly?« fragte er. »Irgendeine Katastrophe?«

»Holger hat sie gefragt, ob sie ihn heiraten will«, stieß Lolly hervor. Ihr hübsches rundes Gesicht hatte einen völlig entgeisterten Ausdruck angenommen.

»Sie hat ›nein‹ gesagt«, vermutete Burkhard gelassen, »und jetzt ist der ganze Urlaub verdorben.«

»Sie hat ›ja‹ gesagt!« stieß Lolly hervor.

Endlich ließ ihr Mann die Zeitung sinken. »Im Ernst?« fragte er mit wachsendem Interesse. »Warum?«

»Sie schreibt, es sei eigentlich ein Mißverständnis gewesen. Sie will es aber nicht aufklären, weil sonst der Urlaub verdorben wäre.«

»Kann ich mir denken. Wenn Jung-Holger nicht bekommt, was er sich in den Kopf gesetzt hat, dann kann er bestimmt ganz schön eklig werden.«

Burkhard sagte immer ›Jung-Holger‹, und das tat er nicht nur, weil der Altersunterschied zwischen ihm und dem Freund seiner Schwägerin über zehn Jahre betrug. Lolly, die eigentlich Lorene hieß, aber von niemandem so genannt wurde, war Ingas ältere Schwester. Sie hatte gerade ihren fünfunddreißigsten Geburtstag gefeiert, während Burkhard bereits vierzig war. Die beiden hatten zwei Kinder, Kitty und Kai, die mit großer Liebe an ihrer jungen Tante Inga hingen.

Die zweieiigen Zwillinge waren jetzt acht, sehr aufgeweckte Kinder, die ihre Eltern manchmal zur Verzweiflung brachten – meistens aber kamen sie gut miteinander aus. An diesem Wochenende waren sie bei Freunden, und Lolly und Burkhard genossen die ungewohnte Ruhe.

»Aber wenn sie seinen Heiratsantrag angenommen hat, kann sie doch hinterher nicht einfach sagen: ›April, April‹, Burkhard! Das geht nicht, finde ich.«

Burkhard griff über den Tisch nach der Hand seiner Frau. »Mach dir keine Sorgen, Lolly. Inga macht das schon. Du kennst sie doch.«

»Das sagst du so leicht. Sie ist jetzt schon über ein halbes Jahr mit diesem Kerl zusammen, und manchmal hab ich wirklich Angst, daß sie an ihm hängenbleibt.«

»Das wird sie nicht. Irgendwann wacht sie auf, reibt sich die Augen und schickt Holger in die Wüste. Er sieht nun mal gut aus, das blendet sie wahrscheinlich. Aber das hört auf. Sie ist ein kluges Mädchen, die bleibt nicht auf Dauer mit so einem Typ wie Holger zusammen!«

Das klang ein wenig verächtlich, drückte aber recht genau aus, was Burkhard Ingas Freund gegenüber empfand. Er war mit seiner Frau über dessen Beurteilung völlig einig. Holger Weinmann war verwöhnt, unreif und egoistisch. Er war kein Mann für die temperamentvolle Inga, der alle Herzen zuflogen, weil sie immer lächelte und das Leben von der heiteren Seite nahm. Man konnte ihr nur schwer widerstehen.

Lolly und Inga hatten ein sehr enges und herzliches Verhältnis zueinander, obwohl der Altersunterschied zwischen ihnen so groß war. Aber Lolly hatte sich für ihre kleine Schwester immer verantwortlich gefühlt, und Inga hatte zu Lolly geradezu unbegrenztes Vertrauen. Da hatte es sich nicht einmal störend ausgewirkt, daß Lolly Ingas Freund Holger unmöglich fand.

»Hoffentlich hast du recht«, sagte Lolly bedrückt. »Ehrlich, Burkhard, wenn Inga unglücklich würde, das wäre für mich ganz schrecklich.«

»Sie wird ihn nicht heiraten!« wiederholte ihr Mann nachdrücklich und tätschelte noch einmal ihre Hand. »Ich würde darauf wetten. Und jetzt laß dir nicht den Tag von dieser Karte verderben, Schätzchen. Wir sind an diesem Wochenende ohne Kinder, das muß schließlich gebührend gefeiert werden, oder?«

»Hattest du etwas Bestimmtes im Auge?« erkundigte sich Lolly lächelnd.

Er erhob sich, stellte sich neben ihren Stuhl und zog sie in die Höhe. »Und ob!« sagte er. »Findest du nicht auch, daß wir uns noch mal ein bißchen ins Bett zurückziehen könnten?«

Sie gab ihm einen Kuß und ein paar Laute von sich, die er als Zustimmung auslegte. Eng umschlungen gingen sie zurück ins Schlafzimmer.

*

Inga Matthäus lag mit einer schlanken dunkelhaarigen Frau am Strand. Ulrike Monheim hatte einige Jahre als Entwicklungshelferin gearbeitet, nun aber machte sie Urlaub, genau wie Inga und Holger. Südafrika, hatte sie erzählt, sei schon lange ihr Traum gewesen, den sie sich jetzt endlich habe erfüllen können. Sie hatte eine leise, angenehme Stimme und konnte außerordentlich interessant erzählen.

Inga war mit Holger eine Woche durchs Land gereist, jetzt aber wollten sie sich wieder ein paar Tage erholen. Holger hatte keine Lust gehabt, sie an den Strand zu begleiten, er war im Hotel geblieben. Und so hatte Inga Gelegenheit, sich mit Ulrike Monheim zu unterhalten, die sie bereits an ihrem ersten Tag in Südafrika kennengelernt hatten. Sie wohnte im selben Hotel, aber Holger hatte sie von Anfang an nicht gemocht, und deshalb waren sie einander bisher nicht nähergekommen, was Inga sehr bedauerlich fand. Nun hatten sie sich zufällig am Strand getroffen und unterhielten sich lebhaft miteinander.

»Und Sie waren Entwicklungshelferin in Äthiopien?« staunte Inga. »Das finde ich hochinteressant. Wissen Sie, ich bin Einkäuferin für junge Mode. Ich arbeite für ein großes Kaufhaus, und das ist ziemlich stressig, weil ich mich niemals vertun darf, die Sachen müssen sich ja hinterher verkaufen lassen – und wenn sie es nicht tun, ist es meine Schuld. Ich mache die Arbeit gern, auch das Risiko gefällt mir eigentlich, auf diese Weise wird es nicht so schnell langweilig. Und von purer Routine kann auch keine Rede sein. Aber ich habe schon oft darüber nachgedacht, ob es nicht schöner wäre, einen Beruf zu haben, in dem man etwas für andere Menschen tun kann. Etwas wirklich Sinnvolles. Ich bewundere Sie, daß Sie so etwas machen!«

Ulrike Monheim lächelte. »Ach, überschätzen Sie das nicht, ich selbst finde mich nicht besonders bewundernswert. Was wir machen, klingt vielleicht edelmütig, aber in Wirklichkeit bekommen wir für unseren Einsatz auch so viel Liebe zurück, daß ich oft das Gefühl habe, reich beschenkt zu werden. Es ist eine anstrengende, aber wunderbare Arbeit.«

»Das klingt schön, wie Sie das sagen«, meinte Inga nachdenklich und warf ihre glatten dunkelblonden Haare nach hinten. »Jedenfalls fragen Sie sich doch bestimmt nie, ob Ihr Leben überhaupt einen Sinn hat, oder? Denn es ist ja ganz klar, daß es einen hat. Bei mir bin ich da nicht so sicher.«

Die andere schüttelte den Kopf. »Zweifel haben wir alle«, stellte sie sachlich fest. »Wissen Sie, wenn ich sehe, wie wir uns bemühen, den Menschen in den ärmsten Ländern dieser Welt wenigstens ein paar Grundregeln der Hygiene beizubringen, und wie sie dann doch immer wieder Wasser aus verseuchten Flüssen trinken oder ohne Kondom Geschlechtsverkehr haben – dann frage ich mich schon auch, ob das nicht alles sinnlos ist, was ich da tue.«

»Aber Sie haben wenigstens versucht zu helfen«, meinte Inga. »Und das zählt doch auch.«

»Ja, das zählt. Aber jeder Mensch hat andere Begabungen. Und man muß sie nutzen. Warum soll jemand als Entwicklungshelfer arbeiten, wenn ihm dazu die Geduld, das Einfühlungsvermögen und auch die Stärke fehlen? Oder ganz einfach die Lust? Das wäre sinnlos. Lust gehört nämlich auch dazu.«

»Von dieser Seite habe ich das noch nie betrachtet«, meinte Inga. Nach einer Weile fügte sie hinzu: »Ich rede mit Ihnen, Sie sind so anders als die meisten Menschen, die ich kenne.«

Ulrike Monheim lächelte voller Zuneigung. »Danke, gleichfalls. Aber ich fürchte, unser Gespräch wird gleich beendet sein. Ihr Freund kommt. Und wenn ich das richtig sehe, dann redet er mit mir überhaupt nicht gern.«

Bevor Inga etwas erwidern konnte, hatte Holger die beiden jungen Frauen schon erreicht. Mürrisch sagte er: »Guten Tag« zu Ulrike, die seinen Gruß freundlich und gelassen erwiderte.

»Komm mit, Inga!« forderte er dann. »Laß uns schwimmen gehen.«

»Geh allein, ich hab keine Lust. Ich möchte mich noch ein bißchen unterhalten.«

Er durchbohrte sie fast mit seinen Blicken, und für einen Augenblick tat es ihr leid, so reagiert zu haben. Er würde sie den ganzen Abend mit seiner schlechten Laune tyrannisieren. Aber sie wollte jetzt nicht nachgeben.

Schließlich wandte sich Holger ab und ging zum Wasser. Selbst sein Rücken drückte aus, wie sehr er sich ärgerte.

»Gehen Sie ihm nach«, riet Ulrike Monheim. »Wir können uns ein anderes Mal weiter unterhalten.«

»Soviel Zeit bleibt nun auch nicht mehr«, meinte Inga. »Wir haben schon mehr als die Hälfte unseres Urlaubs herum. Und Sie?«

»Oh, ich bleibe noch vier Wochen!« lachte Ulrike. »Dieses ist für mich der erste Urlaub in zehn Jahren – der muß sich doch lohnen, finden Sie nicht?«

»Der erste Urlaub in zehn Jahren!« Ingas Stimme klang fast andächtig. »Ehrlich, Frau Monheim, ich weiß nicht, wie Sie das machen. Ich wäre völlig kaputt, wenn ich nicht wenigstens einmal im Jahr alle viere von mir strecken und meinen Job vergessen könnte.«

»Das ist alles Gewohnheitssache«, meinte Ulrike.

Sie schwiegen einträchtig, und Inga merkte nicht einmal, daß Holger wieder aus dem Wasser kam. Er blieb neben ihr stehen, in der Hoffnung, sie werde sich ihm nun endlich anschließen, aber sie öffnete nicht einmal die Augen. Mißmutig kehrte er zum Hotel zurück.

*

Adrian Winter war auf der Hut. Er konnte sich nicht erklären, was der Verwaltungsdirektor Thomas Laufenberg mit ihm zu besprechen hatte. Es kam nur sehr selten vor, daß er gebeten wurde, sich in dessen Büro einzufinden. Meistens war der Anlaß eher unerfreulich, denn Adrian beschwerte sich regelmäßig darüber, daß die Notaufnahme personell nicht gut genug ausgestattet war, und bisher hatte auch Thomas Laufenberg hier keine Abhilfe schaffen können.

Adrian war fest davon überzeugt, daß er sich darum auch gar nicht bemühte. An diesem Glauben hielt er hartnäckig fest, auch wenn viele seiner Kollegen nur Gutes über Thomas Laufenberg zu berichten hatten. Nun, das war wirklich ihre Sache. Seine Meinung würde er sich jedenfalls nicht nehmen lassen, auch wenn Julia Martensen ihn deswegen unreif fand.

»Sie haben mich um ein Gespräch gebeten«, sagte er steif, während er in der Nähe der Tür stehenblieb. Der andere sollte bloß nicht denken, daß er zum Plaudern hierhergekommen war. Er würde nicht so tun, als wäre alles in bester Ordnung, nein, er würde hier stehenbleiben, sich anhören, was der Direktor zu sagen hatte, und dann wieder gehen.

»Setzen Sie sich bitte einen Augenblick, Herr Dr. Winter«, sagte Thomas Laufenberg höflich. Er trug, wie immer, wenn er im Dienst war, einen Anzug mit Krawatte. Niemand ahnte, wie schwer ihm das fiel, aber diese ›Uniform‹ gehörte in seiner Funktion nun einmal dazu, darüber brauchte man nicht einmal zu diskutieren.

»Ich bleibe lieber stehen«, erwiderte Adrian abweisend. »Es wird hoffentlich nicht lange dauern? Wir haben viel zu tun in der Notaufnahme. Sie wissen ja, die Personalsituation hat sich immer noch nicht gebessert.«

»Ja, ich weiß«, bestätigte Thomas Laufenberg. »Wären Sie interessiert daran, für ein paar Wochen auf der Isolierstation zu arbeiten?«

»Wie bitte?« fragte Adrian verblüfft. »Was soll das denn jetzt bedeuten?«

Der andere machte ein undurchdringliches Gesicht. »Ich denke«, erklärte er, »daß es für jeden, der an dieser Klinik arbeitet, gut wäre, ab und zu mal seinen angestammten Arbeitsplatz zu verlassen, damit die Routine durchbrochen wird. Sehen Sie das anders?«

»Nein, das sehe ich genauso«, antwortete Adrian und trat nun doch näher, um sich zu setzen.

Thomas Laufenberg gestattete sich nicht einmal ein Lächeln. »Eben«, sagte er ruhig. »Und deshalb frage ich mich, ob Sie nicht ein paar Wochen auf die Isolierstation gehen wollen – ich habe Ihren Unterlagen entnommen, daß Sie sich früher sehr für Infektionskrankheiten interessiert haben. Also wäre doch dort genau der richtige Platz für Sie – oder nicht?«

»Das stimmt«, murmelte Adrian, in dessen Kopf sich die Gedanken überschlugen. War das Zufall, oder hatte Julia ihn verraten? Wenn sie das getan hatte, würde er nie wieder ein Wort mit ihr reden, das stand fest!

»Darf ich fragen, wie Sie so plötzlich auf diese Idee kommen?« erkundigte er sich.

»Gar nicht plötzlich«, antwortete der Direktor. »Die Idee hatte ich schon früher, aber die Gelegenheit, sie umzusetzen, hat bislang gefehlt. Und jetzt ist es so, daß wir einen bösen Engpaß auf der Isolierstation haben. Und ich muß jemanden dorthin schicken, der mit den Problemen vertraut ist.«

»Na ja, die Notaufnahme ist auch nicht gerade überbesetzt«, meinte Adrian. »Und wenn ich dann auch noch ausfalle…« Er schüttelte den Kopf. »Ich würde das wirklich gern machen, aber ich sehe nicht, wie das funktionieren soll.«

»Darüber habe ich mir Gedanken gemacht«, erklärte Thomas Laufenberg. »Ich schicke für die Zeit, in der Sie auf der Isolierstation sind, zwei Ärzte im Praktikum in die Notaufnahme. Die sollen ordentlich was lernen und froh sein, daß sie dazu soviel Gelegenheit erhalten. Was denken Sie denn, wer Sie am besten vertreten könnte in Ihrer Tätigkeit als Leiter?«

»Frau Dr. Martensen«, antwortete Adrian prompt und erkannte zu spät, daß er damit praktisch zugestimmt hatte, auf den Vorschlag des Verwaltungsdirektors einzugehen. Mißtrauisch suchte er in dessen Gesicht nach Anzeichen für seinen Triumph, aber Thomas Laufenberg verzog keine Miene.

»Besprechen Sie das bitte mit Frau Dr. Martensen«, sagte er ruhig. »Und dann geben Sie mir Bescheid, ob Sie meiner Bitte entsprechen können. Sie würden mir damit sehr helfen, Herr Dr. Winter.«

Adrian stand auf und versprach: »Ich denk drüber nach und sag Ihnen bis morgen Bescheid. Auf Wiedersehen.«

Als er das Zimmer verlassen hatte, lehnte sich Thomas Laufenberg zurück und entspannte sich. Das war ja einfacher gewesen, als er befürchtet hatte. Aber dieser Adrian Winter war und blieb trotzdem eine harte Nuß – die härteste Nuß an dieser Klinik, dabei hatte er ihm nicht das geringste getan. Zumindest war er sich keiner Schuld bewußt. Er fragte sich allmählich, ob es ihm wohl jemals gelingen würde, sein Vertrauen zu gewinnen. Hoffentlich bekam Julia Martensen jetzt keinen Ärger. Er konnte sich gut vorstellen, daß sie sich einem recht peinlichen Verhör würde unterziehen müssen.

Bei diesem Gedanken mußte er unwillkürlich lächeln. Sie war eine großartige Frau und würde damit schon fertig werden.

*

»Ich muß mit dir reden, Julia«, sagte Adrian knapp, als er in

die Notaufnahme zurückkehrte. »Jetzt sofort, wenns geht.«

»Darf ich vielleicht meinen Patienten noch behandeln, oder soll das jemand anderes übernehmen?« erkundigte sie sich mit unschuldigem Gesicht.

»Ich warte im Aufenthaltsraum auf dich«, antwortete Adrian und verschwand. Er stürzte gerade einen lauwarmen Kaffee hinunter, als Julia auftauchte und freundlich fragte: »Worum geht’s?«

»Um Verwaltungsdirektor Laufenberg«, sagte Adrian mit ganz finsterem Gesicht. »Hast du ihm denn von unserem Gespräch erzählt?«

»Ich weiß nicht, wie du darauf kommst«, log Julia, ohne auch nur eine Miene zu verziehen. »Was ist denn passiert?«

Er erzählte es ihr in wenigen Sätzen und ließ sie dabei nicht aus den Augen. »Schwöre mir, daß du damit nichts zu tun hast!« verlangte er, als er seinen Bericht beendet hatte.

Sie machte ein gekränktes Gesicht. »Sag mal, was soll das?« beschwerte sie sich. »Findest du nicht auch, daß du allmählich wunderlich wirst, Adrian? Das ist doch genau das, was du wolltest? Warum sagst du nicht einfach zu, statt deine Kollegen haltlos zu verdächtigen?«

»Nicht meine Kollegen«, widersprach er. »Ich verdächtige dich, sonst niemanden. Du bist die einzige, mit der ich über dieses Thema gesprochen habe. Niemand anders kommt für diesen Verrat in Frage.«

»Verrat – was für ein großes Wort«, sagte Julia kopfschüttelnd. »Wenn du unsere Freundschaft nicht ernsthaft gefährden willst, Adrian, dann laß uns schleunigst das Thema wechseln.«

Nun erschrak er. »Tut mir leid, Julia, aber der Gedanke, du könntest mit Laufenberg über mich gesprochen haben, ist mir einfach schrecklich unangenehm.«

»Warum eigentlich?« erkundigte sie sich neugierig. »Nur mal so rein theoretisch. Was wäre denn so schrecklich daran?«

Zunächst war er um eine Antwort verlegen, dann zuckte er mit den Schultern und sagte: »Na ja, weil er nicht direkt mein Freund ist. Ich will nicht, daß er etwas über mich erfährt, worüber ich mir selbst noch nicht richtig im klaren bin.«

»Verständlich«, meinte Julia. Sie war froh, daß sie Thomas Laufenberg nichts über Adrians Motive verraten hatte. Sie hatte nur, ganz nebenbei, angeregt, ihn eine Zeitlang woanders arbeiten zu lassen. Und dabei hatte sie außerdem angedeutet, daß das vielleicht dazu beitragen könnte, das Verhältnis zwischen den beiden Männern dauerhaft zu entkrampfen.

»Ich habe ihm überhaupt nichts über dich verraten«, sagte sie mit fester Stimme, und damit sagte sie die reine Wahrheit. Zumindest sah sie das so.

*

»Mensch, was für tolle Briefmarken!« schrie Kitty. »Die krieg ich aber, Kai hat die letzten gekriegt.«

»Deshalb mußt du doch nicht so schreien!« sagte Lolly und hielt sich demonstrativ die Ohren zu. »Willst du, daß ich taub werde – oder was?«

Kitty fing an zu kichern. »Wär vielleicht gar nicht schlecht, Mami. Dann könntest du nicht mehr hören, was wir sagen – und wir könnten uns den ganzen Tag Geheimnisse erzählen, während du daneben sitzt. Aber du würdest sie trotzdem nicht mitkriegen.«

»Quasch!« bemerkte Kai, Kittys Zwillingsbruder, wichtig. »Sie würde ganz schnell lernen, von den Lippen abzulesen – und dann wärs schon wieder Essig mit den Geheimnissen.«

»Wie soll das denn gehen – von den Lippen ablesen?« erkundigte sich Kitty, die davon noch nie etwas gehört hatte. »Du spinnst ja, das hast du dir bloß wieder ausgedacht!«

Während Kai seine Schwester aufklärte, vertiefte sich Lolly noch einmal in die letzte Karte, die ihre Schwester aus Südafrika geschrieben hatte. In ein paar Tagen würde Inga ja nun endlich zurückkommen, sie freute sich schon sehr darauf. Das Leben war schöner, wenn Inga in der Nähe war. Mit ihr konnte sie über alles sprechen, was ihr am Herzen lag, Inga hatte auch immer eine Überraschung für die Kinder parat – und wenn sie zu Besuch war, herrschte sofort gute Laune.

Außerdem verging Lolly fast vor Neugierde, wie es denn nun mit Holger stand. Davon schrieb Inga auf ihrer letzten Karte leider nichts, denn sie hatte sie ausschließlich an die Kinder gerichtet – und für die war Holger natürlich nur von geringem Interesse. Holger hatte für Kinder nicht viel übrig, deshalb nahmen die Zwillinge auch kaum Notiz von ihm. Ob er da war oder nicht, machte für sie keinen Unterschied.

Nun, sie würde bald erfahren, ob Inga ihn darüber aufgeklärt hatte, daß sie ihn in Wirklichkeit gar nicht heiraten wollte. Oder ob sie es sich nun doch wieder anders überlegt hatte. Bei Ingas Impulsivität war schließlich alles möglich.

Bloß nicht, dachte Lolly. Alles, bloß das nicht. Holger Weinmann als Schwager, das wäre wirklich das letzte, was ich mir wünsche. »Das Allerletzte!« murmelte sie vor sich hin und machte dabei einen ganz verkniffenen Mund, was nur sehr selten vorkam bei ihr.

»Was ist das Allerletzte?«

Zwei Augenpaare sahen sie sehr aufmerksam an. Sie wollte schon etwas erfinden, aber dann schüttelte sie den Kopf und sagte: »Mein Geheimnis. Ich verrats euch nicht.«

Sofort setzte ohrenbetäubendes Geschrei ein. »Das ist gemein!« rief Kai. »Wir sollen dir immer alles erzählen, aber du hast Geheimnisse vor uns.«

»Das ist sogar obergemein!« schrie Kitty.

Lolly hielt sich die Ohren zu, bis sie sah, daß die Kinder sich wieder beruhigt hatten. »Marsch in eure Zimmer!« befahl sie. »Hausaufgaben machen sich nicht von allein, das wißt ihr doch.«

»Verrate uns erst dein Geheimnis«, verlangte Kitty. »Dann sind wir auch so fleißig wie noch nie!«

Doch Lolly blieb hart. »Nichts da!« sagte sie streng. »Auf Erpressung reagiere ich überhaupt nicht, das wißt ihr ganz genau. Und jetzt laßt mich endlich in Ruhe, ich habe eine Menge Arbeit, und ich muß nachdenken.«

»Über das Allerletzte?« fragte Kai listig.

Darüber mußte Lolly lachen. »Ja, genau, Kai«, antwortete sie. »Über das Allerletzte!«

*

»Unser letzter Abend, Inga«, sagte Holger und hob sein Glas. Bewundernd sah er sie an. Sie war noch schöner als sonst, fand er. Ihre Haut hatte einen sanften Bronzeton angenommen, die dunkelblonden Haare waren von hellen Strähnen durchzogen, die die Sonne ausgebleicht hatte, ihre Augen strahlten, und ihr dünnes Kleid zeigte, daß sie eine tadellos schlanke und dabei wohlgerundete Figur hatte.

Ja, sie war die Frau seiner Träume, obwohl sie manchmal ziemlich eigensinnig sein konnte. Das fand er weniger schön. Daß sie sich zum Beispiel unbedingt mit dieser langweiligen Entwicklungshelferin hatte anfreunden müssen, hatte er überhaupt nicht verstanden. Alle Versuche seinerseits, ihr die Frau madig zu machen, waren leider gescheitert. Nicht einmal sein Hinweis, daß sie Gefahr lief, sich mit möglicherweise extrem gefährlichen Krankheiten zu infizieren, hatte Inga völlig kalt gelassen. Sie hatte ihn einfach ausgelacht und sich weiter mit dieser Frau unterhalten, obwohl sie wußte, daß er sie nicht ausstehen konnte.

Er war darüber verärgert gewesen, aber sie hatte ziemlich böse reagiert, als er das gesagt hatte. Und daraufhin hatte er lieber seinen Mund gehalten. Wenn sie erst einmal verheiratet waren, dann würde es sich ganz von selbst ergeben, daß sie nur mit Leuten befreundet waren, die sie beide gern mochten. Na ja, mit Ausnahme der Familie natürlich. Ingas Schwester Lolly mußte er eben ertragen – und ihren Mann und die Kinder ebenso. Aber vielleicht konnte man den Kontakt mit ihnen auf wenige Male im Jahr beschränken, das würde sich zur Not aushalten lassen.

»Irgendwie fühle ich mich komisch«, murmelte Inga. »Ob ich wohl was Falsches gegessen habe?«

»Ist dir schlecht?« fragte Holger stirnrunzelnd. Das fehlte gerade noch! Er hatte sich eine romantische letzte Nacht in Afrika vorgestellt – mit allem, was dazugehörte.

»Ich weiß nicht genau«, antwortete Inga, und diese vage Antwort sah ihr überhaupt nicht ähnlich. »Mir ist schrecklich heiß, Holger, und ich fühle mich so benommen.«

»Na ja, wir sind in Afrika«, stellte Holger gelassen fest. »Daß es hier heiß ist, sollten wir doch allmählich wissen.« Er selbst fand es gar nicht so heiß, zumal überall in den Gebäuden die Klimaanlagen auf Hochtouren liefen. Manchmal war es ihm sogar zu kalt, wenn er länger irgendwo saß. Er fand es draußen in der Regel bedeutend angenehmer – jedenfalls im Schatten und in Meeresnähe.

»Ja, natürlich«, sagte Inga. »Es geht sicher bald wieder weg. Dir fehlt nichts? Ich meine, könnten wir etwas gegessen haben, das uns nicht bekommen ist?«

»Mir geht’s großartig«, antwortete Holger, und das stimmte auch. Er fühlte sich so gut wie schon lange nicht mehr. »Vielleicht hättest du dich doch nicht so intensiv mit dieser Entwicklungstante anfreunden sollen. Wer weiß, was die alles für Krankheiten mit sich rumschleppt.«

»Red keinen Quatsch«, sagte Inga, aber es klang längst nicht so scharf wie sonst, wenn sie wütend war.

Ihm fiel jetzt auf, daß das besondere Strahlen ihrer Augen, das ihm vorhin noch so gefallen hatte, auch ein fiebriger Glanz sein konnte, und er sah die aufregende Nacht, auf die er sich die ganze Zeit schon so sehr gefreut hatte, in unerreichbare Ferne entschwinden. Wenn Inga sich eine fiebrige Erkältung eingefangen hatte, dann konnte er die aufregende Nacht mit ihr vergessen. Er schluckte seinen Ärger hinunter, obwohl er fand, daß sie besser hätte auf sich aufpassen sollen. Wenn man Urlaub in Südafrika machte, dann wurde man einfach nicht krank und verdarb dem Partner dadurch den Urlaub – na ja, vielleicht nicht den Urlaub, aber doch zumindest den letzten Abend. Aber er würde großzügig darüber hinweggehen und so tun, als sei alles in Ordnung, damit sie sah, daß er ihr nichts nachtrug.

Er hob sein Glas mit einem Cocktail von durchdringend grüner Farbe. »Auf uns, Inga!« sagte er zärtlich.

Sie nickte nur und hob ihr Glas ebenfalls. Er bemerkte nicht, daß sie nur kurz daran nippte und es gleich darauf wieder abstellte.

*

Als Adrian Winter nach Hause kam, sah er eilig den ziemlich dicken Poststapel durch, den er in seinem Briefkasten gefunden hatte. Nichts als Rechnungen und Werbung! Doch halt, das stimmte nicht ganz, stellt er fest, denn ganz zum Schluß fand er den Brief eines alten Freundes, mit dem er früher in England zusammengearbeitet hatte. Adrian war ein paar Jahre in einem Londoner Krankenhaus gewesen, und er war noch heute froh über diese Erfahrung.

Dort hatte er Martin Sommer kennengelernt – und sie hatten herzlich gelacht, als sie einander vorgestellt worden waren. »Fehlen nur noch Frühling und Herbst«, hatte Martin gespottet.

Er war ein schmaler Dunkelhaariger, für den damals alle Schwestern des Krankenhauses geschwärmt hatten – vor allem wohl wegen des melancholischen Ausdrucks seiner dunklen Augen, die in vielen Frauen offenbar das Bedürfnis weckten, ihn zu bemuttern. Dabei fand Martin nichts schrecklicher als das – und er war auch absolut kein melancholischer Mensch. »Keine Ahnung, wie dieser Ausdruck in meine Augen kommt, Adrian, ehrlich! Wenn ich wüßte, wie ich ihn verhindern könnte, würde ich es sofort tun!«

Adrian lächelte, als ihm diese Sätze des Freundes wieder einfielen. Damals hatten sie oft über Martins Anziehungskraft auf mütterliche Frauen gesprochen, denn sie brachte ihn schier zur Verzweiflung. Er spottete gern und liebte eigentlich lebhafte, temperamentvolle Frauen, die wußten, was sie wollten. Aber es nützte nichts. Anziehend wirkte er immer auf die anderen. Bis heute war Martin Sommer Junggeselle.

Nun schrieb er: Ich werde zwei Wochen in Berlin verbringen und wollte Dich fragen, ob Du mich aufnehmen kannst. Wenn das zu viele Umstände macht (ich habe dafür jedes Verständnis), dann weißt Du vielleicht ein nettes Hotel oder eine kleine Pension in Deiner Nähe? Denn in jedem Fall hoffe ich sehr darauf, daß wir uns sehen können. Wir haben so viele gemeinsame Erinnerungen, daß ich es schade fände, wenn wir nicht einige davon ausgraben würden. Den genauen Tag meiner Ankunft kann ich Dir noch nicht mitteilen – aber es wird schon bald sein. Ich vertraue einfach darauf, daß Du zu Hause bist, wenn ich aufkreuze. Wenn nicht, wird mich das auch nicht umwerfen, Du kennst mich ja. Also, hoffentlich bis bald!

Adrian freute sich. Das war eine wirklich angenehme Nachricht. Natürlich konnte Martin bei ihm wohnen. Seine Wohnung war zwar nicht so luxuriös groß wie die seiner Nachbarin, aber doch groß genug, um einen Freund eine Zeitlang zu beherbergen.

Kaum war ihm Frau Senftleben eingefallen, als er auch schon, mit dem Brief in der Hand, seine Wohnung verließ und bei ihr klingelte. Er mußte nicht lange warten, bis sie ihm öffnete. Ihre grauen Haare waren klatschnaß, und sie hatte sich ein Handtuch um den Kopf geschlungen.

»Frau Senftleben!« rief Adrian. »Ich wollte Sie nicht beim Haarewaschen stören.«

»Sie wundern sich wohl, was?« fragte seine Nachbarin lächelnd. »Immerhin kennen Sie meine Gewohnheiten ja ganz gut. Also, ich habe versucht, mir eine blaue Tönung zu machen, aber ich fürchte, es ist schrecklich schiefgegangen. Kommen Sie bitte herein.«

Er folgte ihr ins Bad und sagte sachkundig: »Lassen Sie mal sehen!«

Sie ließ das Handtuch sinken und sah ihn dann aus ihren blauen Augen erwartungsvoll an. Carola Senftleben ging auf die siebzig zu, was ihr niemand geglaubt hätte, der das zum ersten Mal hörte.

»Sehr blau!« stellte Adrian kopfschüttelnd fest. »Ihre Haare haben von Natur aus ein ausgesprochen schönes Grau. Können Sie mir mal erklären, warum Sie das auf einmal ändern wollen?«

»Ein bißchen Abwechslung hat noch niemanden geschadet!« erklärte sie. »Und ich habe neulich wieder so eine Frau mit Silberhaar gesehen, das einen leichten Blauschimmer hatte – sehr elegant. Da habe ich beschlossen, das für mich auch mal zu versuchen. Kann ich mich so sehen lassen, oder muß ich zum Friseur?«

»Wie lange hält sich das denn?« fragte Adrian stirnrunzelnd.

»Ach, ich glaube, das wäscht sich mit der Zeit wieder raus«, behauptete Frau Senftleben achtlos. »Und so wichtig ist es ja auch nicht. Was ist das für ein Brief, den Sie da haben? Wollen Sie ihn mir vorlesen, oder was haben Sie damit vor?«

Das brachte Adrian in Erinnerung, warum er eigentlich bei ihr geklingelt hatte. »Ich bekomme Besuch von einem guten alten Freund«, erzählte er. »Wollen Sie uns nicht einen Abend Gesellschaft leisten, Frau Senftleben? Martin ist ein ausgesprochen netter Mann, und ich glaube, Sie würden sich gut mit ihm verstehen.«

»Eine richtige Einladung?« staunte seine Nachbarin.

»Ja«, lachte Adrian. »Ich habe Angst, daß unsere Beziehung sonst etwas einseitig wird.«

Nun lachte auch Frau Senftleben. Sie war eine leidenschaftliche Köchin und hatte es sich angewöhnt, ihren jungen Nachbarn, der so viel arbeitete, oft zum Essen einzuladen – was sich Adrian nur allzu gern gefallen ließ, zumal sie bei aller nachbarschaftlichen Freundschaft stets sehr zurückhaltend blieb. Niemals hätte sie sich ungefragt in seine Angelegenheiten gemischt.

»Wo wir schon mal dabei sind«, sagte sie vergnügt, »ich habe Rouladen gemacht, gestern schon, aber da war ich ja in der Oper und habe vorher auswärts gegessen. Haben Sie Lust, heute mit mir zu speisen?«

»Mit Vergnügen, Frau Senftleben«, antwortete Adrian. »Ich habe übrigens noch eine Neuigkeit für Sie.«

»Na?« fragte sie. »Welche denn?«

»Ab morgen arbeite ich für vier Wochen auf der Isolierstation«, antwortete Adrian. »Was sagen Sie nun?«

»Großartig!« erklärte Frau Senftleben im Brustton der Überzeugung. »Es ist gut, wenn Sie mal etwas anderes erleben als immer Ihre Notaufnahme. Sie werden sehen, Adrian, das gibt Ihnen wirklich jede Menge neuen Schwung.«

Sie ging in die Küche. »Kommen Sie mit!« kommandierte sie. »Bis das Essen soweit ist, trinken wir ein Glas Wein auf all die Neuigkeiten. Sie können schon mal die Flasche aufmachen.«

Das ließ sich Adrian nicht zweimal sagen, und gleich darauf saßen sie einander gegenüber und hoben ihre Gläser.

»Wann kommt Ihr Freund denn?« erkundigte sich Frau Senftleben.

»Keine Ahnung«, antwortete Adrian. »Bei solchen Terminen ist er nicht besonders präzise. ›Bald‹ hat er geschrieben. Wenn er sich nicht völlig verändert hat, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe, dann würde ich meinen, das bedeutet heute oder morgen.«

Seine Nachbarin lachte vergnügt und hob ihr Glas. »Auf Ihren Besuch, Adrian!« sagte sie herzlich.

*

»Ich hab so ganz komische Flecken«, murmelte Inga am Morgen ihrer Abreise und hielt sich krampfhaft am Waschbeckenrand fest. »Ich glaub, ich hab auch Fieber, Holger.«

Sie sah wirklich nicht gut aus, das mußte Holger zugeben. Die Nacht war ziemlich unerfreulich gewesen, sie hatten beide schlecht geschlafen. Inga hatte laut gestöhnt und sich hin und her gewälzt – mehrmals hatte sie ihn dadurch aufgeweckt. »Aber du kannst doch fliegen, oder?« erkundigte er sich stirnrunzelnd. Alles andere, dachte er, wäre eine Katastrophe gewesen. Der Urlaub hatte einen Haufen Geld gekostet, er durfte gar nicht daran denken, was es bedeuten würde, wenn sie vielleicht noch ein paar Tage anhängen mußten. Und vielleicht auch noch Arztkosten und jede Menge Ärger und Umstände…

»Klar kann ich fliegen«, behauptete Inga mit müder Stimme, obwohl sie keineswegs davon überzeugt war, daß sie das konnte. »Ich muß mich ja wirklich nur ins Flugzeug setzen, das ist alles, und das werd ich schon noch schaffen.«

Er atmete erst einmal auf. Und weil er so erleichtert war, zeigte er sich ungewöhnlich fürsorglich. »Bleib im Zimmer, bis ich unten alles erledigt habe«, meinte er. »Und die Koffer kann ich auch allein zu Ende packen. Du kannst dich ja noch ein bißchen auf dem Bett ausstrecken, wir haben noch fast zwei Stunden Zeit, bis der Bus zum Flughafen kommt.«

Inga nickte dankbar, ging zurück zum Bett und legte sich wieder hin. Ihr war richtig schwindelig, und ihr Nacken fühlte sich ganz steif an. So schlecht hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Wenn sie nur erst wieder zu Hause in Berlin wären! Allein der Gedanke daran, daß sie stundenlang in einem Flugzeug sitzen mußte, auf einem dieser schrecklichen engen Sitze, ließ sie bereits schaudern.

Außerdem hatte sie auch immer besonderes Glück mit ihren Sitznachbarn. Auf der einen Seite würde natürlich Holger sitzen – aber auf dem Hinflug hatte auf ihrer anderen Seite ein Mann gesessen, der eigentlich zwei Sitze benötigt hätte.

Sie stöhnte leise. Warum mußte sie jetzt ausgerechnet daran denken? Das verbesserte ihr Befinden auch nicht gerade. Wie gut, daß Holger das mit dem Bezahlen übernahm. Sie hätte jetzt ganz bestimmt nicht an der Rezeption stehen und noch lange warten können.

Ihre Gedanken wurden unscharf und verworren, sie hatte das Gefühl, daß es ihr nicht mehr gelang, sie richtig auseinanderzuhalten. Sie wußte nicht einmal mehr, worüber sie gerade eben noch nachgedacht hatte. Sekunden später war sie eingeschlafen.

*

Als Adrian auf der Isolierstation eintraf, erwartete ihn eine Überraschung. Schwester Claudia begrüßte ihn mit ihrem üblichen zurückhaltenden Lächeln und sagte: »Willkommen auf der Isolierstation, Herr Dr. Winter.«

»Schwester Claudia!« erwiderte er erstaunt. Sie arbeiteten oft in der Notaufnahme zusammen, und er schätzte die junge Frau sehr. Sie war eher still und sanft, aber sie konnte dennoch überaus beharrlich sein. Während die anderen zwischendurch immer gern ihre Scherze machten, zog Claudia es vor, unauffällig ihre Arbeit zu tun. Adrian wußte, daß sie alles, was sie tat, äußerst gründlich machte. Noch nie hatte es einen Grund gegeben, über sie zu klagen.

Sie wirkte oft ein wenig distanziert, weil sie sich an Scherzen oder Späßen nur selten beteiligte, was aber nicht hieß, daß sie keinen Spaß verstand. Es war nur einfach so, daß sie ein eher ernster Typ war. Sein Stamm-Team in der Notaufnahme hatte sich daran gewöhnt, und alle arbeiteten gern mit Schwester Claudia zusammen, weil sie hundertprozentig zuverlässig war.

»Ich hatte nicht damit gerechnet, Sie hier zu sehen«, erklärte er seine Überraschung.

»Aber ich hatte mit Ihnen gerechnet«, erwiderte sie und präzisierte dann: »Ich wußte, daß Sie für vier Wochen hier auf der Station sein würden, und ich habe gefragt, ob es möglich sei, in dieser Zeit mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Ich lerne gern noch etwas dazu, und auf der Isolierstation bin ich bisher erst einmal ganz kurz gewesen.«

Er streckte ihr spontan die Hand entgegen und sagte: »Auf gute Zusammenarbeit, Schwester Claudia.«

»Wie bisher, oder?« fragte sie schüchtern.

»Wie bisher!« bestätigte er, und sie errötete, was ihr sehr gut stand. Sie war eine unauffällige Frau, auch äußerlich, aber auf den zweiten Blick stellte man fest, daß sie hübsch aussah mit ihren dunkelblonden Haaren und den grauen Augen. Sie war keine Schönheit, aber ihr Äußeres war genauso angenehm wie ihre Art zu arbeiten.

»Dann weisen Sie mich mal ein, Claudia«, bat Adrian. »Ich nehme an, Sie wissen schon Bescheid, wie es hier läuft?«

Sie nickte. »Ich bin seit zwei Tagen hier. Bitte folgen Sie mir, die anderen Kollegen warten schon auf Sie.«

Das tat Adrian, und erstaunt stellte er fest, daß er sich fühlte, als trete er eine Stelle an einem neuen Krankenhaus an. Er war aufgeregt und fast ein bißchen nervös, aber vor allem freute er sich auf die unbekannten Aufgaben, die vor ihm lagen.

*

Allmählich fing Holger doch an, sich Sorgen zu machen. Die Mitreisenden im Bus, der sie zum Flughafen bringen sollte, warfen Inga und ihm hin und wieder verstohlene Blicke zu, das entging ihm nicht. Sie hatte mittlerweile das ganze Gesicht voller Flecken und döste vor sich hin. Er hatte Mühe genug gehabt, sie zu wecken und anschließend aus dem Zimmer zu führen. In den Bus war sie schließlich nur gelangt, weil ihm ein Hotelangestellter dabei geholfen hatte, sie praktisch hineinzuheben. Der Mann hatte ein paar Bemerkungen vor sich hin gemurmelt, aus denen Holger geschlossen hatte, daß er Inga für betrunken hielt.

Das war zwar peinlich genug, aber er hatte dem Mann lieber nicht widersprochen. Schlimmer wäre es, fand er, wenn sich die Fluggesellschaft weigern würde, sie mitzunehmen, weil irgend jemand sah, daß sie krank war und nicht etwa einen Kater hatte. Er konnte sich zwar nicht erklären, was für eine Krankheit das sein konnte, aber wenn man Inga genauer betrachtete, konnte man ohne weiteres auf die Idee kommen, daß sie transportunfähig sei.

Darüber wollte er lieber überhaupt nicht nachdenken, denn sie konnten es sich nicht leisten, noch länger in Südafrika zu bleiben. Und so schön es hier auch gewesen war, er wollte jetzt zurück nach Hause – nein, verbesserte er sich in Gedanken: Er mußte nach Hause. Er hatte mit Freunden zusammen eine Bar eröffnet, und sie erwarteten ihn pünktlich zurück, er konnte sie auf keinen Fall im Stich lassen.

Er streifte Inga mit einem kurzen Blick. Sie schien zu schlafen, jedenfalls hielt sie die Augen geschlossen. Das war vielleicht auch besser so, denn wenn sie begann zu sprechen, dann klang das nicht sehr verständlich. Er fragte sich, wie er einchecken sollte – aber mit diesem Problem würde er sich auseinandersetzen, wenn es soweit war. Vielleicht half ihm ja jemand. Er konnte es nur hoffen.

Er sah aus dem Fenster. Das Ende des Urlaubs war gar nicht so, wie er sich das vorgestellt hatte. Und vielleicht hatte Inga sich wirklich bei dieser Ulrike Monheim eine Krankheit eingehandelt. Was die alles über ihre Arbeit in irgendwelchen Slums erzählt hatte, war schrecklich gewesen. Er hatte von Anfang an nicht verstanden, was Inga daran so interessant gefunden hatte.

Er schauderte allein bei der Erinnerung, und dann fiel ihm ein, daß über Inga auch er sich angesteckt haben könnte. Dieser Gedanke war für ihn so schrecklich, daß er ihn die ganze restliche Fahrt über beschäftigte.

*

»Ist Tante Inga jetzt schon in der Luft?« erkundigte sich Kitty.

»Noch nicht, aber bald«, antwortete Lolly nach einem Blick auf die Uhr.

»Ich will auch mal so ne weite Reise machen«, verkündete Kai. »Oder noch weiter. Zehntausend Kilometer weit.«

»Du kannst nach Australien reisen, weiter nicht«, sagte Kitty herablassend. »Das liegt von hier aus genau auf der anderen Seite. Da stehen alle Leute auf dem Kopf, und sie müssen ständig Angst haben, daß sie von der Erde herunterfallen.« Sie kicherte über ihren Witz.

»Kitty, Kitty!« seufzte ihre Mutter. »Was du alles erzählst, wenn der Tag lang ist!«

»Glaubst du etwa«, fragte Kai seine Mutter empört, »ich fall auf so nen Quatsch rein?«

»Das ist kein Quatsch, das war ein Witz!« verteidigte sich jetzt Kitty. »Aber wir dürfen ganz bestimmt mit zum Flughafen, um Tante Inga abzuholen, Mami? Auch wenn das Flugzeug etwas Verspätung hat?«

»Ja, das dürft ihr. Aber wie oft willst du mir diese Frage eigentlich noch stellen? Ich habe sie dir mindestens schon zehnmal beantwortet! Ich frage mich manchmal, wieso ich eigentlich solche Nervensägen als Kinder habe!« Lolly lächelte liebevoll, als sie das sagte.

»Wahrscheinlich warst du auch eine«, erwiderte Kai altklug. »Außerdem war ich gar keine Nervensäge. Ich habe keine einzige Frage gestellt.«

»Diesmal nicht, aber sonst bist du in dieser Hinsicht kein bißchen besser als deine Schwester, Kai. Versuch bloß nicht, den Unschuldsengel zu spielen.«

»Undschuldsengel, Unschuldsengel«, sang Kitty und hüpfte um ihren Bruder herum. »Mein Bruder ist ein Unschuldsengel.«

»Kitty, es reicht!« Diesmal klang Lollys Stimme strenger, und Kitty erkannte die Zeichen der Zeit und setzte sich brav wieder an den Tisch. Aber Ruhe gab sie immer noch nicht. »Warten ist langweilig«, murrte sie. »Ich wünschte mir, Tante Inga wär schon da. Hoffentlich hat sie uns was mitgebracht.«

»Klar hat sie«, sagte Kai. »Das hat sie versprochen, und was sie verspricht, das hält sie auch.«

»Ihr könnt mir ein bißchen im Garten helfen«, schlug Lolly vor. »Es ist schönes Wetter, und wenn wir uns ranhalten, können wir eine Menge schaffen.«

»Ooch, Garten«, meinte Kitty. »Unkraut ausrupffen?«

»Und Rasenmähen«, sagte Lolly listig. Den rasanten Rasenmäher, den Burkhard gegen ihren Willen angeschafft hatte, liebten die Kinder. Man konnte auf ihm sitzen und bequem hin und her fahren, während er seine Arbeit erledigte. Für die Kinder war er so etwas wie ein Mini-Auto. Burkhard und sie hatten den Gebrauch streng eingeschränkt. Aber heute war vielleicht eine gute Gelegenheit, die Zwillinge damit ein bißchen zur Ruhe zu bringen.

»Und wir dürfen wirklich Rasen mähen? Ganz allein?«

»Ganz allein nicht, ich bin ja dabei. Also los, zieht euch alte Sachen an, und dann gehen wir raus.«

Aufgeregt diskutierend, wer zuerst auf dem Rasenmäher fahren durfte, verschwanden die beiden, und Lolly atmete auf. Zumindest die nächste Stunde würden Kai und Kitty beschäftigt sein, und sie hatte etwas Ruhe.

*

»Geht es Ihrer Frau nicht gut?« fragte die Stewardeß besorgt.

»Ich glaube, sie wird krank«, antwortete Holger. »Ihr war vorher schon elend, aber wir haben nicht damit gerechnet, daß es so schlimm werden würde. Sie ist auch ziemlich heiß, wahrscheinlich hat sie Fieber.«

Er hatte mittlerweile wirklich Angst bekommen. Es war jetzt unübersehbar, daß Inga krank war. Sie war mit roten Flecken und auch Pusteln übersät – nicht nur im Gesicht, sondern auch am Körper, hatte er festgestellt, als er vorsichtig nachgesehen hatte. Er ekelte sich vor den Pusteln. Von Ingas Schönheit war im Augenblick nicht allzuviel zu sehen.

Die Stewardeß sah Inga prüfend an und murmelte: »Das gefällt mir gar nicht. Entschuldigung, wie heißt sie?«

»Inga Matthäus«, murmelte Holger.

Sanft berührte die Frau Ingas Arm und fragte: »Hallo, Frau Matthäus, hören Sie mich?«

Inga öffnete die Augen und sah die Frau mit glasigem Blick an. Sie öffnete den Mund, brachte aber kein Wort heraus. Dann fielen ihr die Augen wieder zu, und ihr Kopf sank zur Seite. Die Stewardeß legte ihr eine Hand auf die Stirn und rief erschrocken aus: »Mein Gott, sie glüht ja förmlich! Aber sie muß doch schon vor dem Abflug krank gewesen sein. Waren Sie denn nicht mit ihr beim Arzt?«

Es gefiel Holger nicht, wie sich das Gespräch entwickelte, und so antwortete er abweisend: »Nein, ich sagte doch schon, daß es ihr nicht gut ging, aber so schlimm war es nun auch wieder nicht. Außerdem wollten wir auf jeden Fall zurückfliegen.«

Die Stewardeß warf ihm einen langen Blick zu, dann richtete sie sich auf und sagte ruhig: »Ich werde nachfragen, ob ein Arzt an Bord ist. Ihre Frau muß dringend untersucht werden. Ich werde auch den Kapitän benachrichtigen. Wenn wir landen, muß sie sofort in ein Krankenhaus.«

Holger konnte nicht antworten, denn er hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Was für ein schreckliches Urlaubsende! Daß Inga ihm das antat, würde er ihr niemals verzeihen. Im nächsten Augenblick schämte er sich für diesen Gedanken, denn sie war ja nicht absichtlich krank geworden. Das konnte schließlich jedem passieren.

Dann fiel ihm jedoch wieder diese Entwicklungshelferin ein, und er dachte erneut, daß es besser gewesen wäre, wenn Inga sich von ihr ferngehalten hätte. Aber sie hatte ja nicht auf ihn hören wollen!

In diesem Augenblick erklang die Stimme des Kapitäns, der sich in mehreren Sprachen an die Passagiere wandte. »Meine Damen und Herren, ich bitte für einen Moment um Ihre Aufmerksamkeit. Wir haben eine kranke Frau an Bord, um die wir uns Sorgen machen. Sie hat hohes Fieber und eine Art Ausschlag. Wenn sich ein Arzt oder eine Ärztin an Bord befindet, dann melden Sie sich bitte bei uns. Wir wären sehr froh, wenn uns jemand helfen könnte.«

Holger biß sich auf die Lippen. Die Passagiere, die in seiner und Ingas Nähe saßen, hatten natürlich mittlerweile alle mitbekommen, was los war, und drehten sich ständig nach ihnen um. Einige stellten mitleidige Fragen, andere steckten die Köpfe zusammen und tuschelten miteinander. Am liebsten wäre er in den Boden versunken. Er erregte ja gern Aufmerksamkeit, aber doch nicht auf diese Weise!

Die Stewardeß kam mit einem noch recht jungen braungebrannten Mann zurück, der sich Holger mit den Worten vorstellte: »Dr. Remmers, guten Tag. Ich bin Kieferchirurg – leider, hätte ich fast gesagt, denn Sie hätten sicher eher einen Internisten oder praktischen Arzt gebraucht. Aber ich sehe mal, was ich tun kann.«

»Weinmann«, murmelte Holger. »Das ist meine Freundin Inga Matthäus – es geht ihr mittlerweile ziemlich schlecht.«

Der gutaussehende junge Dr. Remmers warf einen Blick auf Inga und pfiff leise durch die Zähne. »Du liebe Zeit«, sagte er. »Ist sie allergisch gegen irgendwas? Das sieht ja übel aus.«

»Ich weiß nicht«, antwortete Holger unsicher.

»Zuerst muß sie hier weg, wir müssen sie hinlegen«, stellte Dr. Remmers fest und sah die Stewardeß fragend an. »Ist das möglich?«

Sie nickte. »Wir sind nicht ganz ausgebucht, ich habe mich schon erkundigt. Vorn in der Busineß-Class können wir sie hinlegen.«

»Dann tun wir das als erstes«, sagte Dr. Remmers.

Holger und er schafften es irgendwie, Inga von ihrem Sitz zu heben und im vorderen Teil des Flugzeugs hinzulegen, wo die Stewardeß bereits alles vorbereitet hatte. Holger blickte sich vorsichtig um, ob ihn auch kein Unbefugter hören konnte, dann sagte er leise: »Sie war öfter mit einer Entwicklungshelferin zusammen, die zuletzt in Äthiopien gearbeitet hat. Halten Sie es für möglich, daß sie eine Krankheit mitgebracht hat von da, mit der sie Inga angesteckt haben könnte?«

Der Arzt starrte ihn an. »Wieso sagen Sie das erst jetzt, Mann? Sicher ist das möglich. Wann hat sie diese Frau kennengelernt?«

»Vor drei Wochen«, antwortete Holger. »Praktisch gleich nach unserer Ankunft.«

»Vor drei Wochen«, murmelte Dr. Remmers. Er beugte sich über Inga und sah sich die Flecken und Pusteln auf ihrem Gesicht genau an. Vorsichtig berührte er ihre Schläfe und erschrak ebenso wie die Stewardeß zuvor. »Sie hat sehr hohes Fieber«, sagte er nachdenklich. »Seit wann ist sie in diesem Zustand?«

Holger antwortete ausweichend, aber er vermied es, direkt zu lügen. Er beschönigte lediglich ein wenig, um sich nicht erneut dem Vorwurf auszusetzen, er habe es versäumt, noch in Südafrika einen Arzt zu konsultieren.

Dr. Remmers untersuchte Inga und murmelte dann: »Äthiopien! Ich will ja nichts voreilig behaupten, aber so wie Ihre Freundin aussieht…« Er unterbrach sich hastig und blickte sich um.

»Was meinen Sie?« fragte Holger. »Was kann sie denn haben?«

Der Arzt senkte die Stimme und murmelte: »Ich finde, sie sieht aus, als hätte sie die Pocken.«

»Was?« fuhr Holger auf, aber der Arzt unterbrach ihn sofort.

»Nun seien Sie bloß still!« knurrte er ihn an. »Wenn es wirklich so ist, dann ist hier ganz schnell die Hölle los, das kann ich Ihnen sagen. Dann wird hier ein Zirkus veranstaltet, den Sie in Ihrem Leben noch nicht kennengelernt haben. Aber ich glaube es ja auch nicht wirklich, daß sie die Pocken hat, denn offiziell sind sie ausgestorben. Das heißt natürlich nicht, daß sie nicht doch noch vereinzelt irgendwo auftreten können, aber es wäre ziemlich unwahrscheinlich. Trotzdem muß Ihre Freundin sofort vom Flughafen aus in ein Krankenhaus gebracht und dort isoliert werden, bis man sicher weiß, was sie hat.«

Er wandte sich an die Stewardeß und gab ihr mit leiser Stimme Anweisungen, während Holger fassungslos in einen der Sitze sank. Die Pocken! Es sei nicht wahrscheinlich, hatte der Arzt gesagt, aber völlig unmöglich war es offenbar auch nicht.

Und er hatte Inga auch noch angefaßt! Panik erfaßte ihn, am liebsten hätte er laut aufgeschrien.

*

»Herr Dr. Winter?« Schwester Claudia kam mit allen Anzeichen der Erregung angelaufen. »Es kam gerade ein Anruf vom Flughafen – eine Frau, die aus Südafrika kommt, ist offenbar schon schwerkrank an Bord gegangen. Niemand weiß genau, warum sie vorher nicht behandelt worden ist. Sie hat sehr hohes Fieber und ist bedeckt mit Pusteln und Flecken. Ansprechbar ist sie gar nicht, völlig benommen und apathisch.«

»Hat jemand sie untersucht?« fragte Adrian.

Schwester Claudia nickte. »Ja, an Bord war ein Kieferchirurg. Und jetzt kommts: Angeblich war von Pocken die Rede.«

»Wie bitte?« Adrian starrte die junge Frau an. »Pocken gibts nicht mehr, die Pockenimpfung wird bei uns schon seit den siebziger Jahren nicht mehr durchgeführt.«

»Ja, ich weiß«, erklärte Schwester Claudia. »Aber die Frau hat sich offenbar mit einer Entwicklungshelferin angefreundet, die unter anderem in Äthiopien war. Und deshalb…«

»Wissen Sie denn, was das bedeutet?« fragte Adrian. »Hat der Arzt veranlaßt, daß alle Passagiere in Quarantäne kommen? Ist Pockenalarm ausgelöst worden?«

Schwester Claudia schüttelte den Kopf. »Nein, nichts dergleichen. Ich nehme an, er hat vielleicht gesagt, das sieht so aus wie Pocken – aber er weiß natürlich auch, daß es die Krankheit nicht mehr gibt. Die Verbindung war ziemlich schlecht.«

»Das ist aber merkwürdig«, meinte Adrian. »Sie wissen nicht zufällig, welches Alter der Arzt hat?«

»Nein«, antwortete sie mit allen Anzeichen der Verwunderung.

Er bemerkte es und erklärte: »Ich selbst habe Pocken nicht mehr gesehen – einfach weil es die Krankheit nicht mehr gibt. Wenn es ein jüngerer Arzt ist, dann wird es ihm so gehen wie mir. Wenn man eine Krankheit noch nie gesehen hat, dann ist es schwer, sie sofort zu erkennen, wenn man mit ihr zu tun hat – und man irrt sich natürlich leicht. Na gut, diese Überlegungen helfen uns jetzt auch nicht weiter. Ich verstehe nur nicht, daß jemand so leichtsinnig ist, das Wort ›Pocken‹ überhaupt in den Mund zu nehmen, wenn er es offenbar gar nicht ernst meint. Sonst hätte er schließlich die Behörden informieren müssen.«

Er schüttelte den Kopf und fragte sich, was eigentlich in den Köpfen mancher Kollegen vorging.

»Jedenfalls wird die Frau sofort nach der Ankunft hierhergebracht.«

»Wann wird das sein?«

»Sie landen in einer Stunde.«

»Und was machen wir jetzt?« murmelte Adrian. »Das ist ja vielleicht eine verrückte Situation. Ich kann doch nicht auf einen nicht einmal gut begründeten Verdacht hin die Leute alle in Quarantäne schicken! Ich habe die Frau ja noch nicht einmal gesehen! Was denkt sich dieser Kollege im Flugzeug eigentlich?«

»Wir sollten alles für die Ankunft der Frau vorbereiten«, meinte Schwester Claudia, praktisch wie immer.

»Das auf jeden Fall«, stimmte Adrian zu. »Aber darüber hinaus sollten wir noch einiges mehr tun. Lassen Sie mich bitte einen Augenblick in Ruhe nachdenken, Claudia, damit wir nichts falsch machen.« Gleich darauf hellte sich sein Gesicht auf. »Ich weiß, was wir tun!«

Er erklärte es ihr, und dann machten sie sich beide an die Arbeit.

*

»Mann, dauert das vielleicht lange!« quengelte Kitty, und ausnahmsweise war Kai ganz ihrer Meinung.

»Wir warten bestimmt schon zehn Stunden, Mami!« behauptete er. »Und Tante Inga ist immer noch nicht da!«

Lolly und ihr Mann Burkhard wechselten einen gequälten Blick. Die Kinder hatten recht – es dauerte wirklich sehr lange. Zwar keine zehn Stunden, wie Kai gesagt hatte, aber doch schon deutlich länger, als sie erwartet hatten.

Das Flugzeug war schon vor über einer Stunde gelandet, aber noch war kein Passagier aufgetaucht. Die Wartenden vertrieben sich die Zeit damit, daß sie Spekulationen darüber anstellten, ob vielleicht etwas passiert sei. War zum Beispiel jemand beim Schmuggeln verbotener Güter erwischt worden, und wurden deshalb jetzt alle anderen Passagiere auch ganz besonders gründlich ›gefilzt‹?

Kitty und Kai, die diese Vermutung aufschnappten, griffen sie begeistert auf und schmückten sie mit ihrer überreichlich vorhandenen Phantasie noch erheblich aus. Auf diese Weise vertrieben sie sich die Zeit, bis ihnen auch das zu langweilig wurde.

Selbst Burkhard Kleber, dem man im allgemeinen nicht nachsagen konnte, daß er zu großer Ungeduld neigte, fing an, unruhig hin und her zu wandern. »Verflixt und zugenäht!« knurrte er. »Da muß doch wirklich was passiert sein, wenn es so lange dauert. Das gibts doch gar nicht!«

Lolly begnügte sich damit, zustimmend zu nicken. Sie war müde, und warten fand sie sowieso schrecklich. Aber sie freute sich sehr, ihre kleine Schwester endlich wiederzusehen, und so nahm sie alle Unannehmlichkeiten ergeben in Kauf.

Endlich öffneten sich die Türen. Die ersten Passagiere kamen heraus und wurden von ihren Freunden oder Verwandten jubelnd empfangen. Von nun an riß der Strom der Ankommenden nicht mehr ab, und hin und wieder schnappte Lolly Wortfetzen auf, die stets das gleiche Thema zu berühren schienen: »Kranke Frau an Bord.«

»Da scheint jemand krank geworden zu sein«, sagte nun auch ihr Mann. »Eine Frau, die schon von einem Krankenwagen erwartet worden ist. Sie hat zuerst noch eine Spritze bekommen, und alle anderen mußten warten, bis die Sanitäter sie von Bord gebracht hatten.«

»Da ist Holger!« schrie Kitty. »Aber Tante Inga ist nicht dabei!«

Wieder wechselten Lolly und Burkhard einen Blick, doch diesmal lag eindeutig Beunruhigung darin. Wieso war Holger allein? Und warum sah er so ernst und zerknittert aus?

Fünf Minuten später wußten sie es. Die kranke Frau, die sich an Bord des Flugzeugs befunden hatte, war Inga. Und Inga befand sich jetzt bereits auf der Isolierstation der Kurfürsten-Klinik.

*

Dr. Adrian Winter und Schwester Claudia trugen Schutzkleidung und einen Mundschutz, als die Patientin Inga Matthäus eingeliefert wurde. Als Adrian sie sah, erschrak er. Zumindest konnte er jetzt verstehen, was den Kollegen im Flugzeug veranlaßt hatte, das Wort ›Pocken‹ in den Mund zu nehmen.

Die junge Frau sah schrecklich aus. Er versuchte, mit ihr zu sprechen, aber das war nicht möglich. Sie öffnete zwar kurz die Augen, wenn er sie ansprach, aber sie schloß sie ebenso schnell wieder. Ihr Fieber war außerordentlich hoch, und sie war nicht nur im Gesicht, sondern am ganzen Körper mit Flecken und Pusteln bedeckt. Außerdem klagte sie, was Adrian nur mit Mühe verstehen konnte, daß ihr der Nacken so weh tat.

»Zu allererst machen wir eine Lumbalpunktion«, ordnete er an. »Mir gefällt die Benommenheit und die Nackensteife der Patientin nicht, Claudia. Hoffentlich hat sie keine Meningoenzephalitis. Wir müssen das zunächst ausschließen.«

Claudia nickte und begann mit den Vorbereitungen. »Hoffentlich sind das nicht doch tatsächlich Pocken«, sagte sie unsicher. »Ich habe so was noch nie gesehen, Herr Dr. Winter.«

»Ich auch nicht«, gab Adrian zu, der die Patientin gründlich untersuchte. »Trotzdem glaube ich nicht, daß sie Pocken hat. Es ist unverantwortlich, einen solchen Verdacht laut zu äußern und dann nichts zu unternehmen. Ich hoffe, der Dermatologe wird gleich kommen.«

Adrian hatte sich daran erinnert, daß er einen alten Dermatologen kannte, mit dem er früher oft fachliche Probleme diskutiert hatte. Dieser hatte ihm auch einmal von einem Pockenfall erzählt, den er behandelt hatte. Dr. Walther würde jedenfalls imstande sein, eine eindeutige Auskunft zu geben, da war Adrian ganz sicher. Er glaubte zwar nicht, daß die Patientin Pocken hatte, aber er wollte sich nicht auf Spekulationen verlassen – in jedem Fall mußte hundertprozentige Sicherheit geschaffen werden.

Schwester Claudia und er hatten beschlossen, zunächst einmal nichts davon verlauten zu lassen, daß im Zusammenhang mit Inga Matthäus von Pocken die Rede gewesen war. »Um Himmels willen, nur das nicht, Schwester Claudia!« hatte Adrian gesagt. »Was meinen Sie, was das für Folgen haben würde. Nein, wir warten ab, bis mein älterer Kollege hier ist. Und vielleicht verständigen wir danach auch noch den Amtsarzt – das hängt ganz davon ab, was Dr. Walther sagt. Aber bis dahin lassen wir gar nichts in dieser Richtung verlautbaren. Kein Sterbenswort! Es ist höchst unangebracht, in einem solchen Fall leichtfertig zu spekulieren.«

Sie hatte nur genickt, und er war froh, daß sie es war, die mit ihm zusammen Dienst hatte. Er konnte sich blind auf sie verlassen. Der Zustand der Patientin bereitete ihm dennoch größte Sorgen, auch wenn er nicht an eine Pockenerkrankung glaubte. Er nahm die Lumbalpunktion vor, und die Probe wurde umgehend ins Labor geschickt – mit der Bitte um sofortige Analyse.

»Dr. Walther ist angekommen«, sagte Claudia kurz darauf, und Adrian begrüßte den Kollegen, der mittlerweile die Siebzig längst überschritten hatte, voller Dankbarkeit.

»Ich bin froh, daß Sie trotz der späten Stunde so schnell hergekommen sind, Herr Walther«, sagte er ernst.

Der andere erwiderte knapp: »Das ist selbstverständlich.« Er war ein großer, etwas gebeugt gehender Mann mit schneeweißen Haaren und klugen braunen Augen. Seine Nase war groß und ein wenig gebogen – sie verlieh ihm das Aussehen eines Raubvogels, aber dieser Eindruck wurde durch den freundlichen Mund sofort wieder aufgehoben. Er hatte ein interessantes Gesicht, man sah ihm an, daß er trotz seines Alters noch immer regen Anteil am Leben nahm.

»Ich habe Ihnen die Situation ja schon erklärt«, sagte Adrian. »Hätte der Kollege im Flugzeug nicht diesen Verdacht geäußert, wäre ich vermutlich gar nicht auf die Idee gekommen – aber so… Ich wollte auf jeden Fall ganz sicher gehen.«

Dr. Walther hatte sich bereits über Inga gebeugt und betrachtete sie prüfend. »Sie hat keine Pocken«, erklärte er kurz darauf mit Nachdruck. »Sie hat Windpocken.«

»Windpocken?« fragte Adrian ungläubig.

»Windpocken kommen auch bei Erwachsenen vor, und dann verläuft die Krankheit in der Regel sehr viel schlimmer als bei Kindern«, erklärte Dr. Walther. »Sie hat sie sicher nicht gehabt als Kind – und jetzt hat sie sich bestimmt irgendwo damit angesteckt.«

»Und wie haben Sie das so schnell festgestellt?« fragte Adrian. »Verstehen Sie, ich selbst habe Pocken ja nicht mehr erlebt, deshalb weiß ich nicht, wie sie aussehen.«

»Man kann Windpocken sehr leicht mit Pocken verwechseln, denn die Pusteln sehen tatsächlich ähnlich aus. Aber Pockenpusteln sind immer im gleichen Stadium, während diese junge Frau sowohl Flecken als auch Pusteln hat. Sehen Sie das? Hier und hier. Diese Flecken werden noch zu Pusteln, während diese Pusteln hier allmählich austrocknen werden. Es wird sich Schorf bilden, der schließlich abfällt.«

Ingas Hand zuckte hoch, um sich an einer der Pusteln zu kratzen. Sanft hielt Dr. Walther ihre Hand fest.

»Verbinden Sie ihr am besten die Hände«, riet er. »Windpocken hinterlassen normalerweise keine Narben – es sei denn, man kratzt sie auf, und die Wunden entzünden sich. Wenn Sie also der Patientin einen Gefallen tun wollen, dann hindern Sie sie daran, sich zu kratzen.«

»Es ist also ganz sicher, daß

sie Windpocken hat?« erkundigte sich Adrian.

Dr. Walther nickte. »Ja, ganz sicher. Aber wissen Sie was, Herr Winter? Ich an Ihrer Stelle würde trotzdem den Amtsarzt benachrichtigen. Wenn so ein Wort erst einmal gefallen ist, dann tut man gut daran, jeglichen Zweifel auszuräumen und sich auch abzusichern. Benachrichtigen Sie ihn, damit Ihnen hinterher niemand einen Vorwurf machen kann. Wobei dieser Vorwurf natürlich eigentlich dem Kollegen gelten müßte, der in der Maschine gesessen hat, nicht Ihnen. Aber um solche Feinheiten kümmert sich niemand mehr, wenn das Kind erst einmal in den Brunnen gefallen ist. Lassen Sie das Sekret auf amtsärztliche Anordnung untersuchen, dann sind Sie ganz sicher und haben auf jeden Fall alles getan, was in Ihrer Macht stand.«

»Ja, das werde ich sofort in die Wege leiten«, sagte Adrian. »Ich danke Ihnen nochmals sehr, Herr Walther.«

Der alte Arzt nickte nur und verließ ohne weiteres Wort das Zimmer.

»Und jetzt?« fragte Schwester Claudia.

»Der Amtsarzt«, antwortete Adrian entschlossen. »Genau wie Dr. Walther es vorgeschlagen hat. Er ist ein schlauer Fuchs, Claudia, das war er früher schon. Und ich will mir hinterher wirklich nicht vorwerfen lassen, etwas übersehen zu haben. Ich rufe ihn sofort an.«

»Da wird er sich aber freuen«, meinte Claudia trocken, »daß er so spät am Abend noch Arbeit bekommt.«

*

Lolly weinte während der ganzen Fahrt, die sie mit Holger im Taxi zurücklegte. Burkhard war mit den Zwillingen zurück nach Hause gefahren. Zwar hatten sie gebeten, mit in die Klinik fahren zu dürfen, aber sowohl Lolly als auch Burkhard waren dagegen gewesen.

Holger sagte nichts, er starrte trübe auf die Straße, und Lolly mußte ihm jede Information einzeln herauslocken. »Aber ich verstehe das nicht, Holger«, begann sie erneut, während sie sich mit dem Taschentuch über die Augen wischte. »Wieso hat sie sich denn nicht da unten in Südafrika schon untersuchen lassen, wenn es ihr so schlecht ging? Warum seid ihr nicht zum Arzt gegangen? Man wird doch nicht plötzlich während eines Fluges todkrank! So etwas kündigt sich doch vorher an.«

Holger reagierte mürrisch. Überhaupt fand sie, daß er sich reichlich merkwürdig verhielt. Er tat ja gerade so, als sei Inga krank geworden, um ihm eins auszuwischen. Außerdem hatte er ihr immer noch nicht gesagt, was ihrer Schwester eigentlich fehlte. ›Fieber und Ausschlag‹ war alles, was er ihr auf ihre diesbezüglichen Fragen hin geantwortet hatte.

»Ihr war ein bißchen komisch vorher, das war alles«, sagte er nun und verzog genervt das Gesicht. »Kein Grund jedenfalls, gleich in Panik auszubrechen.« Er wollte sie mit seinem Tonfall einschüchtern, damit sie endlich aufhörte, ihn mit Fragen zu bombardieren. Das fehlte noch, daß man ihm an Ende Vorwürfe machte, weil er keinen Arzt gerufen hatte! Im Bus war Inga schließlich noch gar nicht so krank gewesen, was wußten denn ihre Verwandten schon? Sie waren ja schließlich nicht dabei gewesen!

Lolly schwieg tatsächlich, aber nicht, weil sie eingeschüchtert war, sondern weil sie sich ärgerte. Außerdem begriff sie, daß sie aus Holger nichts herausbekommen würde, also konnte sie es auch gleich aufgeben.

Endlich hielt das Taxi vor der Kurfürsten-Klinik, und Lolly bezahlte. Sie bemerkte nicht, daß Holger nicht einmal nach seiner Geldbörse gegriffen hatte. Holgers Gepäck hatte Burkhard mitgenommen, alles andere wäre zu unpraktisch gewesen. Insgeheim hatte Lolly den Verdacht, daß Holger viel lieber nach Hause gefahren wäre – aber er hatte sich dann nach kurzem Zögern doch entschlossen, sie zu begleiten, obwohl er gemurmelt hatte, er sei völlig kaputt, und er könne in dieser Nacht ja sowieso nichts mehr für Inga tun.

Sie sagten am Empfang, wer sie waren und wohin sie wollten, und gingen dann zu einem der Fahrstühle. Auf der Isolierstation wurden sie von einer Schwester empfangen, die ihnen erklärte, sie werde Herrn Dr. Winter rufen – er sei der behandelnde Arzt.

Es dauerte eine Viertelstunde, bis ein noch junger Arzt mit dunkelblonden Haaren, braunen Augen und einem freundlichen, vertrauenerweckenden Gesicht auf sie zukam. Lolly atmete auf, als sie ihn sah. Sofort fühlte sie sich besser. Wenn dieser Mann sich um Inga kümmerte, dann war sie gewiß in guten Händen.

»Frau Matthäus-Kleber? Sie sind die Schwester unserer Patientin, nicht wahr? Ich bin Dr. Winter.«

»Wie geht’s ihr, Herr Doktor?« fragte Lolly sofort voller Sorge, ohne Holger vorzustellen.

Dieser war darüber hochgradig verärgert. Da fuhr er mitten in der Nacht mit ihr zum Krankenhaus, und sie tat so, als sei er gar nicht anwesend! »Ich bin der Verlobte, Holger Weinmann«, sagte er, bevor der Arzt antworten konnte.

»Guten Abend«, sagte Dr. Winter freundlich. Dann wandte er sich wieder Lolly zu. »Es geht ihr schlecht, aber das ist auch kein Wunder. Sagen Sie, Frau Matthäus-Kleber, hat Ihre Schwester als Kind die Windpocken gehabt?«

»Nein, hat sie nicht«, antwortete Lolly prompt.

»Da sind Sie sicher?«

»Ganz sicher. Meine Mutter hat nämlich immer gesagt, es wäre besser, wenn sie sie gehabt hätte, weil man als Erwachsener viel mehr darunter zu leiden hat, wenn sie einen erwischen.«

»Kluge Frau, Ihre Mutter. Nun, Ihre Schwester hat die Windpocken – jedenfalls gehen wir davon aus, es ist so gut wie sicher. Ich werde aber zur Vorsicht das Sekret – also die Flüssigkeit, die sich in den Bläschen und Pusteln befindet – noch einmal einschicken und untersuchen lassen. Dann sind auch die letzten Zweifel ausgeräumt.«

»Zweifel?« fragte Holger. »Was denn für Zweifel?«

»Keine bestimmten«, erklärte Adrian, der ahnte, worauf der junge Mann, den er auf Anhieb höchst unsympathisch fand, hinauswollte. »Ich möchte das Untersuchungsergebnis nur gern schwarz auf weiß vor mir haben.«

»Die Windpocken«, sagte Lolly gedehnt. »Arme Inga.«

»Ja, es geht ihr nicht gut. Sie hat hohes Fieber, und sie ist über und über mit Flecken und Pusteln bedeckt.« Adrian wandte sich an Holger. »Hatten sie bereits die Windpocken?«

Holger nickte. Lediglich Windpocken – nicht Pocken! Er war zugleich erleichtert und wütend. Wegen so einer Krankheit hatte er sich dermaßen aufregen müssen, daß ihm fast schlecht geworden war im Flugzeug! Aber vielleicht sagte dieser Arzt ja auch gar nicht die Wahrheit? Er wirkte sowieso merkwürdig, fand Holger und beschloß, am nächsten Tag auf jeden Fall seinen Arzt aufzusuchen und ihm die Geschichte zu erzählen. Das hatte er sich bereits im Flugzeug vorgenommen. Er wollte nichts riskieren.

»Sind Sie sicher, daß es Windpocken sind und nicht Pocken?« fragte er laut.

»Holger!« Lolly machte ein entsetztes Gesicht. »Wie kommst du denn auf diese Idee?« Sie sah den Arzt an. »Das ist doch Unsinn, oder? Hat irgend jemand gesagt, sie könnte Pocken haben? Ich dachte, die gibts gar nicht mehr. Ich bin noch zweimal dagegen geimpft worden, aber Inga schon nicht mehr, das weiß ich genau.«

»Pocken sind ausgestorben«, erklärte Adrian mit fester Stimme. Er fand den jungen Mann jetzt nicht nur unangenehm, sondern langsam auch unerträglich. »Wer hat denn von Pocken geredet, Herr Weinmann?« Vielleicht ließ sich wenigstens noch herausfinden, wie dieses Gerücht überhaupt in die Welt gekommen war.

»Der Arzt im Flugzeug hat gesagt, es sieht genauso aus wie Pocken«, erklärte Holger mürrisch.

»Aber er hat nicht gesagt, daß er denkt, Frau Matthäus sei daran erkrankt?«

»Nee, so direkt nicht«, gab Holger zu. »Aber er hat jedenfalls das Wort gebraucht – und dann macht man sich natürlich so seine Gedanken.«

Das konnte Adrian allerdings verstehen, und es war dem jungen Mann nicht vorzuwerfen, daß er beunruhigt gewesen war. Aber wie kam es nur, daß er den Eindruck hatte, er habe sich mehr Sorgen um sich selbst als um seine Verlobte gemacht?

»Können wir zu ihr?«

Adrian schüttelte bedauernd den Kopf. »Das möchte ich nicht gern, Frau Matthäus-Kleber, und Sie hätten auch nichts davon, denn Ihre Schwester kann sich im Augenblick ohnehin nicht mit Ihnen unterhalten. Sie hat noch immer hohes Fieber, das wir gerade zu senken versuchen. Bitte gedulden Sie sich bis morgen.«

»Aber Anlaß zur Sorge besteht nicht?« fragte Lolly ängstlich.

»Nein!« antwortete Adrian so ruhig und sicher, wie er es vermochte. Er verabschiedete sich von den beiden und kehrte zurück zu seiner Patientin. Kurz darauf kam die Nachricht aus dem Labor, daß Inga Matthäus nicht an einer Meningoenzephalitis erkrankt war. Er atmete auf: Endlich mal eine gute Nachricht!

*

Der Amtsarzt kam eine halbe Stunde später. Er stellte Adrian eine Unmenge Fragen, untersuchte die Patientin, entnahm einem der Bläschen das Sekret und ließ es, von Polizisten eskortiert, umgehend zum Hygieneinstitut transportieren, mit der Auflage, es umgehend zu untersuchen und ihm das Ergebnis mitzuteilen. Das würde ein Weilchen dauern, erklärte er Adrian und Schwester Claudia.

Er war ein mißmutig dreinblickender, etwas verknöchert wirkender Mann von etwa sechzig Jahren – ein ganz anderer Typ als der alte Dr. Walther, den Adrian zuvor um seine Hilfe gebeten hatte. »Wissen Sie eigentlich«, knurrte er jetzt unwillig, »daß Sie auch nur bei dem geringsten Verdacht auf eine Pockenerkrankung die Passagiere niemals hätten aussteigen lassen dürfen? Sie hätten sofort in Quarantäne gebracht werden müssen!«

»Aber ja«, antwortete Adrian, »natürlich weiß ich das. Aber es bestand ja gar kein…«

Der Amtsarzt warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Lassen Sie mich ausreden, junger Mann! Sie hätten sämtliche Personen ausfindig machen müssen, die mit der Patientin in Kontakt getreten sind. Alle hätten geimpft werden müssen. Und natürlich hätten Sie Pockenalarm auslösen müssen!«

»Ich weiß«, wiederholte Adrian. Er versuchte, seinen Ärger zu unterdrücken und geduldig zu bleiben. »Aber es bestand kein Verdacht – es gab nur ein vages Gerücht. Und auf dieses Gerücht hin…«

»Wenn sich das Gerücht als wahr erwiesen hätte, hätten Sie sich einer groben Pflichtverletzung schuldig gemacht«, schimpfte der Amtsarzt weiter, und Adrian öffnete schon den Mund, um ihm etwas zu erwidern, als Schwester Claudia sanft bemerkte: »Der Arzt im Flugzeug hätte das getan, nicht Herr Dr. Winter. Außerdem sind die Pocken seit den siebziger Jahren ausgestorben.«

»Was wissen Sie denn, junge Dame?« bellte der Amtsarzt. »Haben Sie hier auch mitzureden?«

»Schwester Claudia ist eine ausgezeichnete Krankenschwester«, bemerkte Adrian energisch, und seine Stimme ließ erkennen, daß er sich jetzt nicht mehr unterbrechen lassen würde. »Sie kann also sehr wohl mitreden, und sie hat völlig recht. Bevor ich Pockenalarm auslöse, muß zumindest Anfangsverdacht bestehen. Der lag jedoch nicht vor. Nur weil ein Kollege, der aus dem Urlaub kommt, laut nachdenkt und dabei zum Ausdruck bringt, daß das Erscheinungsbild der Patientin dem einer Pockenkranken ähnelt, kann ich nicht gleich ungeheuer teure und aufwendige Maßnahmen ergreifen – wenn ich zugleich weiß, daß eine Pockenerkrankung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen ist.«

Der Amtsarzt reagierte auf den heftigen Tonfall erstaunlich gelassen. »Ich habe Ihnen nur mitteilen wollen, was Sie im Falle eines Falles hätten tun müssen«, erklärte er jetzt deutlich milder als zuvor. »Ihr jungen Leute habt ja gar keine Pockenkranken mehr gesehen – von daher schadet es nichts, wenn man euch mal ins Gedächtnis zurückruft, was eine solche Erkrankung bedeutet hätte.«

»Warum haben Sie das Sekret denn noch einmal ins Hygiene-Institut geschickt?« fragte Claudia schüchtern. »Sind Sie doch nicht sicher, daß es Windpocken sind?«

»Es ist mir lieber, wir haben es schwarz auf weiß«, erklärte der Amtsarzt und fügte mit einer Kopfbewegung in Adrians Richtung hinzu: »In diesem Fall stimme ich mit dem Kollegen Winter völlig überein. Man kann sich gar nicht genug absichern.«

»Und warum mußte denn eine Polizeieskorte mitfahren?« fragte Claudia weiter. Adrian mußte insgeheim lächeln, denn das war typisch Claudia. Sie wollte immer alles ganz genau wissen.

»Weil Pocken so gefährlich sind, daß man sie nicht unbeaufsichtigt durch die Gegend transportieren lassen kann. Selbst wenn man annimmt, daß es eigentlich keine Pocken sein können, so ist man allein beim Gedanken daran schon übervorsichtig. Ein Unfall zum Beispiel, bei dem das Gefäß zu Bruch geht, in dem sich das Sekret befindet, wäre im Falle von Pocken eine Katastrophe.«

Claudia nickte zustimmend. »Danke schön«, sagte sie, und der Blick des Amtsarztes wurde noch milder.

Er sah sich um. »Gibt es irgendwo Kaffee im Haus? Ich möchte das Ergebnis gern hier abwarten, aber ich brauche etwas, das mich wach hält.«

»Ich kann Ihnen einen kochen«, bot Claudia an, und Adrian dankte ihr mit einem stummen Blick. »Wollen Sie mit mir ins Ärztezimmer kommen?«

Das ließ sich der Arzt nicht zweimal sagen, er folgte ihr sofort und ließ seinen jungen Kollegen mit der Patientin allein.

Adrian aber beschloß, Schwester Claudia am nächsten Tag Blumen mitzubringen. Daß sie sich von diesem mürrischen älteren Herrn nicht hatte einschüchtern lassen, fand er außerordentlich bewundernswert.

*

Es war spät geworden, bis die Kinder endlich schliefen. Nun aber saßen Lolly und Burkhard in ihrem Wohnzimmer nebeneinander auf dem Sofa. Er hatte einen Arm um sie gelegt, und sie kuschelte sich hinein, als suche sie Schutz vor der bösen Welt.

»Wenn Inga diesen unsensiblen, unreifen Knaben heiratet, dann werd ich verrückt, Burkhard«, sagte sie nach einer Weile. Sie hatte ihrem Mann bereits erzählt, was Holger alles gesagt oder auch nicht gesagt hatte. »Er hatte vor allem Angst um sich selbst, nicht um Inga. Und ich bin fest davon überzeugt, daß er am liebsten gleich nach Hause gefahren wäre – so nach dem Motto: Was soll ich denn im Krankenhaus machen, da kann ich sowieso nichts tun.«

Burkhard Kleber hatte nun doch das Gefühl, seinen Geschlechtsgenossen verteidigen zu müssen. »Na ja, vergiß bitte nicht, daß er ganz schön geschockt gewesen sein muß, Lolly«, meinte er. »Der Flug war bestimmt nicht sehr angenehm für ihn – er wird sich ja auch Sorgen gemacht haben.«

»Ja, wie ich schon sagte, um sich selbst«, erwiderte sie unwillig. »Inga muß vor dem Rückflug schon krank gewesen sein – aber glaub nur nicht, daß er auf die Idee gekommen wäre, mal einen Arzt zu rufen. Der hatte einzig im Sinn, daß er den Flug nicht verpaßt, damit er keine Unannehmlichkeiten bekommt. Dann hätte er sich ja mal selbst um irgendwas kümmern müssen.«

»Du bist ein bißchen ungerecht, finde ich«, stellte ihr Mann milde fest. »Und außerdem noch immer ziemlich aufgeregt, was ich verstehen kann. Aber nun solltest du versuchen, dich wieder zu beruhigen, sonst werden wir in dieser Nacht nämlich überhaupt keinen Schlaf mehr finden.«

»Die Nacht ist sowieso gelaufen!« behauptete Lolly, obwohl ihre Augen ganz klein vor Müdigkeit waren.

»Ach, was!« entgegnete Burkhard energisch. »Wir trinken jetzt noch ein Glas Rotwein, das hilft uns zu entspannen, und danach gehen wir ins Bett.«

Sie widersprach ihm nicht, und er stand auf, um aus der Küche eine Flasche Wein und zwei Gläser zu holen. Als er zu seiner Frau zurückkehrte, schlief sie fest. Lächelnd setzte er sich in einen Sessel ihr gegenüber und trank das Glas Wein allein, während er über die Situation nachdachte.

*

Die Entwarnung vom Hygiene-Institut erfolgte genau zwei Stunden später. Die Patientin hatte tatsächlich die Windpocken, und damit war auch der letzte Zweifel, falls es ihn überhaupt gegeben hatte, ausgeräumt. Der Amtsarzt verabschiedete sich. Er war im Verlauf seines Aufenthalts in der Kurfürsten-Klinik zu Adrians größtem Erstaunen immer umgänglicher geworden. Zum Schluß benahm er sich fast wie ein väterlicher Freund.

»Ich werde Ihrer Klinikleitung natürlich Meldung machen von diesem Fall«, sagte er. »Aber das ist reine Routine und hat wirklich nichts weiter zu bedeuten. Gute Nacht.«

Mit diesen Worten ging er, und Adrian dachte, daß ihm nun vermutlich auch noch Ärger mit dem Verwaltungsdirektor ins Haus stehen würde. Ärger, den er eigentlich nicht verdient hatte, fand er.

»Dann wollen wir auch mal nach Hause gehen, was, Claudia?« fragte er müde. »Unser Dienst ist schließlich schon längst beendet.«

»Ja, aber die anderen waren froh, daß wir uns um Frau Matthäus gekümmert haben«, antwortete diese. »Hier auf der Station ist eine Menge los im Augenblick.«

»Ich hab sonst überhaupt nichts mitbekommen«, gestand Adrian. »Für einen, der neu auf dieser Station ist, war das ein bißchen viel für den Anfang.«

Sie sahen noch einmal nach der Patientin, informierten die Kollegen über den Fall und verließen dann gemeinsam die Klinik. »Gute Nacht, Schwester Claudia, bis morgen«, sagte Adrian, als sie sich voneinander verabschiedeten.

»Gute Nacht«, erwiderte sie, drehte sich um und lief eilig davon.

Eine Viertelstunde später schlich Adrian müde die Treppen zu seiner Wohnung hoch. Oben angekommen, fand er einen Zettel von Frau Senftleben an seiner Tür. Ihr Besuch ist angekommen und schläft heute nacht bei mir. Es geht ihm gut, er ißt fast soviel wie Sie.

Adrian mußte lachen. Dann entdeckte er, daß Martin ganz unten etwas dazu gekritzelt hatte. Danke, daß Du nicht da warst – sonst hätte ich Deine wunderbare Nachbarin vielleicht gar nicht kennengelernt.

Er schloß auf, suchte einen Zettel und schrieb den beiden nun seinerseits eine Nachricht, die er an Frau Senftlebens Tür klebte. Dann zog er sich aus. Für diese Nacht hatte er nur noch einen einzigen Wunsch: Er wollte schlafen.

*

»Wieso hat Tante Inga Windpocken, wo sie doch gar kein Kind mehr ist?« wollte Kitty wissen. »Ich hatte schon längst Windpocken und Kai auch – wieso hatte sie denn noch keine?«

»Man kriegt nicht alle Kinderkrankheiten, solange man noch ein Kind ist«, erklärte Lolly. »Und leider sind solche Krankheiten, wenn man sie später bekommt, viel schlimmer. So ist es jetzt Tante Inga ergangen. Es hat sie ziemlich schlimm erwischt, der Arzt wollte uns heute nacht nicht einmal zu ihr lassen.«

»Dann war sie ganz allein?« fragte Kitty. Sie war einmal im Krankenhaus gewesen und konnte sich seitdem nichts Schrecklicheres vorstellen.

»Ja, sie war allein, aber sie hat nicht viel davon gemerkt«, erwiderte Lolly beruhigend. »Sie hat hohes Fieber und schläft die ganze Zeit.«

»Kann ich bitte mitgehen, wenn du sie besuchst?« bettelte Kitty.

»Du spinnst wohl!« Lolly wurde energisch. »Ihr geht schön in die Schule, ich werde allein in die Klinik gehen. Papa ist auch ins Büro gegangen, genau wie immer. Ingas Windpocken sind kein Grund, die Schule zu schwänzen.«

»Aber sie ist doch meine Lieblingstante!« jammerte Kitty ganz dramatisch.

»Sie ist deine einzige Tante«, stellte Lolly trocken fest, »weil sie meine einzige Schwester ist und weil Papa keine Geschwister hat. Erzähl hier bloß keinen Blödsinn. Außerdem kann ich es nicht leiden, wenn du Theater spielst, Kitty, also hör auf damit.«

»Siehste!« sagte Kai und zeigte seiner Schwester hinter dem Rücken seiner Mutter die Zunge. »Ich kann es auch nicht leiden, wenn du Theater spielst, Kitty!«

Lolly mußte an sich halten, um nicht dazwischenzufahren. Wer behauptet eigentlich immer, Zwillinge seien ein Herz und eine Seele? Vielleicht galt das nur für eineiige? Ihre jedenfalls lagen sich ständig in den Haaren.

»Verschwindet!« sagte sie. »Es ist höchste Zeit, daß ihr euch auf den Weg macht, sonst gibts wieder Ärger, weil ihr zu spät gekommen seid.«

»Och, Mann!« maulte Kitty. »Ich kann heute überhaupt nicht aufpassen, weil ich immer an Tante Inga denken muß, Mami. Da brauche ich doch gar nicht erst zu gehen. Das ist pure Verschwendung.«

»Kitty!« Mehr mußte Lolly diesmal nicht sagen, ihre Tochter verstand den Tonfall und den Blick, den ihre Mutter ihr zuwarf. Fünf Minuten später trabte sie neben ihrem Bruder her zur Schule.

Lolly räumte das Frühstücksgeschirr weg und blickte dann auf die Uhr. Es war noch zu früh. Dr. Winter hatte ihr gesagt, wann er wieder Dienst hatte, und sie wollte gern noch einmal mit ihm in Ruhe über ihre Schwester reden und nicht mit einem anderen Arzt. Also würde sie sich ein bißchen gedulden müssen.

*

Adrian schlief fünf Stunden lang tief und fest, dann wurde er wach. Er wußte sofort, daß es ihm nicht gelingen würde, wieder einzuschlafen. Die aufregenden Vorfälle der vergangenen Nacht waren ihm gleich präsent, und dann fiel ihm auch noch ein, daß sein Freund Martin Sommer ja angekommen war und in der Wohnung seiner Nachbarin schlief.

Er blieb noch einige Minuten liegen, dann stand er auf, duschte ausgiebig und überlegte, ob er es bereits wagen könnte, bei Frau Senftleben zu klingeln. Sie war eine ausgemachte Nachteule, und morgens ließ man sie besser in Ruhe. Andererseits war der Vormittag schon fortgeschritten, und so beschloß er, das Wagnis einzugehen.

Er klingelte etwas zaghaft, aber zu seiner größten Verwunderung wurde ihm im nächsten Augenblick schon geöffnet. »Adrian!« rief Martin Sommer und strahlte über das ganze Gesicht. »Du hast dich überhaupt nicht verändert!«

Sie umarmten einander, und dann tauchte, ein wenig verschlafen noch, aber immerhin schon wach, Frau Senftleben auf.

»Guten Morgen«, sagte sie gähnend. Angezogen war sie bereits. »Ich mache jetzt das Frühstück«, kündigte sie an. »Wie wäre es, wenn Sie beide zum Bäcker gingen und frische Brötchen holten? Für den Rest werde ich dann sorgen.«

Das ließen sich die Freunde nicht zweimal sagen, sie machten sich sofort auf den Weg. »Eine hinreißende Frau!« schwärmte Martin Sommer. »Sie kann sehr interessant erzählen, aber auch gut zuhören. Und sie ist eine begnadete Köchin.«

»Wem sagst du das?« Adrian lachte. »Ohne Frau Senftleben wäre ich verloren, das steht fest.«

Es war, als hätten sie sich am vergangenen Abend zum letzten Mal gesehen. Es gab keinerlei Fremdheitsgefühle zwischen ihnen, sie verstanden sich so gut wie zu der Zeit, als sie sich in England kennengelernt hatten. Lebhaft diskutierend legten sie den Weg zum Bäcker zurück, und sie setzten ihre Unterhaltung genauso lebhaft fort, als sie schließlich mit Frau Senftleben an ihrem großen Küchentisch saßen. Ganz selbstverständlich beteiligte sich Adrians Nachbarin an diesem Gespräch, und so kam es ihnen nach einiger Zeit so vor, als seien sie alle drei seit langem miteinander befreundet.

»Nun erzählen Sie aber endlich mal, warum Sie heute nacht so spät nach Hause gekommen sind, Adrian«, forderte Carola Senftleben. »Oder ist das eine indiskrete Frage? Dann überhören Sie sie einfach.«

»Nein, nein«, versicherte Adrian. »Ich hatte eine ausgesprochen aufregende erste Nacht auf der Isolierstation.« Er erzählte seinen beiden Zuhörern, was sich ereignet hatte, und sie stellten ihm eine Menge interessierter Fragen.

»Meinst du, du könntest mir eure Klinik mal zeigen?« fragte Martin schließlich. »Ich sehe mich immer gern in anderen Häusern um, man weiß ja nie…«

»Klar, jederzeit«, antwortete Adrian. »Die Kollegen in der Notaufnahme gefallen dir bestimmt, wir sind ein großartiges Team dort. Auf der Isolierstation kenne ich mich allerdings noch nicht so gut aus.«

»Aber ansehen könnte ich sie trotzdem? Das interessiert mich alles sehr.«

»Kein Problem. Von mir aus kannst du nachher gleich mitgehen, wenn du nichts Besseres vorhast.«

»Ich?« lachte Martin Sommer. »Ich will hier die Frau fürs Leben finden, was dachtest du denn? Sonst habe ich überhaupt nichts vor. Leider ist Frau Senftleben nicht ganz im richtigen Alter, sonst wäre meine Suche bereits beendet.«

»Ach, und ich werde gar nicht gefragt?« Adrians Nachbarin amüsierte sich sehr über die beiden jungen Ärzte. »Das könnte Ihnen so passen, Herr Sommer! Meine Männer suche ich mir immer noch selbst aus!«

»Frau Senftleben!« rief Adrian erstaunt. »So kenne ich Sie ja gar nicht!«

»Das müssen Sie auch nicht«, erklärte sie. »Für manches sind Sie einfach noch zu jung!«

Martin Sommer fing schallend an zu lachen, er konnte sich kaum wieder beruhigen. Es gab noch mehr, worüber sie sich an diesem Morgen amüsierten. Insgesamt war es ein überaus fröhliches Frühstück, und Adrian bedauerte sehr, es nach einem Blick auf die Uhr irgendwann abbrechen zu müssen.

»Ich muß los«, erklärte er.

»Aber Sie sind doch erst mitten in der Nacht gekommen!« protestierte Frau Senftleben.

»Das war mein Privatvergnügen«, erläuterte Adrian. »Ich hatte keinen Nachtdienst, auch wenn die Kollegen froh waren, daß ich geblieben bin.«

»Das ist wirklich ein ungesundes Leben!« schimpfte seine Nachbarin kopfschüttelnd. »Ist kaum zu Hause, da muß er schon wieder weg!«

»Tut mir wirklich leid, gerade jetzt, wo es am schönsten ist.« Adrian machte ein bedauerndes Gesicht. »Bleib ruhig noch, Martin, wenn du willst.«

»Nein, nein!« Sein Freund erhob sich bereits. »Ich fahre mit dir, wie besprochen. Frau Senftleben, darf ich meine Sachen noch bei Ihnen lassen und sie später abholen? Ich muß mir sowieso noch überlegen, wie ich mich für Ihre Gastfreundschaft revanchieren kann.«

»Gar nichts müssen Sie, Herr Sommer«, erklärte sie resolut. »Ich habe lange nicht mehr so viel gelacht wie heute morgen, und das verdanke ich nur Ihnen und Herrn Winter. Also bitte, hören Sie auf, von ›revanchieren‹ zu reden, wenn Sie es sich nicht gleich wieder mit mir verderben wollen!«

»Das will ich ganz bestimmt nicht!« beteuerte Martin Sommer, und Adrian zog ihn nun

energisch aus der Wohnung.

»Hör auf, mit Frau Senftleben zu flirten, sie hat doch gesagt, sie nimmt dich nicht!« betonte er.

Kichernd schloß die alte Dame die Tür hinter ihnen.

»Ich bin dreißig Jahre zu spät auf die Welt gekommen!« murmelte Martin Sommer. »Dreißig Jahre früher, und ich hätte sie so lange bestürmt, bis sie meine Frau geworden wäre.«

»Komm jetzt endlich, du Quatschkopf!« sagte Adrian freundlich. »Ich will deinetwegen nicht zu spät kommen.«

»Dreißig Jahre!« wiederholte Martin Sommer und breitete die Arme aus, als wolle er die ganze Welt umschließen. Aber nach einem Blick in das Gesicht seines Freundes ließ er sie sinken, brummte: »Schon gut, schon gut« und folgte ihm.

*

»Pockenverdacht?« fragte Thomas Laufenberg und setzte sich kerzengerade auf. »Was sagen Sie da?« Seine rechte Hand, die den Telefonhörer hielt, verkrampfte sich, ohne daß er es merkte. Er lauschte der Stimme am anderen Ende und fragte dann: »Aber ich verstehe das Ganze nicht recht. Die Patientin hat also Windpocken, ja? Und wer hat das Gerücht in die Welt gesetzt, es könne sich vielleicht um Pocken handeln? Das ist doch unverantwortlich!«

Wieder lauschte er. »Es ist aber ein bißchen viel verlangt«, wandte er schließlich ein, »auf so vagen Verdacht hin Pockenalarm auszulösen, wenn man die Patientin noch nicht einmal gesehen hat, oder? Hat denn der Kollege, der sich im Flugzeug befand, überhaupt mit Dr. Winter gesprochen?«

Er hörte zu, wurde aber zunehmend ungeduldig. Er kannte den Amtsarzt und wußte, daß dieser nicht einfach im Umgang war. Aber diesmal hörte er sich erstaunlich milde an. Zwar zählte er ausführlich auf, was man im Falle eines Pockenverdachts alles hätte tun müssen, aber er schien nicht ernstlich daran interessiert zu sein, Dr. Adrian Winter und eine Schwester Claudia, die ihm, Laufenberg, gar nicht persönlich bekannt war, zu kritisieren. Normalerweise konnte es ihm niemand recht machen, doch er hielt sich jetzt auffallend zurück.

Das Gespräch dauerte weitere zehn Minuten, bis er endlich das Gefühl hatte, halbwegs im Bilde zu sein. Was für eine merkwürdige Geschichte! Er bedankte sich bei dem Amtsarzt und legte auf. Darüber würde er mit Dr. Winter sprechen müssen, und diese Aussicht allein schon ließ ihn seufzen. Offenbar hatte dieser sich richtig verhalten, aber er wollte doch noch einmal aus seinem Munde hören, was sich da in der vergangenen Nacht abgespielt hatte.

Er wollte schon erneut zum Telefon greifen, überlegte es sich jedoch anders. Warum ging er nicht persönlich auf der Isolierstation vorbei? Er fühlte sich ohnehin häufig genug zu weit vom medizinischen Personal entfernt und hatte das Gefühl, daß das die bestehende Kluft nur vergrößerte.

Er sprang auf, denn er wußte aus Erfahrung, daß es nicht gut war, wenn er über einen solchen Entschluß allzu lange nachdachte. Er mußte ihn sofort in die Tat umsetzen, bevor ihm lauter Einwände kamen, die ihn daran hindern würden, sein Büro zu verlassen.

*

»Frau Matthäus?« fragte Adrian leise. »Können Sie mich hören?«

»Ja«, antwortete sie. »Aber ich fühle mich nicht gut.«

»Kein Wunder, Sie sind ziemlich krank. Aber keine Sorge, es wird Ihnen bald besser gehen.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich bin Arzt, entschuldigen Sie, das hätte ich Ihnen gleich sagen sollen. Mein Name ist Adrian Winter. Sie sind in der letzten Nacht in die Kurfürsten-Klinik eingeliefert worden.«

Martin Sommer war ebenfalls anwesend, aber er hielt sich im Hintergrund. Aufmerksam betrachtete er die Patientin, sagte jedoch kein Wort. Schließlich war er lediglich inoffiziell hier.

»Was ist mit meinen Händen?« fragte Inga.

»Mit Ihren Händen?« Es dauerte einen Augenblick, bis Adrian verstand, was sie ausdrücken wollte. »Ach so, Sie meinen, weil sie verbunden sind?«

Sie nickte.

»Das haben wir gemacht, weil Sie sich immer kratzen wollen«, erklärte er. »Sie haben die Windpocken.«

»Windpocken?« fragte sie ungläubig. »Das ist doch eine Kinderkrankheit.«

»Normalerweise ja. Aber auch Erwachsene können Windpocken bekommen, wenn sie sie als Kind nicht gehabt haben, und das war bei Ihnen ganz offenbar so. Jedenfalls hat Ihre Schwester das gesagt.«

»Lolly…«, hauchte Inga leise. Allmählich fiel ihr alles wieder ein. Gestern war sie noch in Urlaub gewesen in Südafrika – mit Holger. Es schien schon eine Ewigkeit her zu sein. Und in Südafrika war sie offenbar auch nicht mehr. Was hatte der Arzt gesagt? Kurfürsten-Klinik?

»Bin ich wieder in Deutschland?« fragte sie.

»Ja, in Berlin.« Nach einer Pause wiederholte er: »In der Kurfürsten-Klinik in Berlin. Sie sind gestern abend aus dem Urlaub zurückgekommen. Erinnern Sie sich daran?«

Sie dachte nach und schüttelte dann den Kopf. »Nein, nicht richtig.«

»Das macht nichts«, meinte er beruhigend. »Es muß ein schrecklicher Flug für Sie gewesen sein, also ist es sicher besser, daß Sie sich kaum daran erinnern.«

»Wo ist sie?« fragte Inga. »Meine Schwester, meine ich? Und wo ist mein Freund? Ich habe gar nicht gemerkt, daß man mich hierher gebracht hat.«

»Ihre Schwester und Ihr Freund waren heute nacht hier und wollten Sie sehen, aber ich habe sie nach Hause geschickt. Ihr Zustand hat mir nicht gefallen, ich wollte Sie zuerst stabilisieren. Wir haben das Fieber gesenkt, und Sie haben ein paar Infusionen bekommen – es wird Ihnen bald wieder besser gehen.«

»Hoffentlich«, murmelte sie. »Typisch für mich, eine Kinderkrankheit zu kriegen. Ich werde einfach nicht erwachsen.«

Er lachte, sie schien Humor zu haben. »Dies ist übrigens mein Kollege und Freund Martin Sommer – er ist auch Arzt, arbeitet aber nicht an dieser Klinik. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, daß ich ihn mitgebracht habe.«

Martin trat einen Schritt nach vorn und lächelte die Patientin an.

»Haben Sie etwa noch nie Windpocken gesehen, Herr Dr. Sommer?« murmelte Inga, während ihr die Augen wieder zufielen. »Tut mir leid, ich bin… sehr müde.«

»Kein Problem«, erwiderte Martin Sommer, dann verließen die beiden Freunde den Raum.

»Mit der möchte ich mal reden, wenn sie gesund ist«, sagte Martin lächelnd. »Wenn man so krank ist und sich noch selbst auf den Arm nehmen kann, muß man ein großartiger Mensch sein.«

»Ja, den Eindruck habe ich auch«, stimmte Adrian zu. »Ich frage mich bloß, warum sie so einen unsympathischen Freund hat.«

»Hat sie das?« fragte Martin, und Adrian fiel es nicht auf, daß er bemerkenswert viel Interesse für die Patientin zeigte. Bevor er jedoch antworten konnte, sah er einen Mann die Station betreten und direkt auf ihn zukommen.

»Lieber Himmel, was will der denn hier?« murmelte er zwischen zusammengebissenen Zähnen.

»Wer?« fragte Martin.

»Guten Morgen, Herr Dr. Winter«, sagte Thomas Laufenberg freundlich und wandte sich dann Martin Sommer zu. Er streckte die Hand aus und erklärte: »Wir kennen uns noch nicht, mein Name ist Laufenberg.«

»Sommer«, antwortete Martin. »Ich bin kein Arzt an dieser Klinik, falls Sie das denken. Ich bin nur auf Besuch hier, und mein Freund Adrian Winter zeigt mir gerade das Krankenhaus. Hochinteressant, was ich bisher gesehen habe.«

»Wirklich? Finden Sie? Das interessiert mich sehr«, antwortete Thomas Laufenberg, und bevor Adrian es verhindern konnte, waren die beiden Männer in ein angeregtes Gespräch vertieft. Mißmutig lief er neben ihnen her, machte aber keine Anstalten, sich an der Unterhaltung zu beteiligen. Ihm fiel nicht auf, daß Martin ihn ab und zu mit einem fragenden Blick streifte.

Schließlich wandte sich der Verwaltungsdirektor an ihn. »Ich würde gern mit Ihnen über den Vorfall von heute nacht sprechen, Herr Dr. Winter«, meinte er höflich. »Der Amtsarzt hat mich angerufen, und ich hätte gern Ihre Version der Dinge gehört.«

»Ich geh einen Kaffee trinken«, sagte Martin eilig, der merkte, daß er bei diesem Gespräch überflüssig war. »Wir sehen uns später, Adrian. Auf Wiedersehen, Herr Laufenberg, hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen.«

»Mich auch!« versicherte der Direktor und schüttelte Adrians Freund zum Abschied herzlich die Hand. Dann sagte er: »Und wir gehen wohl am besten in mein Büro.«

Adrian folgte ihm mit verschlossenem Gesicht. Er hatte ja bereits geahnt, daß es Ärger geben würde.

*

Holger schlief noch fest, als das Telefon klingelte. Eigentlich hatte er keine Lust, schon aufzustehen, aber wer immer versuchte, ihn zu erreichen, erwies sich als äußerst hartnäckig. Endlich quälte er sich aus dem Bett, griff nach dem Hörer und sagte unwillig: »Hallo?«

»Holger? Hier ist Lolly. Ich will nur wissen, ob du mit ins Krankenhaus kommst.«

»Ich… ich bin noch gar nicht richtig wach«, erwiderte er und fügte schnell hinzu: »Ich konnte erst überhaupt nicht einschlafen, und jetzt bin ich völlig kaputt.« Das war glatt gelogen, er hatte nicht einmal zehn Minuten wachgelegen, als er in der vergangenen Nacht ins Bett gestiegen war, aber das ging Ingas Schwester nichts an, fand er.

Wieso rief sie ihn überhaupt an? Sie konnte doch allein in die Klinik gehen und brauchte gar nicht zu wissen, wann er Inga besuchen wollte. Er jedenfalls legte keinerlei Wert auf ihre Begleitung.

»Na gut, dann fahre ich allein«, sagte Lolly in diesem Augenblick. »Ich wollte es nur wissen. Sonst alles in Ordnung?«

»Soweit ja«, antwortete er widerstrebend. »Aber es war wirklich ein ziemlich blöder Urlaubsabschluß.«

»Für Inga sicher noch mehr als für dich«, sagte sie ziemlich spitz, und er biß sich auf die Lippen.

»Klar, das meinte ich ja. Ich fahr später ins Krankenhaus«, brummte er und legte auf. Ärgerlich fluchte er vor sich hin. Jetzt war er natürlich wach und würde auch nicht wieder einschlafen können. Dumme Kuh, dachte er. Und warum mußte sie immer solche bösen Bemerkungen machen? Hatte er etwa nicht unter Ingas Krankheit zu leiden gehabt? Wer hatte sie denn in den Bus verfrachtet und im Flugzeug auf sie aufgepaßt? Das war doch wohl er gewesen und niemand anders!

Er stolperte ins Bad. Jedenfalls würde er sich jetzt zunächst einmal viel Zeit lassen, damit er Lolly in der Klinik nicht mehr begegnete. So gesehen war es auch wieder gut gewesen, daß sie ihn angerufen hatte.

*

Adrian kam zum Ende seines Berichts über die Ereignisse der vergangenen Nacht. »Na ja, daß ich den Amtsarzt dann noch angerufen habe, war eigentlich eine reine Vorsichtsmaßnahme. Man könnte auch sagen, es war übervorsichtig. Aber da ich ziemlich in der Luft hing und außerdem noch neu auf der Isolierstation bin, habe ich gedacht, es schadet sicher nicht. Hat er sich über mich beschwert?«

Thomas Laufenberg schüttelte den Kopf. »Das ist es ja, was mich am meisten wundert. Er beschwert sich sonst eigentlich immer. Aber diesmal muß ihn tatsächlich irgend etwas milde gestimmt haben.«

»Ich war es mit Sicherheit nicht, er hat mich sofort auf die Palme gebracht.« Das war Adrian herausgerutscht, bevor er es verhindern konnte. »Es war wohl eher Schwester Claudia, die sich durch ihn überhaupt nicht hat einschüchtern lassen. Er hat uns nämlich ellenlange Vorträge gehalten, was wir eigentlich bei Pockenverdacht alles hätten unternehmen müssen. Und sie hat ihm dann ganz ruhig mitgeteilt, daß all das eigentlich der Kollege im Flugzeug hätte veranlassen müssen. Außerdem habe kein wirklicher Pockenverdacht bestanden, da diese Krankheit inzwischen ausgestorben sei. Wir hätten also nur reine Vorsichtsmaßnahmen ergriffen.«

Er grinste bei der Erinnerung, fuhr dann jedoch selbstkritisch fort: »Natürlich war das nicht ganz logisch. Entweder hat man wirklich eine Befürchtung, dann muß man auch konsequent sein – oder man hat sie eben nicht, dann hätten wir, streng genommen, auch den Amtsarzt nicht rufen müssen. Aber in so einer Nacht tut man vielleicht auch mal etwas Unlogisches.«

»Ich bin froh, daß Sie ihn gerufen haben«, erwiderte der Verwaltungsdirektor zu Adrians größter Verblüffung. »Es tut ihm gut, wenn er sich ab und zu mal richtig wichtig machen kann. Und es wäre gar nicht auszudenken gewesen, wenn an diesem Verdacht etwas Wahres gewesen wäre und wir ihn dann zu spät informiert hätten. Ich kann jedenfalls nicht erkennen, daß Sie sich eines Versäumnisses schuldig gemacht hätten, Herr Dr. Winter.«

Im ersten Augenblick traute

Adrian seinen Ohren nicht. Kein Streit diesmal? Keine Auseinandersetzung? »Um so besser«, murmelte er, »wenn Sie das so sehen. Für mich war es ein bißchen viel – gleich zu Beginn meiner Zeit auf der Isolierstation.«

»Aber das wollten Sie doch, oder?« erkundigte sich Thomas Laufenberg lächelnd. »Sie wollten Erfahrungen sammeln – nun, Sie sind gerade auf dem besten Wege, wenn ich das richtig sehe.«

Adrian stand auf. »Dann geh ich mal wieder«, sagte er.

»Alles Gute für die Patientin. Und grüßen Sie die mutige Schwester Claudia von mir. Schade, daß ich sie persönlich noch nicht kenne. Aber das läßt sich ja bei Gelegenheit nachholen.«

Adrian nickte nur und verließ das Büro. Er fühlte sich ein wenig betäubt. Das fehlte mir gerade noch, dachte er, daß ich anfange, den Kerl sympathisch zu finden!

*

Lolly ärgerte sich auf dem ganzen Weg zum Krankenhaus über Ingas Freund Holger. Wie war ihre liebenswerte Schwester nur an einen so wenig einfühlsamen und egoistischen Menschen geraten? Lollys ohnehin nicht sehr schmeichelhafte Meinung von Holger hatte sich jedenfalls nach dem Telefongespräch an diesem Morgen noch weiter verschlechtert.

Auf der Isolierstation erwartete sie eine Enttäuschung. Eine zurückhaltende junge Frau, die sich mit ›Schwester Claudia‹ vorstellte, nahm sie in Empfang und sagte freundlich: »Es tut mir leid, aber Dr. Winter ist zu einer Besprechung in der Verwaltungsdirektion. Wir wissen nicht genau, wann er zurück sein wird.«

»Ach!« sagte Lolly unglücklich. »Ich hätte so gern noch einmal mit ihm gesprochen wegen meiner Schwester Inga Matthäus. Er war so freundlich letzte Nacht, und deshalb wollte ich…«

»Sie sind Frau Matthäus Schwester? Entschuldigung, das wußte ich nicht. Herr Dr. Winter hat gesagt, daß Sie sie jederzeit besuchen dürfen, kommen Sie doch bitte. Sie müßten sich aber vorsichtshalber Schutzkleidung anlegen, und kommen Sie ihr bitte nicht zu nahe. Soll ich Herrn Dr. Winter Bescheid geben, daß Sie ihn noch einmal sprechen wollen, sobald er zurück ist?«

»Würden Sie das tun?« Lolly lächelte die junge Frau dankbar an. »Das wäre nett. Wie geht’s Inga denn jetzt?«

»Zumindest besser als letzte Nacht, das werden Sie gleich selbst feststellen. Sie wird noch ein Weilchen hier bleiben müssen, aber das Fieber ist nicht mehr so hoch. Wir haben ihr die Hände verbunden, weil sie sich sonst die Pusteln aufkratzt – wundern Sie sich also nicht darüber.«

Sie führte Inga zu ihrer Schwester und zog sich dann zurück.

»Hallo, Kleine!« sagte Lolly liebevoll und sah aufmerksam in das mit Pusteln übersäte Gesicht ihrer Schwester.

»Lolly!« Inga zog eine Grimasse. »Ganz schön blöd, was? Ich fühle mich ziemlich mies. Außerdem schlafe ich dauernd ein.«

»Das darfst du ruhig, ich werde es dir nicht als Unhöflichkeit auslegen. Viele Grüße von der ganzen Familie, Kitty wollte unbedingt mitkommen – sie fand, deine Krankheit sei durchaus ein triftiger Grund, nicht in die Schule zu gehen.«

»Hätten wir in dem Alter auch so gehalten«, murmelte Inga. »Wie seh ich eigentlich aus, Lolly?«

»Wie ein Streuselkuchen«, antwortete Lolly ehrlich. »Kannst du dich nicht erinnern, wie die Kinder mit Windpocken ausgesehen haben?«

»Ihr habt mich ja nicht an sie rangelassen«, sagte Inga.

»Stimmt.« Jetzt fiel es Lolly wieder ein. »Du solltest dich ja nicht anstecken.«

»Und nun ist es doch passiert.«

»Was war das eigentlich für eine komische Geschichte?« wollte Lolly wissen. »Holger hat behauptet, ein Arzt im Flugzeug hätte von Pocken geredet, als er dich gesehen hat.«

»Pocken?« fragte Inga. »Weiß ich nicht. Ich habe von dem Flug nichts mitgekriegt. Als ich endlich wieder zu mir gekommen bin, da lag ich schon hier, und ein netter Arzt hat mir erzählt, daß ich die Windpocken habe.«

»Dr. Winter«, meinte Lolly. »Mit dem habe ich heute nacht auch gesprochen. Wirklich ein sehr netter Mann, ich hoffe, ich sehe ihn gleich noch.«

»Hast du… hast du mit Holger gesprochen heute morgen?« fragte Inga unsicher.

Lolly nickte. Sie würde nichts über ihren Ärger sagen, das hatte sie bereits beschlossen. »Ja, er kommt später«, antwortete sie sachlich. »Ich glaube, er war ziemlich fertig nach dem Flug.«

»Kann ich mir vorstellen«, sagte Inga. »Ich bin schon wieder schrecklich müde, Lolly.«

»Ich geh ja schon«, versicherte ihre Schwester. »Brauchst du noch etwas? Soll ich dir was bringen?«

»Nichts, Lolly. Ich will bloß schlafen.«

»Bis später! Ich komm noch mal mit den Kindern vorbei. Die geben ja sonst doch keine Ruhe.« Leise schlüpfte Lolly aus dem Zimmer hinaus.

*

Adrian war guter Laune, als er auf die Isolierstation zurückkehrte.

»Wars schlimm?« fragte Schwester Claudia ängstlich.

»Überhaupt nicht. Im Gegenteil, muß man sagen. Es scheint so, als hätten wir alles richtig gemacht. Ich kann es immer noch nicht glauben. Offenbar hat sich nicht einmal der grimmige Amtsarzt über uns beschwert – und wenigstens damit hätte ich gerechnet.«

»Ich auch«, gab Claudia zu, »obwohl er zum Schluß ja richtig friedlich war, finden Sie nicht auch?«

Adrian nickte. »Das haben wir nur Ihnen zu verdanken«, stellte sie fest. »Sie haben genau den richtigen Ton gefunden. Ich wollte Sie zum Dank heute eigentlich mit einem Blumenstrauß überraschen, aber dann habe ich es doch vergessen.«

»Zum Glück«, erwiderte Schwester Claudia, »das hätte mich nur verlegen gemacht. Übrigens ist die Schwester von Frau Matthäus da, und sie hätte gern mit Ihnen gesprochen.«

»Ach, das trifft sich gut. Dann mache ich mich gleich auf den Weg.«

Lolly kam ihm schon auf dem Gang entgegen. Sie lächelte, als sie den Arzt erkannte. »Meine Schwester ist so müde, daß sie schon wieder eingeschlafen ist«, berichtete sie. »Guten Tag, Herr Dr. Winter, ich bin froh, daß ich noch mit Ihnen sprechen kann. Es geht Inga doch wirklich besser, oder? Und es sind tatsächlich die Windpocken? Alles andere war nur Gerede?«

»Wenn es das nicht gewesen wäre, hätten Sie es schon längst erfahren«, antwortete er beruhigend. »Ja, sie hat die Windpocken. Und es geht ihr tatsächlich besser. Wir behalten sie eine Weile hier. Wenn sie sich nicht ihre Windpocken aufkratzt, wird sie auch keine Narben zurückbehalten.«

»Ich möchte gern mit meinen Kindern kommen heute am späten Nachmittag. Sie haben beide schon Windpocken gehabt. Meinen Sie, das wäre möglich?«

»Sicher. Sie sollten zwar trotzdem Schutzkleidung tragen und Abstand wahren, aber bringen Sie sie ruhig mit. Ihre Schwester kann ein wenig Ablenkung vertragen. Sie wird bald anfangen, sich hier schrecklich zu langweilen.«

»Das kann gut sein, Inga ist sonst immer in Bewegung. Sie ist sehr temperamentvoll«, erwiderte Lolly etwas sorgenvoll.

Adrian lachte. »Nun, dann kommt sie hier zur Ruhe, das schadet ihr sicher auch nicht. Auf Wiedersehen, Frau Matthäus-Kleber. Wir sehen uns ja sicher noch öfter.«

»Ich würde mich darüber freuen«, sagte Lolly aufrichtig.

*

Es fiel Holger schwer, sein Entsetzen zu verbergen, als er Inga sah. Er fand ihr Aussehen ausgesprochen abstoßend, aber er bemühte sich, das für sich zu behalten.

Natürlich merkte Inga trotzdem, was in ihm vorging, und auf einmal sah sie ihn mit anderen Augen als zuvor. Sie wußte selbst nicht, warum sie das tat, schließlich kannte sie ihn ja und wußte um seine Schwächen. Konnte es sein, daß die Krankheit ihre Sinne geschärft hatte?

Immer hatte sie Entschuldigungen für Holger gefunden, wenn er wieder einmal in erster Linie an sich gedacht hatte, aber diesmal war es anders. Erstaunt stellte sie fest, daß er ihr auf die Nerven ging, wie er jetzt so fassungslos vor ihr stand und ihrem Blick auswich. Was bildete er sich eigentlich ein? Wenn er sie liebte, würde er es doch wohl aushalten können, daß sie im Augenblick mal nicht die hübsche Inga war? Windpocken gingen schließlich vorüber, und sie würde sich schon nicht kratzen, denn sie wollte natürlich keine Narben riskieren. Warum also stand er da wie ein Stock und druckste herum?

»Sag mal«, fragte sie leise, »wie hast du mich denn eigentlich ins Flugzeug gebracht? Ich muß doch schon völlig hinüber gewesen sein! Jedenfalls kann ich mich an nichts mehr erinnern.«

»War auch ganz schön schwierig«, nuschelte er.

»Hattest du vorher einen Arzt gerufen?« bohrte sie weiter. »Ich kann mich doch daran erinnern, daß es mir auch am Vorabend schon ziemlich mies ging.«

Er schüttelte den Kopf. »So schlimm war es nun auch wieder nicht«, behauptete er.

Sie war einige Sekunden lang ganz still, sah ihn nur an. Das merkte er allerdings nicht, weil er angelegentlich aus dem Fenster blickte, um nur nicht ihr entstelltes Gesicht betrachten zu müssen. »So schlimm war es nicht?« fragte sie schließlich mit veränderter Stimme. »Ich kann mich an nichts erinnern, und du sagst einfach ›So schlimm war es nicht‹?«

»Sonst wärst du ja jetzt nicht hier, oder?«

»Ach«, sagte sie, »und das ist wohl dein Verdienst, was? Daß ich hier bin?«

»Wie meinst du das?«

Sie antwortete nicht sofort. Erst nach einer Weile fragte sie: »In welchem Zustand war ich, als wir abgeflogen sind?«

»Es ging dir nicht besonders«, antwortete Holger zurückhaltend. Ihm ging dieses Gerede auf die Nerven. Warum hörte sie denn nicht endlich damit auf? Er wollte wieder weg, sie sah so schrecklich aus, daß er es nicht über sich brachte, sie anzusehen. Beharrlich blickte er in eine andere Richtung, obwohl er spürte, daß ihre Augen fest auf ihn gerichtet waren. »Was soll das alles, Inga? Du bist jetzt hier. Also, warum hackst du immer darauf herum, wie es dir ging, als wir abgeflogen sind?«

Etwas in ihr rastete aus. »Ach, nur so«, antwortete sie, und fast ohne es zu wollen fügte sie noch einige Sätze hinzu: »Du brauchst mich nicht mehr zu besuchen, Holger. Ich glaube, das mit uns, das war ein Irrtum. Ich will dich nicht mehr sehen.«

Sie meinte es eigentlich nicht ernst. Vielmehr wollte sie ihn nur endlich aus seiner merkwürdigen Erstarrung lösen. Sie wollte, daß er sich wieder normal verhielt und nicht mehr so tat, als sei sie eine Fremde für ihn. Er sollte ihr sagen, daß er sie liebte, und er sollte über ihre bevorstehende Hochzeit reden. Denn sie hatten sich schließlich in Südafrika verlobt – oder etwa nicht? Auch wenn das nur auf einem Mißverständnis beruhte…

Aber Holger tat nichts von dem, was sie erwartet hatte. Er nickte nur, sagte leise: »Wahrscheinlich hast du recht« und

verließ augenblicklich das Zimmer. Und wenn sie sich nicht

sehr täuschte, dann war er sogar erleichtert darüber gewesen.

Sie schloß die Augen und wartete darauf, daß der Schmerz kam und sie überrollte. Sie wartete auf die Tränen, die sie dem schönen Holger nachweinen würde, auf das ganze schreckliche Unglück, das Liebeskummer zwangsläufig bedeutet. Aber nichts geschah, in ihrem Inneren blieb alles ruhig. Sie fühlte nichts. Jedenfalls keine Trauer und auch kein Unglück.

Als Dr. Winter das nächste Mal nach ihr sah, war sie fest eingeschlafen.

*

»Seht mal, wer da ist!« rief Dr. Julia Martensen ihren Kolleginnen und Kollegen zu, als Adrian Winter die Notaufnahme betrat. »Was willst du denn hier, Adrian? Bist du auf der Isolierstation nicht ausgelastet?«

»Natürlich ist er ausgelastet«, warf Dr. Bernd Schäfer ein. »Hast du noch nichts von dieser Pocken-Geschichte gehört, Julia?«

Adrian stöhnte laut auf. »Rede nicht von Pocken, Bernd, die Patientin hat Windpocken.«

»Erzählt mir sofort, wovon ihr sprecht!« verlangte Julia. »Ich habe mal wieder nichts mitbekommen.«

Bernd Schäfer ließ sich das nicht zweimal sagen, und er berichtete ihr sofort, was er wußte. Adrian mußte an mehreren Stellen korrigierend eingreifen, denn sein jüngerer Kollege neigte zu Dramatisierungen an äußerst unpassenden Stellen. »Und dann ist das Sekret mit einer Polizeistafette ins Hygiene-Institut gebracht worden, stell dir das mal vor, Julia!« schloß er gerade.

»Im Ernst?« wunderte sich die aparte Internistin. »Dann ist das ja genauso verlaufen, Adrian, wie du es dir gewünscht hast, oder? Du wolltest doch Erfahrungen auf anderen Gebieten sammeln.«

»Aber nicht unbedingt alle auf einmal«, seufzte er, doch er lächelte dabei.

»Und nun ist alles geklärt?« fragte Julia. »Die Patientin hat Windpocken und befindet sich bereits auf dem Wege der Besserung.«

»Ja, so sieht es aus«, bestätigte er. Nun endlich wandte er sich seinem Freund Martin Sommer zu, der sich, wie stets, bescheiden im Hintergrund gehalten hatte. »Ich bin eigentlich hier, um euch einen Freund von mir vorzustellen, Martin Sommer, der ebenfalls Arzt ist. Er würde sich gern ein wenig bei uns umsehen, und ich habe ihm erzählt, daß dazu keine Abteilung besser geeignet ist als die Notaufnahme, weil es hier von freundlichen und hilfsbereiten Kollegen nur so wimmelt.«

»Interessant, das zu hören«, grinste Bernd Schäfer und streckte seine Hand aus. »Wenn Sie ein Freund von Adrian sind, dann sind Sie uns natürlich herzlich willkommen. Wie ist es: Wollen Sie sich auch ein bißchen nützlich machen?«

Alle lachten, als Martin zögernd zugab: »Eigentlich nicht, wenn es nicht unbedingt sein muß.«

»Schade«, seufzte der wohlbeleibte Assistenzarzt. »Gerade heute hätte ich gern ein bißchen Unterstützung gehabt.«

»Wie stehts denn?« fragte

Adrian. »Kommt ihr zurecht?«

»Ohne dich? Kaum!« spottete Julia. »Aber wir geben uns die größte Mühe.« Dann nahm sie ihn in den Arm und gab ihm einen leichten Kuß auf jede Wange. »Klar kommen wir zurecht. Aber es ist schöner, wenn du da bist. Wir freuen uns darauf, wenn du zurückkommst, Adrian.«

Er erwiderte ihre Umarmung und küßte sie ebenfalls.

Später an diesem Tage sagte Martin Sommer nachdenklich: »Du hast wirklich unglaublich nette Kollegen, Adrian. Allmählich beneide ich dich richtig. Auch dieser Herr Laufenberg heute vormittag – das ist schon ein ganz toller Typ. Was macht er eigentlich?«

Er bemerkte Adrians verschlossene Miene nicht, als dieser antwortete: »Er ist unser neuer Verwaltungsdirektor.«

»Echt? Da könnt ihr aber von Glück sagen, daß ihr einen so aufgeschlossenen Mann auf einem solchen Posten habt. Ich fand ihn auf Anhieb gleich sympathisch.«

Adrian nickte nur, sagte aber kein Wort. Schon wieder einer, dachte er. Bald würde er der einzige sein, der mit Thomas Laufenberg nicht gut auskam.

*

»Wie hat Ihnen denn Ihr erster Tag in Berlin gefallen, Herr Sommer?« erkundigte sich Carola Senftleben, als Martin Sommer sein Gepäck bei ihr abholte.

»Großartig, Frau Senftleben, aber ich hatte eigentlich nichts anderes erwartet. Die Klinik ist sehr beeindruckend, das muß ich sagen. Ich habe mich für morgen dort noch einmal angekündigt. Alle sind sehr aufgeschlossen und hilfsbereit und haben nichts dagegen, wenn sich ein Kollege mal vor Ort umsieht. Ich habe beschlossen, dem Verwaltungsdirektor noch einen Besuch abzustatten, nachdem ich ihn heute zufällig kennengelernt habe. Ein äußerst sympathischer Mann.«

»Ja?« fragte Frau Senftleben und schaffte es, einigermaßen unbefangen zu erscheinen. Von ihrem Nachbarn Adrian Winter hörte sie ja immer ganz andere Sachen über diesen Herren Laufenberg – als sympathisch hatte er ihn jedenfalls noch nie bezeichnet. »Beschreiben Sie ihn mir!« bat sie. »Es ist für mich sehr interessant, wie Sie die Dinge in der Klinik sehen – ich höre die Geschichten ja sonst immer nur von Herrn Winter.«

»Und das erscheint Ihnen ein bißchen einseitig?« Martin Sommer machte ein verschmitztes Gesicht. »Ehrlich gesagt, ich habe das Gefühl, er hat was gegen den Verwaltungsdirektor, obwohl er kein Wort darüber gesagt hat. Wissen Sie, ob die beiden sich mal in der Wolle hatten?«

Carola Senftleben schüttelte den Kopf, das mußte sie schon aus Solidarität mit Adrian Winter tun. Sie wollte nicht verraten, daß er ihrer Ansicht nach eine ausgesprochen kindische Abneigung gegen Thomas Laufenberg hegte.

»Keine Ahnung«, behauptete sie. »Aber es ist doch wunderbar, daß er Ihnen sympathisch ist, Herr Sommer!«

»Ja, das finde ich auch. Also, tschüß, Frau Senftleben. Bis bald!«

Weg war er. Lächelnd schloß Carola Senftleben die Tür. Sie war froh, daß ihr Nachbar Besuch von diesem ausgesprochen sympathischen Mann hatte. Es würde ihm gut bekommen, mal eine Zeitlang Gesellschaft zu haben!

*

»Es ist wirklich endgültig aus, Inga?« fragte Lolly einige Tage später. Sie war allein gekommen, obwohl die Zwillinge wieder mal gequengelt und gebettelt hatten, aber sie wollte sie nicht jeden Tag mit in die Klinik nehmen. Außerdem brannte sie darauf, endlich in Ruhe mit Inga über Holger zu reden, was nicht möglich war, wenn die Kinder dabei waren.

»Ja«, bestätigte Inga. Sie sah bedeutend besser aus als bei ihrer Einlieferung, und sie kam allmählich auch wieder zu Kräften. »Endgültig.«

»Und wieso?« fragte Lolly. »Entschuldige, es geht mich eigentlich nichts an, aber du hattest uns ja gerade erst aus dem Urlaub geschrieben, daß ihr vielleicht sogar heiraten wollt. Es kommt also ein bißchen überraschend, daß jetzt auf einmal alles vorbei sein soll.«

Unwillkürlich lächelte Inga. »Für mich kommt es auch überraschend«, gestand sie.

»Aber besonders unglücklich siehst du nicht aus, wenn ich das mal sagen darf.«

»Bin ich auch nicht – und das wundert mich selbst ein bißchen.«

»Los, jetzt rede endlich!« drängte Lolly. »Wie ist es dazu gekommen?«

Inga erzählte es ihr, und Lolly hörte aufmerksam zu. »Du weißt, daß ich ihn nie besonders leiden konnte«, sagte sie, als ihre Schwester schwieg.

»Mhm, weiß ich«, erwiderte Inga. »Und weißt du was? Ich wollte ihn auch wirklich nicht heiraten.« Sie beschrieb Lolly die genaue Situation in Südafrika, und ihre Schwester lachte schallend.

»Das ist doch wieder mal typisch für dich! Und wieso hast du ihm nicht gesagt, daß er dich mißverstanden hat?«

»Ach, du kennst doch Holger, der hätte es fertiggebracht, mir den ganzen Urlaub zu vermiesen. Der war ja schon stocksauer, weil ich mich öfter mit einer netten Entwicklungshelferin unterhalten habe. Er konnte sie nicht leiden, also sollte ich auch keinen Kontakt zu ihr haben. So ist Holger eben – ein totaler Egoist.«

»Gut, daß wir ihn los sind!« sagte Lolly erleichtert.

»Wir?« fragte Inga. »Ich, meinst du wohl.«

»Wenn ihr wirklich geheiratet hättet, wäre er immerhin mein Schwager geworden, er wäre Teil unserer Familie gewesen.« Sie schüttelte sich. »Gut, daß mir das erspart bleibt.«

Inga lachte, und in diesem Augenblick sagte eine sympathische Männerstimme: »Oh, Sie haben Besuch, da störe ich wohl.«

Erstaunt sah Lolly auf den gutaussehenden, schlanken, dunkelhaarigen Mann, der plötzlich im Zimmer stand. Sie hatte ihn noch nie zuvor gesehen, und Inga hatte ihn, soweit sie sich erinnerte, auch noch nie erwähnt.

»Hallo, Dr. Sommer«, rief ihre Schwester vergnügt. »Ich dachte schon, Sie hätten mich vergessen.«

Ach so, dachte Lolly ein wenig enttäuscht. Ein Arzt, das hätte ich mir ja denken können.

Inga sprach munter weiter. »Das ist meine Schwester, mit vollem Namen heißt sie Lorene Matthäus-Kleber, aber wir nennen sie alle nur Lolly.«

»Inga!« Lolly wurde rot. Wie kam denn Inga dazu, vor diesem Arzt so vertraulich zu werden?

»Ich freue mich, Sie kennenzulernen!« sagte der Arzt freundlich. »Ich habe schon viel von Ihnen gehört.«

»Ja?« fragte Lolly und sah ihre Schwester hilfesuchend an. Die Situation verwirrte sie.

Inga hatte Mitleid mit ihr und erklärte: »Herr Dr. Sommer ist privat hier, Lolly. Er ist kein Arzt dieser Klinik.«

»Nein?« fragte Lolly verdutzt. »Und warum sind Sie…?« Im letzten Augenblick konnte sie den Rest der Frage noch hinunterschlucken. Es hätte gar zu unhöflich geklungen, fand sie, obwohl sie an der Antwort wirklich brennend interessiert war.

Aber Martin Sommer ahnte natürlich, was sie hatte wissen wollen, und es schien ihm nichts auszumachen, ihr zu antworten. »Ich habe Ihre Schwester fast jeden Tag besucht, seit sie hier ist«, erläuterte er. »Ich bin zu einem privaten Besuch bei Dr. Winter und habe ihn gebeten, mir die Klinik zu zeigen. Und bei der Gelegenheit sind wir auch hier auf der Station gewesen. Ihre Schwester war gerade erst eingeliefert worden – ich glaube, es war am nächsten Morgen, als ich sie kennenlernte. Und wissen Sie, was sie gesagt hat, als Dr. Winter ihr eröffnete, sie habe Windpocken?«

Lolly schüttelte den Kopf.

»Sie sagte sinngemäß: Typisch für mich Kindskopf, daß ich eine Kinderkrankheit kriege.«

»Und das hat Ihnen gefallen?« erkundigte sich Lolly neugierig.

»Sehr sogar. Ich fand es ziemlich witzig für eine Patientin, die kaum aus den Augen gucken konnte vor Fieber und Müdigkeit. Ich habe daraus geschlossen, daß sie eine Menge Humor haben muß. Mittlerweile habe ich mich davon überzeugt, daß meine Annahme richtig war.« Er strahlte Inga an, und diese strahlte vergnügt zurück.

»Ich habe ihm schon erzählt, Lolly«, sagte sie nun, »daß diese Pusteln im Gesicht und am Körper nicht zu meinem normalen Erscheinungsbild gehören. Aber das wußte er ohnehin, weil er ja Arzt ist.«

Nun lachten sie alle drei, und Lolly verabschiedete sich bald darauf. In den letzten Minuten war ihr einiges klargeworden. Unter anderem verstand sie auf einmal, warum Inga gar keine Zeit hatte, ihrem egoistischen Holger hinterherzutrauern.

*

»Das gibts doch nicht!« rief Adrian Winter, als er am nächsten Morgen an einem Kiosk vorbeikam. Dort las er den Titel einer ganz großen Boulevardzeitung: Pockenfall in Berlin? Verschweigt die Kurfürsten-Klinik einen Skandal?

Hastig kaufte er die Zeitung und überflog den Artikel. Er enthielt eine wüste Mischung aus Wahrheiten, Halbwahrheiten und unverschämten Lügen, wobei die Wahrheiten den geringsten Teil einnahmen. Die Kernaussage lautete: Fest steht, daß Pockenalarm hätte ausgelöst werden müssen, denn noch lange nach ihrer Einlieferung stand nicht fest, welche Krankheit die Patientin hatte. Zu diesem Skandal hat sich bisher kein Verantwortlicher äußern wollen. Auch die Namen der behandelnden Ärzte hält die Klinik nach wie vor geheim.

Er fluchte lautlos in sich hinein. Das würde wieder eine Menge Wirbel machen, den er im Augenblick überhaupt nicht gebrauchen konnte. Wie war die Zeitung überhaupt an ihre Informationen gekommen? Das Ganze war unerklärlich, schließlich lag der Vorfall nun bereits über eine Woche zurück.

Als er die Klinik betrat, stellte er zu seiner Überraschung fest, daß Thomas Laufenberg unten in der Eingangshalle eine improvisierte Pressekonferenz abhielt. Die Journalisten bestürmten den Verwaltungsdirektor mit Fragen, aber Laufenberg ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Er beantwortete jede Frage sachlich und ausführlich und sorgte dafür, daß keinerlei Unklarheiten bestehen blieben. Er machte außerdem überdeutlich, daß die Boulevardzeitung journalistisch schlampig gearbeitet hatte und daß die Klinik juristisch dagegen vorgehen werde.

Adrian selbst stand da, wie vom Donner gerührt. Der Mann war für ihn in die Bresche gesprungen. Warum tat er das? Weil es um das Ansehen der Klinik geht, beantwortete er sich selbst seine Frage. Aber warum hielt er seinen Kopf hin und hatte es fertiggebracht, selbst Adrians Namen aus der Sache herauszuhalten?

Er boxte sich durch die Menge, bis er vor dem Verwaltungsdirektor stand, der bereits Anstalten machte, in sein Büro zurückzukehren. »Danke«, sagte Adrian. »Aber Sie hätten das nicht ohne mich machen müssen.«

»Ich weiß«, antwortete der andere lächelnd. »Doch ich wollte nicht warten. Die Meute lauert schon seit sechs Uhr morgens hier herum. Ich wollte es endlich hinter mir haben.«

»Wo haben die die Geschichte überhaupt her?« murmelte Adrian mehr zu sich selbst.

»Das kann ich Ihnen ganz genau sagen. Der Verlobte der Patientin ist es gewesen.«

»Woher wissen Sie das?« fragte Adrian verdutzt.

»Ich hab ein paar Freunde unter den Journalisten«, antwortete Thomas Laufenberg knapp. »Der junge Mann muß über irgend etwas sehr sauer gewesen sein. Jedenfalls hat er seinen Ärger dann kurzerhand an unserer Klinik ausgelassen – ich schätze allerdings ohne Erfolg.«

»Das ist ja ein Ding«, meinte Adrian kopfschüttelnd.

»Fand ich auch«, erwiderte der Verwaltungsdirektor freundlich. »Und deshalb hatte ich es so eilig. Aber das nächste Mal dürfen Sie dabeisein, Herr Dr. Winter, das verspreche ich Ihnen.«

Mit diesen Worten verschwand er, und zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit ertappte sich

Adrian dabei, daß er ihn fast sympathisch gefunden hätte.

*

»Sie sehen schon wieder ziemlich normal aus«, stellte Martin Sommer fest und lächelte Inga an.

»Nicht mehr wie ein Streuselkuchen?« fragte sie, während sie sein Lachen erwiderte.

Er schüttelte den Kopf und sagte leise: »Sie wissen, daß ich nicht nur aus medizinischem Interesse jeden Tag hierhergekommen bin, nicht wahr?«

Ihr Herz klopfte heftig, als sie nickte.

»Aber ich habe mitbekommen, daß Sie mit Ihrem Freund im Urlaub waren, und ich will auf keinen Fall…«

Sie unterbrach ihn ruhig. »Soll ich Ihnen mal eine kleine Geschichte erzählen, Herr Dr. Sommer?«

»Martin«, sagte er.

»Gern, Martin. Kann ich dich dann auch gleich duzen?«

Er lachte. »Mit dem allergrößten Vergnügen.«

»Gut«, meinte sie zufrieden. »Also, ich erzähle dir jetzt eine kleine Geschichte. Mein Freund Holger hat mich im Urlaub gefragt, ob ich ihn heiraten will. Das wollte ich eigentlich nicht, aber wir haben uns mißverstanden, und er dachte, ich hätte zugesagt. Ich wollte das später aufklären – er ist launisch und hätte mir sonst den ganzen Urlaub verdorben. Zwischendurch hatte ich gedacht, vielleicht heirate ich ihn sogar, er kann nämlich auch sehr nett sein. Aber eigentlich habe ich gewußt, daß er nicht der Richtige für mich ist. Und dann bin ich also krank geworden. Und was stellte sich heraus? Der Typ hat keinen Arzt angerufen, er hat nur dafür gesorgt, daß wir das Flugzeug erwischen, weil er unbedingt nach Hause wollte. Und zu allem Überfluß hat er auch noch diese Pocken-Geschichte an eine Zeitung verkauft, weil er sauer war. So ein Typ kann doch nicht mein Freund sein, oder?«

»Eigentlich nicht«, gab Martin zu.

»Und uneigentlich auch nicht. Ich hab neulich, ohne daß ich das geplant hatte, gesagt, er brauche nicht mehr wiederzukommen, wir hätten uns wohl geirrt, wir beide. Im Grunde war mir das nur so rausgerutscht, und ich dachte, jetzt wird er wieder normal und sagt, wie leid ihm alles tut und daß er mich bedauert und so. Aber nein! Er nickt, dreht sich um und geht. Kannst du dir so was vorstellen?«

»Kann ich«, antwortete Martin. »Er war nicht der richtige Mann für dich.«

»Zu dieser Erkenntnis bin ich auch gekommen«, sagte Inga. »Zuerst dachte ich ja, mich trifft der Schlag, aber dann habe ich gemerkt, daß ich überhaupt nicht traurig bin, im Gegenteil. Ich glaube, ich bin sogar richtig froh, daß ich ihn los bin.« Sie lachte. »Und Lolly erst. Die ist richtig selig. Sie konnte Holger noch nie leiden.«

Martin Sommer strahlte über das ganze Gesicht. »Habe ich das jetzt richtig verstanden?« fragte er. »Heißt das, du hast keinen Freund und bist zur Zeit völlig solo?«

Inga sah ihn an und seufzte laut. »Sag mal, bist du ein bißchen beschränkt, Martin Sommer? Wozu erzähle ich dir denn die ganze Geschichte so ausführlich, wenn du nicht einmal bemerkst, was wirklich wichtig daran ist?«

»Wichtig ist, daß ich mich in dich verliebt habe«, sagte er und brachte sie damit zum Verstummen. »Aber so beschränkt kannst du ja nicht sein, daß du das nicht bemerkt hast, Inga, oder?«

»Und jetzt können wir uns noch nicht einmal küssen«, jammerte sie.

»Wir können schon«, entgegnete er, »ich hatte nämlich bereits die Windpocken, aber ich finde, wir warten damit, bis du wieder ganz gesund bist. Und dann machen wir es richtig!«

Als Adrian Winter kurz darauf kam, blieb er erstaunt in der Tür stehen. Irgend etwas schien ihm merkwürdig zu sein, aber er kam nicht so schnell darauf, was es war. Jedenfalls strahlte die Patientin mit seinem Freund um die Wette.

*

Kitty betrachtete Martin Sommer aufmerksam, dann streckte sie ihm die Hand entgegen. »Tante Inga ist meine allerbeste Lieblingstante«, erklärte sie, und es hörte sich wirklich an wie eine Drohung.

Er faßte es auch so auf und sagte ernsthaft: »Heißt das, wenn ich sie nicht gut behandele, dann bist du mir auf ewig böse?«

»Länger als ewig!« versicherte sie. »Immer und ewig.«

»Das wird nicht passieren!« gelobte er. »Ich werde sie auf Händen tragen.«

»So stark bist du doch gar nicht!« platzte Kai heraus.

»Das bedeutet, er wird immer nett zu ihr sein, Kai«, erklärte Lolly, die der ersten Begegnung ihrer Kinder mit Ingas neuem Freund etwas nervös entgegengesehen hatte. Aber nun schien ihr, als wäre das gar nicht nötig gewesen. »Man sagt das so. Er wird sie nicht wirklich tragen.«

»Ach so.« Kai hatte bereits das Interesse an dem Verhältnis zwischen Inga und Martin verloren, und er steuerte zielstrebig auf die wirklich wichtigen Dinge im Leben eines Mannes zu. »Kannst du Fußball spielen?«

»Klar«, antwortete Martin. »Sogar ziemlich gut. Am besten bin ich im Tor.«

»Dann komm mit«, kommandierte Kai. »Wir brauchen dich.« Er nahm ihn an der Hand und zog ihn mit sich nach draußen.

»Er ist wirklich sympathisch, Inga«, flüsterte Lolly ihrer Schwester zu. »Du hast echt mehr Glück als Verstand!«

Inga strahlte und wandte sich ihrem Schwager zu. »Und du, Burkhard? Was sagst du?«

»Mir gefällt er auch. Ich kann mich Lolly nur anschließen.«

»Da könnt ihr mal sehen, wozu Windpocken nicht alles gut sein können!«

Inga sprang auf und lief ebenfalls nach draußen, wo das Fußballspiel in vollem Gange war. Kitty stand neben der Spielfläche und feuerte die Mannschaft ihres Bruders an, für die Martin im Tor stand. Als Inga auftauchte, achtete er jedoch nicht mehr auf den Ball, und im nächsten Augenblick landete dieser im Tor. Martin bemerkte es nicht einmal. Er lief auf Inga zu, schloß sie ganz fest in seine Arme und küßte sie zärtlich. »Liebst du mich?« fragte er leise, als er sie schließlich losließ.

»Ja, immer noch«, antwortete sie und küßte ihn erneut.

»Wenn sie verliebt sind, kann man sie vergessen«, stellte Kai resigniert fest. »Wir müssen uns einen anderen Torwart suchen. Ich werde mich jedenfalls niemals verlieben! Verliebte sind einfach zu dämlich.«

*

»Haben Sie das etwa alles gekocht, Adrian?« staunte Carola Senftleben, die an diesem Abend von Adrian und Martin zum Essen eingeladen worden war.

»Wir beide zusammen«, stellte Adrian bescheiden fest und unterschlug dabei, daß seine eigene Rolle bei der Zubereitung des Essens eher gering gewesen war. Zu seiner Erleichterung hatte er festgestellt, daß Martin sich in der Küche gar nicht so ungeschickt anstellte, und so hatten sie es wirklich fertiggebracht, ein Menü aus mehreren Gängen vorzubereiten. Adrian hatte sich erboten, ›Hilfstätigkeiten‹ zu verrichten, und hatte viel schneiden, hacken und rühren müssen.

Martin hörte diesem Dialog amüsiert zu. Er kochte recht gern, und es hatte ihm gefallen, daß er sich auf diese Weise bei Adrian ein wenig für dessen Gastfreundschaft revanchieren konnte. Und nicht nur dafür…

»Frau Senftleben«, sagte er und hob sein Glas, »da Sie mich ja nicht heiraten wollen, sehe ich mich gezwungen, eine andere Frau zu nehmen.«

»Sie wollen heiraten?« fragte Frau Senftleben. »So schnell? Als Sie ankamen, hatten Sie noch nicht einmal eine Freundin.«

»Nun ja, ich will noch nicht sofort heiraten, denn natürlich haben Sie recht, ich kenne die junge Frau noch kaum. Aber es erscheint mir auch nicht mehr ausgeschlossen, daß Sie noch dieses Jahr Gast auf meiner Hochzeit sein werden.«

»Ihr jungen Leute habt immer ein Tempo drauf!« wunderte sich Frau Senftleben. »Aber ich freue mich für Sie, Martin. Warum haben Sie das bisher vor mir geheimgehalten, Sie und Adrian?«

»Vor mir hat er es auch geheimgehalten«, sagte Adrian. »Erst gestern hab ich endlich gemerkt, daß er ständig meine Windpocken-Patientin hinter meinem Rücken besucht.«

»Wie schön!« rief Frau Senftleben. »Herzlichen Glückwunsch, Martin, die junge Frau soll doch ganz reizend sein.«

»Worauf Sie sich verlassen können!« sagte Martin lächelnd. In diesem Augenblick klingelte es, und er sprang auf.

»Erwarten Sie noch weitere Gäste?« erkundigte sich Frau Senftleben bei Adrian.

»Nur noch die schon erwähnte reizende junge Frau«, antwortete Adrian lächelnd, und dann kam Martin auch schon mit Inga zurück und stellte sie vor.

Frau Senftleben warf nur einen Blick auf die beiden, dann nickte sie zufrieden. Die beiden paßten gut zusammen, das sah man gleich.

»Auf Ihr Glück!« sagte sie herzlich, während ihr Blick auf Adrian Winter fiel. Täuschte sie sich, oder sah er wirklich ein wenig wehmütig aus? Er sollte auch eine Frau finden, dachte sie. Eine, die so nett ist wie Inga Matthäus.

Adrian dachte in diesem Augenblick fast das gleiche wie seine Nachbarin. Allerdings waren seine Gedanken etwas konkreter, denn er sah ein schönes Gesicht vor sich, das von dichten blonden Locken umrahmt war. Es wurde Zeit, daß er Stefanie Wagner wieder einmal anrief. Wie man bei Inga Matthäus gesehen hatte, ging es ja manchmal ganz schnell mit einer Trennung. Und wenn Stefanie nicht mehr mit ihrem Freund zusammen war, dann könnte er vielleicht…

»Adrian!« sagte Frau Senftleben sanft. »Wo sind Sie denn nur mit Ihren Gedanken?«

»Bei der Liebe«, antwortete er aufrichtig. »Ich habe gerade an die Liebe gedacht, Frau Senftleben.«

Kurfürstenklinik Paket 1 – Arztroman

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