Читать книгу Kurfürstenklinik Paket 1 – Arztroman - Nina Kayser-Darius - Страница 33

Оглавление

»Was ist denn heute los?« Überrascht sah sich Dr. Adrian Winter in der Notaufnahme um. Gähnende Leere herrschte, und seine Mitarbeiter hatten rein gar nichts zu tun.

»Länderspiel«, kommentierte Schwester Walli lakonisch. »Da sind die Straßen erst mal wie leergefegt. Aber warte nur, der Ansturm trifft uns noch, da bin ich sicher.«

»Sie unkt schon den ganzen Morgen«, lachte Bea, die jüngste Mitarbeiterin des Teams. »Glauben Sie auch, daß wir heute noch viel Streß haben werden, Chef?«

Adrian zuckte die Schultern. »Wenn ich das immer vorhersagen könnte, wäre ich mehr als ein einfacher Chirurg in Berlin.«

Walli legte kurz den Arm um die junge Kollegin. »Bea hat einen neuen Verehrer, und mit dem hat sie sich verabredet. Ein pünktlicher Dienstschluß ist alles, was sie sich für heute abend ersehnt.«

Bea, die an und für sich ungemein keß war, wurde ein wenig rot, doch dann sprach sie aus, was ihr durch den Kopf ging. »Ein bißchen mehr will ich vom heutigen Tag schon haben. Schließlich ist Jürgen ein toller…«

Zu mehr kam sie nicht, denn draußen hielt mit quietschenden Reifen ein Wagen – direkt vor der Notaufnahme.

Sekunden später kam ein etwa fünfzigjähriger Mann herein, auf den Armen einen kleinen Jungen, dessen Gesichtsfarbe schon ins Blaue ging. »Er hat was verschluckt«, stieß der aufgeregte Vater hervor. »Um Himmels willen, helfen Sie uns! Patrick ist doch alles, was ich habe!«

»Ganz ruhig.« Adrian Winter hatte dem aufgeregten Mann den halb besinnungslosen Jungen schon abgenommen und legte das Kind auf die Untersuchungsliege.

»Walli, du hilfst mir«, kommentierte er. »Halt den Kopf ruhig… ja, so.«

Das Kind wimmerte leicht, doch es hatte nun die Augen geöffnet und sah den Arzt immerzu an.

»Keine Angst, gleich bekommst du wieder Luft«, versicherte Adrian, während er versuchte, den Rachen auszuleuchten. Und schon nach wenigen Sekunden sah er den kleinen Knochen, der der Verursacher aller Beschwerden war.

»Hat Patrick eben ein Hähnchen gegessen?« fragte er.

»Nein.« Der aufgeregte Vater knetete an seinen Fingern herum, bis die Knöchel weiß hervortraten. Er war kreidebleich, und man mußte um ihn mindestens genauso viel Angst haben wie um den Jungen. »Aber ein Kotelett… und dann…«

»Schon gut. Danke.«

Mit ein paar geschickten Griffen gelang es Dr. Winter, das Hindernis aus der Kehle zu ziehen.

Patrick rang keuchend nach Luft, doch man konnte erkennen, wie schnell es ihm besserging.

Ganz anders seinem Vater. Kaum hatte die Anspannung nachgelassen, sank er mit einem kleinen Seufzer in sich zusammen.

»Ich hab’s kommen sehen«, murmelte Schwester Walli und beugte sich schon über den Mann.

»Laß du mal, ich mach das schon«, kommandierte Adrian Winter. »Patrick geht’s wieder gut, schau du, daß du ihn ein bißchen abgelenkt kriegst«, fügte er leise hinzu.

Der Arzt selbst kontrollierte Herz und Kreislauf des Mannes, und Adrians Miene drückte tiefe Besorgnis aus. »Das sieht nach einem Infarkt aus«, murmelte er mehr zu sich als an die anderen gewandt.

Doch Walli hatte ihn verstanden. »So, Patrick, jetzt gehst du mit der netten Bea rüber ins Wartezimmer. Da gibt’s ’ne schöne Spielecke. Wir sehen zu, daß dein Papi wieder auf die Beine kommt. Klar?«

Der Junge, der immer noch ein bißchen mitgenommen wirkte, nickte nur. Aus großen, angsterfüllten Augen blickte er auf seinen Vater, der wie leblos am Boden lag.

Adrian Winter hatte schon alles für eine erste Infusion vorbereitet, und nun half ihm die erfahrene Walli, alles Notwendige zu tun, denn nichts war bei einem Infarktpatienten so wichtig wie die rasche Erstversorgung.

»Er kommt gleich auf Intensiv«, ordnete Dr. Winter an. »Wir hier können nicht viel für ihn tun. Oben aber ist er in den besten Händen.«

»Und der Junge?«

»Er kann Bea sicher sagen, wie er heißt und wo er wohnt. Vielleicht ist jemand daheim, der sich um den Kleinen kümmern kann. Bis dahin muß er hierbleiben.«

Er kontrollierte nochmals die Herztätigkeit seines neuen Patienten, und mit Zufriedenheit stellte er fest, daß die Angst aus dem Gesicht des Mannes mittlerweile gewichen war. Er atmete ruhiger, und seine Linke, die wie im Krampf zusammengepreßt gewesen war, lag jetzt entspannt auf der Brust.

»Ich glaube, er hat Glück im Unglück gehabt«, meinte Walli. »Wer bekommt schon in der Notaufnahme einer Klinik einen Herzanfall – oder gar Herzinfarkt?«

»Hoffen wir, daß es kein schwerer Infarkt ist, sondern wirklich nur der berühmte Schuß vor den Bug. Der Mann sieht so aus, als stände er unter Dauerstreß.«

»Adrian, der Hobbydetektiv«, erklang in diesem Moment eine Stimme von der Tür her. »Was hast du mit dem armen Kerl gemacht?«

Dr. Bernd Schäfer, 32 Jahre alt und chirurgischer Assistent, kam in die Notaufnahme und sah forschend von einem zum anderen.

Schnell war erzählt, was vorgefallen war, und noch ehe Adrian seinen Bericht beendet hatte, kamen zwei Pfleger und brachten den Mann hoch zur Intensivstation, wo er von nun an rund um die Uhr bewacht werden würde. Jede Lebensfunktion würde von Spe­zialgeräten aufgezeichnet werden – und sollte sich sein Zustand verschlechtern, würde das Personal der Intensivstation davon sofort durch Signaltöne verständigt werden.

»Was machst du eigentlich hier? Dein Dienst ist seit zwei Stunden zu Ende, denke ich.« Adrian sah den Mann fragend an.

»Du bist mal wieder nicht über alles, was in deiner Abteilung passiert, unterrichtet, nicht wahr?«

»Offensichtlich nicht. Aber… ich habe ja dich als exzellenten Mitarbeiter, und du wirst mich bestimmt gleich von meinem Defizit befreien.«

Bernd Schäfer, groß, massig und immer wie ein gutmütiger Bär wirkend, nickte grinsend. »Kommt mit nach draußen«, forderte er.

»Aber ich hab’ doch…«

»Komm mit. Nur bis zur Tür.«

Schulterzuckend folgte ihm Adrian. Draußen sah er es – einen herrlichen Strauß gelber Rosen und dazu eine Flasche Champagner mit diversen Gläsern. Alles stand auf einem Tablett. Dazu gab’s eine Platte mit Lachsschnittchen.

»Du willst dich wohl bei

Walli einschmeicheln«, stellte

Adrian fest. »Sie liebt Lachs!«

»Du hast es erfaßt!« Bernd nickte. »Und… macht’s bei dir immer noch nicht ›klick‹?«

Sein Chef schüttelte den Kopf. »Sorry, ich bin wahrscheinlich heute etwas begriffsstutzig.«

»Nicht nur heute, mein Lieber. Deshalb – nimm du den Schampus und die Rosen, ich trage inzwischen das Tablett rein. Du kannst dann auch den netten Spruch zu Wallis Geburtstag sagen.«

»Ach du liebe Güte!« Wenn Dr. Winter nicht schon die Hände voll gehabt hätte, hätte er sich vor die Stirn geschlagen. »Das hab’ ich total vergessen.«

»Chefs dürfen das. Dafür haben sie ja ihre Assis, die denken und handeln«, flachste Bernd Schäfer.

»Danke, du treuer Adlatus«, gab Adrian zurück.

Und dann standen sie alle, die gerade abkömmlich waren, im Halbkreis vor Walli und gratulierten der freundlichen Schwester von ganzem Herzen.

»Gute Mitarbeiterinnen sind rar«, fügte Adrian hinzu, »sympathische, liebenswerte sind allerdings noch rarer. Und solch ein Goldstück wie du, Walli… das ist einmalig!« Damit gab er ihr die Rosen und küßte sie liebevoll auf beide Wangen. »Alles, alles Gute zum Geburtstag«, sagte er laut. Und leise, nur für sie hörbar, fügte er hinzu: »Und ganz besonders viel Glück in der Liebe!«

»Danke – gleichfalls«, gab sie ebenso leise zurück.

Dann kamen alle anderen an die Reihe, und in der Notaufnahme ging es für eine Viertelstunde ausgesprochen fröhlich zu.

»Kundschaft!« meldete Bea, die Jüngste des Teams, dann, und schlagartig wurden alle ernst. Walli schaffte es gerade noch, die Rosen in eine Plastikvase zu stellen, die Sektgläser, aus denen jeder nur einen eher symbolischen Schluck genommen hatte, wurden abgeräumt und die Lachsplatte verschwand im Eisschrank.

Sekunden später trafen drei neue Patienten ein, und niemand dachte mehr an heiteres Geplänkel. Hier lagen drei Menschen, deren Leben an dem berühmten seidenen Faden hing – ihnen zu helfen, war für Dr. Winters Team jetzt das einzig Wichtige.

*

»Und wohin soll’s diesmal in den Ferien gehen?« erkundigte sich Verenas Manager bei seinem Topmodel. »Cannes? Die Bahamas? Oder eventuell ein Inselchen auf den Malediven? Ich hab’ mir sagen lassen, das sei ›in‹ im Augenblick.«

Verena schüttelte lächelnd den Kopf, so daß ihr langes blondes Haar leicht hin und her wogte. »Völlig falsch. Du weißt doch, Carlo, mein Verlobter, liebt die bayerischen Alpen über alles. Bergwandern ist mal wieder angesagt!«

Carlo Otting, ein hochgewachsener Mann mit etwas zu langen dunklen Haaren, lächelte ein wenig ironisch. »Jedem seinen Spleen, nicht wahr, meine Liebe?«

Verena nickte nur. Sie hatte keine Lust, länger das Thema Urlaub zu erörtern. Die Liebe zu den Bergen, die sie mit Mathias teilte, konnte in ihrer Branche sowieso keiner teilen.

»Denk dran, daß du dich nicht verletzen darfst«, sagte der Manager abschließend. »In vier Wochen ist ein Fotoshooting in Los Angeles angesetzt. Und… nicht zu braun werden, okay?«

Verena Merbold nickte nur. Sie war seit fünf Jahren im Geschäft, ihr mußte nun wirklich niemand mehr erzählen, was gut und richtig für ein Fotomodell der Spitzenklasse war.

Ihre Stimmung war nicht die beste, als sie eine Stunde später ihre elegante Penthouse-Wohnung in Charlottenburg betrat. Sofort stellte sie fest, daß Mathias noch nicht da war. Erleichtert atmete sie auf. Dann hatte sie also noch ein wenig Zeit für sich!

Müde und ausgezehrt ließ sie sich auf die Couch fallen und schloß die Augen. Seit drei Tagen ging es ihr gar nicht gut, doch sie hatte sich vor den anderen nichts anmerken lassen. Und auch ihr Verlobter, der stets bei ihr schlief, wenn sie in Berlin war, hatte nicht bemerkt, wie elend sie sich fühlte. Verena warf einen Blick hinaus auf die Terrasse, die sie und Mathias im Frühjahr liebevoll bepflanzt hatten.

Jetzt, im Juli, blühten Rosen an den Spalieren, und die diversen Kübel quollen schier über vor Fuchsien, Hängegeranien, Lobelien und vielen anderen Blumen und Gräsern.

Daß man hoch über Berlin war, merkte man erst, wenn man hinaustrat und die Skyline der Metropole vor sich hatte.

Aber… Verena war einfach zu erschöpft, um aufzustehen und hinauszugehen. Sie schloß die Augen wieder – und war unversehens eingeschlafen.

Sie wurde durch sanftes Streicheln und unzählige kleine Küsse geweckt.

»Mathias…« Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht und schenkte ihm für Sekunden viel von der berühmten Schönheit zurück.

Doch Mathias Kehlmann sah nicht das strahlende Lächeln, er registrierte besorgt die dunklen Schatten, die seit einigen Tagen unter Verenas Augen lagen. Und wieder einmal war sie eingeschlafen – sie schlief viel zu viel in letzter Zeit!

»Alles in Ordnung?« fragte er.

»Aber ja!« Sie stand auf und ging hinüber zur Hausbar, die direkt neben der Terrassentür stand. »Magst du einen Drink? Mir ist nach einem kleinen trockenen Martini.«

Er nickte. »Könnte ich jetzt auch vertragen.«

Er sah zu, wie Verena die Drinks zurechtmachte. Und wieder keimte diese unbewußte Angst in ihm auf. Waren ihre Bewegungen wirklich nicht so fließend und harmonisch wie sonst, oder bildete er sich das nur ein? Hatten ihre Finger gezittert, als sie ihm nun das Glas anreichte?

Mathias, der selbst einen aufreibenden Beruf hatte, zwang sich, nicht all die Schreckensbilder in sich aufsteigen zu lassen, die sich ihm beim Gedanken an eine Krankheit aufdrängten. Verena hatte hart gearbeitet in der letzten Zeit. Sie war bereits ein Star – und jetzt lockte die ganz große internationale Karriere, die sie gleichsetzen würde mit Claudia Schiffer, Naomi Campell und der zarten Nadja Auermann.

»Ich freue mich auf unseren Urlaub«, meinte er. »Mal keine Klienten, keine Akten, keinen Gerichtssaal…«

»Und ich kein Atelier, keinen nervösen Fotografen, keine exaltierten Kolleginnen, die sich für den Nabel der Welt halten…« Ve­rena ließ sich neben ihm nieder und schmiegte den Kopf mit dem langen hellen Haar an seine Schulter. »Hast du schon einige Touren ausgearbeitet?«

Mathias nickte. »Weißt du doch! In den Bergen sollte man nichts dem Zufall überlassen. Ich hab’ sogar schon eine Liste all der Dinge aufgestellt, die wir mitnehmen werden, wenn wir unsere Drei-Tages-Touren machen.«

Verena lachte. »Mein Perfektionist.«

»Das kann überlebenswichtig sein«, belehrte er sie.

»Ich weiß.« Verena kannte seine Ansicht – und wahrscheinlich hatte er sogar recht. Man konnte nicht immer vorhersagen, ob man die Tagesetappe auch erreichte. Und dann war’s gut, vorbereitet zu sein.

Mathias war stets vorbereitet. Auf alles und jedes Detail. Er führte immer all die Dinge mit sich, die er für unabdingbar hielt – und die ihn unabhängig machten. Die Skala reichte von Kopfschmerztabletten über Reservesocken bis hin zum speziellen Vitamindrink. Dazu kam natürlich auch eine Überlebensration an Essen.

Als sie sich kennenlernten, hatte das schöne Fotomodell über diesen Tick oft gelacht. Doch inzwischen hatte sie schon etliche Touren mit Mathias gemacht und dabei festgestellt, daß seine Vorsorge oft sehr nützlich war.

Sie, die in der ganzen Welt herumkam, die in Luxushotels zu Hause war, fühlte sich in einer gemütlichen Berghütte ausgesprochen wohl. Sie liebte diese Alternativ-Ferien, und je länger sie mit Mathias zusammen war, um so mehr teilte sie diese Urlaubsleidenschaft.

Doch im Augenblick wünschte sie sich, nicht eine Bergtour liege vor ihnen, sondern ein langweiliger, gemütlicher Strandurlaub. Die Vorstellung, tagelang in einem Strandkorb liegen und vor sich hindösen zu können, war einfach herrlich. Bei dem Gedanken daran mußte sie schon wieder gähnen. »Sollen wir ins Bett gehen? Bist du müde?« fragte Mathias sofort.

»Ehrlich gesagt, ja. Der Tag war zu stressig.«

»Ich komme mit. Aber erst muß ich einen Happen essen. Magst du auch? Ich hab’ uns ein paar Delikatessen mitgebracht.«

Da er wußte, daß sie lange im Studio stehen würde, hatte er die Einkäufe besorgt. Verena, die normalerweise immer Appetit hatte – leider einen viel größeren, als sie durfte – schüttelte den Kopf. »Danke, ich hab’ keinen Hunger. Ich trinke noch einen Tee… vielleicht geht’s mir dann wieder besser.«

Mathias nickte nur. Er aß gleich in der Küche, und als er danach ins Schlafzimmer kam, stellte er fest, daß Verena bereits tief und fest schlief.

Er beugte sich über sie und hauchte einen kleinen Kuß auf ihre Lippen. Und wieder mußte er feststellen, daß die geliebte Frau auch jetzt, da sie ruhte, elend und krank aussah…

*

»Wünsche ein erholsames Wochenende!« Dr. Christian Halberstett, der einzig glücklich Verheiratete im Team, lächelte in die Runde hinein. »Ich werde mich in den Garten legen und faulenzen. Wer will, ist herzlich eingeladen, uns dabei Gesellschaft zu leisten.«

Adrian Winter schüttelte den Kopf. »Schade, daß ich Dienst habe. Dennoch – danke für das Angebot. Und liebe Grüße an Carmen.«

So hieß Dr. Halberstetts rassige Ehefrau, die eine gebürtige Spanierin war und mit ihrem Temperament alle Menschen verzauberte. Zudem war sie die perfekte Gastgeberin, und die Kollegen ihres Mannes fanden bei ihr daheim so etwas wie eine gemütliche Höhle, in der sie alle hin und wieder unterschlüpfen konnten.

Zum Haushalt der Halberstetts gehörten noch die Kinder Frank, Nora und Kerstin.

Nora war 16 und hatte an diesem Wochenende einen lukrativen Job: Sie machte bei Bekannten den Babysitter – eine Tätigkeit, die Spaß machte, nicht anstrengend war und darüber hinaus sehr gut honoriert wurde.

Noras großer Bruder Frank, gerade 19 geworden, beneidete seine Schwester um diese regelmäßige Geldquelle. Er selbst stand mitten im Abi und konnte es sich nicht leisten, allzu viel Zeit zu vertun. Hin und wieder mal ein paar Stunden als Kassierer an der Tankstelle – mehr war einfach nicht drin.

Als Dr. Halberstett heimkam, empfing ihn seine Frau mit strahlendem Lächeln. »Ich hab’ zwei Karten für die Oper!« Sie schwenkte die Karten wie eine Trophäe.

»Ade, du gemütlicher Abend auf der Terrasse!« Er seufzte gespielt komisch auf. »Dabei hatte ich die Kollegen, die abkömmlich sind, eingeladen.«

Carmen runzelte die Stirn. »Sag, daß das nicht wahr ist! Diese Troubadour-Inszenierung soll einzigartig sein, und ich bin so…«

Rasch winkte ihr Mann ab. »Keine Bange, niemand kommt. Die, die keinen Notdienst machen müssen, haben alle was anderes vor. Wir können also unbesorgt diesem Kunstgenuß frönen.«

Auf dem Weg zum Opernhaus setzten sie Nora bei der Familie Schröder ab, vereinbarten, das Mädchen auf dem Rückweg wieder abzuholen, denn Schröders würden spätestens um 23 Uhr wieder daheim sein.

Nora hatte mit dem fünfjährigen Uwe keinerlei Schwierigkeiten. Er war ein aufgeweckter kleiner Bursche, und zur Zeit liebte er den Struwwelpeter über alles. Immer und immer wieder konnte er die Geschichten von Paulinchen und dem Zappelphilipp hö­ren.

»So, jetzt wird’s aber langsam Zeit, ins Bett zu gehen«, erklärte Nora gegen 19 Uhr. »Magst du noch was essen?«

Uwe nickte. »Nußkuchen«, erklärte er strahlend. »Ist noch viel im Schrank. Magste auch?«

Nora nickte. »Aber nur ein klitzekleines Stück, ja?«

Der Knirps schüttelte den Kopf. »Kannst ja ein kleines Stück essen – ich mag ein großes!«

Nora gab nach. Warum auch nicht? Nußkuchen war wirklich was Feines, und Uwes Mutter nahm es nicht so genau, wenn er noch ein wenig naschte, bevor er zu Bett ging.

Also gab’s Kuchen, hernach eine knappe Dusche, dann lag der kleine Kerl im Bett und fühlte sich sichtlich wohl. »Noch ’ne Geschichte. Aber jetzt die vom Kasperle und dem Frosch!« verlangte er.

Nora nickte ergeben. Sie holte das entsprechende Buch und begann gehorsam vorzulesen – immer in der Hoffnung, daß Uwe rasch die Augen zufielen und sie dann den alten Spielfilm mit Michael Douglas im Fernsehen anschauen konnte. Dazu aber kam es nicht mehr…

Sie hatte die Geschichte noch nicht ganz bis zur Hälfte gelesen, als Uwe auf einmal heftig zu keuchen begann. Rote Flecken erschienen auf seinem Gesicht, das dem Mädchen auch ziemlich teigig vorkam. Von der Frische und Sauberkeit, die nach dem Duschen vorhanden gewesen waren, keine Spur mehr. Statt dessen feuchter Schweiß und… ja, was waren das? Pickel? Pusteln?

Nora war die Tochter eines Arztes, und so wußte sie, daß man mit solchen Dingen nicht spaßen durfte. Erst recht waren Experimente jedweder Art verboten.

Sie zögerte, maß rasch mal Uwes Temperatur – leicht erhöht nur. Zum Glück. Aber… er war innerhalb weniger Minuten total teilnahmslos geworden, nur der Atem ging rasselnd.

»Verflixt, warum sind Mami und Paps auch gerade heute nicht zu Hause«, schimpfte sie leise vor sich hin, während sie das Kinderzimmer verließ, um von der Diele aus zu telefonieren. Zwar hatten Uwes Eltern ihr für Notfälle eine Telefonnummer hinterlassen, aber Nora hatte Hemmungen, in dem Luxusrestaurant anzurufen. Da wählte sie schon lieber die Nummer der Kurfürsten-Klinik.

»Die Notaufnahme bitte«, stieß sie hervor.

Und dann hörte sie, gottlob, gleich Dr. Winters Stimme.

»Hallo, Herr Dr. Winter… hier ist Nora Halberstett«, meldete sie sich, und es tat ihr leid, daß ihre Stimme nicht so souverän klang, wie sie es gern gehabt hätte. Sie mochte den gutaussehenden Chirurgen. Sehr sogar. Und sie hätte ihm so gern imponiert. Aber das ging nun nicht. Absolut nicht. Sie hatte ja auf einmal so einen Bammel, daß das mit Uwe etwas Schlimmes sei.

»Was ist los, Nora? Brauchst du Hilfe?« unterbrach Dr. Winter ihre wirren Gedanken.

»Ja… ich mach’ gerade Babysitting. Und der Uwe… er ist plötzlich so komisch.«

»Erklär mir das näher«, bat Adrian Winter, und seine ruhige Stimme tat Noras Nerven gut. Sie schluckte ein paarmal, dann gelang es ihr, ziemlich flüssig zu sagen: »Er war vor zehn Minuten noch gut drauf. Lag im Bett und hörte sich eine Geschichte an. Aber dann, auf einmal, begann er schwer zu atmen. Und jetzt hat er ein ganz dickes Gesicht und viele rote Pusteln.«

Adrian zögerte nur kurz. »Weißt du was, ich komme entweder schnell selbst vorbei, oder ich schicke einen Kollegen, ja?«

»Danke! Und… kommen Sie bitte selbst, ja?«

»Wenn’s eben möglich ist, Nora. Sag mir noch schnell die Adresse.«

Sie gab sie ihm, dann legte sie voller Erleichterung auf. Sie hatte getan, was möglich war. Jetzt konnte sie nur hoffen, daß Uwe durchhielt, bis der Arzt zur Stelle war.

Schnell ging sie zurück ins Kinderzimmer, wo der kleine Junge apathisch in seinem Bettchen lag und vor sich hinwimmerte. Nora nahm ihn in den Arm und versuchte ihn aufzurichten, damit das Atmen leichter wurde. Dabei sprach sie beruhigend auf ihn ein – und bemühte sich tapfer, ihr eigenes, wild klopfendes Herz zu beruhigen.

*

»Was ist los, Adrian?« Dr. Julia Martensen, die Internistin der Kurfürsten-Klinik, sah ihren jüngeren Kollegen fragend an.

»Ein Notruf von Nora Halberstett. Sie macht gerade bei einem kleinen Jungen den Babysitter – und es gibt Probleme. Willst du hinfahren, oder soll ich…«

Julia zögerte nicht. »Fahr du. Ich halte hier inzwischen die Stellung.«

»Danke.« Schon war er aus der Tür. Sekundenlang nur hatte Adrian erwogen, einen Notarzt zu der bezeichneten Adresse zu schicken. Doch schließlich hatte Nora ihn angerufen – einen Kollegen ihres Vaters. Das verpflichtete.

Als er die Adresse erreicht hatte, stellte er erleichtert fest, daß die Haustür einen Spalt breit offen stand. Kluges Mädchen, die kleine Nora!

Mit wenigen langen Sätzen war Dr. Winter die Treppe hochgeeilt. »Ich bin’s, Nora – Adrian Winter!«

»Endlich!« In der Mädchenstimme schwang unendliche Erleichterung mit. »Wir sind hier hinten, ganz am Ende des Korridors!«

Schon war er da – und was er sah, ließ ihn kurz zusammenzucken. Das Gesicht des kranken kleinen Jungen war inzwischen teigig und total aufgedunsen. Er bekam kaum noch Luft und hing völlig apathisch in Noras Armen.

Sekundenlang machte sich Dr. Winter Vorwürfe. Es wäre vielleicht doch besser gewesen, den Notarzt hierher zu schicken. Aber… jetzt war es zu spät, jetzt galt es nur noch, optimal zu helfen.

»Erzähl mal, was ihr alles gegessen habt heute abend«, forderte er Nora auf. »Oder weißt du vielleicht, ob Uwe auf irgendwas allergisch reagiert?«

Nora schüttelte den Kopf. »Nö. Ich weiß von gar nix. Und gegessen… Abendessen weiß ich nicht, das hat er mit seinen Eltern gehabt. Bei mir hat er nur noch nach einem Stück Nußkuchen gefragt.«

»Und bekommen, ja?«

Sie nickte. »Klar. Uwes Mutter ist eine tolle Bäckerin. Sie hat uns schon oft Kuchen gemacht.«

»Auch Nußkuchen?«

»Sicher. Warum wollen Sie das wissen?«

»Weil es viele Menschen gibt, die gegen Nüsse allergisch sind.« Während er sprach, hatte er den kleinen Jungen bereits untersucht.

»Nüsse können es nicht sein«, meinte Nora. »Die hat er schon oft gegessen. Und nie ist was passiert.«

Adrian Winter sah kurz hoch. »Überleg weiter… was habt ihr gemacht? Was hat er gegessen? Oder hat er was besonderes gespielt? Womit? Nora, es ist ungemein wichtig!«

Das Mädchen runzelte die Stirn und überlegte genau. »Die Luftballons!« Fragend blickte sie den Arzt an. »Ich hab’ ihm ein paar Luftballon‚ mitgebracht. Die gab’s als Werbegeschenk heute mittag im Supermarkt. Und weil ich da schon wußte, daß ich zu Uwe soll, hab’ ich mir einige eingesteckt.«

Adrian zuckte leicht zusammen. »Das könnte es sein! Latex!«

»Aber…« Nora sah ihn verständnislos an, während der Arzt schon eine Spritze aufzog. »Gleich geht’s dir besser, Uwe«, sprach er beruhigend auf den Jungen ein. »Ganz tief atmen. Ja, so ist’s gut. Komm, ich stütze deinen Kopf ein bißchen. Keine Angst, alles wird wieder gut.«

Tatsächlich – man konnte zusehen, wie der kleine Kranke sich erholte.

Erst als Dr. Winter sicher sein konnte, daß er seinem Patienten wirkungsvoll hatte helfen können, fuhr er in seinen Erklärungen fort.

»Heutzutage ist Latex allgegenwärtig. In Haushaltshandschuhen, Babyschnullern und Gummi­schürzen. In all den Dingen eben, die aus dem Milchsaft des Kaut­schukbaumes gewonnen werden. Viele Menschen sind dagegen allergisch. Aber nicht bei allen kommt es zu so einer starken Sofortreaktion wie bei Uwe. Nun ja, bald ist alles vergessen. Er wird sich schnell erholen. Sieh nur, die Rötung verschwindet schon, und die Schwellung klingt auch schon ein bißchen ab.«

Nora nickte. Sagen konnte sie nichts, denn sie fühlte sich schuldig. Wenn sie Uwe die Luftballons nicht mitgebracht hätte…

Dr. Winter schien ihre Gedanken zu ahnen. »Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen, Nora«, sagte er. »Bislang hat wohl niemand von dieser Allergie gewußt. Und oft ist es so, daß Menschen jahrelang beschwerdefrei waren – und plötzlich einen gewissen Stoff nicht mehr vertragen. Ich denke, wenn Uwes Mutter gewußt hätte, daß ihr Sohn Allergiker ist, hätte sie dich darauf aufmerksam gemacht.«

Das leuchtete ihr ein, und Nora entspannte sich wieder. »Und jetzt? Was soll ich jetzt tun?«

»Gar nichts. Laß Uwe ruhig schlafen. Dabei erholt er sich am besten. Aber du mußt unbedingt mit den Eltern reden, es ist wichtig, hörst du. Sie müssen dringend mit Uwe zum Kinderarzt, damit er durchgecheckt wird. Vielleicht ist er auch noch auf andere Dinge allergisch. Wenn sie wollen, können sie mich auch in der Klinik anrufen – ich hab’ Nachtdienst.«

»Danke, Dr. Winter! Ich… ich hatte ehrlich Bammel.«

»Durftest du auch haben. Mit solch einer Allergieattacke ist wirklich nicht zu spaßen.« Er ging zur Tür. »Trotzdem – gute Nacht, Nora.«

»Nacht. Und nochmals – danke.«

Er nickte nur, winkte ihr ein letztes Mal zu und fuhr rasch in die Klinik zurück.

»Wie war’s?« empfing ihn Julia Martensen.

Kurz erstattete er Bericht. »Und hier? Gab’s hier was Besonderes?«

Die schöne Kollegin schüttelte den Kopf. »Nur zwei Brüche, ein Schleudertrauma und drei Opfer einer Kneipenschlägerei. Ganz normal, das alles.«

Dr. Winter nickte. Ganz normal… für eine Großstadt wie Berlin war das wirklich normal.

*

Verena wurde durch das schrille Klingeln des Telefons wach. Schlaftrunken drehte sie sich zur Seite und griff nach dem Hörer.

»Endlich! Schätzchen, du mußt dich beeilen! Wir brauchen dich in Wien. Dringend!« Die Stimme ihres Managers klang hektisch wie immer.

Verena dehnte und reckte sich in ihren Kissen. »Sorry, aber ich hab’ Urlaub, wie du weißt!«

»Ja, ja, ich weiß. Aber… es ist eine totale Notlage. Und wenn dich Kaiser Mark ruft, solltest du wirklich nicht kleinlich auf deinen Urlaubsplänen beharren.«

Mark… Markus Lengenbach… Beim Gedanken an den genialen Modeschöpfer wurde Verena regelrecht nervös. Sie schwang die Beine aus dem Bett und wollte schon zusagen, als ihr urplötzlich schwarz vor Augen wurde. Sie hatte gerade noch die Kraft, sich abzustützen und wieder zurücksinken zu lassen.

»Also, Süße, was ist?« Die Männerstimme am anderen Ende der Leitung drängte.

»Ich mach’s«, flüsterte sie mit letzter Kraft. »Wann?«

»Morgen. Ich laß dir ein Ticket buchen, ja?«

»Einverstanden.«

Sie ließ den Hörer einfach aus der Hand fallen, war nicht mehr imstande, irgend etwas zu tun, zu entscheiden. So elend war ihr plötzlich, daß sie nur noch den einen Wunsch hatte, weiterzuschlafen.

Als sie wach wurde, war es heller Nachmittag, wie ein rascher Blick auf die Uhr zeigte.

»Um Himmels willen, Mathias!« Siedendheiß fiel ihr ein, daß sie sich mit ihrem Freund zum Lunch verabredet hatte. Nun war’s zu spät!

Gerade, als sie ihn anrufen und sich für ihr Fehlen entschuldigen wollte, klingelte das Telefon.

»Verena, Schatz… du, es tut mir so leid, daß ich nicht kommen konnte. Hast du lange auf mich gewartet?« Mathias Kehlmanns Stimme klang aufrichtig bedauernd. »Der Termin kam so kurzfristig, daß ich nicht einmal mehr anrufen konnte. Und… während der Besprechung war nicht eine Sekunde Zeit, um in unserem Bistro anzurufen. Bist du mir sehr böse?«

»Gar nicht«, versicherte sie erleichtert, daß ihr eine Entschuldigung – und eine Ausrede erspart geblieben waren.

»Ich komme heute besonders früh. Ich… ich muß dir noch was sagen«, fuhr er zögernd fort.

»Was denn?«

»Später, ja?«

»Ist gut.« Mit einem kleinen Seufzer legte sie auf. Ein paar Stunden hatte sie gewonnen. Aber… damit war das Problem nicht gelöst. Wie machte sie Mathias nur klar, daß aus ihren Urlaubsplänen nichts werden konnte? Ob er sie verstehen würde? Ob er erkannte, wie wichtig dieser Auftrag für sie war?

Verena verbrachte Stunden vol­ler Unruhe. Zwischendurch mußte sie sich wieder hinlegen, weil sie sich nicht gut fühlte. Komisch. Ob sie sich den Magen verdorben hatte? Oder gar eine Grippe bekam?

Alles, nur das jetzt nicht! Wenn sie mit Lengenbach zusammenarbeiten durfte, mußte sie in Topform sein!

Und dann war alles ganz anders.

Mathias kam mit Rosen – und einem um Verständnis bittenden Lächeln auf den Lippen.

»Wir müssen den Urlaub verschieben«, sagte er und nahm Ve­renas Hände in die seinen, um jeden Finger einzeln zu küssen. »Ich hoffe nur, du hast ein ganz kleines bißchen Verständnis für mich. Dieser Klient… das ist ein ganz dicker Fisch für unsere Kanzlei, und weil es sich um Computerspezialisten und ihre Probleme handelt, haben sie beiden Seniorpartner mir den Auftrag gegeben, die Sache zu vertreten. Sie verstehen einfach zu wenig von der Materie, haben sie gemeint.«

»Ja, aber…«

»Ich weiß, die Bergtour.« Zerknirscht blickte er sie an. »Kannst du mir verzeihen, wenn wir sie jetzt nicht machen? Ich hab’ schon unsere Zimmer abbestellen lassen. Bitte, Verena…«

Sie lächelte und küßte ihn liebevoll. »Aber natürlich verstehe ich. Dann kann ich ja auch ohne Gewissensbisse nach Wien fliegen. Lengenbach hat mich gebucht.«

»Markus Lengenbach?« Mathias pfiff durch die Zähne. »Gratuliere, Schatz. Und wann geht’s los?«

»Morgen.« Sie biß sich auf die Lippen, um ein Lachen zu verbeißen.

»Morgen? Aber dann hättest du ja auch nicht…«

Sie schüttelte den Kopf, und dann mußte sie laut loslachen.

»Wir sind ein tolles Paar, was? Schmieden Pläne, freuen uns auf den Urlaub – und dann kommt uns beiden ein Karrieresprung dazwischen.«

»Und du hast mich hier rumstottern und tausend Erklärungen und Entschuldigungen anbringen lassen.« Er griff nach ihr und hielt sie fest. »Biest. Gemeines, süßes, geliebtes Biest!«

Und dann war es erst einmal eine Weile still, denn das süße Biest ließ sich nur zu gern zurück zum Bett tragen…

*

Wien war ein einziger Traum. Und ein grandioser Erfolg für Ve­rena.

Sie war gut. Besser als je zuvor, und an der Miene des Modezaren sah sie, daß er mehr als zufrieden mit ihr war. Das beflügelte. Das spornte an. Forderte dazu heraus, noch mehr als nur gut zu sein.

Verena gab ihr Bestes. Verausgabte sich so sehr, daß sie abends total erschöpft ins Bett fiel. Sie hatte nicht einmal mehr die Kraft, zusammen mit den anderen die Stadt zu erkunden. Schönbrunn, die Kaisergruft, ein Besuch im Café Sacher… all das fand ohne sie statt.

Bei den Kolleginnen entschuldigte sie sich mit Müdigkeit. Und wer sie sah, wenn sie sich abgeschminkt hatte, glaubte ihr auch ohne weiteres, daß sie völlig am Ende war.

Doch am nächsten Morgen, im Licht der Scheinwerfer, war sie strahlend schön und hundertprozentig der Profi, als der sie gebucht war – ein schönes Fotomodell, das genau wußte, was von ihm erwartet wurde.

Die vier Tage vergingen wie im Flug, und als Verena wieder in Berlin war, mußte sie sich eingestehen, daß es so nicht weitergehen konnte.

Der Termin bei ihrem alten Hausarzt, der sie seit frühester Jugend kannte, war rasch gemacht.

Und ebenso schnell stellte Dr. Förster fest: »Ich kann gar nichts für dich tun, Mädel. Du mußt dich in der Klinik gründlich untersuchen lassen. Da ist irgendwas… ich kann nur leider nicht genau sagen was es ist. Aber mit den modernen Untersuchungsmethoden von heute wird man dem Übeltäter rasch auf die Spur kommen.«

»Aber ich kann doch nicht in ein Krankenhaus gehen… einfach so, ohne wirklich was zu haben!«

»Sei nicht so naiv, das steht dir nicht.« Dr. Förster lächelte väterlich. »Du weißt so gut wie ich, daß meine Praxis total veraltet ist. So, wie ich nicht mehr auf dem neuesten Stand der Medizin bin. Deshalb höre ich ja in einem halben Jahr auch auf. Also, Kind, sei gescheit… die Kurfürsten-Klinik ist hervorragend. Ich kenne da ein paar nette Kollegen. Den Anästhesisten zum Beispiel. Und…«

»Aber ich brauche doch keinen Narkosefacharzt!«

»Natürlich nicht. Du brauchst einen Arzt, der dich in die Röhre steckt. So eine Computertomographie ist Gold wert in der Diagnostik. Hier, die Überweisung.« Er sah Verena ernst an. »Schieb die Sache nicht auf die lange Bank.«

Sie nickte zustimmend. Sagen konnte sie nichts, denn die Angst, die auf einmal Besitz von ihr ergriffen hatte, schnürte ihr regelrecht die Kehle zu. Was war das für eine Krankheit, die in ihr steckte? Warum fühlte sie sich seit Wochen so schlapp und elend? Warum klopfte ihr das Herz manchmal unten im Magen statt dort, wo es eigentlich klopfen sollte?

Verena verließ die Praxis ihres Arztes wie betäubt. Sie sah nicht die strahlende Sonne, die die Großstadt in ein helles, alles verschönerndes Licht tauchte. Sie bemerkte die bewundernden Blicke nicht, die ihr folgten. Und sie ignorierte den Überweisungszettel, der ganz unten in ihrer Handtasche lag.

Nein, sie war nicht krank! Sie durfte jetzt, in der vielleicht wichtigsten Phase ihrer Karriere, nicht einfach krank sein! Zu Hause legte sie sich auf den Balkon und streckte das schöne Gesicht der Sonne entgegen. Und schlief ein, ehe sie es bewußt registrierte.

*

»Kann mir einer sagen, was mit der Frau auf Nummer sieben ist? Sie klagt über vage Bauchschmerzen, aber sie will sich absolut nicht untersuchen lassen.« Dr. Winter, der einen anstrengenden Vormittag im OP hinter sich hatte, kam ins Schwesternzimmer der Chirurgie und sah fragend von einem zum anderen.

Schwester Walli grinste. »Sie mag eben keine Männer«, erklärte sie lakonisch.

Ungläubig blickte Adrian sie an. »Was? Sag das noch mal«, verlangte er.

»Sie mag keine Männer. Seit gestern weigert sie sich schon, sich von einem männlichen Arzt auch nur ansehen zu lassen. Wir haben Frau Dr. Martensen schon zu ihr geschickt, aber die hat eine Appendizitis diagnostiziert – und einen Chirurgen hinzuziehen wollen. Das war dann wieder nichts. Wie du weißt, haben wir zur Zeit nur männliche Chirurgen hier.«

»Das ist doch Irrsinn! Wenn sie eine starke Blinddarmreizung hat, muß sie eventuell operiert werden. Das muß man doch herausfinden – und den Eingriff vornehmen.«

»Mach’s der Dame klar! Mit uns will sie über das Thema nicht reden. Entweder eine Ärztin – oder keine Operation.«

Adrian schüttelte den Kopf. In seiner langjährigen Berufs praxis hatte er schon mit den unterschiedlichsten Menschen zu tun gehabt, und etliche von ihnen waren auch ziemlich schrullig gewesen. Aber das hier… das war einfach zu verrückt!

»Ich gehe noch mal zu ihr«, sagte er. Doch an der Tür drehte er sich abermals um. »Was ist mit dem kleinen Patrick? Sollte er nicht heute morgen entlassen werden? Ich hab’ ihn aber eben gesehen. Oder war das eine Sinnestäuschung?«

Walli grinste. »Keine Sorge, du bist noch ganz normal, Adrian. Patrick ist auch entlassen worden, allerdings wollte er unbedingt zu seinem Papa. Und der muß uns ja noch eine Weile Gesellschaft leisten. Seine Herz- und Kreislaufwerte sind alles andere als zufriedenstellend.«

»Wenn es nur nicht zu einem zweiten Infarkt kommt«, murmelte Dr. Winter. »Beim ersten hat er noch Glück gehabt. Es steht zu befürchten, daß der zweite nicht ganz so glimpflich verläuft.«

»Das ist mir klar, und er ist ein Musterpatient – im Gegensatz zu Frau Herrmanns. An der wirst auch du dir die Zähne ausbeißen – es sei denn, du organisierst ihr ein OP-Team, das lediglich aus Frauen besteht.«

»Quatsch«, kommentierte Adrian nur und machte sich auf den Weg zu Zimmer sieben.

Frau Herrmanns lag im Bett und blätterte in einem Magazin, als der Arzt nach kurzem Klopfen ihr Zimmer betrat. Unwillig sah sie ihn an.

»Ich habe nach einer Ärztin verlangt«, sagte sie, ohne seinen Gruß zu erwidern. »Ist es so schwer zu verstehen, daß ich nur von einer Geschlechtsgenossin behandelt werden möchte?«

»Ja.« Adrian nickte ungerührt und blieb dicht neben ihrem Bett stehen. »Geben Sie mir eine einleuchtende Erklärung dafür – bitte.«

Jetzt war sie sichtlich aus der Fassung gebracht.

»Schwester Walli hat mir gesagt, daß Sie wegen einer massiven Appendizitis hier sind. Um eine Operation werden Sie also nicht herumkommen. Je eher wir den Eingriff vornehmen, um so rascher können Sie entlassen werden. Heutzutage ist das eine Kleinigkeit. Mit dem Endoskop…«

»Nein!« fiel sie ihm ins Wort.

»Dann müssen Sie leider diese Klinik verlassen. Wir haben zur Zeit keine weibliche Kollegin im OP-Team. Ich darf Sie aber warnen: Je länger Sie warten, um so mehr riskieren Sie. Eventuell kommt es zu einem Durchbruch, dann muß ein großer Bauchschnitt gemacht werden, die Gefahr einer Sepsis ist gegeben und…«

»Ich will eine…«

»Eine Kollegin, ich weiß.« Adrian Winter schüttelte den Kopf. »Da wir keine haben, werde ich veranlassen, daß Sie entlassen werden. Suchen Sie sich eine Klinik mit weiblichem Personal – warum auch immer.«

Frau Herrmanns wurde auf einmal kleinlaut. Sie biß sich auf die Lippen, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Darauf war Adrian nun nicht vorbereitet gewesen. Frauentränen machten ihn hilflos – und weich.

»Aber, aber…« Unbeholfen griff er nach Frau Herrmanns Hand. »Was ist denn nur los? Sagen Sie’s mir, ich versuche Ihnen zu helfen, so gut ich kann.«

Noch einmal zögerte sie, dann schlug sie mit einem Ruck die Bettdecke zurück und hob ihren Schlafanzug ein wenig an. »So… das ist los«, stieß sie hervor.

Dr. Winter mußte sich beherrschen, um nicht allzu sehr zu grinsen. Auf dem nicht gerade kleinen Bauch der Patientin prangte ein großes tätowiertes Herz, in dessen Mitte die Namen Anna und Peter standen.

»Ach so…«, meinte er nur.

»Ich schäme mich so«, flüsterte Frau Herrmanns. »Als ich das vor mehr als zehn Jahren machen ließ, waren mein Verlobter und ich so ausgeflippt und verliebt, daß ich mir gar nichts dabei gedacht habe. Aber jetzt… ich hab’ zugenommen, und mein Herz auch. Leider. Es ist entsetzlich, und ich gäbe Gott weiß was darum, das Ding nicht mehr sehen zu müssen. Wenn ich jetzt operiert werden muß, dann sehen es alle!«

Adrian Winter war klar, daß diese Patientin mehr unter dem tätowierten Herzen litt, als er sich vorstellen konnte. Er versuchte, so einfühlsam wie möglich zu sein, als er sagte: »Ich gebe zu, daß ich so eine Liebeserklärung noch nie gesehen habe, doch so furchtbar, wie Sie es empfinden, ist das Herz nun wirklich nicht. Ich… ich mache Ihnen einen Vorschlag.«

»Ja?« Ihre Augen schwammen immer noch in Tränen, aber sie sah ihn jetzt wenigstens an.

»Wir nehmen Ihnen den Blinddarm so schnell wie möglich raus – ehe es zu einer massiven Entzündung kommt. Und hinterher, wenn Sie sich etwas erholt haben, konsultieren Sie einen Spezialisten, der Ihnen die Tätowierung entfernt – wenn Sie wollen.«

»Ja, geht das denn?«

Adrian Winter nickte. »Natürlich. Allerdings glaube ich nicht, daß die Krankenkasse für diese Kosten aufkommt. Aber mit einem Lasergerät lassen sich die Tätowierungen entfernen. Freilich, ist es eine langwierige und auch etwas schmerzhafte Prozedur. Ich habe kürzlich einen Bericht aus England gesehen, da übernimmt die Stadt Manchester in einigen Fällen die Arztkosten. Junge Männer, die sich haben tätowieren lassen, finden heutzutage in bestimmten Berufen keine Anstellung, weil der Arbeitgeber sich an den Verzierungen stört, wenn sie zu deutlich sichtbar sind.«

»Und Sie sind sich sicher, daß das funktioniert?«

»Ganz sicher.« Adrian lächelte ihr zu. »Und Sie sind sich hoffentlich jetzt darüber im klaren, daß Sie mir die Einwilligung zur Operation unterschreiben müssen.«

Frau Herrmanns nickte, und als Adrian ein paar Minuten später zum Schwesternzimmern zurückkehrte, konnte er Walli den Bogen vorlegen.

»Ich werd’ verrückt!« Überrascht sah sie ihn an. »Wie hast du das denn angestellt?«

»Er hat sich als Frau verkleidet«, spottete Bernd Schäfer, der inzwischen dazugekommen war und sich gerade mit einer Tasse Kaffee stärkte.

»Ich habe eben Einfühlungsvermögen«, erwiderte Adrian nur, zwinkerte den beiden zu und ging mit einem kurzen Winken davon.

»Verstehst du das?« Kopfschüttelnd sah Walli ihm nach.

»Nein. Aber das ist ja auch nicht wichtig. Hauptsache, die OP findet rechtzeitig statt. Wie unser hoher Boß es geschafft hat, Frau Herrmanns rumzukriegen, soll ruhig noch sein Geheimnis sein. Spätestens bei dem Eingriff kriege ich die Wahrheit heraus.«

Walli nickte. »Stimmt. Also lassen wir Adrian das Vergnügen. Viel Spaß wird er heut sowieso nicht mehr haben. Der Verwaltungsdirektor hat eine Sondersitzung einberufen – und damit ist unser Chef gestraft genug!«

*

»Die ist ja zu schön, um wahr zu sein!« Beinahe hätte Adrian Winter seinen Gedanken laut ausgesprochen. Oder… hatte er die Worte tatsächlich gemurmelt? Er wußte es nicht, aber es war auch nicht wichtig, denn dieses Traumwesen, das da in der kleinen Wartehalle saß und ihn nun vage anlächelte, konnte nur eine Fata Morgana sein.

»Bitte… können Sie mir sagen, ob ich hier richtig bin? Ich soll mich zur Computertomographie anmelden. Aber… irgendwie hab’ ich das Gefühl, daß ich mich in den Gängen der Klinik verlaufen habe.«

»Stimmt. Hier sind Sie in der Notaufnahme!« Adrian bemühte sich um sein charmantestes Lächeln. »Aber ich helfe Ihnen weiter. Sie wollen also zur Tomographie…«

»Ich muß.« Verena verzog den Mund ein wenig. »Mein Hausarzt besteht darauf. Irgendwas hab’ ich, das er nicht diagnostizieren kann.«

»Dann kommen Sie bitte mit. Ich werde Sie an unseren Spezialisten überweisen.«

»Sie selbst nehmen eine solche Untersuchung wohl nicht vor?« Fragend blickte Verena den gutaussehenden Arzt an. »Sorry, aber… ich hab’ irgendwie Vertrauen zu Ihnen.«

»Das ehrt mich. Aber ich bin leider nur ein einfacher Chirurg.«

»Nur – das ist wahrscheinlich eine Untertreibung.«

Sie spürte auf einmal wieder diesen dumpfen Druck, und ihr wurde so rasch schlecht, daß sie sich nur noch an der Wand festhalten konnte.

Dr. Winter kam im letzten Moment hinzu, hielt sie fest, sonst wäre Verena ohnmächtig zur Erde gesunken.

»Tut mir leid«, murmelte sie in der nächsten Minute. »Das ist mir jetzt schon zum zweitenmal passiert. Keine Ahnung, warum.«

Adrian lächelte aufmunterd. »Sie sind ja hier, damit wir das herausfinden. Warten Sie, ich hole einen Rollstuhl!«

Doch Verena winkte beinahe entsetzt ab. »Bitte nicht! So schlecht geht’s mir nun auch wieder nicht. Wenn Sie nur so gut wären, noch ein bißchen bei mir zu bleiben…«

»Das ist doch selbstverständlich.«

Adrian übernahm es selbst, Ve­rena Merbold an den Kollegen weiterzureichen, der die Computertomographie vornehmen sollte. Da er aber sah, wie deprimiert die junge Patientin wirkte, bot er an: »Wenn der Kollege Taubert nichts dagegen hat, bleibe ich noch ein bißchen.«

»Selbstverständlich, Herr Winter. Ich freue mich!« Olav Taubert war noch neu an der Kurfürsten-Klinik, aber er hatte schon vom ausgezeichneten Ruf des Chirurgen gehört und war bestrebt, sich gut mit ihm zu stellen.

Verena mußte sich ausziehen und flach hinlegen. Dann wurde ihr Gefäßsystem elektronisch abgetastet.

Die junge Frau kniff bei allem die Augen fest zu, so, wie sie es schon als Kind getan hatte, wenn sie sich vor etwas fürchtete. Es half zwar nicht wirklich, aber sie hatte dann stets das Gefühl, daß es nicht ganz so schlimm war. Außerdem war dieser sympathische Dr. Winter in der Nähe. Irgendwie war’s komisch, aber er flößte ihr wirklich viel Vertrauen ein.

Die Sekunden verstrichen.

Unendlich lang kam der jungen Frau die Prozedur vor, und es war wie eine Erlösung, als Dr. Taubert sagte: »So, das war’s fürs erste. Sie können jetzt entspannen, Frau Merbold. Warten Sie, ich helfe Ihnen von der Liege…«

Verena dankte ihm mit einem kleinen Lächeln. Sie war froh, der Röhre entronnen zu sein. Irgendwie bereitete es ihr Beklemmung, so eingeschlossen in dem Gerät liegen zu müssen. Dabei hatte sie nicht das geringste gespürt.

Jetzt aber klopfte ihr Herz wieder wie wild. Aber nicht hoch oben im Hals und schon gar nicht in der Brust. Sie hatte das Gefühl, daß der Herzschlag unten im Bauch pulsierte…

Es dauerte nicht lange, bis die Ergebnisse der Untersuchung vorlagen. Dr. Taubert rief den erfahrenen Adrian Winter zu sich. »Sehen Sie mal hier…« Er wies auf eine Stelle im unteren Brustbereich. »Ein ausgewachsenes Aneu­rysma.«

»Und was für eins!« Adrians Stimme klang heiser vor Erregung, denn ihm war nur zu deutlich bewußt, wie schwerwiegend diese Diagnose war.

Dr. Taubert sprach mit der Patientin, doch er tat es auf eine sehr sachliche, distanzierte Weise. Hilflos wandte sich Verena deshalb an den Chirurgen.

»Sagen Sie mir… was hat das zu bedeuten? Schwebe ich in Lebensgefahr?« Aufmerksam blickte sie ihn an. »Bitte, sagen Sie mir die Wahrheit. Ich kann sie verkraften.«

Adrian Winter zögerte, dann nickte er. »Solch ein Aneurysma ist wie eine tickende Zeitbombe im Körper, offen gestanden. Die Wand der betroffenen Arterie wird schwächer und dünner, bekommt schließlich im Laufe der Zeit eine Beule. Diese füllt sich mit Blutgerinnseln an. Irgendwann – wann genau, läßt sich nicht sagen – reißt sie dann auf, und das durch die Adern strömende Blut ergießt sich ins Körperinnere. Herzstillstand. Ende. Vorbei…«

Aus großen, erschrockenen Augen sah sie ihn an. »Und? Was kann man dagegen tun?«

Der Chirurg lächelte aufmunternd. »Vieles, zum Glück. Aber das kann ich Ihnen nicht hier zwischen Tür und Angel erklären.« Er wandte sich an Dr. Taubert. »Ich muß wieder zurück zur Notaufnahme. Wollen Sie es übernehmen, die Patientin umfassend aufzuklären?«

Olav Taubert zuckte die Schultern. »An und für sich gern, doch ich habe in zehn Minuten schon den nächsten Termin. Tut mir leid«, wandte er sich an Verena, »aber ich habe Sie wirklich nur dazwischengeschoben, weil Ihr Hausarzt es so dringend gemacht hat – mit gutem Grund, wie wir nun wissen.«

Hilflos sah die schöne junge Frau von einem zum anderen. »Und nun?« fragte sie.

Adrian zögerte nur kurz. »Wenn Sie eine Stunde Zeit haben, dann können wir nach meinem Dienst ausführlich miteinander reden.«

Verena nickte nur. »Ich warte in der Halle«, sagte sie leise.

Und dann ging sie so vorsichtig durch die Klinikflure, als hätte sie Angst, schon eine ungeschickte Bewegung könnte ihr Aneurysma zum Platzen bringen.

Mit schwerfälligen Bewegungen ließ sie sich in einer der kleinen, durch Pflanzkübel abgegrenzten Wartenischen nieder.

Jetzt wußte sie es also: Ihr Leben war in Gefahr! Diese Schwäche, die Kurzatmigkeit, dieses heftige Pochen im Leib… ein Aneurysma war der Grund dafür!

Verena, die nie viel von Medizin verstanden hatte, die sich auch nicht sonderlich dafür interessiert hatte, denn sie hatte nie gesundheitliche Probleme gehabt, versuchte sich vorzustellen, wie es jetzt in ihrem Innern aussah.

Doch nein, lieber nicht. Es machte sie nur noch ängstlicher, noch unsicherer.

Sie dachte an die letzte Modenschau in Wien, die ihr so großen Erfolg beschert hatte. Lengenbach hatte durch eine Assistentin ausrichten lassen, daß er sehr daran interessiert sei, in Zukunft häufiger mit Verena zu arbeiten.

Ob es noch einmal dazu kommen würde?

Dann gingen ihre Gedanken zu Mathias. Er war der liebenswerteste Mensch, den Verena sich an ihrer Seite vorstellen konnte. Aber… er war kerngesund. Wie würde er auf die Nachricht reagieren, daß ihr eine schwere Operation bevorstand?

Verena biß sich auf die Lippen, bis sie Blut auf der Zunge spürte. Dann gab sie sich einen Ruck, stand auf – und verließ die Kurfürsten-Klinik mit hastigen Schritten…

*

Suchend sah sich Dr. Winter in der Halle um. Wo war nur die schöne Patientin geblieben, die hier warten wollte? Er schaute in jeden Winkel, fragte auch an der Pforte nach, ob jemand eine Nachricht für ihn hinterlassen hätte, doch mit Bedauern mußte man erklären, daß das nicht der Fall sei.

»Verflixt!« Er schüttelte den Kopf und ging zurück zu seinem Kollegen Olav Taubert. Vielleicht wußte der ja mehr.

»Sie haben doch eben an einer Frau Merbold die Tomografie gemacht«, begann er.

»Klar. Das Aneurysma.«

»Stimmt. Die Patientin wollte auf mich warten, bis ich in der Notaufnahme frei hatte – und jetzt ist sie verschwunden. Hier ist sie wohl nicht mehr aufgetaucht?«

Dr. Taubert schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, ich war die ganze Zeit über mit Patienten beschäftigt. Aber ich glaube nicht, daß sie hier ist. Das hätte mir meine Assistentin gesagt.«

Mit kurzem Dank verließ Adrian Winter die Abteilung und eilte zurück zur Halle. Aber die schöne Frau, die ihn vor einer knappen Stunde noch um eine ausführliche Unterredung gebeten hatte, war nicht mehr da.

Wahrscheinlich ist sie zu ihrem Hausarzt gegangen, sagte Adrian sich. Der hat auch bestimmt mehr Zeit, um ihr alles zu erklären.

Aber wirklich glauben mochte er das nicht, und er fühlte sich ausgesprochen unwohl in seiner Haut, als er heimfuhr. Gerade hatte er es sich mit einem Glas Rotwein in seinem Lieblingssessel bequem gemacht, als das Telefon klingelte.

»Nicht schon wieder«, murmelte er und ließ den Worten einen tiefen Seufzer folgen. Seit sechs Tagen war er fast ununterbrochen im Dienst gewesen, er brauchte dringend mal eine ausgiebige Ruhepause.

»Winter«, meldete er sich und bemühte sich, so viel Unfreundlichkeit wie möglich in das eine Wort zu legen. Ein Lachen erklang am anderen Ende der Leitung. »Um Himmels willen, Bruderherz, was ist denn mit dir los?«

»Ester!« Als er ihre Stimme hörte, flog ein Lächeln über sein Gesicht. Mit seiner Zwillingsschwester verband ihn eine innige Freundschaft, und wenn sie sich auch nicht oft sehen konnten, denn auch Esther war eine engagierte Medizinerin, so sprachen sie sehr oft miteinander.

»Ich hatte das Gefühl, ich müßte dich aufmuntern, nur deshalb hab’ ich angerufen«, sagte Esther Berger, die als Kinderärztin an der Charité arbeitete.

»Das berühmte Gespür, das nur Zwillinge haben«, spöttelte Adrian. »Aber du hast mal wieder recht – ich bin wirklich ziemlich down im Moment. Es gibt viel zu tun, und außerdem ist mir heute was passiert, das mich einfach nicht zur Ruhe kommen läßt.«

»Erzähl«, forderte Esther sofort.

Adrian Winter nahm noch einen Schluck Rotwein, dann erzählte er von der schönen Patientin, die auf so geheimnisvolle Weise verschwunden war.

»Sie ist wirklich krank«, schloß er, »und ich weiß jetzt einfach nicht mehr, wie ich ihr noch helfen soll.«

»Du kannst gar nichts mehr tun«, meinte Esther. »Die Frau ist alt genug, um zu wissen, was die Diagnose für sie bedeutet. Und vielleicht ist alles auch ganz harmlos zu erklären. Vielleicht hatte sie einfach keine Lust mehr, auf dich zu warten. So umwerfend bist du schließlich auch wieder nicht, Bruderherz.«

»Du hast eine nette Art, mich aufzumuntern.« Aber in seiner Stimme schwang jetzt immerhin ein wenig Heiterkeit mit. Und als er Esther noch eine Weile zugehört hatte, die von ihren kleinen Patienten erzählte und von dem Bauernhof, auf dem sie mit ähnlich engagierten Freunden therapeutisches Reiten mit Kindern machte, da fiel aller Alltagsstreß von ihm ab.

Schließlich trennten sie sich mit dem gegenseitigen Versprechen, sich spätestens am nächsten Wochenende zu einem üppigen Essen zu treffen.

»Ich habe dann dienstfrei«, berichtete Esther. »Vier volle Tage lang. Die werde ich ausgiebig genießen – und du kannst mir dabei helfen.«

»Ich bin doch nur ein unvollständiger Ersatz«, meinte Adrian. »Such dir lieber was fürs Herz.«

Esther lachte auf. »Um Himmels willen, nur das nicht! Eine gescheiterte Ehe reicht mir. Von Männern hab’ ich erst mal die Nase voll. Es sei denn, sie wären mit mir verwandt oder unter 15 und meine Patienten.«

»Du bist unverbesserlich!«

»Danke gleichfalls, Bruderherz. Und jetzt schlaf gut. Bis dann.«

»Bis zum Wochenende.« Als er den Hörer auf den Apparat zu­rücklegte, fühlte Adrian sich schon wesentlich besser. Nur noch kurz dachte er an die schöne Patientin mit dem Aneurysma – dann schlief er tief und fest ein.

*

Verena irrte ziellos durch die Straßen. Seit sie die Kurfürsten-Klinik verlassen hatte, war sie wie paralysiert. Alle wirklich logischen Gedanken schienen ausgelöscht zu sein. Nur eins schwirrte in ihrem Kopf herum. Fort von hier. Fort aus Berlin. Fort aus Mathias’ Nähe…

Als sie in der Halle gesessen und auf Dr. Winter gewartet hatte, war ihr zum erstenmal der Gedanke gekommen, und inzwischen war er zu einer fixen Idee geworden: Sie durfte Mathias nicht an sich binden. Er, der so gesund und sportlich war, sollte sein Leben nicht mit einer schwerkranken Frau verbringen müssen.

Und sie selbst… sie wollte keine Belastung für ihn sein. Er sollte nicht nur aus Pflichtgefühl bei ihr bleiben. Besser war es da schon, er behielt sie so in Erinnerung, wie sie jetzt noch war – jung und schön.

Verena machte sich nicht klar, daß sie völlig überzogen reagierte und dabei irrational handelte. Sie folgte nur ihrem Gefühl, und das befahl ihr, sich irgendwo zu verkriechen, wo niemand sie kannte.

Sie hatte kein Gepäck dabei, doch in der ersten Nacht bereitete ihr das keine Schwierigkeiten. In dem kleinen Hotel an einem der vielen Seen, die es rund um Berlin gab, stellte ihr niemand Fragen. Anstandslos bekam sie ein Notset für die Nacht.

Mit wild klopfendem Herzen und diffusen Schmerzen ging sie zu Bett. Immer wieder horchte sie nach innen – hörte sie das Pulsieren des Blutes? War wirklich noch alles normal? Oder… gab es schon Aussetzer?

Kurz vor dem Einschlafen dachte sie noch einmal an Mathias, und ohne daß sie es wollte, begann sie zu weinen.

So schön war ihr Leben vor kurzem noch gewesen. Die Zukunft hatte in den sonnigsten Farben vor ihnen beiden gelegen. Und nun machte die Diagnose eines Arztes plötzlich alles zunichte…

Verena schlief nicht gut in dieser Nacht, und das schlechte Gewissen, das sie Mathias Kehlmann gegenüber hatte, quälte sie mindestens so stark wie die Angst vor dem Tod.

Nach einem kargen Frühstück im Hotel beschloß sie, zurück nach Berlin zu fahren. Es brachte ja doch nichts, einfach zu verschwinden. In der heutigen Zeit konnte man nicht so einfach untertauchen.

Ihr alter Hausarzt war überrascht, als sie gegen Mittag bei ihm erschien. »Verena… ich hab’ geglaubt, du bist schon in der Klinik.« Forschend blickte er sie an. »Was ist los?«

Sie biß sich kurz auf die Lippen. »Ich war in der Kurfürsten-Klinik, aber…« Noch einmal zögerte sie, dann gestand sie: »Ich bin fortgelaufen, nachdem die Diagnose feststand.«

»Und?« Fragend sah Dr. Förster sie an. »Was haben die Kollegen festgestellt?«

Tränen standen in ihren schönen Augen, als sie leise sagte: »Ich habe ein Aneurysma. Die Ärzte in der Klinik haben kein Hehl daraus gemacht, wie gefährlich so etwas ist.« Bang fragend sah sie ihren alten Hausarzt an. »Stimmt das wirklich? Muß ich von jetzt an Angst um mein Leben haben?«

Dr. Förster war schon sehr lange Arzt, und es war ihm schon häufig passiert, daß er einem Patienten eine schwerwiegende Diagnose hatte stellen müssen.

Doch in Verenas Fall erschien es ihm besonders schwer. Er mochte sie sehr, sie erinnerte ihn immer ein wenig an seine Tochter, die leider in Australien verheiratet war und die er nur sehr selten sehen konnte.

»Ein Aneurysma…« Er seufzte auf. »Damit ist wirklich nicht zu spaßen. Aber heutzutage gibt es beste Operationstechniken, die...«

»Das geht aber doch nicht!« fiel sie ihm ins Wort. »Stellen Sie sich nur mal vor, wie das aussieht… Ein Fotomodell mit aufgeschnittenem Bauch. Kein Mensch will eine Narbe sehen. Ich wäre out, von einem Tag zum anderen tot für die ganze Branche.«

Dr. Förster zuckte die Schultern. »Besser für diese Branche tot als wirklich nicht mehr unter den Lebenden, meinst du nicht?« Er sagte das bewußt so brutal, um die junge Frau aufzurütteln. Sie durfte sich jetzt nicht selbst aufgeben, er mußte ihren Lebenswillen wecken – und das ging nur, wenn er ihr einen Weg zeigte, wie ihr Leben nach der Arbeit vor der Kamera aussehen konnte.

Doch Verena schüttelte heftig den Kopf, als er mit leisen Worten zu sprechen begann. »Lassen Sie nur, Doktor, das habe ich mir alles schon selbst gesagt. Ich… ich werde es mir noch einmal überlegen – und dann wohl in die Klinik gehen. Danke für alles.« Sie beugte sich vor und hauchte ihm einen kleinen Kuß auf die Wange. Dann war sie verschwunden, ehe er noch ein Wort erwidern konnte.

Nach dem Besuch beim Arzt ging sie zu ihrem Agenten. Sie wirkte ernst und entschlossen, als sie erklärte: »Stell mir keine Fragen, ja? Sag mir nur, ob es möglich ist, daß ich für ein paar Wochen ganz weit weg von hier einen Job bekommen kann. Das Honorar ist nicht so wichtig. Nur weg muß ich.«

»Ja, aber…«

»Kein Aber, Carlo. Kannst du was arrangieren oder nicht?«

»Sicher. Irgendwas läuft immer. Und wenn du keine Ansprüche stellst… Aber denk doch mal an die Chancen, die du vielleicht versäumst. Lengenbach war begeistert von dir, hab’ ich gehört. Und auch in den USA ist man schon auf dich aufmerksam geworden. Aber von heute auf morgen läuft leider nichts, da mußt du mir schon ein wenig Zeit lassen.«

»Tue ich aber nicht, Carlo. Ich will fort von hier, weg aus der Stadt, weg von Mathias. Also – hilfst du mir oder nicht?«

Carlo grinste. »Ach so ist das! Beziehungsstreß! Na ja, wenn’s so ist… Für ein paar Tage könnte ich dich zu einer Modenschau nach Nizza verpflichten. Nichts Großes, eigentlich nicht deine Kragenweite. Aber du wärst weg vom Fenster. Und anschlie­ßend...« Er blätterte in einem Terminkalender. »Wenn du willst, kannst du für Sofia einspringen. Sie muß zu Aufnahmen nach Zypern, will aber nicht so gern. Du weißt, ihr Baby ist nicht ganz gesund. Also, den Job kannst du gleich anschließend haben.«

Verena nickte. »Danke. Ich wußte doch, daß ich mich auf dich verlassen kann. Und – kein Wort zu Mathias, okay?«

»Ehrensache.« Carlo grinste. »Hätte ich nie gedacht, daß ihr zwei mal Streß miteinander bekommen würdet. Aber es gibt eben keine Wunder mehr.«

Verena nickte nur. Sie hatte jetzt keine Ruhe, hier im Büro des Agenten zu sitzen und sich seine Phrasen anzuhören. Sie fühlte sich elend und müde, und wieder pochte ihr Herz wie verrückt.

»Ich muß los, es gibt noch einiges vorzubereiten«, stieß sie hastig hervor. »Übrigens… ich bin nicht zu Hause anzutreffen, sondern im Hotel.«

Als sie den Namen nannte, verzog ihr Agent nur leicht den Mund, doch das allein sagte bereits genug. So tief ist euer Zerwürfnis also, daß du dich regelrecht verkriechst… Sie glaubte, die Worte an seinen Augen ablesen zu können, war aber froh, daß er nichts sagte.

Auf dem Weg zum Hotel kaufte sie sich ein paar notwendige Dinge, dann zwang sie sich, in einem Schnellrestaurant etwas zu essen – und verkroch sich hinterher in ihrem Bett.

Da lag sie nun, grübelnd, ängstlich, voller Zweifel. Und hatte nur den einen einzigen Wunsch: Sich in Mathias’ Arme flüchten und ihm alles anvertrauen zu können. Doch das durfte nicht sein. Sie liebte ihn viel zu sehr, als daß sie es fertiggebracht hätte, ihn an eine Schwerkranke wie sie zu fesseln.

*

»Kann mir irgend jemand sagen, wo Dr. Schäfer ist?« Adrian Winter sah sich suchend in der Ambulanz um. Überall herrschte Hektik, und niemand von den anwesenden Kollegen machte sich überhaupt die Mühe, ihm zu antworten.

Auf der Autobahn war es zu einer Massenkarambolage gekommen. Ein schwerer Sattelschlepper war umgestürzt und hatte noch drei Kleinwagen unter sich begraben. Außerdem waren sechs Autos auf die Unfallstelle aufgefahren.

Es hatte drei Tote gegeben und jede Menge Verletzte – wie viele es genau waren, wußte Adrian Winter nicht. Er wußte nur, daß sie hier in der Kurfürsten-Klinik im Moment völlig unterbesetzt waren.

»Chef, könnten Sie mal kurz nach der Frau in Kabine drei sehen?« Schwester Renate, ganz neu im Team, trat neben ihn. »Sie ist hochschwanger, und ich befürchte, daß es gleich zu einer Frühgeburt kommt.«

»Rufen Sie auf der Gynäkologie an.«

»Sorry, aber da herrscht Hochbetrieb. Drei Entbindungen laufen gerade, und Dr. Halberstett entbindet momentan eine Türkin von Drillingen.«

»Ver…« Es war normalerweise nicht Adrian Winters Art, in Anwesenheit von Patienten zu fluchen. Erst recht zeigte er nie Nerven. Aber jetzt konnte er sich kaum noch beherrschen. Er hatte alle Hände voll zu tun, und die Komplikationen, die sich immer wieder einstellten, ließen sich nicht mehr in den Griff bekommen.

»Wo zum Teufel, ist Bernd Schäfer?« knurrte er.

»Der hat doch heute frei«, wagte Schwester Walli zu entgegnen. »Aber beruhige dich ich hab’ schon nach ihm telefoniert, er ist bestimmt schon unterwegs.«

»Danke.« Er sah nicht hoch, sondern bemühte sich, die stark blutende Wunde des Mannes, der vor ihm lag, zu klammern. Erleichtert nahm er zur Kenntnis, daß Schwester Renate ihm half. Sie war eine zierliche, kleine Person, wirkte eigentlich ziemlich unscheinbar, doch er hatte schon in den ersten Tagen gemerkt, daß sie eine hervorragende Schwester war. Auch jetzt zeigte es sich, daß sie belastbar war und überall da einsprang, wo Not am Mann war.

Der Patient, ein etwa dreißig­jähriger Mann, blinzelte und versuchte die starken Schmerzen, die er hatte, tapfer zu unterdrücken.

»Einen kleinen Moment noch, dann geht’s Ihnen besser«, versicherte Adrian. »Ich werde Ihnen gleich noch eine Spritze geben.«

»Ich gehe schon und ziehe sie auf«, erbot sich Schwester Renate, die bisher geholfen hatte, den Verband zu fixieren.

Der Patient sah ihr dankbar nach. »Sie ist ein Engel«, sagte er leise.

»Das kann ich zwar nicht beurteilen, aber ich kann auf jeden Fall nachempfinden, daß Sie im Moment so denken. Sekunde noch… gleich geht’s Ihnen wieder besser.«

Der Patient war ein sehr kräftiger Mann. Dr. Winter schätzte ihn auf fast zwei Zentner und mindestens auf ein Meter neunzig Körpergröße. Hart im Nehmen war er auch, er hatte bisher alles tapfer hinter sich gebracht.

Doch nun kam Renate mit der Spritze. Das kleine zarte Instrument sehen, aufseufzen und in Ohnmacht fallen, geschah sozusagen gleichzeitig.

»Ach du liebes bißchen.« Renate sah den Chef der Notfallabteilung betroffen an. »Und was machen wir jetzt?«

Adrian grinste. »Jetzt bekommt er die Spritze, dann können Sie ihn wecken und ihn ein bißchen trösten. Ich bin sicher, das wird ihm gefallen.«

Renate wurde rot – denn der Mann, der da lag und im Moment so hilflos wie ein Baby wirkte, gefiel ihr auch.

Sie merkte in den nächsten Minuten nichts von der Hektik rings um sie her, sie kümmerte sich ausschließlich um diesen einen Patienten.

Und der genoß es!

Als er die Augen wieder öffnete, blickte er direkt in Renates dunkle Augen, die ihn besorgt anschauten. »Wie geht’s Ihnen?« fragte sie.

»Wundervoll.« Er konnte schon wieder lächeln. »Können Sie mir verzeihen, daß ich schlappgemacht habe? Ich kann einfach diese spitzen Nadeln nicht sehen.«

»Kein Problem. Warten Sie, ich helfe Ihnen beim Aufrichten. Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?«

»Muß ich denn nicht hierbleiben?« Das klang fast so, als bedauere er es, nicht im Krankenhaus bleiben zu müssen.

Renate schüttelte den Kopf. »Aber nein. Die Wunde hat Dr. Winter hervorragend genäht – Sie sollten sie aber jeden zweiten Tag von Ihrem Hausarzt kontrollieren lassen. Ansonsten hat der Doktor Ihnen ein wenig Bettruhe verordnet.« Sie zögerte, dann fragte sie: »Sie haben doch sicher jemanden, der sich um Sie kümmert, nicht wahr?«

»Nein.« Gerhard Tessner wollte schon den Kopf schütteln, doch im letzten Moment fiel ihm ein, daß das wohl sehr schmerzhaft werden könnte. So zwang er sich, den Kopf ganz ruhig zu halten. Der Turban, den ihm Renate zusammen mit Dr. Winter angelegt hatte, machte dies auch sehr leicht.

Eine Weile blieb es still zwischen ihnen. Dann rief aus Kabine vier die Internistin Julia Martensen: »Kann mir mal eben jemand helfen?«

Renate ließ den Arm ihres Patienten los. »Ich muß…«

»Und ich warte auf Sie – drau­ßen im Flur.« Gerhard grinste.

»Mir ist es egal, wo ich mich ausruhe.«

»Aber ich habe Dienst!«

»Doch nicht die ganze Nacht über!«

Renate schüttelte lächelnd den Kopf. »Nur bis halb neun.«

»Das halte ich bestimmt so lange aus.«

Sie gab ihm keine Antwort mehr, sondern eilte zu Kabine vier, wo sich die aparte Ärztin gerade um eine alte Dame bemühte, die bei dem Unfall einen Herzanfall erlitten hatte.

Renate assistierte der Ärztin, half hinterher, die Patientin auf Station zu bringen. Doch immer lag ein kleines Lächeln auf ihren Lippen, und in jeder freien Minute wanderten ihre Gedanken zu dem Mann, der draußen saß und auf sie wartete…

Gerhard seinerseits lehnte den Kopf vorsichtig an die kühle Wand des Flures – und schlief ein, ehe er wußte, wie ihm geschah.

Niemand bemerkte es, alle waren damit beschäftigt, die Patienten, die die Notaufnahme bevölkerten, zu versorgen. Obwohl jede Kabine besetzt war, obwohl die Ärzte und Schwestern alle Hände voll zu tun hatten, merkte man als Außenstehender kaum etwas von der Hektik, die hier herrschte. Adrian Winter und sein Team arbeiteten routiniert wie immer, und der junge Chirurg war froh, als endlich auch Bernd Schäfer hereinkam.

»Da bin ich.« Er blickte sich um. »Was liegt an?«

Adrian wies auf einen kleinen Jungen, der auf dem Schoß seiner Großmutter saß. »Ich tippe auf zwei glatte Wadenbeinbrüche. Er hält sich so super still, daß wir noch nichts unternehmen mußten. Könntest du die Brüche einrichten?«

»Klar doch.« Bernd wandte sich an den kleinen Patienten. »Nett von dir, daß du auf mich gewartet hast. Weißt du, ich mache hier von allen die schönsten Gipse. Und du willst doch bestimmt den absoluten Supergips haben, oder?«

Der etwa Siebenjährige nickte eifrig.

»Na, dann komm mal mit. Als erstes müssen wir dein Bein röntgen, dann bekommst du diesen Prachtgips.«

»Oma… du kommt doch mit?« Zum erstenmal zeigte der Knirps so etwas wie Angst.

»Darf ich?« Die Großmutter, eine resolut wirkende Frau von etwa fünfundfünfzig Jahren, sah Dr. Schäfer fragend an.

»Bis zur Röntgenabteilung gern. Dann muß der Kleine für ein paar Minuten allein in den Röntgenraum. Aber…« Er wandte sich mit aufmunterndem Lächeln an den Jungen, »das ist ja ein Kinderspiel für dich, was?«

Sein kleiner Patient nickte nur. Man sah ihm an, daß er sich alles andere als wohl in seiner Haut fühlte, aber sich tapfer bemühte, die Angst nicht zu zeigen.

Während sie mit einer Rolltrage hinüber zur Röntgenabteilung fuhren, erkundigte sich Bernd Schäfer: »Wie heißt du eigentlich?«

»Bernd. Bernd Klaasen.«

»Das ist lustig. Ich heiße auch Bernd. Na, dann können wir zwei ja direkt Freunde werden, oder?«

»Aber nur, wenn du mir wirklich nicht weh tust! Und wenn ich eine tolle Zeichnung auf meinen Gips kriege. So wie der Uwe, der hatte ein Glücksschwein drauf.«

Der junge Chirurg nickte. »Das bekommst du, das schwöre ich dir.«

Skeptisch sah der kleine Junge von der Liege aus zu ihm hoch. »Kannst du denn überhaupt malen?«

Bernd Schäfer schüttelte den Kopf. »Ich selbst leider nicht. Aber mein Freund kann ganz toll zeichnen. Weißt du, er ist hier der Chef, aber wenn ich ihn darum bitte, malt er dir die tollsten Bilder auf dein Bein.«

»Klasse!« Bernd, der Kleine, strahlte, und er ließ tapfer die Röntgen-Prozedur über sich ergehen. Er hielt auch still, als der Arzt ihm eine kleine Betäubungsspritze gab.

Dr. Schäfer mußte sich nur wenige Augenblicke gedulden, dann war der Junge in einen kurzen Narkoseschlaf gefallen, und er konnte das Bein optimal einrichten, bevor der den Gips anlegte.

Als der Patient wieder zu sich kam, lag er bereits in einem Bett und auf seinem Gips befand sich erst einmal ein bunter Luftballon, auf den jemand ein lachendes Gesicht gemalt hatte.

»Toll.« Bernd sah seine Groß­mutter an, die inzwischen wieder bei ihm saß. »Das muß Vati unbedingt sehen. Und Mami und Sabine auch. Holst du sie gleich her?«

Seine Großmutter nickte. »Ich habe schon zu Hause bei euch angerufen. Sie machen sich alle auf den Weg hierher.« Kurz tupfte sie sich eine Träne aus den Augen. »Da war ich so glücklich, daß du zwei Ferienwochen hier bei mir verbringen kannst… und dann passiert dieser furchtbare Autounfall.«

»Ist doch nicht so schlimm«, meinte der Junge. »Ich find’s hier irre spannend. Und Ferien mache ich auch noch bei dir. Ehrlich.«

Drei Stunden später wurde seine Tapferkeit noch mehr belohnt. Da nämlich kam Dr. Winter und zauberte mit bunten Stiften sowohl ein Glücksschwein als auch ein Clownsgesicht und eine lustige Maus auf den Gips. Klein-Bernds Welt war wieder in Ordnung. Er empfand diesen Unfall als großes, unerwartetes Abenteuer, und er war bereit, dies auch auszukosten!

Auch Gerhard Tessner erklärte am Abend dieses turbulenten Tages, daß alles Üble für ihn doch ein Gutes gehabt hätte: Er hatte Schwester Renate kennengelernt und sich Hals über Kopf in die zarte Pflegerin verliebt.

Umgekehrt schien es ebenso zu sein, denn von diesem Abend an sah man den Mann täglich vor der Kurfürsten-Klinik, wo er auf Renate wartete.

»Muß Liebe schön sein!« kommentierte Bernd Schäfer, als er zusammen mit Adrian Winter die Klinik verließ und sah, wie das Paar eng umschlungen davonschlenderte. »Und was ist mit uns beiden?«

Adrian lachte. »Wir haben doch unsere Arbeit – und die nimmt uns hundertprozentig in Anspruch. Was willst du also noch mehr?«

»Blödmann«, knurrte Bernd. »Ich möchte endlich auch die Frau fürs Leben finden. Du kannst dir ja von mir aus Zeit bis zum Sankt Nimmerleinstag lassen, aber ich…«

»Du gehst jetzt schön nach Hause und ruhst dich aus, damit du morgen für die zwei Operationen fit bist, für die ich dich eingetragen habe.«

»Sklaventreiber! Und was machst du?«

Adrian Winter zuckte die Schultern. »Mal sehen… Wahrscheinlich nehme ich mir ein Buch und eine gute Flasche Rotwein…«

»Wer’s glaubt wird selig. Ich wünsche dir jedenfalls viel Vergnügen – wobei auch immer.« Damit ging Dr. Schäfer zu seinem Wagen, schloß auf und fuhr winkend davon.

*

Er wollte es eigentlich nicht. Nein, er hatte wirklich vorgehabt, sich zu Hause mit einem Buch und einem guten Glas Rotwein zurückzuziehen.

Aber es kam anders. Wahrscheinlich war es sein Unterbewußtsein oder eher noch die heimliche Sehnsucht – was ihn ins King’s Palace führte. Jedenfalls fand er sich urplötzlich in der Tiefgarage des eleganten Hotels wieder.

Dr. Adrian Winter fuhr sich wie erwachend übers Haar. Das hatte er nun wirklich nicht vorgehabt!

Aber… trotzig warf er den Kopf in den Nacken… warum sollte er nicht in der gemütlichen Hotelbar einen Drink nehmen und sich vom angenehmen Flair des Weltstadt-Hotels ein wenig verwöhnen lassen. Es war erwiesenermaßen Balsam für die Seele, wenn man sich selbst nach einem harten Arbeitstag ein bißchen verwöhnte.

Daß er insgeheim natürlich hoffte, Stefanie Wagner, die aparte Assistentin des Hoteldirektors, zu treffen, gestand er sich nicht ein.

Adrian hatte die bezaubernde junge Frau mit den langen blonden Locken durch Zufall kennengelernt. Stefanie hatte einen Unfall gehabt, Adrian war zur Stelle gewesen, um Erste Hilfe zu leisten – und er hatte vom ersten Augenblick an sein Herz an die junge Frau verloren.

Am faszinierendsten fand er ihre veilchenblauen Augen. Augen von einer solch ungewöhnlichen Farbe hatte er noch nie gesehen. Immerzu hätte er hineinschauen können. Doch leider war dies nicht möglich. Stefanie Wagner brachte ihm zwar eine gewisse Sympathie entgegen, das ließ sich nicht leugnen, aber ihr Herz gehörte einem anderen.

Für Adrian Winter, der bisher immer viel Erfolg bei Frauen gehabt hatte, war dies eine furchtbare Erkenntnis. Hin und wieder überlegte er auch, ob es Sinn hatte, um Stefanie zu kämpfen. Aber immer, wenn er sich dazu durchgerungen hatte, kam ihm ein Notfall dazwischen – und an diesem Tag wurde es dann wieder nichts mit einem Eroberungsversuch.

In der Hotelhalle herrschte um diese Zeit noch reger Betrieb. Dr. Winter kümmerte sich jedoch nicht um die Menschen, die teils in bequemen Sesseln saßen, teils in Gruppen beisammenstanden und diskutierten. Er ging gleich hinüber zur Bar, die links von der Rezeption war.

Hier herrschte warmes Mahagoniholz vor. Im Hintergrund spielte ein junger Mann Klavier. Ausgezeichnet sogar, wie Adrian feststellte.

»Herr Doktor! Wie schön, Sie wieder einmal zu sehen!«

Von ihm unbemerkt, war Stefanie Wagner in die Bar gekommen und begrüßte ihn mit einem strahlenden Lächeln.

»Hallo…« Er fühlte sich unbehaglich und so nervös wie ein Primaner, der das erste wirklich wichtige Rendezvous seines Lebens hatte.

»Darf ich Sie zu einem Drink einladen?« Die junge Frau hakte sich wie selbstverständlich bei ihm ein und führte ihn zum Tresen, wo sie bei dem jungen Barkeeper zwei Gläser Kir Royal bestellte. »Ich hoffe, Sie mögen Kir«, sagte sie. »Manche halten es ja für ein Snobby-Getränk, aber ich mag’s wirklich.«

»Ich auch.« Dr. Winter rückte ihr den Barhocker zurecht. Es war ihm völlig egal, ob er nun ein Bier oder Champagner mit Johannisbeer-Likör trank – Hauptsache war, er befand sich dabei in Gesellschaft der schönsten Frau Berlins.

»Sie kommen wohl gerade vom Dienst?« begann Stefanie eine Unterhaltung.

»Sieht man das?« Er konnte nun schon wieder jungenhaft lächeln. »Ich hoffe, ich bin für diesen Luxusschuppen überhaupt gut genug gekleidet.«

Sie lachte. »Aber immer! Außerdem meinte ich das nicht.« Sie beugte sich ein wenig vor. »Sie haben Schatten unter den Augen, offen gestanden, und ich bin sicher, daß ein harter Tag hinter Ihnen liegt.«

Er nickte. »Ehrlich gesagt, ja. Aber jetzt kann ich optimal entspannen. Vor allem in Ihrer Gesellschaft.«

Die Drinks kamen, und das enthob Stefanie Wagner einer direkten Antwort. Sie mochte diesen jungen Arzt sehr gern, doch irgend etwas war da zwischen ihnen, das es ihnen unmöglich machte, sich näherzukommen. Das merkte sie ganz genau – und wußte doch nicht, was sie dagegen tun konnte.

An diesem Abend wollte sie es aber auch nicht ergründen. Sie genoß das Zusammensein mit Adrian Winter, mit dem sie viele gemeinsame Interessen hatte, wie sich immer wieder herausstellte.

Sie sprachen über Gott und die Welt. Adrian erzählte ein paar amüsante Begebenheiten aus der Klinik, Stefanie berichtete von exzentrischen, aber liebenswerten Gästen.

Die Zeit verging wie im Flug, und sie hatten schon zwei Stunden zusammen verbracht, als auf einmal ein großer Mann mit silbergrauen Schläfen erschien und auf sie zukam.

»Hier finde ich Sie endlich, Frau Wagner.« Er nickte Adrian höflich zu. »Kann ich Sie kurz dienstlich sprechen?«

Adrian Winter sah, daß die junge Frau zögerte, dann aber nickte sie und folgte dem Mann in die Halle.

»Sie haben das Bankett für übermorgen immer noch nicht organisiert«, hielt Andreas Wingensiefen, der Hoteldirektor, seiner Mitarbeiterin vor. »Sie wissen genau, wie wichtig dieser Kunde für uns ist.«

Stefanie nickte ruhig. »Mir ist das klar. Zumal Sie es mehrfach betonten – und auch erklärten, daß Sie selbst sich um alles kümmern würden.«

Ihr Chef schüttelte den Kopf. Sie bemerkte, daß seine linke Augenbraue nervös zu zucken begann, ein untrügliches Zeichen dafür, daß er unsicher wurde.

Andreas Wingensiefen war Stefanies Chef, und sie verwünschte den Tag, an dem er nach Berlin gekommen war und die Leitung des King’s Palace übernommen hatte. Zwar konnte sie ihm ein umfassendes Wissen nicht absprechen, aber er war von so unerträglicher Arroganz, besonders den weiblichen Mitarbeitern gegenüber, daß es schon fast weh tat. Auch jetzt kehrte er wieder den Macho hervor. »Tut mir leid, aber da müssen Sie etwas mißverstanden haben. Sie sind ja nicht umsonst meine Assistentin, da kann ich schon erwarten, daß Sie mir fertige Konzepte vorlegen. Morgen früh um zehn – einverstanden?«

Die junge Frau zögerte sekundenlang. Im ersten Impuls war sie versucht zu sagen, daß sie das unmöglich in dieser kurzen Zeit schaffen könnte, doch dann siegte ihr Stolz. Wingensiefen sollte nicht triumphieren! Sie würde es diesem aufgeblasenen Ekel schon zeigen!

Mit einem knappen Lächeln meinte sie: »Wir sehen uns dann morgen in Ihrem Büro. Und jetzt möchte ich gern meinen Feierabend nach meinen Wünschen gestalten. Gute Nacht, Herr Wingensiefen.« Damit drehte sie sich um und ging zurück in die Bar.

»Na, hat er dir wieder klargemacht, wer hier der Herr im Haus ist?« Beatrice, eine junge Serviererin, beugte sich kurz zu Stefanie und zwinkerte ihr zu. »Nur nicht unterkriegen lassen, das weißt du ja.«

Stefanie nickte. »Ich tue jedenfalls mein Bestes.«

Adrian, dem die Szenen nicht entgangen waren, wollte wissen: »Sie hatten doch hoffentlich nicht meinetwegen Ärger?«

»Aber nein! Wie kommen Sie darauf?«

»Nun, es könnte ja sein, daß man es nicht gern sieht, wenn Sie hier auch privat verkehren.«

Stefanie Wagner winkte ab. »Keine Sorge, das ist wirklich kein Problem. Schwierigkeiten gibt es allerdings immer wieder mit meinem Chef. Er ist schlicht und einfach ein Ekel. Wenn auch ein gutaussehendes.« Sie nahm einen letzten Schluck aus ihrem Glas. »Dieses Ekel ist auch schuld daran, daß ich mich jetzt von Ihnen verabschieden muß, Doktor. Er hat mir mal wieder eine Arbeit zugeschanzt, die eigentlich er selbst erledigen müßte.«

»Warum wehren Sie sich nicht dagegen?«

Mit einem Schulterzucken meinte sie: »Wissen Sie wirklich nicht, wie rar gute Stellen heutzutage sind? Und in Berlin erst recht. Der Job hier ist hochinteressant, und ich bin überglücklich, ihn zu haben. Da werde ich mich nicht von einem Vorgesetzten mit Egoproblemen rausekeln lassen.«

Adrian nickte. »Ihre Einstellung gefällt mir. Doch wenn Sie mal jemanden zum Reden brauchen – ich stehe gern zur Verfügung.«

»Danke.« Stefanie Wagner stand auf und hauchte ihm zum Abschied einen Kuß auf die Wange. »Es war ein netter Abend mit Ihnen. Bis bald.«

»Von mir aus jederzeit.«

Sie lachte. »Das sagt ein Arzt, der keinen Acht-Stunden-Tag kennt!«

»Sie doch auch nicht. Darin ergänzen wir uns schon mal prima!« Und in vielen anderen Dingen bestimmt auch, fügte er im Geist hinzu – und nahm sich vor, Stefanie nun doch zu umwerben. Egal, ob es da einen attraktiven Nebenbuhler gab oder nicht.

Als er endlich im Bett lag, konnte Adrian Winter lange nicht einschlafen. Immer wieder sah er Stefanies Gesicht vor sich. Er erinnerte sich an alles, was sie gesprochen, worüber sie diskutiert hatten.

Vor allem sah er im Geist ihre schönen Augen vor sich. Augen, in deren Tiefe er zu ertrinken drohte.

Ein wundervolles Gefühl…

Adrian schlief ein, ehe er es sich versah.

*

Mathias Kehlmann wählte zum wiederholten Mal die Nummer von Verenas Agenten. »Sagen Sie mir endlich, wo Verena steckt«, erklärte er, ohne sich zu melden. »Sie müssen es wissen!«

»Gar nichts weiß ich, tut mir leid, Mathias.«. Der Agent am anderen Ende der Leitung schlug die Augen gen Himmel. Was hatte ihm Verena da nur eingebrockt! Seit drei Tagen bombardierte dieser junge Anwalt ihn jetzt mit Anrufen – und er mußte lügen, nichts als lügen.

»Ich werde Sie vor Gericht bringen«, drohte Mathias jetzt.

»Weshalb? Weil ich nicht mehr weiß als Sie selbst? Fragen Sie sich doch lieber mal, warum Ve­rena spurlos verschwunden ist. Hatten Sie Streit? Haben Sie sie so sehr gekränkt, daß sie nicht länger mit Ihnen zusammenleben mochte?«

»Unsinn!« Mathias schüttelte den Kopf, obwohl das der Teilnehmer am anderen Ende der Leitung nicht sehen konnte. »Wir waren glücklich wie selten zuvor. Und jetzt…«

»Sorry, aber ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen könnte.«

Damit knackte es auch schon in der Leitung – der Agent hatte aufgelegt.

Mathias seufzte tief auf und barg das Gesicht in den Händen. Er war verzweifelt. Und er fühlte sich so hilflos, daß es schon weh tat. Er spürte mit allen Sinnen, daß Verena ihn brauchte – mehr als je zuvor. Aber sie war fort. Sie war vor ihm geflohen. Oder… war sie vielleicht aus einem anderen Grund weggegangen? Hatte es gar nichts mit ihm, mit ihrer Beziehung zu tun?

Der Gedanke kam nicht zum erstenmal in ihm auf, doch diesmal blieb er hartnäckig in seinem Kopf. Und schließlich griff Mathias nochmals zum Hörer, nachdem er einige Seiten im Telefonbuch nachgeschlagen hatte.

»Praxis Dr. Förster, guten Tag«, meldete sich schließlich eine sympathische Frauenstimme.

»Hier ist Mathias Kehlmann.« Er zögerte, dann fuhr er entschlossen fort: »Ich bin der Lebensgefährte von Verena Merbold und würde mich gern einmal mit Dr. Förster unterhalten.«

Sekundenlang blieb es still, dann fragte die Teilnehmerin am anderen Ende der Leitung: »Sind Sie krank, Herr Kehlmann?«

Mathias mußte sich erst die Kehle freiräuspern, ehe er sagen konnte: »Ich bin wohlauf, danke. Aber ich befürchte, daß etwas mit Verena ist. Sie ist spurlos verschwunden, und ich…«

»Wir dürfen doch keine Auskünfte über Patienten geben, das wissen Sie sicherlich.«

»Natürlich weiß ich das. Aber das hier ist eine Ausnahmesituation! Verena muß völlig die Nerven verloren haben. Nicht mal ihr Agent weiß angeblich, wo sie ist.«

Wieder blieb es eine Weile still, dann meinte die Praxishelferin: »Es tut mir wirklich leid, Herr Kehlmann, aber wir können Ihnen tatsächlich nicht weiterhelfen. Doch wenn Sie glauben, daß Frau Merbold krank ist… rufen Sie doch einfach mal in den größeren Kliniken der Stadt an. Ich weiß zum Beispiel, daß Dr. Förster sehr gut mit der Kurfürsten-Klinik zusammenarbeitet.«

Mathias erkannte gleich, daß die liebenswürdige Frau ihm indirekt einen guten Tip gegeben hatte.

»Ich danke Ihnen sehr«, sagte er und legte mit kurzem Gruß auf.

Seine Hände zitterten, als er im Telefonbuch die Nummer der Kurfürsten-Klinik wählte.

»Bitte, können Sie mich mit Frau Merbold verbinden? Verena Merbold.«

Seine Stimme klang heiser vor Erregung.

Für einen kleinen Moment blieb es still in der Leitung, dann erwiderte die Telefonistin: »Tut mir leid, wir haben keine Patientin dieses Namens.«

»Aber Sie muß bei Ihnen sein! Ich…«

»Glauben Sie mir, wenn sie hier läge, wäre ihr Name gespeichert – und das Verbinden wäre ein Kinderspiel.«

»Das verstehe ich nicht… Können Sie nicht irgendwo nachfragen?« Er merkte selbst, daß er sich höchst albern benahm, doch die Hoffnung, die er eben noch gehegt hatte, war jäh zerplatzt, und damit konnte er sich einfach nicht abfinden.

»Ich muß dringend mit Frau Merbold reden! Es ist ungemein wichtig!«

»Das glaube ich Ihnen gern.« Die Telefonistin klang nun schon ein wenig genervt. »Leider ist es mir unmöglich, Sie zu verbinden. Eine Patientin dieses Namens haben wir nicht! Guten Tag.« Damit legte sie auf.

Mathias blieb wie betäubt sitzen. Er war verzweifelt, konnte sich keinen Reim auf Verenas Verschwinden machen. Und wenn nicht einmal Carlo, ihr Agent, etwas wußte…

Nein, das war einfach nicht möglich! Carlo mußte wissen, was los war. Er hatte ihn einfach belogen, vielleicht, weil Verena es so wollte. Aber er, Mathias, würde ihn schon zum Reden bringen!

Entschlossen griff er nach einer Lederjacke und stürmte aus der Wohnung.

Sein Wagen stand vor dem Haus in einer Parkbucht, er konnte also sofort losfahren. Ohne nach rechts oder links zu sehen, gab Mathias Gas.

Er hatte den Lastwagen, der von rechts kam und dem er die Vorfahrt genommen hatte, einfach nicht gesehen. Er bemerkte das Fahrzeug erst, als es wie eine große rotbraune Wand vor ihm auftauchte. Er hörte lautes, wütendes Hupen, registrierte noch das wilde Kreischen der Bremsen – dann hörte, spürte, empfand er gar nichts mehr…

Der Lkw-Fahrer sprang fluchend aus seinem Wagen, beugte sich in Mathias’ Auto – und rannte sofort zurück, um über sein Handy einen Notarztwagen zu bestellen.

*

»Adrian, bist du abkömmlich? Die brauchen dringend einen Arzt für den Notarzt-Wagen. Die Kollegin, die regulär fährt, ist eben zusammengeklappt. Schwanger im vierten Monat.«

Dr. Roloff, der Anästhesist der Kurfürsten-Klinik, hielt den Hörer in der Hand und sah Adrian fragend an.

Eben hatten sie noch im Büro des Chirurgen gemütlich zusammengesessen und ein bißchen privat geplaudert. Der Anästhesist, der seit Jahren an der Klinik arbeitete, gehörte zu Dr. Winters engeren Freunden, und die beiden Männer, die äußerlich so unterschiedlich wirkten, verstanden sich blendend. Eben hatte Werner Roloff von einer Vernissage erzählt, die er zusammen mit seiner Frau am vergangenen Abend besucht hatte.

Adrian Winter wußte, daß die Beziehung des Ehepaar Roloff nicht ganz unproblematisch war, um so mehr freute es ihn zu hören, daß Werner mal einen besonders harmonischen Abend verbracht hatte.

»Was ist denn passiert?« fragte er, während er schon aufstand.

»Schwerer Unfall – Lastwagen mit Pkw. Wo genau, wird man dir noch sagen.«

»Gut, dann bin ich unterwegs. Gib Bernd Schäfer Bescheid, er soll hier die Stellung halten.«

»Geht schon klar.«

Wenige Minuten später saß Dr. Winter schon im Notarztwagen, den ein junger Sanitäter in halsbrecherischem Tempo durch die Innenstadt Berlins lenkte. Zwischendurch schimpfte er über die diversen Umleitungen, die sich aus den Umbaumaßnahmen in der City ergaben, doch niemand reagierte darauf.

Am Unfallort hatten sich schon so viele Neugierige versammelt, daß der Notarztwagen Mühe hatte, überhaupt durchzukommen.

»Verdammt, ich könnte diese Meute erwürgen«, schimpfte der junge Sanitäter aufgebracht.

»Das nützt auch nichts«, gab Dr. Winter zurück. »Es liegt wohl in der Natur des Menschen, daß er neugierig ist – und vor allem Sensationen liebt, egal, welcher Art sie sind.«

»Das lernt der Ewald auch noch«, murmelte der ältere der Sanitäter, dann sprang er hinter Adrian Winter aus dem Wagen und eilte zur Unfallstelle.

Mathias Kehlmanns Wagen war durch den Zusammenstoß völlig demoliert worden. Wie leblos hing der junge Mann in seinem Sitz, und als erste kontrollierte Dr. Winter seine Lebensfunktionen.

»Er muß so schnell wie möglich hier raus«, meinte er, nachdem er festgestellt hatte, daß die Atmung des Verunglückten besorgniserregend flach und der Puls kaum noch zu tasten war. »Aber er scheint so sehr eingeklemmt zu sein, daß wir ihn allein nicht rauskriegen.«

»Die Feuerwehr muß jeden Augenblick hier sein«, meldete ein Polizeibeamter, der bisher zusammen mit einem Kollegen versucht hatte, die Unfallstelle zu sichern.

»Wir versuchen trotzdem, schon mal einen Tropf anzulegen«, bestimmte Adrian Winter. »Der Kreislauf muß unbedingt gestützt werden.«

Gemeinsam mit den beiden Sanitätern bemühte er sich um Mathias Kehlmann, und noch bevor die Feuerwehr anrückte, um mit schwerem Werkzeug das Wrack so weit zu entzerren, daß der Verletzte geborgen werden konnte, hatten sie eine Infusion angelegt.

Endlich war es soweit – sie konnten den Verletzten bergen, und Dr. Winter konnte endlich eine umfassende Untersuchung vornehmen.

»Ich vermute ein paar schwere innere Verletzungen«, sagte er, nachdem er die Bauchdecke abgetastet hatte. »Außerdem macht mir die Kopfwunde, die hier links an der Schläfe ist, gewisse Sorgen.«

Fragend sah ihn der ältere der Sanitäter an. »Wieso denn? Das sieht doch eigentlich nach einer harmlosen Platzwunde aus.«

Aber Adrian Winter schüttelte den Kopf. »Glaub’ ich nicht. Wir werden, sobald wir in der Klinik sind, eine genaue Computertomografie machen.«

Und wieder einmal dankte er insgeheim der modernen Medizin, die es ihm und seinen Kollegen ermöglichte, ganz besonders exakte Diagnosen zu stellen.

Aber immer noch waren die Ärzte auf ihr Gespür angewiesen. Nicht in allen Fällen konnte man die genaue Erkrankung oder Verletzung gleich diagnostizieren, da kam es wirklich auf viel Erfahrung – und Intuition an.

Dr. Winter war ein hervorragender Diagnostiker, das hatten ihm während des Studiums seine Professoren immer wieder bestätigt. Für eine Weile hatten sie ihm deshalb auch die Innere Medizin schmackhaft machen können, aber letztendlich hatte Adrian sich doch für die Chirurgie entschieden.

»Wir sind soweit, Doktor!« Die beiden Sanitäter hatten den Verunglückten auf der Trage festgeschnallt und vorsichtig in den Wagen gehoben.

Adrian nickte und schwang sich auf seinen Platz im Wagen, wo er, so eng es auch war, sich hervorragend um den Verunglückten kümmern konnte.

Die Fahrt durch die Stadt kam ihm ewig lang vor, und als einmal die Atmung seines Patienten aussetzte, war er fast schon versucht aufzugeben.

Aber… noch lebte Mathias! Und wo Leben war, da war auch Hoffnung. Deshalb kämpfte Dr. Winter weiterhin um dieses Leben, das an dem berühmten seidenen Faden hing. In der Notaufnahme war man bereits darüber informiert, daß der neue Patient in Lebensgefahr schwebte.

Schwester Walli und ihre Kollegin Claudia standen bereit, um den Verunglückten sofort hinüber zur Tomographie zu bringen.

Dr. Roloff und sein Kollege Taubert übernahmen dort erst einmal den Patienten, während Dr. Winter und Dr. Schäfer sich für die Notoperation fertigmachten.

»Ist genug Spenderblut da?« erkundigte sich der Chirurg bei Schwester Monika.

Die hübsche Pflegerin mit den kurzen dunklen Locken nickte. »Wir lassen gerade die Blutgruppe des Mannes bestimmen – ich bin sicher, daß wir alles dahaben, was wir brauchen.«

Lernschwester Bea, die soeben von einem Polizisten, der dem Notarztwagen gefolgt war, eine Aktentasche übernommen hatte, kam zu ihrem Chef. »Das ist gerade gebracht worden. Die Tasche gehört unserem neuen Patienten. Soll ich mal nachsehen, ob er was Wichtiges drin hat?«

Adrian nickte nur. Er war nervös. Warum nur dauerte die Tomografie so lange? Er wußte natürlich, daß er ungerecht war, doch eine innere Stimme sagte ihm, daß man nicht länger mit dem Eingriff zögern durfte.

Schwester Bea hatte unterdessen die Tasche geöffnet. »Hier… eine kleine Männerhandtasche. Und darin…« Sie öffnete die schwarze Tasche, »ja, hier ist seine Brieftasche.«

»Laß mal sehen.« Schwester Monika nahm der jüngeren Kollegin die Brieftasche ab und suchte konzentriert. »Da ist es… ich hab’s geahnt! Er hat einen Organspender-Ausweis dabei. Und hier ist auch die genaue Blutgruppe angegeben: 0 negativ. Ich geb’s sofort ans Labor durch.«

»Danke.« Adrian Winter nickte ihr zu. Monika war eine sehr versierte Krankenschwester, die sich durch fast nichts aus der Fassung bringen ließ. Und das war gerade in solchen Krisensituationen wie jetzt und hier unverzichtbar.

Eine Viertelstunde später standen die beiden Chirurgen im Waschraum und kleideten sich ein. Der Patient wurde gerade auf den OP-Tisch gelegt, und der Anästhesist kümmerte sich bereits um die umfassende Narkose.

Inzwischen stand fest, daß Adrian Winter mit seiner Vermutung recht gehabt hatte: Mathias Kehlmann hatte nicht nur einige schwere innere Blutungen im Bauchraum erlitten, es hatte sich in seinem Kopf auch ein Blutgerinnsel gebildet, das unbedingt entfernt werden mußte, wenn der junge Mann keine dauerhaften Hirnschädigungen davontragen sollte.

»Womit fängst du an?« fragte Bernd Schäfer. Er selbst hätte in diesem Moment nicht zu entscheiden gewagt, was wichtiger war – der Eingriff am Kopf oder die Bauchoperation.

Er beneidete Adrian nicht um das, was er jetzt tun mußte – letztendlich lag das Leben des jungen Mannes in seinen Händen.

»Der Patient ist fertig, ihr könnt anfangen«, meldete Dr. Roloff, der neben seinem Narkosegerät stand und die Funktionen des Kranken genau kontrollierte.

Dr. Winter und Dr. Schäfer traten an den Tisch. Dankbar stellte Adrian Winter fest, daß auch Dr. Berger und Frau Dr. Zubrüggen, zwei junge Kollegen, die gerade ihre Assistentenzeit begonnen hatten, anwesend waren. Viel helfen konnten sie ihm zwar noch nicht, aber sie konnten assistieren und so Bernd Schäfer etwas mehr entlasten. Das würde ihm selbst dann im Endeffekt zugute kommen.

»Also los – wir fangen am Kopf an.« Seine Stimme klang ruhig und besonnen, und niemand merkte ihm irgendeine Unsicherheit an.

Dabei war Adrian Winter schon rechtschaffen nervös. Seine letzte Operation am offenen Schädel lag bereits eine geraume Zeit zurück.

Es war Präzisionsarbeit, die er jetzt leisten mußte. Ein zehntel Millimeter konnte darüber entscheiden, ob der Eingriff gelang oder nicht.

Endlich war es soweit – das Blutgerinnsel konnte abgesaugt werden!

Atemlose Stille herrschte im OP. Niemand sagte etwas, die knappen Befehle, die der Chefoperateur gab, waren das einzige Geräusch, wenn man vom Zischen des Narkosegerätes absah.

»Wie ist sein Zustand?« fragte Adrian Winter zwischendurch und blickte kurz zu Dr. Roloff hinüber.

»Noch recht stabil.«

Das bewog den Chirurgen, kurz aufzuatmen. Er wandte sich an Dr. Schäfer. »Machst du schon auf, Bernd?«

Der Freund nickte und ließ sich von der Instrumentenschwester das Skallpell reichen, mit dem er gleich darauf den Bauchraum öffnete.

»Ach du liebe Güte«, entfuhr es ihm, als er die Bauchhöhle geöffnet hatte und sah, daß alles voller Blut war.

»Wie ich befürchtet habe…« Dr. Winter übernahm ein frisches Skalpell. »Der arme Kerl hat mindestens zwei Risse. Na, wir werden sehen. Erst einmal muß das Blut abgesaugt werden.«

Er sah den jüngeren Assistenten auffordernd an, der daraufhin begann, die Blutmengen abzusaugen.

»Vorsichtig… nicht zu tief…« Adrian beugte sich noch ein bißchen tiefer vor. »Mehr links jetzt. Ja, so ist’s gut.«

Dr. Berger hatte kleine Schweißtropfen auf der Stirn stehen, und er mußte sich gewaltsam zusammenreißen, damit niemand bemerkte, daß er insgeheim zitterte. So hatte er sich die ersten Einsätze hier an der Kurfürsten-Klinik nicht vorgestellt.

Seiner Kollegin ging’s nicht viel anders, doch sie war, wie sich bald herausstellen sollte, wesentlich belastbarer als er, und Dr. Winter prophezeite ihr eine Zukunft als Chirurgin, während er das bei Dr. Berger nicht so sah.

Aber jetzt und hier arbeitete er zur Zufriedenheit des Chefchirurgen.

Als das Blickfeld etwas größer war und Dr. Winter darangehen konnte, exakter nach den Wunden in den Organen zu suchen, stellte sich rasch heraus, daß nicht nur die Milz völlig zerfetzt war, sondern Mathias Kehlmann auch einen Lungenriß und eine schwere Darmverletzung erlitten hatte.

Die Ärzte arbeiteten mehr als fünf Stunden, und dann endlich konnten sie die große Bauchwunde schließen.

»Das war hart«, kommentierte der Anästhesist.

»Sie haben ihm zweimal das Leben gerettet«, sagte die junge Ärztin bewundernd.

»Ach was, das ist mein Job«, winkte Dr. Roloff ab.

»Du solltest dein Licht nicht unter den Scheffel stellen«, warf Adrian Winter ein. »Wenn du nicht so ein erstklassiger Anästhesist wärst, hätte ich einpacken können. Als kurz vor dem Vernähen der Darmrisse das Herz aussetzte…«

Dr. Roloff winkte ab. »Hör um Himmels willen auf. Nach mehr als dreißig Jahren am Narkosegerät weiß man schon, was man einem Patienten zumuten kann.«

Bernd Schäfer, der sich eben von einer jungen Schwester aus der OP-Kleidung helfen ließ, warf ein: »Ich denke, ein bißchen Glück müssen wir alle haben. Oder, wenn ihr’s anders ausdrücken wollt: Letztendlich liegt das Leben eines Patienten eben doch in den Händen eines Höheren. Wir können tun, was in unseren Kräften steht, aber allmächtig ist ein anderer.«

»Da hast du recht«, nickte Adrian und machte Anstalten, unter die Dusche zu gehen. »Ich danke allen nochmals herzlich. Ihr wart ein tolles Team. Und jetzt will ich Wasser auf mir spüren. Und hinterher einen starken Kaffee – und auch was zu essen, wenn’s geht.«

Walli lächelte. »Ich werde euch was in der Kantine organisieren.«

»Danke. Du bist wirklich unsere Beste!«

»Das hört man doch immer wieder gern!« Walli lachte, dann griff sie zum Telefon und erkundigte sich, was die Kantine um diese Zeit noch zu bieten hatte.

Als Dr. Winter in die Notaufnahme zurückkehrte, war sein offizieller Dienst schon lange zu Ende, aber er nahm sich dennoch die Zeit, mit den Kollegen, die jetzt hier arbeiteten, ein paar Sätze zu wechseln.

»Du warst ziemlich mutig«, meinte Julia Martensen. »Gleich eine Kopf- und Bauchoperation zu wagen… Ich bin sicher, daß die meisten anderen Chrirurgen davor zurückgeschreckt wären.«

»Gerissen hab’ ich mich um die Doppelaufgabe auch nicht gerade«, erwiderte Adrian Winter schulterzuckend, »aber es war die einzige Möglichkeit, dem Patienten wirkungsvoll zu helfen. Außerdem hatte ich Bernd dabei, und er ist mehr als ein Assistent.«

»Das stimmt«, nickte die schöne Internistin, die Dr. Bernd Schäfer auch sehr schätzte und ihm freundschaftlich verbunden war.

»Dennoch… es muß sich personell bald was ändern.« Dr. Winter war mal wieder bei seinem Lieblingsthema angelangt. »Wir sind so katastrophal unterbesetzt, daß ich gar nicht darüber nachzudenken wage, was sein wird, wenn zwei von uns in Urlaub sind und auch nur einer der leitenden Ärzte krank wird.«

»Dann macht unser Verwaltungschef einfach zu«, grinste Julia Martensen, die genau darüber informiert war, wie hart Adrian und Verwaltungsdirektor Thomas Laufenberg miteinander im Clinch lagen.

Dr. Winter forderte – und das mit Recht – mehr personelle Unterstützung.

»Ich werde gleich Montag noch mal mit Laufenberg reden.« Adrian Winters Stimme klang entschlossen. »Es kann so einfach nicht weitergehen. Und wenn er mir nicht glauben will, dann kündige ich eben. Soll er sehen, wie’s dann hier weiterläuft.«

Julia lächelte. Freundschaftlich und auch ein bißchen nachsichtig. »Du weißt ganz genau, daß kein Mensch dir eine solche Drohung abnehmen würde. Jeder weiß, daß du mit der Kurfürsten-Klinik inzwischen so verwachsen bist, daß du gar nicht mehr von hier wegwillst.«

»Unsinn! Das bildet ihr euch alle nur ein.« Doch sein Grinsen strafte seine Worte Lügen. Adrian Winter wußte genau, daß Julia recht hatte. In der Kurfürsten-Klinik fühlte er sich wohl. Hier war er daheim, hier hatte er Kollegen gefunden, die mehr als das waren: gute Freunde nämlich. Und die ließ man nicht gleich bei der geringsten Schwierigkeit im Stich.

»Geh nach Hause und schlaf dich aus«, riet Julia. »Morgen geht’s dir bestimmt schon wieder besser.«

»Mach ich auch. Bis dann, Julia. Einen ruhigen Abend wünsche ich euch allen.«

Damit verschwand er endgültig. Er war rechtschaffen müde, und so gern er wieder ins King’s Pa­lace gegangen wäre, so gern er nochmals Stefanie Wagners Nähe gesucht hätte – heute war er sogar zu der kleinsten romantischen Empfindung zu müde!

*

»Was ist los mit dir, Verena? Du wirkst ja wie eine lebendige Schlaftablette! Kopf hoch, Mädel, du wirst hier fürs Lächeln bezahlt!«

Reiner Sebold, ein noch junger Fotograf, dessen Ehrgeiz größer war als sein Talent, wedelte aufgeregt mit der Hand durch die Luft.

»Fühlst du dich nicht gut?« Tina Ewert, eine süße blonde Achtzehnjährige, beugte sich zu Ve­rena. »Kann ich irgendwas für dich tun? Du brauchst es nur zu sagen.« Und als der Fotograf noch­mals etwas bemerken wollte, fauchte sie ihn an: »Sei doch still, verdammt. Siehst du denn nicht, daß Verena einfach nicht mehr kann?«

Verena konnte nur noch nicken, dann nahm sie dankbar Tinas Hilfe an. Die junge Kollegin führte sie zu einer Bank im Schatten. »Bleib hier, ich kümmere mich um ein Taxi, damit fährst du ins Hotel und ruhst dich aus.«

Verena wollte widersprechen, wollte sagen, daß sie gleich weiterarbeiten würde – aber sie brachte kein Wort über die Lippen. So elend fühlte sie sich. So schwach und ausgelaugt. Und sie hatte Angst! Zum erstenmal, seit sie von ihrer Krankheit wußte, hatte sie Angst vor dem Sterben! In diesem Moment wünschte sie sich, sie wäre in der Klinik geblieben und hätte einer Behandlung zugestimmt. Aber dann dachte sie an Mathias, und sofort fand sie ihr Verhalten wieder richtig. Mathias durfte ihr Dahinsiechen nicht miterleben, er würde es einfach nicht verkraften.

Verena schloß die Augen. Ihr Herz klopfte wieder wie wahnsinnig und sie hatte das Gefühl, als würde ihr Blutstrom wie ein rasender Wildbach durch ihr Adernsystem pulsieren. Tina war unterdessen zu dem Fotografen zu­rückgegangen und sah ihn ernst an. »Sie braucht einen Arzt, und zwar dringend. Sieh sie dir doch mal genau an – sie ist sehr krank.«

»Du spinnst«, wehrte Reiner ab. »Sie hat wahrscheinlich nur zu viel gefeiert in der letzten Zeit. Wie ich hörte, war sie vor unserem Shooting in Nizza. Und was man an der Riviera so alles treiben kann, weißt du genausogut wie ich.«

»Du bist wirklich zu blöd«, schimpfte Tina respektlos. »Mein Vater ist Arzt, und glaub mir, ich hab’ in meinem Leben schon viele Schwerkranke gesehen. Ich weiß, daß Verena nicht gesund ist.«

»Wir sind hier in Timmendorf an der Ostsee und nicht im finsteren Urwald«, erklärte der Fotograf herablassend. »Wenn irgendwer einen Arzt braucht, kann er ihn ja aufsuchen.«

»Du verstehst gar nichts.« Tina drehte sich um. »Mach meinetwegen mit den anderen dreien allein weiter. Ich kümmere mich jedenfalls um Verena.«

»Damit machst du dich vertragsbrüchig!« brüllte er los.

Tina zuckte nur die Schultern. »Damit kann ich leben. Mit unterlassener Hilfeleistung nicht.«

Was blieb dem Fotografen also anderes übrig, als mit den drei übriggebliebenen Mädchen weiterzumachen? Die Sonne stand günstig, der Auftraggeber wollte schon kommende Woche die ersten Bilder sehen – also galt es, die Bademode der kommenden Saison so schnell wie möglich zu fotografieren. Wenn’s nicht anders ging, auch ohne Tina und Verena.

Er seufzte tief auf. Auf die kleine Tina konnte er gut verzichten, sie war kein Supermodell, sondern jobbte mehr zum Spaß, bis sie ihren Studienplatz in Medizin hatte. So hatte sie es jedenfalls erzählt.

Verena jedoch war ein Star, und er war ungemein stolz gewesen, daß er sie hatte verpflichten können.

»Ich war ein Idiot«, schimpfte er leise vor sich hin. »Hätte mir ja gleich denken können, daß da was nicht stimmt, wenn sie auf einmal so kleine Jobs wie diesen annimmt.«

Verena sah die junge Kollegin dankbar an. »Könntest du mich ins Hotel bringen?« bat sie. »Mir ist wirklich nicht gut.«

»Klar. Aber am gescheitesten wäre es, wenn du mal einen Arzt aufsuchtest. Ich darf doch sagen, daß du gar nicht gut aussiehst?« Ein wenig ängstlich blickte sie Verena an.

Die Kranke zwang sich zu einem kleinen Lächeln. »Natürlich darfst du das. Und ich weiß auch genau, daß ich wie eine lebendige Leiche rumlaufe. Kein Wunder…«

Sie biß sich auf die Lippen, und diesmal gelang es ihr einfach nicht mehr, die Tränen zurückzuhalten. Zu lange hatte sie sich beherrscht. In Nizza war es ihr noch gut gelungen, da hatte sie sich noch recht kräftig gefühlt.

Anschließend war sie für 24 Stunden nach Paris gejettet, danach weiter nach Madrid. Und jetzt war sie hier in Timmendorf, einem Urlauberparadies an der Ostsee…

Verena schüttelte über sich selbst den Kopf. Wie war sie nur hierhergekommen? War sie wahnsinnig gewesen, so mit ihrem Leben zu spielen?

Von ihrem Agenten hatte sie erfahren, daß Mathias sie verzweifelt suchte, doch Carlo hatte Wort gehalten und ihm nicht verraten, wo sie war.

»Er läßt sich nicht mehr lange hinhalten«, hatte er gestern noch gesagt, als sie miteinander telefoniert hatten. »Komm heim, Ve­rena, sei vernünftig. Streit gibt’s immer mal, das ist noch lange kein Grund, sich in irgendwelchen Dörfern zu verkriechen. Du schadest damit nur dir selbst – und vor allem deiner Karriere.«

Die Karriere… Verena seufzte unterdrückt auf. Nichts war ihr im Augenblick unwichtiger als ihre Karriere. Aber das durfte sie niemandem verraten.

Tina hatte ein Taxi gerufen, und gemeinsam fuhren sie ins Hotel.

»Wenn du willst, bleibe ich bei dir«, bot das Mädchen an. »Du solltest wirklich nicht allein sein – wenn du schon nicht zum Arzt willst.«

Verena schüttelte den Kopf. »Ich brauche keinen Arzt. Wirklich nicht.«

Kaum hatten sie die Hotelhalle betreten und waren an die Rezeption getreten, kam der Portier auf sie zu. »Frau Merbold, hier ist eine dringende Nachricht für Sie.« Damit reichte er ihr einen verschlossenen Briefumschlag.

»Danke.« Verena nahm ihn und trat drei Schritte zur Seite, um ungestört lesen zu können.

Der Umschlag enthielt eine Fax­nachricht ihres Agenten:

Mathias ist schwer verunglückt, wie ich von der Polizei erfuhr. Man hat dich zu benachrichtigen versucht und ist irgendwann auf mich gekommen. Er schwebt in Lebensgefahr – komm schnell heim – Carlo.

»Nein!«

Hatte sie es geschrien oder nur geflüstert? Verena wußte es nicht. Sie hatte nur das Gefühl, daß ihr jemand mit einer Faust in den Magen schlug. Ihr Herzschlag drohte auszusetzen, alles drehte sich um sie…

Als sie wieder zu sich kam, lag sie in ihrem Hotelbett, und ein Arzt war im Raum.

»Sie waren kurz ohnmächtig, da hat man mich gerufen – Dr. Burmeister, ich bin der Hotelarzt.«

Verena nickte. »Danke, aber es geht schon wieder. Ich… ich hab’ mich nur so über die Nachricht erschrocken, die ich bekommen habe.«

»Aufregungen sind Gift für Sie, das wissen Sie hoffentlich.«

Verena nickte nur. »Ich bin völlig im Bilde, Herr Doktor, danke für Ihre Mühe.«

Der Arzt schüttelte nur den Kopf. »So leichtfertig dürfen Sie diese Diagnose nicht sehen«, erklärte er. »Sie…«

»Ich bin nicht leichtfertig.« Ve­rena mußt sich beherrschen, um nicht laut loszuschreien. Warum nur ließ sie niemand in Ruhe? Warum verstand keiner, daß sie allein sein wollte? Oder – Jäh fiel ihr ein, warum sie überhaupt ohnmächtig geworden war. »Mathias…«, murmelte sie. »Ich muß zu ihm!«

Der Arzt schüttelte den Kopf. »Das ist unmöglich. Sie brauchen absolute Ruhe. Am liebsten würde ich Sie in die Klinik einweisen, damit man Sie dort optimal versorgt.« Fragend sah er sie an. »Wie ich hörte, sind Sie Fotomodell. Das ist ein stressiger Beruf. Wie konnten Sie noch weiterarbeiten? Hat Ihr behandelnder Arzt Ihnen das nicht verboten – vor der Operation?«

Verena zögerte. Sie konnte ihm doch nicht sagen, daß sie gar keine Operationsvorbereitungen getroffen hatte, weil… Ohne daß sie es wollte, begann sie zu weinen.

Der Arzt ließ sie eine Weile in Ruhe, dann bat er: »Warum erzählen Sie mir nicht alles? Ich bin sicher, daß es Ihnen helfen wird, wenn Sie sich mal aussprechen. Und – ich bin ein sehr guter Zuhörer.«

Noch einmal zögerte sie, dann berichtete sie stockend, immer wieder von heftigem Schluchzen unterbrochen, was sie getan hatte.

»In der Kurfürsten-Klinik in Berlin hat man mir gesagt, daß ich mich dringend einem Eingriff unterziehen muß. Und Dr. Winter – das ist der Arzt, der mich behandelt hat – war auch bereit, noch einmal ausführlich mit mir zu reden. Aber ich bin einfach davongelaufen.«

Sie biß sich auf die Lippen, und es dauerte eine geraume Weile, ehe sie weitersprechen konnte. »Wissen Sie, ich liebe einen ganz wundervollen Mann. Und die Vorstellung, ihn an eine Schwerkranke zu binden, war mir unerträglich. Außerdem… alles, was mir wichtig war bisher, drohte zusammenzubrechen. Ich, deren Kapital die Schönheit war, bin krank. Todkrank. Und wenn ich erst operiert sein würde, könnte ich nie wieder vor eine Kamera treten. Und dann mein Freund…«

Bei der Erinnerung an Mathias begann sie wieder hemmungslos zu weinen. Aus tränenfeuchten Augen sah sie den Hotelarzt an. »Ich muß zu ihm! Ich muß nach Berlin – unbedingt! Das verstehen Sie doch, oder?«

Der Arzt nickte. Er wußte, daß es keinen Sinn haben würde, an Verena Merbolds Vernunft zu appellieren. Und irgendwie konnte er sie ja auch verstehen. Darum war er bereit, ihr nach besten Kräften zu helfen.

»Ich werde Ihnen jetzt noch ein Präparat zur Stärkung geben«, sagte er. »Dann schlafen Sie ein paar Stunden – und ich werde einen Freund bitten, Sie nach Berlin zu fahren.«

»Aber das kann ich doch nicht annehmen!«

Der Arzt lächelte. »Wenn ich es sage, können Sie es annehmen. Ulrich ist zur Zeit arbeitslos und froh über jeden Job, den er bekommen kann. Er wird Sie gern bringen.«

»Ich werde ihn natürlich bezahlen«, sagte Verena rasch.

Der Arzt winkte ab. »Das ist das geringste Problem, denke ich. Also, jetzt bekommen Sie noch eine Injektion, und in fünf Stunden sehen wir uns wieder. Ich werde mitkommen, um darauf zu achten, daß alles so verläuft wie besprochen.«

Verena nickte. Sie war ihm dankbar für seine Umsicht. Und sie spürte selbst, daß sie im Moment gar nicht in der Lage gewesen wäre, irgend etwas selbständig zu tun. Noch nicht einmal etwas zu organisieren. Sie war wie gelähmt. Schwach. Elend. Am Ende…

Die Injektion wirkte rasch, und als Verena schlief, schlich der Arzt leise hinaus.

Doch noch vom Hotel aus ließ er sich eine Verbindung mit der Kurfürsten-Klinik in Berlin geben…

*

»Hallo, Adrian! Hattest du ein erholsames Wochenende?«

Schwester Monika begrüßte den Chef der Notaufnahme im Vor­übergehen.

»Danke. Und wie war’s hier?«

»Hektisch.« Monika blieb nun doch kurz stehen. »Ein Rockkonzert hat uns irrsinnig viele Kunden beschert. Betrunkene, Vollgekiffte, vom Kreischen ohnmächtig gewordene Girlies… ehrlich, da könnte ich reinschlagen!«

Dr. Winter nickte. Er hatte solche Großverstanstaltungen ebenfalls fürchten gelernt, und er war froh um jede Band, die ihre Fans dazu anhielt, sich vernünftig zu benehmen.

»Besondere Fälle?« erkundigte er sich weiter.

»Nein, Herr Kehlmann liegt immer noch auf Intensiv, aber ich weiß von den Kolleginnen dort, daß sein Zustand stabil ist.«

»Ich werde gleich mal hochgehen.«

Monika schüttelte den Kopf. »Wirst du nicht. Gleich kommt eine neue Patientin. Ein schwerer Fall, wie ich gehört habe. Aber frag Bernd Schäfer, der weiß mehr darüber.«

»In Ordnung. Danke.«

Monika nickte nur, dann eilte sie hinüber in Kabine drei, wo ein kleines Mädchen lag, das auf dem Schulweg vom Rad gestürzt war. Zum Glück hatte die Kleine nur Prellungen und eine Wunde am Knie davongetragen. Nichts Besonderes, das waren Verletzungen, die die erfahrene Monika allein versorgen konnte.

Dr. Schäfer hingegen kümmerte sich um einen alten Herrn, der am Steuer seines Wagens einen Herzinfarkt erlitten hatte. Wie durch ein Wunder war es nicht zu weiteren Verletzten gekommen, denn der alte Mann hatte seinen Wagen noch im letzten klaren Moment auf den Randstreifen fahren können, erst dann war er besinnungslos über dem Lenkrad zusammengebrochen. Seit einer Viertelstunde versuchte das Team um Bernd Schäfer jetzt schon, das Leben des Mannes zu retten. Doch alle Mühe war umsonst. Gerade, als sie endlich aufatmen wollten, als es so aussah, als hätten sie ihn über den kritischen Punkt gebracht, bekam er einen weiteren Infarkt – und starb innerhalb weniger Sekunden.

»Hat bereits jemand die Ange­hörigen verständigt?« fragte Dr. Schäfer.

»Es gibt keine. Er lebt, wie aus seinen Papieren hervorgeht, in einem Seniorenstift. Ich hab’ da schon angerufen.« Schwester Walli zuckte die Schultern. »Er hat keine Verwandten mehr.«

»Ja, dann…« Der junge Chirurg wandte sich an Julia Martensen, die zusammen mit ihm versucht hatte, das Leben des Achtzigjährigen zu retten. »Vielleicht ist es besser so.«

Die Internistin nickte. »So schockierend es im ersten Moment auch scheint – eigentlich ist es für den Betroffenen ein schöner Tod gewesen. Er hat nicht mehr viel gemerkt. Schmerzen, Ängste, Seelenqualen blieben ihm erspart. Ich bin sicher, mancher Krebspatient würde mit ihm tauschen.«

»Da magst du recht haben.« Dr. Schäfer nickte der älteren Kollegin zu. »Ich geh’ dann mal wieder rüber. Vielleicht ist Adrian schon da.«

Er traf den Freund noch auf dem Flur. Sie begrüßten sich herzlich, doch Zeit für ein paar private Worte hatten sie nicht. Adrian fragte gleich: »Was ist mit der neuen Patientin, die avisiert ist?«

»Du glaubst es kaum – es ist Verena Merbold. Du erinnerst dich: das bildschöne Fotomodell mit dem Aneurysma.«

»Dann hat sie sich also besonnen!«

»So einfach scheint es nicht zu sein. Wie ich gehört habe, ist unser Patient Mathias Kehlmann ihr Lebensgefährte. Irgendwer hat sie von seinem Unfall in Kenntnis gesetzt, sie hat einen schweren Schock bekommen, und jetzt ist sie nach hier unterwegs. Ich habe lange mit einem Hotelarzt aus Timmendorf gesprochen, er hat sie wohl überredet, sich endlich behandeln zu lassen.«

»Verrückte Geschichte«, meinte Adrian nur. »Ich gehe als erstes hoch zur Intensiv. Ruf mich an, wenn diese Frau eintrifft.«

»Mach ich.«

Dr. Winter untersuchte Mathias sorgfältig. Der Patient war immer noch nicht ansprechbar. Bis gestern abend, so stand im Behandlungsprotokoll, hatte Dr. Roloff ihn im künstlichen Koma gehalten, um ihm das Schlimmste an Schmerzen zu ersparen. Jetzt war er zwar wach, aber er reagierte kaum, als Adrian Winter ihn ansprach.

Alles in allem jedoch konnten die Ärzte mit seinem Zustand zufrieden sein.

Adrian Winter hatte die Station noch nicht verlassen, als der Piepser ihn schon zur Notaufnahme rief. Verena Merbold war eingetroffen!

Der Chef der Unfallambulanz erschrak, als er die junge Frau erblickte. Elend sah sie aus. Jeder Glanz war aus ihrem schönen Gesicht verschwunden, und man konnte deutlich erkennen wie krank sie war.

Ein etwa fünfzig Jahre alter Mann stützte sie, und es war klar ersichtlich, daß das auch notwendig war.

»Einen Rollstuhl! Schnell!« rief Adrian Winter einer jungen Lernschwester zu.

Gleich darauf ließ sich Verena in dem Stuhl nieder. »Danke«, murmelte sie, und sogar aus ihrer Stimme war alle Kraft gewichen.

»Gut, daß Sie da sind, Frau Merbold.« Adrian Winter streckte ihr zur Begrüßung die Hand entgegen. »Die Fahrt war anstrengend, nicht wahr?«

Sie nickte nur, und der Mann an ihrer Seite meinte: »Ich bin so vorsichtig gefahren wie eben mög­lich, Herr Doktor. Aber die letzten hundert Kilometer… ich hatte echt Angst.«

»Herr Tönnissen war so freundlich, mich in seinem Wagen herzubringen.«

Adrian nickte dem Mann zu und gab ihm die Hand. »Ich bin Dr. Winter und leite diese Abteilung der Klinik.«

»Ulrich Tönnissen. Tja… dann will ich mal das Gepäck holen.«

Er wirkte ein wenig verlegen, fühlte sich in dieser Umgebung sichtlich nicht wohl.

»Tun Sie das. Ich werde mich gleich um Frau Merbold kümmern.«

Adrian veranlaßte, daß Verena sofort in ein Untersuchungszimmer gebracht wurde. Sie verabschiedete sich von dem hilfsbereiten Ulrich Tönnissen und drückte ihm einen Umschlag in die Hand, den sie schon im Hotel in Timmendorf für ihn vorbereitet hatte.

»Danke, daß Sie sich so nett um mich gekümmert haben«, sagte sie.

»Das war doch klar«, murmelte er verlegen. »Ich… ich wünsche Ihnen nur das Beste. Und baldige Besserung.«

»Danke.«

»So, dann wollen wir mal.« Adrian war hinzugekommen. »Wir können gleich mit den Untersuchungen beginnen. Kommen Sie, ich bringe Sie rüber.«

Sie waren noch nicht zwanzig Meter weit, da sagte Verena: »Ich muß erst wissen, was mit Mathias ist, Herr Doktor. Vorher finde ich doch keine Ruhe.«

»Eben war ich bei ihm. Es geht ihm recht gut – soweit es einem Menschen nach einer so schweren Operation überhaupt gutgehen kann«, fügte er einschränkend hinzu.

»Ich möchte zu ihm.«

Adrian Winter zögerte. Am liebsten wäre ihm gewesen, er hätte die Patientin erst einmal umfassend untersuchen können. Doch er sah ein, daß Verena Merbold keine Ruhe hatte, ehe sie sich nicht selbst vom Wohlbefinden ihres Freundes überzeugt hatte.

»Also gut. Ich bringe Sie selbst hoch zur Intensivstation.«

Im Lift gestand ihm Verena, was sie bewogen hatte, vor etlichen Tagen heimlich die Klinik zu verlassen – und auch Mathias im Stich zu lassen, ohne ihm zu sagen, was mit ihr los war.

Der Arzt hörte kopfschüttelnd zu. »Sie haben wohl sehr wenig Vertrauen zu Ihrem Partner, was?« fragte er provozierend. »Stellen Sie sich vor, es wäre umgekehrt gewesen. Wie hätten Sie reagiert?«

Als sie nicht antwortete, fuhr er fort: »Schauen Sie, eine Liebe, die nur an Sonnentagen Bestand hat, kann wirklich nicht die wahre Erfüllung sein. Sie selbst sind doch auch sofort hergekommen, als Sie erfahren haben, daß Ihr Freund schwer verunglückt ist. Haben Sie auch nur eine Minute darüber nachgedacht, daß er eventuell eine entstellende Narbe davongetragen haben könnte? Haben Sie ihn weniger lieb, nur weil er krank ist?«

Verena schluchzte auf.

»Ich weiß ja, daß ich völlig überzogen reagiert habe. Ich… ich verstehe es eigentlich selbst nicht mehr.«

»Sie haben mit Ihrem Leben gespielt.« Adrian zögerte, dann fügte er hinzu: »Aber das ist Schnee von gestern. Sie sind hier, und ich verspreche Ihnen, daß wir alles tun werden, um Ihnen optimal zu helfen.« Er schob den Rollstuhl bis vor die Schleuse der Intensivstation. »Können Sie ein paar Schritte gehen?« fragte er.

Verena nickte. »Natürlich. Es geht schon wieder ganz gut.« Sie stemmte sich hoch, und Adrian half ihr in den sterilen Kittel, den jeder, der den Bereich der In­tensiv-Station betrat, anlegen mußte.

Der Arzt hatte zwar Bedenken, daß es Verena überanstrengen könnte, ihren Freund hier so elend liegen zu sehen, doch ihm war auch klar, daß er es ihr gar nicht hätte ausreden können.

Und dann standen sie an der Kabine, in der Mathias Kehlmann lag. Er wurde nicht mehr künstlich beatmet, nur zwei Infusionen waren angehängt, und einige Meßgeräte, mit denen er verbunden war, zeichneten alle Körperfunktionen auf. Verena sah ihn nur an, und dann liefen Tränen über ihr Gesicht. Sie weinte ganz leise, und Adrian sah, daß sie sich die Lippen blutig biß.

Doch von einer Sekunde zur anderen hatte sie sich wieder gefangen. Sie ging auf das Bett zu und ließ sich auf dem kleinen Hocker, der davor stand, nieder.

»Mathias… ich bin da!« Vorsichtig streichelte sie seine Hand. Sie hätte ihn gern geküßt, doch der Kopfverband, den er trug, hinderte sie daran. Irgendwie hatte sie Angst, daß sie ihm weh tun könnte.

»Sie können ihn ruhig küssen.« Adrian lächelte aufmunternd. »Das soll eine ganz besonders gute Medizin sein.«

Da beugte sie sich vor und bedeckte das Gesicht des geliebten Mannes mit unzähligen Küssen. »Ich war so dumm, Mathias«, flüsterte sie dabei. »Ich bin davongelaufen, weil ich Angst hatte. Angst um dich, um mich… um unser Glück. Kannst du mir verzeihen? Jetzt bin ich sicher, daß alles gut werden wird.«

Mathias Kehlmann reagierte nicht. Völlig apathisch lag er da, und Verena begann schon zu verzweifeln. Hilflos sah sie zu Dr. Winter hinüber, der vor der Kabine auf sie wartete.

Der Arzt nickte ihr aufmunternd zu. »Sprechen Sie ruhig weiter, ich bin sicher, er hört sie. Und er spürt, daß Sie da sind.«

Das konnte Verena einfach nicht glauben. Aber… sie beugte sich nochmals über Mathias und sagte dicht an seinem Mund: »Ich liebe dich, mein großer Bär. Und ich will dich heiraten – sobald wir beide aus dieser Klinik hier entlassen werden.«

»Du… bist auch krank?« Seine Worte waren nur ein Flüstern, doch endlich schlug Mathias die Augen auf und sah Verena an.

Seine Hand tastete suchend über die Bettdecke, und erst als sie ihre Finger in die seinen legte, als sie seinen leichten Druck spürte, wagte sie zu glauben, daß er wirklich alles mitbekam.

»Ich muß auch operiert werden, ja.« Sie zwang sich zu einem kleinen Lächeln. »Es ist da was in meinem Bauch… ein Aneurysma. Dr. Winter meint, es ließe sich leicht entfernen. Aber ich hatte Angst davor. Angst, danach nicht mehr vollkommen schön zu sein. Dumm war ich, nicht wahr?« Mit Tränen in den Augen beugte sie sich wieder über ihn.

Mathias’ blasses Gesicht belebte sich ein wenig. »Ich… ich liebe dich. Immer. Auch mit Narbe.« Ein kleiner Schimmer des jungenhaften Lächelns, in das sie sich einmal verliebt hatte, lag in seinen Augen. »Küß mich. Das ist Medizin.«

Sie kam der Aufforderung nur zu gern nach.

Dr. Winter hielt es nach zehn Minuten jedoch für angeraten, die beiden Liebenden wieder zu trennen. »Es tut mir leid, daß ich stören muß«, sagte er, »aber Herr Kehlmann braucht dringend Ruhe, und Sie, Frau Merbold, werden jetzt von mir und meiner Kollegin Martensen ausgiebig untersucht.«

Ein letzter Kuß, ein letzter Blick – dann verließen Verena und Dr. Winter die Intensivstation.

»Wird er es auch wirklich schaffen?« Draußen auf dem Flur gab Verena ihren Ängsten Raum.

»Natürlich. Er hat die kritische Phase schon prima überwunden. Ich bin davon überzeugt, daß er in zehn Tagen bereits wieder durch die Klinik spazieren wird.«

Sie wollte ihm so gern glauben! So, wie sie ihm glauben wollte, daß er auch ihr helfen konnte!

Dennoch klopfte ihr Herz wie wild vor Aufregung, als sie das Untersuchungszimmer betraten und gleich darauf auch die Internistin Julia Martensen hinzukam, um mit der ersten umfassenden Untersuchung zu beginnen.

*

»Jede Stunde zählt.« Dr. Adrian Winter sah sich im Kreis der Kollegen, die zusammen mit ihm den Eingriff an Verena Merbold vornehmen würden, um. »Ich denke, wir haben keine Zeit mehr, unsere Patientin optimal vorzubereiten. Jeden Augenblick kann es zur Katastrophe kommen.«

Julia Martensen nickte zustimmend. »Ich bin sicher, daß die Aderwand nur noch hauchdünn ist und jederzeit platzen kann. Was dann passiert, weiß jeder hier genau.«

Das stimmte. Man mußte keinem Mitglied des OP-Teams erklären, wie kritisch die Situation werden würde, wenn so ein Aneurysma platzte. Die betroffenen Patienten konnten innerhalb weniger Minuten verbluten.

»Ich schlage vor, wir operieren noch heute abend.« Dr. Winter sah sich in der Runde um. »Hat jemand Bedenken?«

Bernd Schäfer grinste. »Höchstens unser Verwaltungschef, weil du mal wieder alle Pläne durcheinanderwirbelst.«

Adiran zuckte die Schultern. »Damit kann ich sehr gut leben.«

So kam es, daß das große OP-Team sich kurz vor 18 Uhr im OP 2 zusammenfand.

Dr. Roloff, der eigentlich dienstfrei gehabt hätte, war extra gekommen, und auch Schwester Walli hatte stillschweigend ihren Feierabend hinausgeschoben, um der ersten Instrumentenschwester helfen zu können.

Schwester Annette, eine etwa vierzigjährige Frau mit kurzen schwarzen Locken, sah kurz zu Dr. Winter hinüber, der noch im Waschraum stand.

»Das wird heute ein Wettlauf mit der Zeit, was?«

»Ich denke schon. Aber Dr. Winter wird’s schon schaffen.«

Bernd Schäfer stand schon am Tisch und kontrollierte, ob die Patientin richtig gelagert war.

Dr. Roloff hatte die Narkose schon eingeleitet, und als er nickte, kam Adrian gerade durch die Schleuse.

»Wir können, ja?« Fragend blickte er von einem zum anderen. Als alle nickten, streckte er auffordernd die Hand aus. »Skalpell, Schwester Annette.«

Sie reichte ihm das scharfe Messer, und der Chirurg arbeitete sich Schicht für Schicht in das Körperinnere vor. Schnell mußte es gehen, sehr schnell, denn Ve­renas Kreislauf war nicht der stabilste.

Endlich lag das Aneurysma vor ihnen. Die große Bauchaorta war nur noch hauchdünn, und allen, die einen Blick ins Innere des Leibes warfen, war klar, daß das Gewebe jeden Moment perforieren konnte.

Adrian Winter blieb auch in dieser kritischen Situation der ruhige und umsichtige Operateur, als den ihn alle kannten. Er wählte mit Bedacht ein geeignetes Prothesenstück aus, das er dann mit Präzision einsetzte.

Dr. Schäfer und ein zweiter Assistent hatten es übernommen, die Aorta abzuklemmen, damit Dr. Winter das Aneurysma fortschneiden und das Kunststoffteil einsetzen konnte. Mit kleinsten Stichen vernähte er das obere Ende mit dem Aortenstumpf und tat das gleiche mit dem anderen Ende.

»Weg mit den Klemmen!« befahl er dann und wartete, bis die Assistenten die Instrumente entfernt hatten. Einige wenige Blutstropfen quollen noch durch die Prothesenwand. Aber auch das hörte sehr schnell auf, so daß er sich vom Gelingen des Einsetzens überzeugen konnte.

»Hält ganz hervorragend!« sagte Adrian Winter und ließ das jetzt prall mit Blut gefüllte Prothesenstück unter seinem rechten Zeigefinger wippen. »In ungefähr einer Woche kann sie schon wieder durchs Zimmer tanzen.«

»Gib ihr zwei Wochen«, grinste Bernd. »Du bist immer so ungeduldig.«

Adrian grinste, was man unter dem Mundschutz jedoch nur erahnen konnte. »Ich weiß, meine Ungeduld wird mir noch zum Verhängnis werden. Das hat meine Mutter auch immer gesagt.«

»Ich bin nicht deine Mutter!«

»Aber mein bester Assistent. Und deshalb darfst du jetzt auch das Zumachen übernehmen.« Damit trat er einen halben Schritt vom Tisch zurück und überließ es Bernd Schäfer, die Bauchwunde zu schließen.

Das dauerte, denn der junge Chirurg war natürlich bemüht, besonders fein zu arbeiten. Er wußte, daß Verena glücklich sein würde, wenn ihre Narbe so unauffällig wie eben möglich wäre.

»Das war’s dann«, meinte Adrian, als die letzte Naht gelegt und der Verband angelegt war. »Ihr wart alle ganz hervorragend. Danke.«

»Du warst einfach Spitze«, erwiderte Bernd, als sie sich die beschmutzte OP-Kleidung auszogen. »Es war wirklich der letzte Moment, nicht wahr?«

Dr. Winter nickte. »So ein Aneurysma ist ein tückisches Ding. Wenn es sich erst mal gebildet hat, kann es nur operativ beseitigt werden. Und das muß im entscheidenden Moment geschehen. Nun… Frau Merbold hat’s in der letzten Minute geschafft, zu uns zu kommen.«

*

Vier Wochen waren seither vergangen. Vier Wochen, in denen alle­ in der Kurfüsten-Klinik Anteil am Leben des Paares Merbold-Kehlmann genommen hatten.

Der Heilungsprozeß verlief bei beiden ganz hervorragend, und Verena und Mathias waren unendlich glücklich darüber, daß sie zusammen waren. Beiden hatte das Schicksal sehr deutlich gemacht, wie schnell das Glück eines Menschen zerstört werden könne – und daß man alles tun müsse, um es zu erhalten. Als Verena soweit genesen war, daß sie auch Besuch von Freunden und Kollegen haben durfte, kam ihr Agent mit einem Riesenstrauß gelber Rosen.

»Du machst vielleicht Sachen, Mädel«, schimpfte er, und man sah ihm an, daß er noch im Nachhinein erschüttert war. »Warum nur hast du mir nicht die Wahrheit gesagt?«

»Ich hatte eben Angst«, gestand Verena. »Aber jetzt ist alles überstanden. Und Angst vor der Zukunft habe ich nicht mehr. Mathias liebt mich – nur das ist wichtig für mich.«

Carlo grinste. »Na ja, so ein bißchen Erfolg wäre doch auch nicht zu verachten, oder?« Er griff in seine Jackettasche und holte einen Zettel hervor. »Hier, ein Vertrag für eine Modenschau in Paris. Lengenbach will dich noch immer. Sogar mit Narbe.« Er grinste ihr zu.

»Ehrlich?« Verena wurde abwechselnd rot und blaß vor Erregung.

»Ehrlich. Und… ich hab’ seiner Assistentin gesagt, daß wir gleich nach der ersten großen Show, die du mit ihm machst, ein Brautkleid haben müssen. Das war doch richtig so, oder?«

Verena beugte sich vor und zog seinen Kopf zu sich. »Du bekommst einen Kuß, Carlo. Du bist wirklich der beste und liebste Agent, den man sich nur wünschen kann.«

»Ich bin ein sentimentaler Narr, das ist alles.« Carlo griff schnell wieder nach dem Vertrag. »Also, soll ich unterzeichnen?«

In diesem Moment öffnete sich die Tür, und gemeinsam mit Dr. Winter kam Mathias herein.

»Ich frage Mathias, ja?« Verena berichtete rasch von dem neuen Vertrag.

»Im Prinzip bin ich einverstanden«, meinte der junge Anwalt, der die Folgen des schweren Unfalls schon recht gut überstanden hatte. »Nur… vorher wird geheiratet! Ich habe Dr. Winter eben gefragt, wann er mal frei hat. Schließlich hat er uns schon vorgestern versprochen, unser Trauzeuge zu sein.«

Verena lächelte. »Und Carlo ist der zweite, ja?«

»Gern.« Der Agent nickte. »Dann gibt’s nur ein kleines Problem… wie kommen wir jetzt günstig an ein Brautkleid eines Edeldesigners?«

»Das ist dein Problem«, meinte Verena. »Mathias und ich können uns darum nicht kümmern, wir müssen uns ganz auf unseren Genesungsurlaub konzentrieren.«

»Ein ganz hervorragender Gedanke.« Adrian Winter nahm den Agenten am Arm. »Kommen Sie, wir diskutieren unseren Einsatz als Trauzeugen draußen durch. Die beiden hier wollen ganz offensichtlich alleingelassen werden.«

Kurfürstenklinik Paket 1 – Arztroman

Подняться наверх