Читать книгу Kurfürstenklinik Paket 1 – Arztroman - Nina Kayser-Darius - Страница 27

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»Jetzt fahr doch nicht so schnell, Jens!« sagte Bettina Wördemann ängstlich.

Ihr Freund Jens Banter lachte nur. »Warum nicht? Es macht mir Spaß, und die Straße ist völlig frei, das siehst du doch. Niemand ist unterwegs außer uns.«

Jens Banter war ein großer, gutaussehender Mann mit ziemlich langen braunen Locken und einem klassischen Profil. Aber hinter seinem männlichen Äußeren verbarg sich ein Junge, der es nicht schaffte, erwachsen zu werden. Vielleicht wollte er das auch gar nicht. Das hatte Bettina leider erst im Laufe der letzten Zeit begriffen. Seine Leidenschaft für schnelles Fahren kannte sie, und sie hatte nichts dagegen, wenn er auf einer freien Autobahn so fuhr, aber doch nicht in einer Nacht wie dieser!

»Das mag sein, aber es ist dunkel, es regnet in Strömen, es ist sehr windig, die Sicht ist nicht besonders gut, und…«

Er unterbrach sie ungeduldig. »Die Sicht ist gut genug. Was ist denn bloß los mit dir? Du bist doch sonst nicht so ängstlich.«

»Das hat mit ängstlich sein überhaupt nichts zu tun, und das weißt du auch. Ich hasse sinnlose Raserei, die außerdem noch gefährlich ist. Bei diesem Wetter fährt jeder vernünftige Mensch langsamer.«

Er nahm den Fuß ein wenig vom Gas. »Besser so?« fragte er.

»Besser, aber nicht gut. Kannst du nicht noch ein bißchen runtergehen mit der Geschwindigkeit? Mir zuliebe?«

Er schien zu überlegen. Dann fing er an zu lachen. Es war kein angenehmes Lachen, und unwillkürlich zog sie die Schultern hoch, als fröstelte sie.

»Ihr Frauen seid doch alle gleich«, sagte er, während er das Gaspedal erneut ganz durchdrückte, so daß der Wagen wie eine Rakete nach vorn schoß. »Immer Druck machen, erpressen, nörgeln. Ich kann dir gar nicht sagen, wie ich das hasse. Und damit du es weißt: Nur dir zuliebe fahre ich überhaupt mit zu deiner langweiligen Freundin mit ihrem noch langweiligeren Bruder. Nur dir zuliebe! Hast du das verstanden, Bettina?«

Seine Stimme war immer lauter geworden, und sie ahnte, daß er doch etwas getrunken hatte, obwohl er auf ihre Frage hin behauptet hatte, keinen Tropfen angerührt zu haben. Aber das stimmte ganz sicher nicht. Es kam gelegentlich vor, daß Jens zuviel trank – zum Glück nicht allzu häufig.

Sie überlegte, was sie tun sollte. Aber sie brauchte gar nicht zu sagen, daß sie selbst fahren wollte. Es würde ihn nur noch mehr aufregen, und er würde noch unvernünftiger fahren als jetzt schon, falls das überhaupt möglich war.

»Schon gut«, sagte sie. »Es ist lieb von dir, daß du mitgefahren bist. Und du wirst sehen, es wird ein schönes Wochenende. Mona freut sich sehr, daß wir kommen, jetzt, wo Wolf auch gerade da ist.«

Wieder ließ er dieses unangenehme Lachen hören, aber er verringerte zumindest die Geschwindigkeit ein wenig. Sie atmete auf. Von jetzt an würde sie nichts mehr sagen, was ihn aufregen konnte. Es war ja auch nicht mehr weit. Sie würden den kleinen Ort etwas außerhalb von Berlin, in dem ihre Freundin wohnte, bald erreicht haben.

Sie lehnte sich zurück und sah auf die regennasse Straße. Schreckliches Wetter war das. Wenn sie nicht schon lange für dieses Wochenende mit Mona verabredet gewesen wäre, hätte sie vielleicht abgesagt. Aber Wolf war gerade bei Mona angekommen. Monas Bruder Wolf, der lange im Ausland gearbeitet hatte. Und er wollte Bettina unbedingt sofort wiedersehen und sie ihn auch – immerhin waren sie zusammen aufgewachsen.

»Du mußt unbedingt kommen, Tina!« hatte Mona gesagt – und nach einer Weile halb schuldbewußt, halb lachend hinzugefügt: »Zur Not bringst du Jens eben mit.«

Bettina seufzte. Mona und Jens mochten einander nicht besonders, obwohl sie ihr zuliebe zumindest höflich miteinander umgingen. Sie war fast ein wenig verwundert gewesen, als Jens eingewilligt hatte, sie zu begleiten. Vielleicht lag es auch daran, daß er wußte…

»Schläfst du?« fragte Jens.

»Nein, ich döse nur ein bißchen vor mich hin. Wir sind bald da, nicht?«

»Ja«, sagte er und raste mit Vollgas in die Kurve, so daß sie an die Beifahrertür gedrückt wurde.

Sie biß sich auf die Lippen, sagte aber nichts. Nicht mehr lange, und sie hatte es überstanden. Auf der Rückfahrt jedenfalls, das stand fest, würde sie fahren.

*

»Ein richtiges Sauwetter ist das!« schimpfte Dr. Bernd Schäfer, als er die Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik in Berlin betrat und seinen riesigen Schirm so ausschüttelte, daß die Regentropfen nach allen Seiten flogen.

»Paß mal ein bißchen auf, Bernd!« Dr. Adrian Winter, der gleich nach dem gewichtigen Assistenzarzt hereingekommen war, sprang in letzter Sekunde zur Seite. »Ich bin halbwegs trocken hier hereingekommen, nun will ich nicht ausgerechnet in der Notaufnahme naß werden!«

»Entschuldige, Adrian. Ich hab’ dich nicht gesehen.«

»Das wäre ja auch noch schöner, wenn du es absichtlich getan hättest!« Adrian Winter eilte an seinem Kollegen vorbei, denn das Wartezimmer war voll, wie er sofort gesehen hatte. Das hatte bestimmt etwas mit dem Wetter zu tun – da häuften sich natürlich die Unfälle. Oft war es zu Beginn eines Nachtdienstes eher ruhig, aber heute würde es wohl anders sein.

Dr. Adrian Winter war Unfallchirurg, und seit einiger Zeit leitete er die Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik. Er tat es voller Engagement, wie er überhaupt alles, was mit seinem Beruf zusammenhing, mit Leib und Seele tat. Er war ein großer, gutaussehender Mann von fünfunddreißig Jahren. Seine dunkelblonden Haare waren ziemlich kurz geschnitten, die braunen Augen bildeten einen interessanten Kontrast dazu. Er ließ sich nur selten aus der Ruhe bringen und war zu den Patientinnen und Patienten gleichbleibend freundlich. Außerdem genoß er als Mediziner einen ausgezeichneten Ruf. Es war also kein Wunder, daß er einer der beliebtesten Ärzte der Klinik war.

»Adrian, gut, daß du da bist!« begrüßte ihn Oberschwester Walli erleichtert. »Das wird eine heiße Nacht, glaube ich.«

»Ja, den Eindruck habe ich auch. Laß mich mal sehen, was haben wir denn da?«

Sie reichte ihm die Liste, und er überflog sie rasch. »Was ist mit den Herzrhythmusstörungen?«

»Ein alter Mann, sechsundachtzig. Er ist jetzt stabil und wird gerade nach oben gebracht, da können sie sich besser um ihn kümmern. Aber komm bitte mit und sieh dir ein junges Mädchen an, das man bewußtlos am Bahnhof gefunden hat.«

Er warf ihr einen schnellen Blick zu. »Drogen oder Alkohol?«

»Eher Drogen, würde ich sagen«, antwortete die mollige Oberschwester mit dem braunen Pagenkopf. Ihr hübsches Gesicht wirkte bekümmert. »Sie ist höchstens fünfzehn, Adrian, und ich weiß nicht, ob wir ihr helfen können. Sie sieht entsetzlich aus.«

»Ich schau sie mir gleich an«, sagte er und folgte ihr. Drogenkranke gehörten seit langem zum Alltag einer Notaufnahme, aber man hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt.

*

»Aufgeregt?« fragte Mona Mickwitz ihren Bruder Wolf, der am Fenster ihres Wohnzimmers stand und auf die Straße sah.

Er drehte sich um und machte ein ausdrucksloses Gesicht. »Aufgeregt?« fragte er betont gleichmütig. »Warum sollte ich aufgeregt sein?«

»Nur so«, antwortete sie und unterdrückte ein Lächeln. Ihr konnte er nichts vormachen, so sehr er sich auch bemühte. Sie wußte schließlich, daß ihr Bruder zumindest früher unsterblich in ihre beste Freundin Bettina verliebt gewesen war – aber Bettina hatte seine Gefühle nicht erwidert, und irgendwann war Wolf dann als Ingenieur ins Ausland gegangen.

Sie hatte keine Ahnung, ob er dort eine Freundin hatte, aber sie nahm an, daß er es ihr erzählt hätte, wenn es so gewesen wäre. Jedenfalls glaubte sie ihm keine Sekunde, daß das bevorstehende Wiedersehen mit Bettina ihn völlig kalt ließ – so lange war es schließlich noch nicht her, daß er fast krank gewesen war vor lauter Liebeskummer.

Aber Bettina hatte damals zu ihr gesagt: »Ich kenne ihn einfach zu gut, Mona. Er ist wie ein älterer Bruder für mich – ich kann mich nicht in ihn verlieben, so gern ich das auch möchte. Schließlich weiß ich, was für ein toller Mann er ist, aber es geht wirklich nicht. Ich glaube, wir haben schon zuviel zusammen erlebt.«

Ja, das hatten sie in der Tat. Wolf war jetzt vierunddreißig, fünf Jahre älter als Bettina und Mona, die in dieselbe Klasse gegangen war, und er war derjenige gewesen, der sie gegen die anderen Jungen beschützt hatte. Er hatte ihnen das Schwimmen beigebracht, ihre aufgeschlagenen Knie verpflastert und ihnen manchmal sogar Geschichten vorgelesen. Er hatte seinem Vater geholfen, ein Baumhaus für sie zu bauen, und…

Ach, er war einfach immer da gewesen, wenn sie ihn gebraucht hatten. Ein richtiger großer Bruder eben, nicht nur für Mona, sondern auch für Bettina. Und dann war er irgendwann, wie Bettina richtig bemerkt hatte, ›ein toller Mann‹ geworden – aber der große Bruder war für sie stärker gewesen.

Wolf hatte sich wieder der Straße zugewandt, und Mona dachte, wie schade es war, daß Bettina nicht ihre Schwägerin werden würde. Sie verstand beim besten Willen nicht, wie man jemanden wie Jens Banter ihrem Bruder vorziehen konnte, aber so war es nun einmal.

Wolf war beruflich jetzt sehr erfolgreich, und er hatte sich in den letzten Jahren verändert, auch äußerlich. Groß, schlank und braungebrannt war er, mit vielen hellen Fältchen in den Augenwinkeln. Seine dunklen Haare waren schon immer widerspenstig gewesen und hatten sich nicht ordentlich frisieren lassen wollen – das war noch immer so.

Das Gesicht war kantiger geworden, und um den Mund hatte er einen Zug, der neu war. Was war das? fragte sie sich. Heimlicher Kummer? Oder seine anstrengende Arbeit? Aber auch das trug dazu bei, ihn interessant wirken zu lassen. Er sah einfach nicht länger wie ein unbedarfter junger Mann aus, sondern wie jemand, der schon einiges erlebt hatte.

Plötzlich war Mona sehr stolz auf ihren Bruder, und sie stellte sich neben ihn ans Fenster. »Allmählich könnten sie kommen«, meinte sie. »Sie sind ja nun schon eine ganze Weile unterwegs.«

»Bei dem Wetter brauchen sie länger«, erwiderte er. »Die Sicht ist schlecht, und die Straßen sind rutschig.«

»Ich hoffe nur«, murmelte sie, »Bettina fährt selbst.«

»Wieso?« fragte er. »Fährt ihr Freund nicht gut Auto?«

»Das schon, aber in der Regel zu schnell. Viel zu schnell.«

*

Bettina verlor die Beherrschung. »Willst du uns umbringen?« rief sie, als Jens eine weitere Kurve in viel zu hohem Tempo genommen hatte. »Ich möchte gern heil bei Mona ankommen, Jens.«

»Keine Sorge, das wirst du auch«, sagte er. »Bei Mona und bei Wolf – wolltest du wohl sagen. Denn eigentlich geht’s dir doch hauptsächlich um ein Wiedersehen mit deinem alten Verehrer, oder etwa nicht?«

Das war’s also! Er war wieder einmal eifersüchtig, deshalb hatte er sich vor der Fahrt Mut angetrunken. Wieso hatte sie das nicht gleich gewußt? Und wieso hatte sie nicht darauf bestanden, selbst zu fahren? Es war schließlich ihr Auto. Aber es war sinnlos, sich darüber jetzt den Kopf zu zerbrechen.

»Rede keinen Blödsinn«, sagte sie unwillig. »Ich habe Wolf seit Jahren nicht gesehen, und das weißt du auch. Er hat bestimmt eine Freundin, die er bald heiratet, und kann sich kaum noch an mich erinnern. Und für mich wird er immer wie ein großer Bruder sein.«

Sie war nicht sicher, ob das wirklich stimmte, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Jens gegenüber würde sie so etwas ohnehin nicht erwähnen. Er war ja sogar auf die Fliege an der Wand eifersüchtig.

»Ja, ja«, höhnte er. »Wie ein großer Bruder. Aber er war doch wahnsinnig verknallt in dich – oder hat er dir etwa keine seitenlangen Briefe geschrieben, die du immer noch aufbewahrst?«

»Ja, und?« fragte sie. »Was ist schon dabei? Hebst du keine Erinnerungen an Freundinnen von früher auf?« Manchmal ging er ihr wirklich schrecklich auf die Nerven. Wenn sie ehrlich war, sogar ziemlich oft. Er konnte auch sehr charmant sein, und dann war es schwer, ihm zu widerstehen, aber in letzter Zeit kam es ihr so vor, als sei er öfter schlecht als gut gelaunt. Und trank er nicht auch mehr als früher?

»Klar hebe ich ein paar Sachen auf«, antwortete er. »Aber nicht einen ganzen Packen von einer einzigen Freundin – so wie du das mit seinen Briefen machst. Und lesen darf ich sie auch nicht, du hast sie ja sogar eingeschlossen.«

»Es sind Briefe an mich, die gehen dich nichts an«, sagte sie abweisend.

Er trat das Gaspedal durch. »Ach ja? Sie gehen mich nichts an? Ich dachte immer, wenn man sich liebt, dann hat man keine Geheimnisse voreinander.«

»Das kann man wohl kaum als Geheimnis bezeichnen«, widersprach sie, während sie sich krampfhaft abstützte, um nicht ständig von einer Seite auf die andere zu rutschen. Die Straße war extrem kurvenreich. »Du weißt schließlich, daß es die Briefe gibt.« Aber ich weiß nicht mehr, ob ich dich wirklich liebe, dachte sie und erschrak sofort über diesen Gedanken. Dabei kam er ihr heute abend nicht zum ersten Mal.

Er antwortete nicht, denn er hatte alle Mühe, das Auto unter Kontrolle zu halten. Die letzte Kurve war schärfer gewesen, als er gedacht hatte, und der Wagen fing an zu schlingern. Bettina biß sich fest auf die Lippen, um nicht zu schreien, während Jens verzweifelt versuchte, den Wagen auf der Straße zu halten.

Und dann kam ihnen auf einmal ein Auto entgegen. Dessen Licht blendete sie, es schien direkt vor ihnen zu sein. Bettina wurde auf einmal klar, daß sie auf der falschen Seite der Fahrbahn gelandet waren. Die Hupe des anderen Wagens gellte durch die Nacht, dann riß Jens das Steuer bis zum Anschlag herum, und auf einmal rutschte das Auto völlig weg. Es schlidderte in rasendem Tempo von der Straße auf eine Böschung zu.

Wie in Zeitlupe sah Bettina Bäume und Sträucher auf sich zukommen. Längst wußte sie, daß alles zu Ende war, aber merkwürdigerweise hatte sie jetzt keine Angst mehr. Sie wollte auch nicht mehr schreien. Alles war auf einmal sehr ruhig, nichts war mehr zu hören. Der Regen schien aufgehört zu haben, und auch der Wind hatte sich wohl gelegt.

Das Auto stürzte noch immer mit atemberaubender Geschwindigkeit die Böschung hinunter und überschlug sich mehrmals. Aber davon merkte Bettina nichts mehr. Das letzte, was sie wahrnahm, war, daß die unheimliche Stille durchbrochen wurde, als etwas mit einem gräßlichen Geräusch zerbarst. Tausend Messer schnitten sie, dann flog sie davon, mitten hinein in ein tiefschwarzes Loch.

Schließlich blieb der Wagen auf dem Dach liegen, während seine Räder sich weiter drehten. Er sah aus wie ein Käfer, der auf den Rücken gefallen war und sich aus eigener Kraft nicht wieder umdrehen konnte – doch das fiel in diesem Augenblick niemandem auf, denn es war keiner da, der es hätte sehen können.

*

»Schwerer Verkehrsunfall auf einer Landstraße außerhalb der Stadt«, berichtete Oberschwester Walli knapp. »Eine junge Frau ist mit ihrem Wagen von der Fahrbahn abgekommen, das Auto hat sich mehrfach überschlagen, sie ist dabei herausgeschleudert und schwer verletzt worden. Sie hätte fast ein entgegenkommendes Fahrzeug gerammt – der Fahrer hat sofort die Polizei angerufen. Sie bringen sie mit dem Hubschrauber her, das nächstgelegene Krankenhaus ist nicht gut genug ausgerüstet.«

»Was fehlt ihr?«

»Ist nicht ganz klar. Auf jeden Fall hat sie eine schwere Gehirn­erschütterung, überall Schnittwunden, vor allem im Gesicht und an den Armen, mehrere Knochenbrüche – Rückenverletzung nicht ausgeschlossen.«

»Innere Verletzungen?«

»Auch, ja.«

»Wo ist Julia?«

Die Internistin Dr. Julia Martensen hatte zur Zeit mit Adrian Winter zusammen Dienst, und er war froh darüber. Sie waren ein eingespieltes Team, und bei einem schwierigen Fall erwies sich das als äußerst nützlich.

»Sie erwartet den Hubschrauber – zusammen mit Bea. Sie müssen eigentlich jeden Moment kommen.«

Schwester Bea war die jüngste im Team – eine ausgesprochen hübsche, ein wenig vorlaute junge Frau mit kurzen blonden Haaren. Ihre frechen Bemerkungen wurden ihr aber von den anderen in der Regel gern verziehen, weil alle ihre Ehrlichkeit und ihre uneingeschränkte Begeisterung für ihren Beruf zu schätzen wußten.

Sie hörten den Hubschrauber bereits, und wenige Minuten später wurde die angekündigte Patientin von Dr. Martensen und Schwester Bea eilends in die Notaufnahme gebracht.

Die Ärztin informierte Adrian rasch, dann begannen sie gemeinsam, die junge Frau gründlich zu untersuchen. »Eine Infusion mit Kochsalz«, kommandierte Adrian. »Außerdem Blutgruppe bestimmen, Blutkonserven bereitstellen und den OP benachrichtigen.«

Bea verschwand, während Oberschwester Walli die Infusion vorbereitete.

»Wie heißen Sie?« fragte Adrian die Patientin. Sie war noch keine dreißig, schätzte er. Eine zarte Frau mit feinen Gesichtszügen, hellblonden langen Haaren und aparten grünen Augen. Ob sie schön war, ließ sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht erkennen, denn ihr Gesicht war durch unzählige Schnittwunden entstellt, in denen zum Teil winzige Glassplitter steckten. Ansonsten war ihr Haut unnatürlich blaß, selbst der volle Mund schien blutleer zu sein.

»Bettina Wördemann«, antwortete sie mühsam.

»Frau Wördemann, tut es Ihnen irgendwo weh?« fragte er.

Sie antwortete nicht, stöhnte nur leise.

»Haben Sie Schmerzen?« wiederholte er.

»Überall…«

»Ja, ich weiß«, sagte er rasch. »Aber helfen Sie mir bitte und sagen Sie mir, wo es besonders schlimm ist. Das Gesicht tut Ihnen sicher weh…«

»Ja«, kam die leise Antwort.

»Und sonst?« drängte er, während er vorsichtig ihre Glieder abtastete.

»Der Bauch. Und… das Bein, und… die Schulter…« Sie schloß erschöpft die Augen, öffnete sie aber noch einmal. »Mein Rücken… tut auch weh.«

»Innere Verletzungen, Julia?« flüsterte Adrian.

»Die Milz hat etwas abbekommen – sie muß auf jeden Fall sofort operiert werden, Adrian. Und sonst?«

»Das Bein ist gebrochen, das Schlüsselbein ebenfalls. Der Rücken muß geröntgt werden, und wir müssen die Glassplitter entfernen, die sie überall hat.«

»Bin ich allein?« fragte die Patientin in diesem Augenblick.

Adrian beugte sich über sie. »Wie meinen Sie das, Frau Wördemann? Wir sind alle hier, Sie sind nicht allein.«

»Nein… ich… will wissen… gab es noch… andere Verletzte?«

»Zum Glück nicht«, antwortete er. »Sie sind mit Ihrem Auto von der Straße abgekommen und eine Böschung hinuntergestürzt. Niemand sonst ist zu Schaden gekommen – nur Sie.«

Sie sah aus, als wollte sie noch etwas sagen, und er wartete. Aber dann fielen ihr die Augen zu, ohne daß sie sich noch einmal geäußert hatte.

Schwester Bea kehrte zurück. »Sie müssen selbst operieren, Herr Dr. Winter«, berichtete sie. »Die Teams sind bis zum Morgen ausgebucht.«

»Hab’ ich fast erwartet«, murmelte Adrian. »Werden ja schließlich ständig neue Unfallopfer gebracht. Was für eine Höllennacht!«

»Nur Dr. Roloff steht als Anästhesist zur Verfügung«, berichtete Bea weiter.

»Wenigstens eine gute Nachricht«, sagte Adrian. Er schätzte seinen älteren Kollegen Werner Roloff sehr. »Wo ist Bernd?«

»Hier!« meldete sich der Assistenzarzt aus einer anderen Kabine, stand aber gleich darauf neben ihnen.

»Du mußt mir bei einer Operation assistieren«, ordnete Adrian an. »Hältst du hier die Stellung, Julia?«

Sie nickte. »Natürlich«, sagte sie. »Es kann sein, daß ich dir noch ein paar Patienten zum Operieren nach oben schicke – du siehst ja, wie es hier zugeht.«

»Erst fange ich mal mit der jungen Frau an«, gab Adrian zurück. »Komm, Bernd. Wir dürfen keine Zeit verlieren.«

*

»Allmählich finde ich es aber doch merkwürdig, daß sie nicht kommen«, sagte Mona und lief unruhig in ihrem Wohnzimmer hin und her. »Bettina ist sonst immer überpünktlich. Und sie hat doch noch angerufen, bevor sie losgefahren sind. So lange können sie überhaupt nicht unterwegs sein, Wolf.«

Er antwortete nicht sofort, aber sie sah seinem Gesicht an, daß auch er sich Sorgen machte. »Was können wir denn tun?« fragte er schließlich. »Hat sie ein Handy, auf dem wir versuchen können, sie zu erreichen?«

Mona schüttelte den Kopf. »Dann hätte ich das doch schon längst getan. Oder sie hätte uns benachrichtigt, um uns mitzuteilen, daß sie später kommen.«

»Ruf noch einmal bei ihr zu Hause an«, bat er. »Vielleicht sind sie umgekehrt, weil das Wetter zu schlimm war.«

»Ich habe doch vor zehn Minuten erst angerufen, Wolf«, erinnerte sie ihn. »Außerdem ist das Wetter zwar eklig, aber nun auch nicht so, daß man nicht fahren kann, wenn man vorsichtig ist. Wenn ich bloß wüßte, was wir tun sollen. Mir fällt einfach nichts Vernünftiges ein.«

»Dann warten wir noch eine Weile«, schlug Wolf vor. »Und wenn sie in einer Stunde noch nicht hier sind, fahren wir nach Berlin zu ihrer Wohnung. Vielleicht ist ihnen doch etwas dazwischengekommen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Es muß etwas passiert sein, sonst hätte sie sich gemeldet, Wolf. Du kennst doch Bettina. Sie würde nicht vergessen, uns zu benachrichtigen, schließlich weiß sie, daß wir warten.«

Das stimmte, und er widersprach seiner Schwester nicht. Er war viel beunruhigter, als er sich anmerken ließ. Die Vorstellung, Bettina könnte etwas passiert sein, war so furchtbar, daß er kaum atmen konnte, wenn er nur daran dachte.

»Dann bleibt nur noch, die Krankenhäuser der Umgebung anzurufen«, sagte er mit mühsam beherrschter Stimme. »Etwas anderes fällt mir jedenfalls nicht ein. Oder vielleicht würde uns auch die Polizei Auskunft geben.«

Sie sahen einander an. Wie weggeblasen war die Vorfreude auf den bevorstehenden Besuch. Jetzt hatten sie beide nur noch Angst, und sie versuchten nicht länger, sie voreinander zu verbergen.

*

»Achtung, Adrian«, meldete Werner Roloff, noch bevor eines der Geräte einen Warnton von sich gab. Ihm entging nicht die leiseste Veränderung im Zustand seiner Patientin. Niemand war im OP aufmerksamer als der grauhaarige, übergroß wirkende Anästhesist, und das war es, was Adrian so an ihm schätzte.

»Ein paar Minuten brauche ich noch, Werner«, murmelte Adrian Winter. »Dann kann ich den Bauch wieder schließen. Sie hat wirklich verdammt viel Blut verloren.«

»Eben«, stellte sein Kollege fest und behielt seine Patientin gewissenhaft im Auge. Bettina Wördemanns Zustand gab durchaus Anlaß zur Besorgnis. Mehr als einmal hatte Dr. Roloff schon leise Warnungen ausgestoßen, aber bisher war es ihm jedesmal gelungen, die Patientin wieder zu stabilisieren.

»Sie hat trotzdem Glück gehabt, die Verletzung hätte auch bedeutend schlimmer ausfallen können«, meinte Adrian. »Ich bin froh, daß ich die Milz retten konnte.«

»Und ich bin froh, wenn wir die Patientin retten können«, sagte Werner Roloff, der schon wieder eine der Infusionen korrigierte, weil ihm die Herztätigkeit der jungen Frau Sorgen machte.

»Natürlich retten wir sie!« sagte Adrian energisch. »Jetzt hat sie so lange durchgehalten – da schafft sie auch noch den Rest!«

Niemand antwortete ihn, und wenig später erklärte er zufrieden: »So, das hätten wir. Bernd, du kannst nähen. Ich sehe mir dann mal das Bein und die Schulter an. Und danach entfernen wir die Glassplitter und versorgen die übrigen kleinen Wunden.«

»Tut, was ihr tun müßt«, sagte Werner Roloff, »aber macht es schnell. Diese junge Frau hält nicht mehr allzuviel aus.«

Seine beiden Kollegen nickten und setzten ihre Arbeit schweigend fort.

*

Als Dr. Julia Martensen die beiden Polizeibeamten sah, die etwas zögernd die Notaufnahme betraten, ging sie ihnen entgegen und fragte höflich: »Suchen Sie jemanden? Kann ich Ihnen helfen?«

Die beiden sahen einander so ähnlich, daß sie fast sicher war, es müßten Brüder sein: beide groß und breit, in den Fünfzigern, mit runden, gutmütigen Gesichtern. Sie zückten ihre Dienstausweise, und sie stellte fest, daß sie sich geirrt hatte. Einer hieß Frentrup, der andere Baier. Also doch keine Brüder.

Der Beamte namens Baier nickte auf ihre Frage hin und antwortete: »Wir suchen Frau Wördemann – sie soll sich in dieser Klinik befinden.«

Julia stellte sich nun ihrerseits vor und sagte dann: »Es stimmt, daß Frau Wördemann hier ist – aber sie wird gerade operiert. Sie ist bei dem Unfall schwer verletzt worden. Darf ich fragen, was Sie von ihr wollen?«

»Es liegt eine Anzeige gegen sie vor – von einem Autofahrer, in dessen Wagen sie fast gerast wäre. Er hat sofort die Polizei alarmiert, als er gesehen hat, wie ihr Auto die Böschung runtergeschossen ist. Wir vermuten, daß die Frau betrunken war«, erklärte der Polizist. Sein Kollege Frentrup stand weiterhin stumm neben ihm. »Sie ist viel zu schnell gefahren, das hat der Zeuge ausgesagt, und die Spuren belegen das auch. Haben Sie eine Blutprobe genommen?«

»Sicher, wir mußten ja ihre Blutgruppe bestimmen«, antwortete die Ärztin ruhig.

»Die ist beschlagnahmt«, sagte der Polizist. »Wenn die Frau sich strafbar gemacht hat…«

Julia hatte nicht die Absicht, sich jetzt auf eine Diskussion einzulassen. »Die Blutprobe ist im Labor, und wir brauchen sie noch«, behauptete sie. »Wie ich schon sagte, ist Frau Wördemann schwer verletzt, und wir haben noch einige Laboruntersuchungen vorzunehmen.«

Sie log, dabei wußte sie selbst nicht, warum. Es wäre ohne weiteres möglich gewesen, den Alkoholgehalt des Blutes festzustellen, aber aus irgendeinem Grund hatte sie das Bedürfnis, die junge Frau zu schützen. Sie handelte ganz instinktiv, ohne länger darüber nachzudenken.

»Wenn Sie einen Straftatbestand verschleiern wollen, machen Sie sich selbst strafbar, das wissen Sie hoffentlich«, begann der Beamte drohend. Offenbar wollte er noch mehr sagen, aber er kam nicht weiter, denn überraschend machte sein Kollege jetzt den Mund auf.

»Der Alkoholgehalt im Blut muß so schnell wie möglich bestimmt werden«, sagte er ruhig. »Sorgen Sie bitte dafür, daß wir diese Untersuchung durchführen können. Wann wird Frau Wördemann vernehmungsfähig sein?«

»Frühestens morgen abend«, antwortete Julia. »Und das auch nur, wenn die Operation ohne Komplikationen verläuft.«

»Was heißt das?« erkundigte er sich. »Ist es auch möglich, daß sie… also, daß sie die Operation nicht überlebt?«

»Ja, das ist möglich.« Julia sah die beiden mit festem Blick an, bis sie begriffen hatten, daß sie hier im Augenblick nicht weiterkommen würden.

Um ihnen den Abgang zu erleichtern, sagte sie: »Entschuldigen Sie mich jetzt bitte, ich habe zu tun. Sie sehen ja selbst, was hier los ist. Oder kann ich Ihnen sonst noch irgendwie helfen?«

»Nein danke, wir kommen später wieder. Und vergessen Sie die Blutprobe nicht.« Sie drehten sich um und strebten dem Ausgang der Notaufnahme zu.

Julia konnte sich ihr Verhalten selbst nicht erklären. Wenn Bettina Wördemann getrunken hatte und durch zu schnelles Fahren nicht nur sich, sondern auch andere in Gefahr gebracht hatte, dann war es nur richtig, sie dafür zu bestrafen. Aber Julia glaubte einfach nicht, daß es so war, und das fand sie selbst erstaunlich. Schließlich kannte sie die Patientin überhaupt nicht und konnte gar nicht beurteilen, ob ihr Fahren unter Alkohol­einfluß zuzutrauen war oder nicht.

Schwester Bea kam aufgeregt angelaufen. »Bitte, kommen Sie schnell, Frau Dr. Martensen. In Kabine fünf liegt ein kleiner Junge mit einer schrecklichen Kopfverletzung.«

Sie folgte der jungen Frau, und zumindest für den Moment vergaß sie Bettina Wördemann.

*

»Also, in ihrer Wohnung sind sie nicht«, stellte Mona fest. »Da kann ich auch noch hundertmal anrufen, Wolf. Sie sind nicht da. Was machen wir jetzt? Wenn wir hier noch länger tatenlos herumsitzen, werde ich verrückt, das versichere ich dir.«

»Ich auch«, sagte er. Sein Gesicht war ernst, die Kinnmuskeln angespannt. Sie sah, daß er nachdachte, welches Vorgehen am zweckmäßigsten sei. Schließlich erklärte er: »Ich werde bei der Polizei anrufen, wahrscheinlich geht das am schnellsten. Bis wir alle Krankenhäuser in Berlin und Umgebung erreicht haben, ist die Nacht herum.«

Mona blätterte bereits im Telefonbuch und fuhr mit dem Finger die Spalten entlang, bis sie den richtigen Eintrag gefunden hatte.

Er griff nach dem Telefon, sie nannte ihm die Nummer, und er wählte sofort. Bereits nach zweimaligem Klingeln wurde am anderen Ende abgehoben, und eine müde Stimme meldete sich.

»Guten Abend«, sagte Wolf höflich, stellte sich mit vollem Namen vor und erläuterte dann genau, welche Auskunft er haben wollte und warum. Mona bewunderte ihn für die Ruhe, zu der er sich zwang. Schließlich wußte sie, wie es in ihm aussah.

Der Beamte am anderen Ende stieß einen erstickten Laut aus, dann sagte er: »Herr Mickwitz, wissen Sie eigentlich, was heute nacht hier los ist? Es tut mir leid, aber die gewünschte Auskunft kann ich Ihnen beim besten Willen nicht geben, es hat Hunderte von Unfällen gegeben heute abend, weil die Menschen sich nicht richtig auf das Wetter eingestellt haben. Außerdem dürfte ich Ihnen diese Auskunft telefonisch sowieso nicht geben, dafür haben Sie sicher Verständnis.«

»Und wenn wir vorbeikämen, meine Schwester und ich?« fragte Wolf schnell.

»Bloß nicht!« stöhnte der Polizist. »Hier herrscht totales Chaos, und Sie werden niemanden finden, der etwas Genaues weiß. Wir versuchen gerade, uns einen Überblick zu verschaffen, aber das ist sehr schwer. Unsere Wagen sind alle im Einsatz, weil die Kollegen von der Rettung jede Hilfe brauchen, die sie kriegen können. Also, gedulden Sie sich bitte noch bis morgen. Vielleicht ist ja Ihren Freunden gar nichts passiert, und die Sache klärt sich auf. Oder Sie versuchen es bei den Krankenhäusern, obwohl die eigentlich auch nur Angehörigen Auskunft erteilen dürfen.«

Resigniert legte Wolf auf.

»Was hat er gesagt?« drängte Mona, und er berichtete es ihr.

»Das heißt also«, schloß er, »wir können uns jetzt noch von zwanzig oder mehr Krankenhäusern abwimmeln lassen – oder wir warten weiter und hoffen.«

Sie schüttelte heftig den Kopf. »Das kann ich nicht, Wolf. Wir müssen Bettinas Eltern anrufen.«

»Bist du verrückt geworden? Ihre Mutter ist herzkrank, das weißt du doch! Willst du sie mitten in der Nacht anrufen und ihr sagen, daß ihre Tochter vielleicht verunglückt ist? Und dann stellte sich morgen heraus, daß es eine ganz einfache Erklärung dafür gibt, warum Bettina nicht aufgetaucht ist?«

»Du weißt genausogut wie ich, daß es keine ganz einfache Erklärung geben kann«, entgegnete Mona. »Aber du hast trotzdem recht. Es ist keine gute Idee, ihre Eltern anzurufen. Ich dachte ja auch nur, sie würden wenigstens Auskunft bekommen.«

»Komm!« sagte er mit plötzlicher Entschlossenheit. »Wir fahren trotzdem zur Polizei. Wenn wir direkt vor ihnen stehen, ist es nicht so einfach uns abzuwimmeln wie am Telefon.«

Sie nickte, froh, daß jetzt wenigstens eine Entscheidung gefallen war und sie etwas tun würden.

Fünf Minuten später saßen sie im Auto und fuhren durch die noch immer sturmgepeitschte Nacht.

*

»Das müssen Hunderte gewesen sein«, murmelte Bernd Schäfer, als er den letzten Glassplitter aus Bettina Wördemanns Haut zog. »Ich wußte überhaupt nicht, daß es soviel Glas an einem Auto gibt.«

»Sie ist aus dem Auto geschleudert worden, daran liegt es«, sagte Adrian. »Deshalb hat es auch Gesicht und Arme besonders schlimm erwischt.«

»Meinst du, sie bleibt auf Dauer entstellt?«

Adrian schüttelte den Kopf. »Das wird gut verheilen, da bin ich ziemlich sicher. Das sieht jetzt schrecklich aus, aber die meisten Wunden waren ja nicht sehr tief. Wenn es keine Entzündung gibt, wird man hinterher kaum noch etwas davon sehen. Sie kann froh sein, daß ihre Augen unverletzt geblieben sind.«

Er wandte sich dem Anästhesisten zu, während er seinen schmerzenden Rücken streckte. »Werner, das war’s jetzt. Wir sind endgültig fertig.«

»Ich hoffe, sie schafft es«, meinte Werner Roloff nach einem besorgten Blick auf das bleiche reglose Gesicht der jungen Patientin. »Die sollen auf der Intensivstation gut auf sie achtgeben – ich würde sagen, sie ist noch nicht über den Berg.«

»Sie wird es schaffen!« sagte Adrian beschwörend. »Sie ist noch so jung – und sie hat bis jetzt durchgehalten.«

Eine Schwester kam, um die Patientin auf die Intensivstation zu bringen. Müde verließ das Team den Operationssaal. »Ich danke dir, Werner«, sagte Adrian. »Und dir auch, Bernd. Es war schon schlimm genug, daß ich in einer Nacht wie dieser selbst operieren mußte. Aber wenn ich es ohne euch hätte tun müssen, wäre es noch schlimmer gewesen.«

Bernd Schäfer lächelte erfreut, und Werner Roloff klopfte Adrian freundschaftlich auf die Schulter. »Bedank dich erst, wenn sie am Leben bleibt«, bat er. »Bis später.«

»Bloß nicht«, wehrte Adrian erschrocken ab. »Ich hoffe doch, daß dies meine einzige Operation bleibt heute nacht. Julia hat mir zwar angedroht, mir noch weitere Patienten hierherzuschicken, aber bisher hat sie es ja offenbar nicht getan, sonst hätten wir schon davon gehört.«

»Wart’s ab«, riet Werner Roloff lakonisch, winkte noch einmal und verschwand.

»Ich hab’ Hunger«, ließ sich Bernd Schäfer vernehmen. »Seit Stunden hatte ich keine Pause, das hält ja der stärkste Mann nicht aus. Ich muß was essen, Adrian, sonst kann ich nicht weiterarbeiten.«

»Ich hab’ eine Banane dabei, die kannst du gerne haben«, sagte Adrian großzügig. »Jetzt gehen wir zuerst einmal und sehen, was unten los ist. Falls es einigermaßen ruhig ist, kannst du kurz etwas essen gehen.«

»Einigermaßen ruhig?« Bernd verdrehte seine Augen voller Verzweiflung zum Himmel. »Wie kann es denn in einer solchen Nacht einigermaßen ruhig sein?«

»Ja«, gab Adrian voller Bedauern zu. »Ich fürchte, deine Chancen stehen nicht gut, Bernd. Los, komm endlich!«

Kurz darauf wußte Bernd Schäfer, daß seine Chancen gleich null waren. Die Notaufnahme war völlig überfüllt, sogar auf den Gängen warteten Menschen auf Behandlung. Alle Ärzte und Schwestern rannten mit gehetzten Blicken von einem Patienten zum nächsten, und Adrian und Bernd wurden von Julia Martensen mit dem erleichterten Ausruf empfangen: »Na endlich, ihr könnt gleich ein paar Patienten übernehmen.«

Bernd Schäfers Hoffnung auf eine Mahlzeit entschwand in weite Ferne, aber er fügte sich in sein Schicksal.

*

»Sie sind also doch hergekommen«, stellte der Beamte mißmutig fest, als Wolf seinen und Monas Namen genannt hatte. Es war derjenige, mit dem Wolf zuvor schon telefoniert hatte.

»Wir wußten nicht, was wir sonst tun sollten«, erwiderte Mona, und Wolf erklärte: »Frau Wördemanns Eltern wohnen nicht in Berlin, sie wissen überhaupt nicht, daß ihrer Tochter eventuell etwas passiert ist. Ihre Mutter ist herzkrank, verstehen Sie? Man kann ihr eine solche Nachricht nicht einfach am Telefon zumuten. Wir sind Bettinas beste Freunde und wollen doch nur wissen, ob sie in einen Unfall verwickelt war.«

»Und der Mann?« erkundigte sich der Beamte. »Sie haben gesagt, daß sie zu zweit waren.«

Jetzt antwortete Mona. »Das waren sie auch, allerdings kennen wir Bettina viel besser als ihren Freund. Aber das spielt doch keine Rolle, oder? Wenn es einen Unfall gegeben hat, sind sie ohnehin beide betroffen.«

»Warten Sie hier«, sagte der Beamte, nachdem er einige Sekunden nachgedacht hatte. Er stand auf und verließ seinen Platz.

Er hatte am Telefon nicht übertrieben – auf dem Revier herrschte wirklich Chaos. Überall klingelten Telefone, aufgeregte Menschen schrien kurze Sätze, und alles rannte durcheinander. Es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Die anwesenden Polizisten sahen sämtlich völlig erschöpft und übermüdet aus, sie hatten tiefe Ringe unter den Augen und waren offensichtlich am Ende ihrer Kraft. Aber die Nacht war noch längst nicht zu Ende, und unablässig schien es neue Unglücksmeldungen zu geben.

»Hoffentlich kommt er überhaupt wieder«, murmelte Mona. »Das geht hier ja zu wie im Irrenhaus. Bin ich froh, daß ich hier nicht arbeiten muß.«

Wolf nickte. »Ja, geht mir auch so. Bei uns ist es auch oft hektisch, aber das hier…« Sie warteten, und die Zeit kam ihnen endlos vor. Aber schließlich kehrte der Beamte doch zurück.

Er nahm umständlich wieder Platz, dann blickte er auf und sah sie einen Augenblick lang forschend an, bevor er sprach. »Frau Wördemann hatte einen Unfall – aber sie war allein. Sie ist viel zu schnell gefahren und hat nur knapp ein entgegenkommendes Fahrzeug verfehlt. Niemand war bei ihr. Das immerhin habe ich herausbekommen.«

»Und was ist mit ihr?« fragte Wolf, der auf einmal ganz blaß geworden war. »Ist sie schwer verletzt? Wo ist sie jetzt? Und wo ist das passiert?« Er merkte gar nicht, daß er viel zu viele Fragen auf einmal stellte, die der Beamte so schnell gar nicht beantworten konnte. Er fing daher mit der letzten Frage an und beschrieb ihnen die Unfallstelle.

Mona rief aus: »Das ist ja schon fast bei mir! Höchstens zehn Minuten hätten sie noch zu fahren gehabt.«

»Sie ist zu schnell gefahren und dann von der Fahrbahn abgekommen. Das Auto hat sich überschlagen, sie ist herausgeschleudert worden, und sie kann von Glück sagen, daß der Mann in dem entgegenkommenden Wagen die Polizei gerufen hat, sonst hätte man sie sicher zu spät gefunden. Man hat sie dann mit einem Hubschrauber nach Berlin gebracht – hier draußen sind die Krankenhäuser nicht entsprechend ausgerüstet.«

»Was heißt das?« fragte Wolf mit rauher Stimme. »Nicht entsprechend ausgerüstet? Das bedeutet, sie ist schwer verletzt, oder?«

»Ja, das bedeutet es. Mehr kann ich Ihnen leider nicht sagen, das ist alles, was ich weiß. Tut mir wirklich leid.«

»Und in welchem Krankenhaus liegt sie?« fragte Mona.

»Das konnte mir niemand sagen. Ich nehme an, der Hubschrauber hat sich erkundigt, wo man sie aufnehmen kann, und ist dann dahin geflogen, wo Kapazität frei war.«

»Aber…«, stammelte Mona. »Wie erfahren wir denn jetzt, wo sie liegt?«

Der Polizist zuckte mit den Schultern und wies auf das Durcheinander, das ringsherum herrschte. »Ich kann Ihnen wirklich nicht mehr helfen, ich habe mich schon viel zu lange mit Ihnen aufgehalten. Rufen Sie in den Krankenhäusern an, dort wird man Ihnen am ehesten Auskunft geben können. Aber wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Warten Sie bis morgen früh. Sie haben zur Zeit keine Chance. Es geht überall so zu wie bei uns.«

»Danke«, sagte Wolf mechanisch und nahm Monas Arm. »Vielen Dank für Ihre Mühe.«

Der Beamte nickte nur, denn im selben Augenblick klingelte sein Telefon erneut, und er mußte sich bereits mit dem nächsten Problem beschäftigen.

Als sie wieder im Auto saßen, fing Mona bitterlich an zu weinen, während Wolfs Gesicht maskenhaft starr geworden war.

»Und was machen wir jetzt?« fragte Mona schließlich.

»Die Krankenhäuser abklappern, wie er gesagt hat«, antwortete Wolf. »Telefonisch natürlich – alles andere würde zu lange dauern.«

Er ließ den Wagen an und fuhr zurück zu Monas Wohnung. Der Wind war etwas schwächer geworden, aber es regnete immer noch, so daß er sehr langsam fuhr, weil seine Sicht stark eingeschränkt war. Nach einigen Metern warf er seiner Schwester einen kurzen Blick zu und fragte: »Bist du ganz sicher, daß sie zu zweit losfahren wollten?«

»Ja, natürlich bin ich sicher«, antwortete Mona schluchzend. »Er war in der Nähe, als sie telefoniert hat, ich habe ihn gehört. Sie hat gesagt: Wir fahren jetzt, Mona. Bis in einer Stunde ungefähr.«

»Kannst du mir dann mal erklären«, fragte er bedächtig, »wo er jetzt ist?«

Mona hörte auf zu weinen. In ihrem Kummer um Bettina hatte sie noch gar nicht an Jens gedacht. Er lag ihr nicht besonders am Herzen – was natürlich nicht bedeutete, daß sie ihm Böses wünschte. Sie hatte ihn schlicht vergessen. »Wie meinst du das?« fragte sie.

»Sie saß allein im Auto, hat der Beamte gesagt, das hast du doch gehört. Wieso war er nicht bei ihr?«

Mona schüttelte den Kopf. »Das weiß ich doch nicht, Wolf. Aber wahrscheinlich ist das ein Irrtum. Du hast das Chaos doch gesehen – es wird irgendein Mißverständnis gewesen sein. Wahrscheinlich haben sie Jens ins gleiche Krankenhaus gebracht wie Bettina.«

Wolf fragte nicht weiter. Es war immerhin eine Möglichkeit. Jetzt war sowieso zunächst nur wichtig, daß sie herausfanden, was Bettina passiert war. Die Angst um sie schnürte ihm fast die Kehle zu, und er wußte nun, daß seine Versuche in den letzten Jahren, Bettina zu vergessen, völlig vergeblich gewesen waren. Er liebte sie nach wie vor, daran hatten auch die größten Entfernungen nichts zu ändern vermocht.

*

Es war schon spät, als der Patientenzustrom endlich nachließ und ein wenig Ruhe in der Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik einkehrte. Bald würde der Morgen heraufdämmern. Es war eine sehr harte Nacht gewesen, und sie war noch nicht vorüber. Aber immerhin, das Schlimmste schien überstanden zu sein.

Adrian Winter versuchte, sich mit einem sehr schwarzen Kaffee wieder munter zu machen. Er hatte nach der Operation an Bettina Wördemann pausenlos Patienten versorgt, und nun gönnte er sich zum ersten Mal seit Stunden eine kurze Pause.

Julia Martensen tauchte neben ihm auf. »Hier bist du«, sagte sie und griff ebenfalls zum Kaffee. Sie sah aus wie immer. Adrian wunderte sich insgeheim darüber. Schließlich war sie deutlich älter als er – wie hielt sie das nur durch? Aber sie war für eine Frau, die sich den Fünfzig näherte, ohnehin erstaunlich fit, fand er. Fit und attraktiv.

»Hast du mich gesucht?« fragte er.

Sie nickte. »Die Polizei war hier wegen Bettina Wördemann, das wollte ich dir erzählen.«

»Sie wollen sicher den Unfall zu Protokoll nehmen«, meinte er gleichmütig. »Da müssen sie leider noch ein bißchen warten, sie werden frühestens heute abend mit ihr reden können.«

»Das habe ich ihnen auch gesagt. Es ging aber nicht nur um ein Unfallprotokoll, Adrian.«

»Nein?« Er hob erstaunt die Augenbrauen. »Worum sonst?«

»Sie vermuten, daß Frau Wördemann betrunken war. Sie muß viel zu schnell gefahren sein, und sie ist fast in ein anderes Auto gerast. Es ist bereits Anzeige gegen sie erstattet worden.«

»War sie betrunken?« fragte er stirnrunzelnd. »Nach Alkohol gerochen hat sie jedenfalls nicht.«

»Ich weiß es nicht, es mußte ja alles so schnell gehen, daß wir das nicht getestet haben.« Sie erzählte ihn, was sie den Polizisten gesagt hatte. Seine Überraschung war so groß, daß sie verlegen wurde. »Warum siehst du mich denn so an?« fragte sie abwehrend.

»Du hast die Staatsbeamten an der Nase herumgeführt, Julia«, stellte er fest und sah sie prüfend an. »Warum hast du das mit dem Alkohol im Blut nicht überprüfen lassen?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es auch nicht. Sie haben mich einfach überrumpelt – die Frau lag gerade auf dem Operationstisch, da kamen sie schon an.«

»Das ist ihr Job. Erstaunlich, daß sie in einer Nacht wie dieser überhaupt so schnell hier waren«, meinte er nachdenklich.

»Ich lasse das mit dem Alkohol überprüfen«, versprach sie. »Aber ich bin überzeugt, wir werden nichts finden.«

»Du erstaunst mich, Julia«, sagte Adrian. »Bist du nicht diejenige, die sich sonst immer unbedingt an Fakten hält? Und jetzt eine solche intuitive Entscheidung – wie darf ich das verstehen?«

»Daß ich alt und sentimental werde«, antwortete sie knapp.

Im ersten Augenblick dachte er, sie hätte einen Scherz gemacht, doch schnell merkte er, daß das nicht so war. Er stellte seine leere Kaffeetasse ab, trat zu ihr und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Na und?« fragte er voller Sympathie. »Älter werden wir alle, daran ist nun einmal nichts zu ändern. Aber ich habe vorhin noch gedacht, daß du eine der attraktivsten Frauen von knapp vierzig bist, die ich kenne.«

Das brachte sie zum Lachen. »Danke für das Kompliment, Adrian. Normalerweise habe ich für diesen Jugendwahn ja nicht viel übrig, das weißt du. Aber manchmal, wenn ich die jungen Frauen sehe und daran denke, daß ich bald fünfzig werde, da bekomme ich so eine merkwürdige Panik…«

Noch nie hatte sie so mit ihm gesprochen, und noch nie hatte er sich ihr so nahe gefühlt. Julia Martensen war eine eher kühle Frau, die ihren Mitmenschen nur selten einen Blick in ihr Herz erlaubte. Der einzige, dachte Adrian, den sie etwas näher hatte herankommen lassen, war Werner Roloff. Der Anästhesist mochte sie, wie Adrian wußte, ebenfalls sehr gern. Aber er war ja mit dieser verrückten Opernsängerin verheiratet.

»Die Panik vergeht wieder«, meinte er tröstend. »Du weißt doch, daß sie einen in regelmäßigen Abständen überfällt. Als ich dreißig wurde, habe ich auch gedacht, daß ab sofort alles anders wird. Und was war? Es hat sich überhaupt nichts verändert. Du glaubst doch wohl nicht, daß eine Fünf am Anfang einen Unterschied ausmacht? Außerdem hast du noch ein paar Jahre Zeit bis dahin.«

»Zwei«, stellte sie fest, aber sie lächelte schon wieder.

»Laß uns noch einmal über Bettina Wördemann reden«, bat er. »Du glaubst, sie hat nicht getrunken?«

»Das nehme ich an, aber wie gesagt, wir werden ihr Blut darauf untersuchen.«

»Aber warum ist sie dann gerast wie eine Verrückte?« fragte er. »Das haben sie doch gesagt, oder? Daß sie viel zu schnell gefahren ist und deshalb von der Fahrbahn abgekommen ist.«

»Ja, das haben sie gesagt. Es gibt einen Zeugen dafür – diesen Autofahrer, der ihr entgegengekommen ist. Er hat gebremst und noch gesehen, wie sie quer über die Straße geschossen ist. Zum Glück hat er gleich die Polizei alarmiert.«

»Meinst du, sie hat sich umbringen wollen?«

»Ich weiß es nicht, Adrian. Aber ich habe ein merkwürdiges Gefühl bei der Sache. So ein Gefühl, als wenn etwas nicht stimmt. Mehr kann ich dir dazu nicht sagen.«

»Wann kommen die Polizisten wieder?«

»Keine Ahnung. Aber da ich ihnen gesagt habe, daß sie vor dem Abend sicher nicht mit ihr sprechen können, haben sie eigentlich keinen Grund, vorher zu kommen.«

»Ruf doch gleich mal im Labor an«, bat er. »Es interessiert mich, was bei der Blutuntersuchung herauskommt. Und weißt du was?«

Sie sah ihn fragend an.

»Ich glaube, du hast recht mit deinem komischen Gefühl. Das hat überhaupt nichts mit Alter und Sentimentalität zu tun.«

Sie lächelte, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuß auf die Wange. »Danke, Adrian. Du bist ein guter Freund.«

»Und wer küßt mich?« erkundigte sich Bernd Schäfer und ließ seine Augen aufmerksam zwischen ihnen hin und her wandern.

»Ich«, antwortete Julia freundlich und ließ dieser Ankündigung sofort die Tat folgen. Dann verließ sie das Zimmer so energiegeladen, wie man das von ihr kannte.

»Eine tolle Frau«, schwärmte Bernd voller Bewunderung. »Ein bißchen zu alt für mich, aber…«

»Halt den Mund, Bernd«, sagte Adrian schmunzelnd. »Und komm mit. Wir haben noch immer jede Menge Arbeit.«

*

»Laß uns aufhören«, sagte Mona erschöpft. »Das hat keinen Sinn, Wolf, wir werden heute nacht von niemandem eine Auskunft bekommen. Du hörst es doch: Chaos in jedem Berliner Krankenhaus.«

Aber Wolf schüttelte verbissen den Kopf und wählte bereits die nächste Nummer. Als sich jemand am anderen Ende der Leitung meldete, erklärte er, was er wollte, und bekam die Antwort, die er sich schon seit Stunden anhörte: »Versuchen Sie es bitte morgen früh wieder, Herr Mickwitz. Wir haben so viele Neuzugänge gehabt in den letzten Stunden, daß wir im Augenblick keine Auskunft geben können. Es tut mir leid, aber Sie müssen sich gedulden.« Die Stimme, die das sagte, klang sehr müde. Wahrscheinlich hatte sie diese Auskunft schon unzählige Male gegeben in dieser Nacht. Dann wurde aufgelegt.

»Und?« fragte Mona.

»Wieder nichts«, antwortete Wolf trübe. »Es ist zum Verzweifeln, Mona.«

»Wir hören jetzt auf«, sagte sie energisch, »und versuchen, wenigstens noch ein bißchen Schlaf zu bekommen. Morgen früh machen wir weiter. Das bringt doch nichts, Wolf. Wir machen uns hier nur verrückt – und es hilft niemandem.«

Sie hatte recht, und er wußte es. Er wußte aber auch, daß er jetzt nicht würde schlafen können. »Ich kann nicht schlafen, Mona. Wenn ich mir vorstelle, daß Bettina…« Aber er sprach es nicht aus.

»Laß uns schlafen gehen«, wiederholte sie drängend. »Ehrlich, Wolf, ich kann nicht mehr. Obwohl ich mir schreckliche Sorgen um Bettina mache, aber wir helfen ihr nicht dadurch, daß wir die ganze Nacht vergeblich telefonieren.«

»Ja, ich weiß«, sagte er leise.

Sie erhob sich und fing an, das Sofa auszuziehen, auf dem er schlief. Er hätte ihr sagen können, daß sie sich die Mühe nicht machen mußte, denn er würde kein Auge zutun in dieser entsetzlichen Nacht, aber er ließ es sein. Er würde sich ausstrecken und seine schmerzenden Glieder entspannen. Wenigstens das.

Und vielleicht schlief zumindest Mona noch ein paar Stunden. Er hatte kein Recht, sie davon abzuhalten. Es war seine Angst, seine Verzweiflung, und damit mußte er selbst fertigwerden. Sie konnte ihm nicht helfen. Er wußte, daß auch Mona Angst um Bettina hatte, aber sie ging anders damit um. Seine Schwester war eine Optimistin, sie rechnete immer damit, daß sich alles zum Guten wenden würde.

Er selbst tat das normalerweise auch – nur dann nicht, wenn es um Bettina ging. Dann beherrschten ihn Ängste, die völlig irrational waren. Aus ihnen beiden würde niemals ein Paar werden, das wußte er. Und vielleicht war ja die jetzige Situation gerade deshalb besonders schlimm. Wenn er nur hätte für sie dasein dürfen!

Ich bin verrückt, dachte er. Ich glaube allen Ernstes, daß kein anderer Mann sie so lieben kann wie ich. Aber obwohl er die Anmaßung erkannte, die darin lag, war er tatsächlich davon überzeugt.

»Versuch zu schlafen«, sagte Mona, gab ihm einen Kuß und verschwand in ihrem Schlafzimmer.

Er zog sich aus und legte sich hin. Bettina, wo bist du? dachte er. Und dann merkte er verwundert, daß ihm die Augen zufielen und sich seine Gedanken verirrten. Wenige Minuten später war er fest eingeschlafen.

*

»Wie geht’s ihr?« fragte Adrian den diensthabenden Arzt auf der Intensivstation leise, als er am frühen Morgen noch einmal nach Bettina Wördemann sehen wollte.

»Es geht, wir machen uns noch immer Sorgen um sie. Das Herz will noch nicht so richtig«, antwortete der Kollege.

»Ist sie schon einmal wach gewesen?«

»Nein, bisher nicht.«

»Dann warte ich noch ein bißchen, wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte Adrian. »Ich wäre ruhiger, wenn ich ein paar Sätze mit ihr gesprochen hätte.«

»Können Sie denn die Notaufnahme so lange allein lassen?«

»Mein Dienst ist zu Ende«, erklärte Adrian. »Wir hatten eine furchtbare Nacht, aber jetzt ist es ruhig unten.«

»Es war überall furchtbar«, erwiderte sein Kollege. »Sie sehen ja, wir sind auch voll belegt hier – so voll ist es auf der Intensivstation schon lange nicht mehr gewesen.« Er wandte sich zum Gehen. »Bis später, Herr Winter.«

Adrian nickte nur. Er betrachtete das zerschundene Gesicht der Patientin und dachte über sein Gespräch mit Julia Martensen nach. Sie hatte recht gehabt: Die Blutuntersuchung hatte ergeben, daß Bettina Wördemann keinen Tropfen Alkohol getrunken hatte. Aber aus welchem Grund war sie dann in dieser stürmischen Nacht wie eine Verrückte gefahren? Das war die Frage, auf die er sehr gern eine Antwort gewußt hätte.

Sie bewegte ihren Kopf ein wenig, die Hände zuckten unruhig.

Er berührte ihren Arm und sagte leise: »Frau Wördemann? Frau Wördemann!«

Die Augenlider flatterten, doch sie hoben sich nicht. Er lehnte sich zurück und wartete weiter. Irgendwann war er wohl auch für ein paar Minuten eingeschlafen, denn plötzlich schreckte er auf und stellte fest, daß über eine halbe Stunde vergangen war, seit er zuletzt auf die Uhr gesehen hatte.

Die Patientin lag da wie vorher, aber ihre Lider flatterten auch jetzt. »Frau Wördemann!« sagte er. »Ich glaube, Sie können mich hören.«

»Ja«, antwortete sie, doch ihre Augen waren noch geschlossen.

Er griff nach ihrer Hand und sagte: »Das ist gut. Wollen Sie mich nicht ansehen? Ich bin Dr. Adrian Winter und sitze schon ziemlich lange an Ihrem Bett.«

Tatsächlich öffnete sie die Augen, und unwillkürlich dachte er: Was für eine wunderbare Farbe! Sie waren grün, das hatte er bereits in der Notaufnahme festgestellt, als sie eingeliefert worden war. Aber er hatte nicht bemerkt, wie intensiv dieses Grün war. Er konnte sich nicht erinnern, jemals Augen gesehen zu haben, die eine solche Farbe hatten.

»Wer?« fragte sie mit schwacher Stimme.

»Dr. Adrian Winter«, antwortete er. »Ich bin Chirurg in der Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik. Sie hatten einen Unfall, können Sie sich daran erinnern?«

»Nein«, sagte sie. »Wo?«

Er erklärte es ihr, und sie schien nachzudenken. Da er auf eine Erklärung hoffte, fügte er hinzu: »Sie sind offenbar viel zu schnell gefahren – und das bei diesem schrecklichen Wetter. Wissen Sie das auch nicht mehr?«

Ihr Gesichtsausdruck war jetzt sehr konzentriert, das Nachdenken fiel ihr schwer. Kein Wunder, dachte Adrian, das waren die Nachwirkungen der Narkose. Sie würde ziemlich schnell wieder einschlafen.

»Ich bin gefahren?« fragte sie unsicher.

»Ja, das sind Sie«, antwortete er und wunderte sich. Das mußte sie eigentlich noch wissen. Bei retrograder Amnesie erinnerten sich die Patienten bis zum Zeitpunkt des Unfalls an alles – dann erst gab es den ›Filmriß‹. Wieso war das bei Frau Wördemann anders?

»Sie waren allein im Auto«, erklärte er noch einmal. »Als sich der Wagen überschlagen hat, sind Sie herausgeschleudert worden.«

Wieder dachte sie nach und fragte dann: »Wurden noch andere verletzt?«

»Sie meinen, ob in den Unfall noch andere Autos verwickelt waren?« fragte er.

Sie antwortete nicht, sondern sah ihn nur an. Er hielt das für die Bestätigung, daß sie danach gefragt hatte. »Nein, nur Sie«, antwortete er. »Sie sind allerdings nur knapp an einem anderen Wagen vorbeigerast, der Ihnen entgegenkam. Wir haben uns gefragt, warum Sie so schnell gefahren sind. Sie wußten doch sicher, wie gefährlich das war.«

Wieder wartete er, und dann fiel ihm plötzlich auf, daß es schon das zweite Mal war, daß sie fragte, ob noch jemand verletzt worden sei.

»Ich bin so müde«, murmelte sie und schlief wieder ein. Nachdenklich betrachtete er sie. Vielleicht hatte es nichts zu bedeuten, daß sie diese Frage zweimal gestellt hatte. Es sprach sogar für sie, daß sie wissen wollte, ob ihre Raserei Opfer gefordert hatte. Es konnte aber auch sein, daß etwas anderes dahintersteckte.

Er würde Julia davon erzählen. Sie hatte schließlich als erste von einem merkwürdigen Gefühl gesprochen. Er blieb noch ein paar Minuten an Bettina Wördemanns Bett sitzen, dann stand er auf und verließ das Zimmer. Er mußte dringend ein paar Stunden schlafen, falls auch die folgende Nacht so anstrengend werden sollte wie die vergangene.

Doch bevor er ging, machte er sich auf die Suche nach dem Stationsarzt. Als er ihn gefunden hatte, sagte er: »Sie ist kurz aufgewacht.«

»Gut«, erwiderte der andere. »Dann gehen Sie also jetzt nach Hause.«

»Ja, aber ich wollte Ihnen noch mitteilen, daß vermutlich die Polizei kommen wird, um mit Frau Wördemann zu sprechen. Sie können den Beamten sagen, daß wir die Blutprobe untersucht haben. Keinerlei Alkohol. Null Prozent.«

»Das werden sie überprüfen wollen.«

»Können sie gern machen«, sagte Adrian, »wenn sie uns nicht glauben. Auf Wiedersehen.«

»Schlafen Sie gut, Herr Winter.«

»Ganz bestimmt«, versicherte Adrian und eilte davon.

*

Als Jens Banter bei seinem Freund Michael Kestner klingelte, war es früher Morgen. Es dauerte ziemlich lange, bis ihm geöffnet wurde. Michael, ein großer Blonder mit langen Haaren, war nackt bis auf ein Handtuch, das er sich um die Hüfte geschlungen hatte. »Verdammt noch mal, was ist denn los?« knurrte er und erkannte erst dann, wer vor seiner Tür stand.

»Jens!« rief er. »Wie siehst du denn aus?«

Die Frage war berechtigt, denn Jens war von oben bis unten verdreckt. Außerdem blutete er aus einer Wunde am Kopf, das verlieh seinem Aussehen zusätzlich etwas Dramatisches.

Daß er so dreckig war, war kein Wunder, aber das konnte Michael nicht wissen. Schließlich hatte Jens bei strömendem Regen aus einem umgekippten Auto klettern müssen. Wie durch ein Wunder war er fast völlig unverletzt geblieben bei dem Unfall, wenn man von der Kopfwunde einmal absah. Aber er war, als er das Auto endlich verlassen hatte, mehrfach hingefallen und sah entsprechend aus. Er konnte von Glück sprechen, daß er nach langem Warten jemanden gefunden hatte, der bereit gewesen war, ihn mit nach Berlin zu nehmen. Dem Mann hatte er eine abenteuerliche Geschichte erzählt, die dieser offenbar geglaubt hatte.

Zuvor war Jens allerdings ein paar Kilometer zu Fuß gelaufen, um sich weit genug von der Unfallstelle zu entfernen. Schließlich wollte er damit nicht in Verbindung gebracht werden.

Bettina war aus dem Auto geschleudert worden, sie hatte sich nicht mehr bewegt, als er sich über sie gebeugt hatte. Er war sicher, daß er ihr ohnehin nicht mehr hätte helfen können. Warum also hätte er an Ort und Stelle bleiben sollen? Ihr schadete es nicht mehr, wenn er versuchte, seine eigene Haut zu retten.

Mittlerweile war er fast wieder nüchtern, aber doch noch nicht ganz. »Laß mich ’rein!« bat er. »Ich erklär’s dir dann.«

Michael nickte, ließ ihn eintreten und sagte: »Aber zieh die Klamotten sofort aus und versau mir nicht die ganze Wohnung. Am besten gehst du ins Bad. Ich koch sofort Kaffee, du siehst aus, als könntest du einen brauchen. Und ich brauch’ auch einen.«

Jens nickte nur und schlurfte ins Bad. Dort ließ er seine dreckigen Sachen auf einen Haufen fallen und stellte sich unter die heiße Dusche. Anschließend begutachtete er die Wunde an seinem Kopf und beschloß, daß ein Pflaster genügen würde. Er zog einen von Michaels Bademänteln an und ging in die Küche.

Sein Freund saß schon am Tisch und schlürfte seinen Kaffee. »Also?« fragte er. »Was ist passiert? Hattest du ’ne Schlägerei?«

»Nee, ’n Unfall«, antwortete Jens unwillig. Sein markantes Gesicht hatte einen verkniffenen Ausdruck. Am besten wäre es sicher, wenn er die Geschichte niemandem erzählte. Andererseits brannte er darauf, sie loszuwerden. Je nüchterner er wurde, desto klarer wurde ihm, daß er vielleicht etwas falsch gemacht hatte.

Was er dringend brauchte, war jemand, der ihn beruhigte und auf seiner Seite stand. Michael war ein guter Kumpel. Er würde ihm auf die Schulter klopfen und sagen: »Was solltest du anderes tun? Das war schon richtig so, du hättest ja doch nichts mehr ändern können.«

Zögernd begann er zu erzählen, wobei er es vermied, den Freund anzusehen. Es war sehr still in der Küche, als er seinen Bericht beendet hatte.

»Bist du völlig verrückt geworden?« polterte Michael los. »Du fährst besoffen Auto, baust einen Unfall, bei dem deine Freundin ums Leben gekommen ist, und haust einfach ab? Was hast du dir denn dabei gedacht?«

Das war überhaupt nicht das, was Jens hatte hören wollen, und er begann sofort, sich heftig zu verteidigen. »Was sollte ich denn machen, Mike? Bettina konnte ich nicht helfen, das war klar. Sollte ich dort sitzenbleiben und auf die Polizei warten? Die hätten mich gleich festgenommen – und dann? Das hätte Bettina auch nicht wieder…« Unvermittelt brach er ab. Jetzt erst wurde ihm bewußt, daß er den Tod seiner Freundin verschuldet hatte. Er hatte Bettina getötet!

Bleich starrte er in seine Kaffeetasse. »Verdammt!« murmelte er. »Mußt du es mir noch schwerer machen, als es sowieso schon ist?«

»Du hast dich strafbar gemacht, Jens«, sagte Michael mit erzwungener Ruhe. »Das ist Fahrerflucht – und ich wette, die Umstände, unter denen du abgehauen bist, machen das Ganze nur noch schlimmer. Was hast du dir denn gedacht, wie das jetzt weitergeht? Irgendwer wird aussagen, daß sie nicht allein im Auto war.«

»Uns hat niemand gesehen!« begehrte Jens auf.

»Wo wolltet ihr denn hin?«

»Zu ihrer Freundin Mona – übers Wochenende«, antwortete Jens.

»Und die wußte nicht, daß ihr zu zweit kommen wolltet?« fragte sein Freund.

»Doch«, gab Jens zu, »aber ich kann sagen, daß wir uns gestritten haben und ich deshalb zu Hause geblieben bin. Das kann niemand nachprüfen.«

»Dann sieh zu, daß du schleunigst nach Hause kommst – da wird nämlich ziemlich bald die Polizei auftauchen, schätze ich. Wenn sie nicht schon da ist. Und dann überleg dir mal eine gute Erklärung für deine Kopfwunde.«

Jens kämpfte mit aufsteigender Panik. »Ich gehe nicht nach Hause!« sagte er. »Kann ich nicht hierbleiben, Mike? Ich kann doch gestern zu dir gekommen sein. Wir haben den Abend zusammen verbracht, und ich habe hier geschlafen. Mensch, du bist mein bester Freund…«

»Aber ich bin nicht dazu da, um dir ein falsches Alibi zu verschaffen«, erklärte Michael so erregt, daß Jens jegliche Hoffnung auf seine Unterstützung aufgab. »Was glaubst du eigentlich, worum es hier geht? Du hast dich strafbar gemacht, und das in mehr als einer Hinsicht. Und du hast deine Freundin auf dem Gewissen – macht dir das überhaupt nichts aus? Was bist du denn für ein Mensch?«

Jens war unter den Vorwürfen zusammengesackt wie ein Häufchen Elend. »Aber es hilft doch jetzt niemandem mehr, wenn ich mich stelle«, sagte er kläglich. »Nur ist mein Leben dann auch noch kaputt. Willst du das?«

Michael beantwortete diese Frage nicht. »Hast du dich überzeugt, daß Bettina wirklich tot ist?« fragte er. »Oder hast du dich vielleicht auch noch wegen unterlassener Hilfeleistung schuldig gemacht?«

Er konnte sich nicht mehr genau daran erinnern, aber das hätte Jens nie im Leben zugegeben. Er war zu ihr gestolpert, hatte ihren Namen gerufen und sie angefaßt. Sie hatte nicht geantwortet, und ihr Körper war so weich und nachgiebig gewesen, daß er in Panik davongerannt war. Sie hatte nicht mehr gelebt – ganz sicher nicht.

»Sie war tot!« sagte er so heftig, daß sein Freund auf weitere Nachfragen verzichtete.

Plötzlich fing Jens an zu weinen. Er schämte sich seiner Tränen, aber er schaffte es nicht, sie zurückzuhalten. Je mehr der Alkoholnebel in seinem Kopf verflog, desto klarer wurde ihm, wie groß die Tragödie dieser Nacht war. So groß, daß sie sein ganzes weiteres Leben überschatten würde.

Michael hatte Jens beobachtet und festgestellt, daß er offenbar allmählich begriff, was geschehen war. Vielleicht war er so betrunken gewesen, daß sich das strafmildernd auswirken würde. Denn bestraft werden würde er, daran bestand kein Zweifel. Es sei denn, er entzog sich tatsächlich einem Prozeß, indem er log. Und wollte er selbst derjenige sein, der über seinen Freund zu Gericht saß?

»Ich gebe dir kein falsches Alibi«, wiederholte er. »Aber vielleicht bin ich bereit zu vergessen, was ich weiß. Wenn du sofort von hier verschwindest, halte ich meinen Mund. Aber versuch ja nicht, mich noch einmal in diese Sache mit hineinzuziehen, Jens. Ich mache mich schon strafbar dadurch, daß ich dich nicht verrate, das weißt du ganz genau.«

»Du schickst mich also weg.« Jens machte ein Gesicht wie ein geprügelter Hund, aber Michael blieb hart.

»Ja«, sagte er entschieden. »Ich schicke dich weg. Und erzähl mir bloß nicht, wohin du als nächstes gehst. Ich will es nämlich ganz bestimmt nicht wissen.«

*

Wolf schlief nicht sehr lange, bevor er wieder aufwachte. Zunächst hatte er Schwierigkeiten, sich zu orientieren, dann fiel ihm ein, daß er bei Mona war. Sie hatten auf Besuch gewartet – und dann war er mit einem Mal hellwach. Bettina war verunglückt, und noch immer wußte er nicht, was ihr passiert war. Wie schwer waren ihre Verletzungen? Hatte sie die Nacht überlebt?

Ganz ruhig lag er in seinem Bett, während er auf die ungewohnten Geräusche um sich herum lauschte. In der Küche summte leise der Kühlschrank, eine Holzdiele knackte, in einer Wasserleitung gurgelte es. Draußen war es ruhiger geworden, aber der Regen rauschte immer noch mächtig.

Er blieb liegen und versuchte nachzudenken. Er wollte so schnell wie möglich wissen, was mit Bettina war, und das bedeutete, er mußte erneut bei den Krankenhäusern anrufen. Er hatte bereits eine Liste gemacht und auch angekreuzt, wo er schon überall versucht hatte, aber das war ja bisher ergebnislos gewesen. Niemand hatte ihm definitiv sagen können, daß Bettina nicht eingeliefert worden war.

Er sah auf die Uhr, es war halb sechs Uhr morgens. Ob es Sinn hatte, es jetzt schon zu probieren? Oder fand gerade der Schichtwechsel statt? Er wußte es nicht. Aber dann kam ihm die Idee, noch einmal das Polizeirevier anzurufen. Vielleicht hatten sie eine Möglichkeit, den Hubschrauberpiloten ausfindig zu machen. Der würde ja wissen, wohin er geflogen war.

Es sei denn, dachte Wolf resignierend, seine Einsätze waren so zahlreich, daß er sich nicht an Einzelfälle erinnern kann. Normalerweise hätte man ihn schon gestern abend fragen sollen, aber das Durcheinander war einfach zu groß gewesen.

Leise stand er auf. Er ging in den Flur und lauschte, aber von Mona war nichts zu hören, sie war also offenbar wirklich eingeschlafen. Er schlich zurück und schloß die Tür hinter sich. Auf keinen Fall wollte er sie wecken. Aber er konnte nicht länger tatenlos hier herumstehen. Er mußte etwas tun, vielleicht könnte er Mona bereits mit einem Ergebnis überraschen, wenn sie aufwachen würde.

Hastig zog er sich an, nahm sich das Telefon und begann zu wählen.

*

Adrian schlich müde die Treppen zu seiner Wohnung hinauf. Er hätte eigentlich längst in seinem Bett liegen sollen, aber dadurch, daß er noch bei Bettina Wördemann gewesen war, hatte er sich erheblich verspätet. Zu seinem größten Erstaunen öffnete sich die Tür der Nachbarwohnung, und Carola Senftleben streckte vorsichtig ihren Kopf heraus.

»Frau Senftleben!« rief Adrian. »Sind Sie etwa wieder krank? Oder warum sind Sie um diese Zeit schon wach?«

Carola Senftleben war Ende sechzig, und sie hatte vor kurzem eine schwere Grippe überstanden, von der sie sich nur langsam erholte. Normalerweise liebte sie es, die Nacht zum Tage zu machen – jedenfalls verschlief sie in der Regel den halben Vormittag. Es war eindeutig zu früh für sie.

»Das sind alles noch Nachwirkungen von dieser Grippe«, antwortete sie unwillig. »Ich habe meinen alten Rhythmus noch nicht wiedergefunden, Adrian. Außerdem hat mich dieser blöde Wind wachgehalten. Und die ganze Nacht Sirenen – da kann man ja nicht zur Ruhe kommen.«

»Haben Sie etwa überhaupt nicht geschlafen?« fragte er.

»Nicht eine Minute«, antwortete sie. »Ich war noch gar nicht im Bett. Und dann habe ich mir gedacht, wenn ich höre, daß Sie von Ihrem Nachtdienst nach Hause kommen, könnten wir vielleicht zusammen frühstücken. Danach gehe ich dann gleich schlafen.«

Er konnte nicht anders, er mußte lachen. »Sie sind wirklich unbezahlbar, Frau Senftleben.«

»Das will ich auch hoffen«, sagte sie, aber ihre Stimme klang schon heiterer. »Also los, kommen Sie endlich und erzählen Sie mir, was sich ereignet hat.«

Er folgte ihr in ihre schöne Wohnküche, wo der Tisch bereits gedeckt war. »Sogar Brötchen«, staunte er. »Wie haben Sie das denn gemacht? Waren Sie etwa schon draußen bei dem Wetter?«

Sie schüttelte den Kopf. »Selbstgebacken«, erklärte sie knapp.

»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?« fragte er mißtrauisch. »Daß Sie eine großartige Köchin sind, weiß ich, aber seit wann backen Sie Brot?«

»Brötchen«, korrigierte sie. »Ich sagte doch schon, daß ich nicht geschlafen habe. Aber ich wollte etwas Sinnvolles tun, und Brötchenbacken ist sinnvoll! Oder suchen Sie etwa Streit mit mir?«

Er sah in ihre porzellanfarbenen Augen, die an diesem Morgen ein wenig angriffslustig wirkten, und lächelte. »Würde ich nie machen, Frau Senftleben.«

Sie nickte zufrieden. »Guten Appetit, Adrian. Sie hatten wahrscheinlich eine schrecklich arbeitsreiche Nacht?«

»Kann man wohl sagen«, bestätigte er. Und während er ihr von der Hektik und dem Streß der vergangenen Stunden erzählte, fiel die Erschöpfung von ihm ab und machte einer angenehmen Müdigkeit Platz. Er sah bald, daß es ­seiner Nachbarin ähnlich ging, denn sie gähnte einige Male verhalten.

Nach einer halben Stunde sagte er: »Die Brötchen waren ausgezeichnet, Frau Senftleben, aber ich kann beim besten Willen nichts mehr essen. Und wenn Sie nichts dagegen haben, dann lege ich mich jetzt sofort in mein Bett.«

»Ich habe nichts dagegen«, erwiderte sie. »Ich werde es Ihnen gleichtun. Danke für Ihre Gesellschaft, Adrian.«

»Ich habe zu danken«, sagte er charmant. »Auf Wiedersehen, Frau Senftleben. Und schlafen Sie gut.«

»Worauf Sie sich verlassen können«, versicherte sie und schloß die Tür hinter ihm. Adrian betrat gleich darauf seine eigene Wohnung, machte sich aber nicht einmal die Mühe, einen Blick in die Zeitung zu werfen. Das hatte alles Zeit bis später.

*

Der Polizeibeamte namens Frentrup stand ein wenig ratlos an Bettina Wördemanns Bett. Er war diesmal allein gekommen. Schweigend hatte er zur Kenntnis genommen, daß man keinen Alkohol in ihrer Blutprobe gefunden hatte, aber natürlich wollte er das noch einmal überprüfen.

Niemand hatte ihn auf den Anblick vorbereitet, der ihn erwartete, und so hatte er eine Weile gebraucht, bis er sich von seinem Schock erholt hatte. Gesicht und Arme der jungen Frau waren blutverkrustet – das waren die Wunden, die die Glassplitter verursacht hatten. Außerdem hatte sie zahlreiche blaue Flecken und Prellungen, und Arm und Schulter waren eingegipst. Sie lag reglos vor ihm, an Schläuche angeschlossen und offensichtlich noch immer in Narkose.

»Sie ist bereits einmal kurz wach gewesen, aber daran kann sie sich vermutlich inzwischen gar nicht mehr erinnern«, erläuterte der Stationsarzt. »Ich fürchte, Sie sind zu früh gekommen. Hatte mein Kollege Ihnen nicht bereits gesagt, daß es am besten wäre, erst abends wiederzukommen?«

»Doch, das schon«, gab der Polizist zu, »aber ich dachte…«

Er vollendete den Satz nicht, und der Arzt tat es für ihn. »Sie dachten, es kann nicht schaden, den Ärzten nicht alles zu glauben, sondern sich selbst zu überzeugen, ob die Patientin nicht doch schon vernehmungsfähig ist. Hab’ ich recht?«

»So ähnlich«, lautete die verlegene Antwort.

»Tut mir leid, aber Sie werden warten müssen«, stellte der Arzt nun in sehr bestimmtem Ton fest. »Selbst wenn Frau Wördemann jetzt aufwachen würde, möchte ich es nicht verantworten, daß der erste Mensch, mit dem sie spricht, ein Polizist ist, der sie vernehmen will. Warum haben Sie es eigentlich so eilig? Weglaufen kann sie Ihnen nicht, das sehen Sie doch selbst.«

»Es gibt da einige Ungereimtheiten«, murmelte der Beamte, »die wir gerne klären würden.«

»Wie gesagt, sie läuft Ihnen bestimmt nicht weg, und diese Klärung wird warten müssen, bis sich Frau Wördemann in einer stabilen Verfassung befindet. Wir werden ihre Gesundheit nicht riskieren, nur weil die Polizei etwas zu klären hat. Das verstehen Sie sicher.«

Der Beamte gab auf. Er hatte es jetzt selbst eilig, aus der Klinik zu verschwinden. Das zerschnittene Gesicht der jungen Frau machte ihn ganz krank. »Ich komme wieder«, murmelte er.

»Davon gehe ich aus«, lautete die ironische Erwiderung des Stationsarztes.

*

Jens Banter legte sich eine Weile auf die Lauer und beobachtete, ob es verdächtige Bewegungen in dem Haus gäbe, in dem er wohnte. Als er nach einer Viertelstunde nichts dergleichen feststellen konnte, schlüpfte er ins Haus und betrat gleich darauf seine Wohnung. Vorsichtig sah er sich um, aber alles war unverändert.

Damit hatte er auch gerechnet. So schnell konnten sie eigentlich nicht auf seine Spur gekommen sein, jedenfalls hatte er das inständig gehofft. Schließlich konnte niemand, der Bettina fand, wissen, daß sie nicht allein gewesen war und wohin sie hatte fahren wollen. Und bis sie Mona gefunden hatten, würde es auch noch dauern. Aber all das änderte nichts daran, daß er schleunigst verschwinden mußte. Er mußte sich tunlichst aus der Stadt entfernen, damit er später sagen konnte, daß er sie schon vor dem heutigen Tag verlassen hatte.

Hastig packte er eine Tasche mit den Sachen, die er für einige Wochen benötigen würde. Einen Job hatte er im Augenblick nicht, also brauchte er auch nicht plötzlich Urlaub zu nehmen oder eine Krankheit zu erfinden. Das war praktisch. Er dachte scharf nach, damit er nichts vergaß, aber es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren, denn unbewußt lauschte er auf die Geräusche, die von außen in die Wohnung drangen. Immerhin war es möglich, daß die Polizei doch schneller war als erwartet – und er legte keinerlei Wert darauf, hier dabei überrascht zu werden, wie er seine Sachen packte, um zu fliehen.

Aber alles blieb still, und so sehr er auch nachzudenken versuchte, ihm fiel nichts mehr ein, das er noch hätte tun können. Er räumte den Kühlschrank aus, damit es so wirkte, als sei er ganz geplant für einige Zeit verreist, dann kritzelte er eine Nachricht für Bettina auf eine Karte, die er zurückdatierte und mit einer Briefmarke versah. Er würde sie nachher gleich einwerfen. Auf der Karte stand, daß er überraschend verreisen müsse und sie deshalb nicht zu Mona begleiten könne. Dann überlegte er es sich anders und zerriß die Karte wieder. Das hätte er ihr schließlich persönlich oder am Telefon sagen können. Kein Mensch würde wegen so etwas eine Karte schreiben.

Er merkte, daß sein Kopf blockiert war, und gab es auf. Er würde jetzt nur noch wegfahren und versuchen, irgendwo an der Ostsee zur Ruhe zu kommen. Weiter konnte er im Augenblick einfach nicht denken.

*

Als Mona vorsichtig die Tür zum Wohnzimmer öffnete, legte Wolf gerade mit resignierter Miene den Telefonhörer auf. Als er sie hörte, sagte er bedauernd: »Ich wollte dich nicht wecken, es tut mir leid, Mona.«

»Du hast mich nicht geweckt, ich bin von selbst wach geworden«, sagte sie. »Bist du schon lange auf?«

Er nickte. »Aber ich bin noch immer kein Stück weitergekommen. Es ist wie verhext. Zum Teil erhalte ich überhaupt keine Auskunft, zum Teil ist die Auskunft negativ. Einige Krankenhäuser können wir jetzt wenigstens von der Liste streichen, aber das ist auch alles, was ich erreicht habe.«

»Und der Hubschrauberpilot?«

Wolf zog eine Grimasse. »Der war meine größte Hoffnung, aber sie haben ihn bisher nicht erreicht. Der hat die ganze Nacht Einsätze geflogen und sollte jetzt eigentlich zu Hause im Bett liegen und schlafen, aber da ist er nicht. Hat wahrscheinlich ’ne Freundin, zu der er gegangen ist, jedenfalls meldet er sich nicht.«

Mona ließ sich neben ihn aufs Sofa sinken. »Und Bettina liegt jetzt irgendwo, und niemand ist bei ihr«, sagte sie leise. »Das ist eine so schreckliche Vorstellung, Wolf.«

»Ich weiß.« Seine Stimme klang heiser. »Es macht mich völlig verrückt, daran zu denken.«

Sie legte einen Arm um ihn. Sie war viel kleiner als er und mußte sich sogar ein wenig anstrengen, um das zu schaffen. »Du liebst sie immer noch«, stellte sie fest.

»Ja«, sagte er ohne das geringste Zögern. »Ich liebe sie immer noch. Und ich werde sie immer lieben, Mona. Wahrscheinlich gibt es nichts, was daran etwas ändern könnte.«

»Dieser Jens ist nicht der richtige Mann für sie«, sagte Mona und wischte sich ein paar Tränen aus den Augen. »Er ist ein unreifes Bübchen, ich hoffe, sie wird das endlich begreifen.«

Wolf lächelte, aber es war ein so schmerzliches Lächeln, daß es ihr ins Herz schnitt. »Selbst wenn sie das begreifen sollte, wird sie nicht plötzlich mich lieben, Mona. Du weißt doch, was ich für sie bin: Ein großer Bruder.«

»Ja, ich weiß. Aber Gefühle können sich ändern. Und manchmal ist man einfach auch nur blind und täuscht sich über das, was man wirklich empfindet.« Sie stand auf. »Ich mache Frühstück, während du weitertelefonierst, ja?«

Er nickte. Zwar konnte er sich nicht vorstellen, daß er einen Bissen herunterbringen würde, aber zumindest einen Kaffee könnte er jetzt vertragen. Der Tag würde anstrengend werden, und schließlich hatte er kaum geschlafen.

*

Jens Banter atmete auf. Er hatte die Stadt ohne jede Schwierigkeit verlassen. Niemand war ihm gefolgt, keiner von seinen Nachbarn hatte ihn gesehen. Wenn er später behauptete, schon vor dem Zeitpunkt des Unfalls abgefahren zu sein, würde ihm niemand das Gegenteil nachweisen können. Zumindest hoffte er das. Er erinnerte sich, daß er etwas zu Bettina gesagt hatte während ihres Telefongesprächs mit Mona. Das war kurz vor ihrer Abfahrt gewesen. Aber wenn schon: Im Notfall stand dann eben Aussage gegen Aussage.

Jetzt jedenfalls war er zuerst einmal gerettet und fuhr in seinem alten Auto Richtung Ostsee. Die Anspannung der letzten Nacht fiel von ihm ab. Allerdings tat sie das nicht gänzlich. Denn je weniger er gezwungen war, darüber nachzudenken, was er tun mußte, um seine eigene Haut zu retten, desto mehr drängten sich die Gedanken an Bettina in den Vordergrund.

Sie war tot, und er war für ihren Tod verantwortlich, das wußte er, auch wenn er es niemals zugeben würde. Doch es war hieran nicht zu rütteln. Mit diesem Wissen würde er nun leben müssen, und er hoffte, daß er das konnte. Aber wieder stellte er sich die Frage, die er auch schon seinem Freund Michael gestellt hatte: Wem war damit gedient, wenn er sich jetzt der Polizei stellte? Niemandem! Bettina wurde dadurch nicht wieder lebendig, und sein Leben wäre in diesem Fall mit Sicherheit ebenso zerstört. Denn wenn alle wußten, was er getan hatte, brauchte er nicht länger darauf zu hoffen, jemals wieder ein normales Leben führen zu können. Nicht einmal einen Job würde er noch finden.

Aber eigentlich wollte er auch gar keinen Job. Er arbeitete nicht gern, und wenn er genug Geld gehabt hätte, um davon zu leben, wäre Arbeit für ihn überhaupt kein Thema gewesen. Das kleine Vermögen, das er von seinen Großeltern geerbt hatte, war leider schon fast verbraucht. Er würde sich also bald nach einer Verdienstmöglichkeit umsehen müssen.

Er biß sich heftig auf die Lippen. Bettina war Lehrerin gewesen – nicht reich, aber sie hatte Geld genug gehabt. Für ihn war das sehr praktisch gewesen, denn sie hatte oft für ihn mitbezahlt. Jetzt, wo sie nicht mehr da war, würden seine mageren Mittel noch schneller erschöpft sein.

Nicht, daß er einzig wegen des Geldes mit Bettina zusammengewesen war. Er hatte sie wirklich gern gehabt, so gern, wie er überhaupt jemanden haben konnte. Aber die Wahrheit war, daß ihm kein Mensch jemals so nahegestanden hatte wie er sich selbst. Für ihn war er selbst die wichtigste Person auf dieser Welt, und daran würde sich auch niemals etwas ändern.

Er fuhr vorsichtig an diesem Morgen, denn im nachhinein hatte er durchaus begriffen, daß er durch seine Fahrweise am vergangenen Abend auch sein eigenes Leben in Gefahr gebracht hatte. Das würde ihm so schnell nicht wieder passieren.

Als er ein Schild sah, das bereits eines der Ostseebäder ankündigte, hellte sich seine Miene auf. Vielleicht ging ja doch alles gut, und es kam niemand auf die Idee, auch nur nach ihm zu suchen.

*

Sie hatten gefrühstückt, aber es war nur eine kurze Mahlzeit gewesen, und sie hatten sie in bedrücktem Schweigen eingenommen. Wolf hatte ohnehin nur Kaffee getrunken. Mona hatte sich dazu gezwungen, wenigstens eine Scheibe Brot zu essen. Schon nach wenigen Minuten war er wieder aufgesprungen, hatte entschuldigend gesagt: »Ich hab’ einfach keine Ruhe, Mona, ich mach’ weiter, ja?« und war im Wohnzimmer verschwunden.

Von dort hörte Mona ihn jetzt telefonieren. Es war schon wieder ziemlich viel Zeit vergangen, und sie fragte sich, wann es ihnen wohl endlich gelingen würde, Bettina ausfindig zu machen. Es war wie verhext.

Und dann auf einmal merkte sie an Wolfs Stimme, daß etwas anders war als bisher. Sie lief ins Wohnzimmer und hörte ihn gerade noch fragen: »Aber sie lebt? Sie lebt ganz bestimmt?« Danach hörte er noch eine Weile zu, und wenig später legte er auf.

»Wo ist sie?« fragte Mona.

»In der Kurfürsten-Klinik. Sie ist dort heute nacht operiert worden und liegt jetzt auf der Intensiv­station. Wir können frühestens heute abend zu ihr, vorher lassen sie uns auf keinen Fall mit ihr sprechen. Aber sie lebt, Mona! Sie lebt – und offenbar ist sie auch nicht mehr in akuter Gefahr.«

»Mit wem hast du denn gesprochen?«

»Mit dem Stationsarzt auf der Intensivstation, der war sehr nett, obwohl ich ihm gesagt habe, daß ich kein Verwandter bin. Aber weil sie auf dem Weg zu uns war, als es passiert ist, hat er wohl eine Ausnahme gemacht.«

Mona ließ sich auf das Sofa sinken. Auf einmal hatte sie das Gefühl, daß ihre ganze Kraft sie verließ. Ihre Beine wurden weich, und ein trockenes Schluchzen saß ihr in der Kehle. Die Anspannung und die Angst der letzten Stunden machten sich nun bemerkbar. »Sie lebt also«, sagte sie leise. »Ist sie schwer verletzt?«

Er nickte bedrückt. »Mehrere Brüche, die Milz war angerissen, eine schwere Gehirnerschütterung – und irgend etwas mit ihrem Gedächtnis scheint auch nicht in Ordnung zu sein. Sie kann sich nicht mehr erinnern, wie es zu dem Unfall gekommen ist. Offenbar ist es normal, daß sie sich an den Unfall selbst nicht erinnern kann, aber was vorher war, müßte sie eigentlich noch wissen. Sie warten auf die Polizei, die wollen sie vernehmen, sobald sie richtig wach ist. Jetzt schläft sie noch, die Narkose wirkt noch nach. Sie ist aber schon einmal kurz wach gewesen.«

»Die Polizei?« fragte Mona erschrocken. »Was will denn die Polizei von ihr?«

»Sie ist gerast wie eine Verrückte und hat jemand anders gefährdet«, antwortete Wolf.

»Bettina ist garantiert nicht gerast«, entgegnete Mona kopfschüttelnd. »Das halte ich für Unsinn. Was ist mit Jens?«

»Jens war nicht dabei, ich habe nach ihm gefragt. Sie hat allein im Auto gesessen.«

»Aber…«, begann Mona, doch ihr Bruder unterbrach sie.

»Ich weiß, was du sagen willst. Ich wiederhole nur, welche Auskunft ich bekommen habe. Wir können Bettina heute abend ja selbst fragen, wie es zu dem Unfall gekommen ist.«

»Aber wenn sie sich doch nicht daran erinnern kann?«

»Vielleicht tut sie ja nur so«, meinte Wolf nachdenklich.

*

Adrian wachte schon sehr früh am Nachmittag wieder auf, und er wußte auch sofort, warum. Bettina Wördemann war es, die ihn beschäftigte. Er wollte unbedingt noch einmal mit ihr reden, bevor die Polizei es tat. Und das bedeutete, er mußte sofort wieder in die Klinik fahren, damit er Zeit genug für dieses Gespräch hatte, bevor sein Nachtdienst begann.

Eilig stand er auf, duschte und rasierte sich und kochte sich eine große Kanne Kaffee. Zum Glück machte es ihm nicht allzu viel aus, wenn er einmal zu wenig Schlaf bekam. Kurz darauf machte er sich bereits auf den Weg.

Er sah das Polizeiauto sofort und pfiff ärgerlich vor sich hin. Waren sie ihm etwa doch zuvorgekommen? Er lief in die Notaufnahme, aber natürlich war von den Kolleginnen und Kollegen, die mit ihm zusammen Dienst hatten, noch niemand da, es war ja auch noch viel zu früh.

Er rief auf der Intensivstation an und erkundigte sich, ob Bettina Wördemann bereits vernommen worden sei, erhielt aber eine beruhigende Auskunft. »Keine Sorge, Herr Dr. Winter. Frau Wördemann schläft noch immer fast die ganze Zeit, wir haben niemanden zu ihr gelassen«, sagte der Stationsarzt. »Wir haben die Beamten auf heute abend vertröstet, sie sind wahrscheinlich einen Kaffee trinken gegangen, deshalb steht das Auto noch unten. Sie sind ein wenig mißtrauisch uns gegenüber, als versuchten wir, eine Straftat zu vertuschen, das kann ich mir nicht richtig erklären. Aber Frau Wördemann ist im Augenblick eindeutig noch nicht vernehmungsfähig. Ach, übrigens haben sich Freunde von ihr gemeldet, die wohl seit gestern abend schon versucht haben, sie ausfindig zu machen. Frau Wördemann war auf dem Weg zu ihnen, als der Unfall passiert ist.«

»Ich bin gleich bei Ihnen«, rief Adrian. »Das interessiert mich, die Sache mit den Freunden. Außerdem bin ich sowieso nur so früh gekommen, um nach Frau Wördemann zu sehen.«

»Dann bis gleich«, erwiderte der Stationsarzt und legte auf.

*

Bettina schwamm durch eine Welt, die ihr völlig unbekannt war. Staunend nahm sie Dinge wahr, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, aber wenn sie sich ihnen näherte, zerflossen sie plötzlich und lösten sich vor ihren Augen in nichts auf. Sie konnte sich das nicht erklären und versuchte es immer wieder – aber die Welt um sie herum blieb in Bewegung, sie veränderte sich ständig.

Allmählich war sie es leid, immer weiter herumzuschwimmen und nicht ans Ziel zu kommen. Erst allmählich fiel ihr auf, daß das merkwürdige blaue Licht, das um sie herum war, nicht überall gleich aussah. War es nicht da hinten viel heller?

Sie legte den Kopf zurück und blinzelte. Ja, tatsächlich, es gab in dieser merkwürdigen, zerfließenden Welt einen hellen Fleck, und sie beschloß, es noch ein letztes Mal zu versuchen. Sie würde sich diesem Fleck nähern und darauf achten, ob er Bestand haben oder sich ebenso auflösen würde wie all die anderen Dinge, denen sie sich bisher genähert hatte.

Langsam glitt sie darauf zu. Sie schwamm jetzt nicht mehr, sondern es war eine Art der Fortbewegung, die sie noch nie zuvor ausprobiert hatte. Sie ging nicht, sie glitt. Wie sie das machte, war ihr nicht ganz klar, aber sie kam ziemlich schnell voran, und das freute sie.

Der weiße Fleck vor ihr wurde größer, das machte ihr Mut. Er war zumindest noch immer da und hatte sich bisher nicht aufgelöst. Er wuchs weiterhin, jetzt hörte sie sogar eine Stimme. Es war eine Stimme, die ganz deutlich ihren Namen sagte. Ihren Vor- und ihren Nachnamen.

»Bettina Wördemann! Hallo, Bettina Wördemann!«

»Das bin ich«, sagte sie glücklich und glitt weiter. Der Fleck vergrößerte sich noch einmal, und plötzlich wußte sie, daß gleich etwas Entscheidendes passieren würde. Sie würde etwas entdecken, das sie noch nie zuvor gesehen hatte. Ihr Herz schlug heftig vor Aufregung, und wieder hörte sie die Stimme ihren Namen sagen.

»Bettina Wördemann, so wachen Sie auf!«

Sie wollte sagen, daß sie nicht aufwachen mußte, weil sie doch längst wach war, aber komischerweise wollten ihr die Worte nicht über die Lippen kommen, so sehr sie sich auch darum bemühte. Dabei hatte sie noch nie Schwierigkeiten mit dem Sprechen gehabt, soweit sie sich erinnern konnte.

»Kommen Sie, Sie hören mich, das weiß ich.«

Der weiße Fleck war jetzt direkt vor ihr. Er löste sich nicht auf, und sie streckte die Hand danach aus, um ihn zu fassen. Dann erst würde sie wissen, worum es sich eigentlich handelte. Aber es war schwer, die Hand zu heben, doch der Fleck war noch immer da.

»Frau Wördemann!«

Und in diesem Moment wußte sie, was sie zu tun hatte. Die Lösung war so einfach, daß sie sich fragte, warum ihr das nicht früher schon eingefallen war. Sie schlug ganz einfach die Augen auf.

Sofort war der weiße Fleck verschwunden. Sie sah in warme braune Augen, die sie freundlich ansahen.

»Wo bin ich?« fragte sie erstaunt. »Und wer sind Sie?«

»Sie sind in der Kurfürsten-Klinik, Frau Wördemann. Sie hatten gestern abend einen schweren Unfall.«

»Ja?« Ihre Stimme klang ungläubig.

»Ja. Mein Name ist Adrian Winter, ich leite die Notaufnahme dieser Klinik. Man hat Sie hierher zu uns gebracht – übrigens mit einem Hubschrauber. Ich habe Sie heute nacht noch operiert. Und ich habe schon einmal mit Ihnen gesprochen. Wissen Sie das noch?«

»Nein«, antwortete sie verwirrt und fragte dann: »Was… was fehlt mir denn?«

»Ein paar Brüche, eine verletzte Milz, ein paar Schnittwunden. Und Sie haben eine schwere Gehirnerschütterung«, antwortete der Arzt. »Deshalb können Sie sich nicht an den Unfall erinnern – das nennt man retrograde Amnesie. Alles, was vorher war, wissen Sie noch, aber an den Unfall selbst haben Sie keine Erinnerung.«

»Ja, das stimmt«, sagte sie leise.

»Die Polizei wird Sie befragen wollen, Frau Wördemann.«

»Warum?« fragte sie unsicher.

»Weil Sie viel zu schnell gefahren sind und einen anderen Autofahrer in große Gefahr gebracht haben. Der Mann hat Anzeige erstattet.«

»Zu schnell gefahren?« fragte sie und runzelte die Stirn, so heftig dachte sie offenbar nach.

»Ja, viel zu schnell, wenn man bedenkt, was für ein Unwetter letzte Nacht geherrscht hat. Die Sicht muß schlecht gewesen sein, die Straßen waren glatt – aber Sie sind gerast.«

Er schwieg und sie begriff, daß er eine Erklärung von ihr erwartete. Doch statt dessen biß sie sich heftig auf die Lippen, als wollte sie sich daran hindern, voreilig etwas zu sagen. »Tut mir leid«, brachte sie nach einer Weile zögernd heraus, »aber daran kann ich mich nicht erinnern.«

Adrian Winter sah sie durchdringend an. »Es fällt Ihnen sicher noch ein, Frau Wördemann. Ich bin jedenfalls froh, daß es Ihnen den Umständen entsprechend gutgeht. Am besten, Sie schlafen jetzt weiter. Wir haben den Polizisten gesagt, daß Sie vor dem Abend auf keinen Fall vernommen werden können.«

Er stand auf und machte Anstalten, sich zu verabschieden, sie hielt ihn jedoch zurück. »Herr Dr. Winter«, sagte sie hastig, »wie hat sich dieser… dieser Unfall eigentlich abgespielt?«

Er erklärte es ihr und ließ sie dabei nicht aus den Augen. Sie stellte jedoch keine weiteren Fragen und gab auch keinerlei Erklärungen dazu ab. Er hatte das sichere Gefühl, daß sie mehr wußte, als sie zugeben wollte.

»Auf Wiedersehen, Frau Wördemann. Ich habe wieder Nachtdienst, wahrscheinlich komme ich im Laufe der Nacht noch einmal vorbei und sehe nach Ihnen.«

»Vielen Dank für alles«, sagte sie, bevor er das Zimmer verließ, aber sie sagte es so leise, daß er es nicht mehr hören konnte.

Adrian beschloß, noch einmal mit Julia Martensen über die Patientin zu sprechen. Sie hatte eindeutig recht gehabt: Etwas stimmte hier nicht. Schließlich hatte ihm der Stationsarzt zuvor erzählt, daß Frau Wördemanns Freunde sich nach einem Mann erkundigt hatte, der angeblich bei ihr hätte sein müssen. Demnach hatten zwei Personen im Auto gesessen. Wo aber war dieser Mann? Und warum hatte Frau Wördemann selbst ihn bisher nicht erwähnt?

Erst als er schon in der Notaufnahme war, fiel ihm wieder ein, daß sie sich schon zweimal erkundigt hatte, ob bei dem Unfall noch jemand verletzt worden sei. Vielleicht hatte sie dabei gar nicht an ein mögliches Opfer in einem anderen Auto gedacht, sondern an jemanden, der während der Fahrt neben ihr gesessen hatte?

*

Als Bettina das nächste Mal erwachte, saßen zwei Polizeibeamte an ihrem Bett, die sich mit ›Baier und Frentrup‹ vorstellten. Sie erinnerte sich vage an den Besuch von Dr. Winter und dessen Ankündigung, und sie wußte, daß sie aufpassen mußte, was sie jetzt sagte.

»Frau Wördemann«, begann der Beamte mit Namen Baier, »können Sie sich erinnern, wie es zu dem Unfall gekommen ist?«

»Nein«, sagte sie leise. »Jedenfalls nicht richtig. Ich weiß nur noch, daß es sehr stürmisch war und geregnet hat. Und dann kam u… mir ein Auto entgegen, das mich geblendet hat. An mehr kann ich mich nicht erinnern.«

»Sie wissen, daß Sie viel zu schnell gefahren sind?«

»Nein, davon weiß ich nichts«, antwortete sie zögernd. »Ich fahre normalerweise nicht zu schnell. Warum sollte ich es denn in einer solchen Nacht tun?«

»Das haben wir uns auch schon gefragt.« Jetzt war es der andere Polizist, der sprach. »Sie müssen nicht nur ein bißchen zu schnell gefahren sein, sondern Sie müssen gerast sein wie eine Irrsinnige, Frau Wördemann. Wir haben zuerst gedacht, daß Sie betrunken gewesen sind.«

»Ich trinke nur sehr wenig Alkohol«, sagte sie.

»Sie hatten auch kein Alkohol im Blut. Wie also erklären Sie sich Ihre verrückte Fahrweise gestern abend? Ist etwas passiert, das Sie seelisch aus dem Gleichgewicht gebracht hat?«

»Wie meinen Sie das?« fragte sie unsicher.

»Nun, man könnte sich doch vorstellen, daß Sie sich so sehr über etwas aufgeregt haben…«

»… daß ich anfange, wie eine Betrunkene Auto zu fahren, meinen Sie? Das glaube ich nicht. Ich kann Ihnen nicht sagen, was passiert ist, das müssen Sie schon selbst herausfinden.«

»Ich bin gar nicht so sicher, Frau Wördemann, daß Sie uns das nicht sagen können.« Der Beamte namens Frentrup sprach jetzt sehr eindringlich. »Es gibt da nämlich ein paar Dinge, die wir uns nicht erklären können.« Er sprach nicht weiter, sondern beobachtete ihre Reaktion. Und er wurde nicht enttäuscht, denn das schnelle Flackern in ihren Augen entging ihm nicht.

»Was für Dinge?« fragte sie unsicher.

»Der Gurt am Beifahrersitz war offensichtlich defekt. Und der Winkel, in dem Sie durch die Windschutzscheibe geschleudert worden sind, läßt eher darauf schließen, daß Sie auf dem Beifahrersitz gesessen haben. Was durch den defekten Gurt auch erklärt wäre. Auf der Fahrerseite war er nämlich völlig in Ordnung. Sie sehen also, es gibt einiges, das einer Erklärung bedarf.«

Er wartete unruhig, bis sie diese Information verdaut hatte, aber nach einigen Sekunden des Nachdenkens wiederholte sie: »Tut mir leid, ich kann Ihnen das nicht erklären.«

»Haben Sie den Wagen selbst gesteuert, Frau Wördemann?« fragte er direkt und ließ sie dabei nicht aus den Augen.

Sie vermied eine klare Antwort, und auch das entging ihm nicht. »Es war doch sonst niemand da, oder? Das muß dann ja wohl heißen, daß ich gefahren bin. Bitte lassen Sie mich jetzt in Ruhe, es geht mir nicht besonders gut.« Sie schloß die Augen zum Zeichen, daß sie nicht bereit war, noch weitere Fragen zu beantworten.

Die Beamten wechselten einen kurzen Blick miteinander, dann standen sie auf. »Wir kommen wieder, Frau Wördemann. Es tut uns leid, daß Sie das als Quälerei empfinden, aber wir versuchen, Ihnen zu helfen, auch wenn Sie das vielleicht anders sehen.«

Leise verließen sie den Raum, aber Bettina fühlte sich durchaus nicht erleichtert. Sie mußte endlich wissen, was mit Jens passiert war. Wieso war er verschwunden? Er konnte sie doch unmöglich einfach am Unfallort zurückgelassen und sich selbst in Sicherheit gebracht haben? Das war unmöglich – sie traute ihm ja einiges zu, aber das nicht.

Und dann fiel ihr siedendheiß ein, daß sie ja Mona und Wolf hatten besuchen wollen. Sie mußte unbedingt mit den beiden reden, um herauszufinden, ob sie der Polizei etwas von Jens erzählt hatten. Sie wußte nicht, was Jens getan hatte, aber sie wollte ihn auf keinen Fall in Schwierigkeiten bringen.

Ihre Gedanken verwirrten sich, und sie schlief wieder ein.

*

Adrian Winter hatte sich entschlossen, vor Dienstbeginn noch etwas zu essen, und das war genau die richtige Entscheidung gewesen, denn er fühlte sich nun großartig. Als er die Klinik danach erneut betrat, hoffte er, daß Julia Martensen mittlerweile eingetroffen war, damit er vor Dienstbeginn noch mit ihr über Bettina Wördemann reden konnte.

Doch soweit sollte es nicht kommen, denn eine der Schwestern trat ihm in den Weg und flüsterte ihm zu: »Herr Dr. Winter, da sind zwei Leute, die auf Sie warten. Es sind Freunde von Frau Wördemann, die mit Ihnen sprechen wollen. Das heißt, eigentlich wollen sie natürlich Frau Wördemann besuchen, aber ich dachte, es wäre besser, wenn sie zuerst mit Ihnen sprechen.«

»Danke«, sagte er freundlich und ging auf die Frau und den Mann zu, die ihm erwartungsvoll entgegensahen und sich schließlich erhoben, als sie merkten, daß er auf sie zukam. Beide waren schlank und dunkelhaarig, der Mann mindestens einen Kopf größer als die Frau. Ihre Ähnlichkeit war unverkennbar, sie mußten einfach Geschwister sein.

»Ich bin Dr. Winter«, sagte er freundlich. »Und Sie sind Freunde von Frau Wördemann?«

Beide nickten, die Gesichter bleich und angespannt. »Ich bin Wolf Mickwitz«, sagte der Mann schließlich, »und dies ist meine Schwester Mona. Sie ist Bettinas beste Freundin. Wir waren gestern abend verabredet und haben lange auf sie gewartet, bis uns endlich klargeworden ist, daß sie nicht mehr kommen würde, weil etwas passiert sein mußte. Wie geht es ihr, Herr Doktor?«

»Recht gut«, antwortete Adrian. »Bitte, nehmen Sie doch einen Augenblick Platz. Mir ist klar, daß Sie Frau Wördemann besuchen wollen, aber es gibt einiges, das ich Sie gern fragen würde.«

»Wird sie wieder gesund?« entfuhr es der jungen Frau. »Bitte, Herr Doktor, sagen Sie uns die Wahrheit. Wir haben eine furchtbare Nacht hinter uns, weil wir immer gehofft haben, die beiden würden endlich kommen…«

»Die beiden?« fragte Adrian, obwohl er ja schon gehört hatte, daß seine Patientin angeblich nicht allein im Auto gesessen hatte. »Welche beiden denn?«

»Bettina und ihr Freund«, antwortete Mona. »Sie haben ja noch angerufen, bevor sie losgefahren sind. Das heißt, Bettina hat angerufen und gesagt, daß sie in ungefähr einer Stunde bei uns sein würden. Und ihren Freund habe ich im Hintergrund gehört.«

»Es war also geplant, daß Sie von zwei Leuten Besuch bekommen, richtig?« fragte Adrian.

»Ja. Wir haben uns schon gewundert, daß von Jens überhaupt nicht die Rede war, als wir endlich herausgefunden hatten, daß Bettina hier in der Klinik liegt«, sagte Wolf. »Aber in der letzten Nacht hat es ja wohl sehr viele Unfälle gegeben, und alles war ziemlich chaotisch, da haben wir uns gedacht, vielleicht hat uns jemand am Telefon eine ungenaue Auskunft gegeben.«

Adrian schüttelte nachdenklich den Kopf. »Nein, Frau Wördemann war offenbar allein im Auto. Sie muß gerast sein wie eine Verrückte und dann…«

»Nie im Leben!« sagte Mona Mickwitz entschieden. »Bettina ist eine sehr vorsichtige Fahrerin. Ich habe noch nie erlebt, daß sie rast, dazu hat sie viel zu viel Angst, daß etwas passieren könnte. Und bei dem Wetter, das gestern abend herrschte, war sie sicher noch vorsichtiger als sonst. Sie ist nicht gerast, glauben Sie mir das.«

»Es gibt einen Zeugen«, erklärte Adrian knapp. »Sie ist fast in einen entgegenkommenden Wagen gerast.«

»Bettina?« fragte Mona ungläubig. »Nie im Leben. Oder hatte sie getrunken? Das wäre die einzige Erklärung – obwohl ich das auch nicht glaube. Sie trinkt ohnehin wenig, und wenn, dann fährt sie nicht Auto.«

»Sie hatte nicht getrunken«, erklärte Adrian und wartete.

Die Geschwister warfen einander einen Blick zu, dann sagte Wolf Mickwitz zögernd: »Könnte theoretisch noch jemand im Auto gesessen haben, als der Unfall passiert ist?«

»Und sich nach dem Unfall aus dem Staub gemacht haben, meinen Sie?«

Der andere wirkte etwas verlegen, nickte aber. »Ja, so ungefähr. Es klingt ziemlich merkwürdig, ich weiß, aber wäre das theoretisch denkbar?«

Adrian zuckte mit den Schultern. »Das müßten Sie die Polizei fragen, Herr Mickwitz. Die wollten Frau Wördemann ohnehin vernehmen, falls sie das nicht bereits getan haben.«

Die beiden schwiegen bedrückt. Schließlich sagte Mona: »Aber das ist Unsinn. Wenn Jens im Wagen gesessen hat, dann würde er hinterher nicht einfach weglaufen. Und wenn er es doch getan hätte: Warum sollte Bettina darüber schweigen? Das kann ihr doch nur schaden – wenn alle Leute denken, sie sei gerast und hätte andere Menschen damit in Gefahr gebracht.«

»Ja, das alles habe ich mir auch schon überlegt«, gestand Adrian. »Und ich habe keine vernünftige Erklärung gefunden, muß ich zugeben. Gehen Sie nur jetzt zunächst einmal auf die Intensivstation. Ich werde Sie bei meinen Kollegen dort ankündigen, dann läßt man Sie sicher zu ihr. Gibt es Verwandte, die wir benachrichtigen sollten – oder wollen Sie das vielleicht übernehmen?«

»Wir wollten mit Bettina dar­über sprechen. Ihre Mutter ist herzkrank, sie will wahrscheinlich nicht, daß wir ihre Eltern anrufen.«

»Dann überlassen wir die Entscheidung darüber Ihnen«, meinte Adrian. »Und bitte, sprechen Sie mit Ihrer Freundin über den Unfall. Ich hatte den Eindruck, daß sie uns etwas Wichtiges verschweigt, aber ich kann mich natürlich auch täuschen. Und wenn Sie etwas herausfinden, dann lassen Sie es mich doch bitte wissen. Ich mache mir Sorgen um Frau Wördemann.«

»Vielen Dank«, sagte Wolf, als er dem Arzt zum Abschied die Hand gab, »daß Sie so offen mit uns gesprochen haben, Herr Dr. Winter.«

Auch Mona drückte Adrian die Hand, und er sagte: »Viel Glück!«

*

Bettina schlief immer wieder ein, aber sie war zwischendurch jetzt auch länger wach. Doch es fiel ihr schwer, richtig nachzudenken. Ihr Kopf tat weh, und auch sonst spürte sie ihren Körper schmerzhaft. Es war unangenehm, so ruhig zu liegen und bei allem, was man tun wollte, auf andere Menschen angewiesen zu sein. Aber daran war wohl nichts zu ändern.

Am meisten beunruhigte sie die Sache mit Jens. Mittlerweile hatte sie auch eine Erklärung für das vermeintliche Rätsel seines Verschwindens gefunden: Jens war gar nicht verschwunden, sondern er war so schwer verletzt, daß man sie schonen und es ihr zunächst verschweigen wollte.

Sie wollte jedoch gar nicht geschont werden, sondern endlich die Wahrheit wissen. Aber sie scheute davor zurück, einfach zu fragen, denn immerhin war es ja doch möglich, daß er weggelaufen war, und dann würde sie ihn durch ihre Fragen in große Schwierigkeiten bringen.

War er weggelaufen? Sie konnte das einfach nicht glauben. Sicher, sie hatte mittlerweile einsehen müssen, daß er nicht der Mann war, für den sie ihn gehalten hatte. Aber sie konnte sich dennoch nicht vorstellen, daß er es fertiggebracht hätte, seine schwerverletzte Freundin nach einem Unfall, den er verschuldet hatte, einfach liegenzulassen und abzuhauen…

Oder? Sie kam zu keinem Ergebnis. Es erschien ihr wie ein Verrat, daß sie die Möglichkeit überhaupt in Erwägung zog.

Es klopfte leise, und gleich darauf sagte Monas Stimme: »Bettina! Was bin ich froh, dich zu sehen.«

Ihr Gesicht mit den funkelnden Augen, in denen Tränen hingen, kam näher, und sie gab ihrer Freundin einen vorsichtigen Kuß auf die Nasenspitze.

»Mona«, murmelte Bettina. »Tut mir leid…«

Mona lachte, es klang fast hysterisch. »Was tut dir denn leid? Bist du verrückt? Mir tut es leid, daß du hier liegst – und…«

»Hallo, Bettina«, sagte nun eine Männerstimme, und Bettinas Herz machte einen verrückten kleinen Satz.

»Wolf«, war alles, was sie herausbrachte. Da stand er nun an ihrem Bett, der Jugendfreund, der ihr immer wie ein Bruder erschienen war. Sein gut geschnittenes Gesicht war ernst, die dunklen Augen hatte er voller Sorge und Angst auf sie gerichtet. Hatte er immer so gut ausgesehen? Früher hatte sie das nie bemerkt, Wolf hatte zu ihrem Leben, zu ihrem Alltag gehört, er war eine Selbstverständlichkeit für sie gewesen. Aber jetzt hatte sie ihn lange nicht gesehen. Er hatte sich verändert, das merkte sie sofort.

»Hallo, Wolf«, sagte sie stockend. »Du bist also auch da.«

»Ja«, bestätigte er, und sein Gesicht wurde weich. »Ich bin auch da. Und ich bin froh, daß du diesen Unfall überlebt hast, Bettina.«

»Ich konnte euch leider nicht benachrichtigen«, sagte Bettina undeutlich. »Bin heute erst aufgewacht – die haben mich hier operiert.«

Mona weinte jetzt. »Was ist mit deinem Gesicht passiert?« fragte sie.

»Ich – ich weiß nicht«, antwortete Bettina unsicher. »Was ist denn mit meinem Gesicht? Ich habe seit dem Unfall noch nicht in einen Spiegel gesehen, und ich hatte bisher auch noch keinen Grund…«

»Vergiß es«, sagte Mona hastig. »Du hast ein paar Kratzer abbekommen, das ist alles.«

Bevor Bettina das Thema vertiefen konnte, fragte Wolf: »War Jens bei dir, als ihr abgefahren seid, Bettina? So, wie es geplant war?«

Sie wollte schon ja sagen, aber im letzten Augenblick hielt sie sich zurück. »Wieso fragst du? Alle fragen immer nach Jens.« Sie hatte damit seine Frage nicht beantwortet, aber sie hoffte, daß er ihr nun trotzdem etwas sagen würde, aus dem sie Rückschlüsse darauf ziehen konnte, was tatsächlich passiert war.

Wolf tat ihr den Gefallen nicht, aber Mona fing an zu reden. »Alle sagen, du warst allein im Auto, Bettina. Wieso war Jens nicht bei dir? Wir verstehen das nicht. Als wir telefoniert haben, hat er doch neben dir gestanden, und du hast gesagt, ihr würdet jetzt gleich losfahren. Wieso ist er dann doch nicht mitgefahren?«

Es dauerte einige Sekunden, bis Bettina begriff, daß sie nun die Antwort auf ihre nicht gestellten Fragen bekommen hatte: Jens war tatsächlich nach dem Unfall geflohen. Er hatte sie, die Frau, die er angeblich liebte, schwer verletzt liegenlassen und war einfach geflohen.

Sie schluckte, um die aufsteigenden Tränen zurückzudrängen. Das war mehr, als sie verkraften konnte. Nicht genug damit, daß sie bei einem Unfall, den sie nicht verschuldet hatte, schwer verletzt worden war – nein, sie war auch noch im Stich gelassen worden von dem Menschen, der ihr eigentlich am nächsten stehen sollte. Und dieser Mensch hatte zudem versucht, auf diese Weise die Schuld auf sie zu lenken.

Sie sah zwei Augenpaare, die fragend auf sie gerichtet waren, und sagte hastig: »Ich… ich kann mich nicht daran erinnern, tut mir leid. Die Ärzte und die Polizei haben mich auch schon gefragt, ob ich wirklich selbst gefahren bin, aber ich weiß nichts mehr davon.«

Mona sah so aus, als wollte sie etwas sagen, aber Wolf legte ihr eine Hand auf den Arm und erklärte ruhig: »Ist ja auch nicht so wesentlich im Augenblick, Bettina. Wichtig ist jetzt nur, daß du wieder gesund wirst. Sollen wir dir etwas bringen? Brauchst du etwas?«

Sie war so erleichtert, daß er keine weiteren Fragen stellte und durch seine Sätze auch Mona daran hinderte, welche zu stellen, daß sie um ein Haar doch noch in Tränen ausgebrochen wäre. »Nein, danke, ich kann mich ja sowieso nicht bewegen. Aber… ihr kommt doch noch mal wieder und besucht mich?«

»Dumme Liese!« sagte Mona zärtlich. »Jeden Tag kommen wir, was hast du denn gedacht?« Sie gab Bettina erneut einen Kuß auf die Nasenspitze. »Bis morgen.«

»Bis morgen.«

Wolf sagte nichts, er sah sie nur an und strich ihr dann mit einer schnellen, liebevollen Geste übers Haar. Im nächsten Augenblick war Bettina wieder allein.

Sie schloß die Augen und sehnte sich danach einzuschlafen. Sie war doch bisher ständig müde gewesen, warum also schlief sie jetzt nicht ein? Doch je mehr sie sich das wünschte, desto wacher wurde sie. Ihre Gedanken überschlugen sich, aber es gab eigentlich nur eine einzige wirklich wichtige Erkenntnis: Jens war bei dem Unfall gar nicht verletzt worden, und er hatte es deshalb vorgezogen, sie im Stich zu lassen.

*

»Sie lügt«, stellte Wolf ruhig und bestimmt fest. »Sie lügt, um ihn zu schützen.«

Doch seine Schwester wehrte sich noch immer gegen seine Schlußfolgerungen aus Bettinas Verhalten. »Das glaube ich einfach nicht, Wolf. Jens würde so nicht handeln, und Bettina würde ihn auf diese Weise nicht decken.«

»Aus Liebe tut man manches«, widersprach er, und seine Stimme klang bitter und völlig hoffnungslos.

»Sag das nicht!« bat sie. »Ich glaube nicht, daß sie Jens immer noch geliebt hat. Am Anfang vielleicht, aber schon seit einiger Zeit hatte ich den Eindruck, daß ihr auffällt, wie sehr er sie ausnutzt.«

»Und warum deckt sie ihn dann? Was er gemacht hat, ist verbrecherisch, Mona, verstehst du das? Er hat eine schwerverletzte Frau ohne Hilfe in einem Unwetter liegenlassen. Und vorher hat er, wahrscheinlich betrunken, den Unfall, bei dem sie verletzt worden ist, selbst verursacht. Sie muß ihn wirklich lieben, sonst würde sie nicht versuchen, ihn zu schützen.«

»Nicht so eilig!« Mona wurde heftig. »Sie hatte einen sehr schweren Unfall und ist gerade erst operiert worden, Wolf, sie kann doch kaum über die Sache nachgedacht haben. Wenn es tatsächlich stimmt, daß Jens am Steuer gesessen hat und dann abgehauen ist – dann hat sie das jetzt gerade erst erfahren, verstehst­ du? Durch uns! Was verlangst du denn von ihr? Daß sie etwas so Ungeheuerliches sofort glaubt?«

Er dachte nach und nickte schließlich. »Schön, sie ist also genauso überrascht und ungläubig wie wir und sagt vorsichtshalber erst einmal gar nichts. Aber was ist mit Jens? Vorher hast du doch behauptet, er würde so etwas niemals machen.«

»Das habe ich auch geglaubt«, meinte Mona kleinlaut. »Ich kann es mir eigentlich auch immer noch nicht richtig vorstellen, aber alles andere ergibt keinen Sinn. Oder siehst du das anders?«

»Nein, das sehe ich ganz genauso wie du!« Seine Stimme klang grimmig, und sein Gesichtsausdruck war dementsprechend. »Wenn sich herausstellt, daß es wirklich so ist, wie wir beide im Moment denken, dann soll mir der Kerl bloß nicht über den Weg laufen«, sagte er. »Ich könnte, glaube ich, nicht für meine Beherrschung garantieren.«

»Und was sagen wir, wenn uns Herr Dr. Winter fragt, was wir herausbekommen haben?«

»Wir sagen ihm, was wir vermuten, alles andere ist Unsinn. Wir können uns an diesem Versteckspiel nicht beteiligen, Mona. Bettina hat vielleicht einen Grund, ihren Freund zu schonen, aber wir haben keinen.«

»Das nimmt sie uns vielleicht übel«, murmelte Mona nachdenklich.

»Das werden wir riskieren müssen!« Wolfs Stimme war fest. »Ich bin nicht bereit für jemanden zu lügen, der so handelt, wie dieser Jens Banter es offenbar getan hat. Und wenn sich herausstellt, daß er wirklich nicht mitgefahren ist – um so besser.«

»Ich möchte lieber nicht dabei sein«, gestand Mona kleinlaut.

Er nickte. »Das ist vielleicht auch besser so. Ich werde allein mit Dr. Winter reden.«

Erleichtert küßte sie ihn auf die Wange. Schweigend machte er sich auf den Weg in die Notaufnahme, um noch einmal mit dem Arzt zu sprechen.

*

Jens Banter wanderte ziellos am Ostseestrand umher. Bisher war alles gutgegangen. Er hatte ein billiges Zimmer gefunden, nebenbei einfließen lassen, daß er schon seit ein paar Tagen unterwegs war, und er nahm an, daß er nun in Sicherheit war. Merkwürdigerweise ging es ihm aber eher schlechter als besser.

Je deutlicher ihm zu Bewußtsein kam, was passiert war, desto fragwürdiger fand er sein eigenes Verhalten. Mittlerweile hatte er nicht einmal mehr Restalkohol im Blut, vermutete er, und das bedeutete, daß er völlig nüchtern war. Diese Nüchternheit ließ ihn den Unfall und alles, was geschehen war, in einem anderen Licht sehen.

Bettina war tot, durch seine Schuld. Während der Fahrt hatte sie ihn immer wieder gebeten, langsamer zu fahren, aber er hatte nicht auf sie gehört, im Gegenteil. Er war sogar besonders schnell gefahren, um sie noch mehr aufzuregen.

Aber er hatte nicht nur den Unfall verursacht, er hatte sich auch noch danach einfach aus dem Staub gemacht. Er hatte sich ja nicht einmal die Zeit genommen, genauer nachzuprüfen, ob er Bettina nicht vielleicht doch noch hätte helfen können.

Alle Sicherungen in seinem Hirn waren durchgebrannt, und er war geflohen, wie ein ganz gemeiner Verbrecher vom Tatort flieht. Und was unterschied ihn jetzt noch von einem ganz gemeinen Verbrecher?

Als er eine Telefonzelle sah, folgte er einer spontanen Eingebung und ging hinein. Er sah in seinem Adreßbuch nach und wählte Monas Nummer. Sie meldete sich schon nach dem ersten Klingeln.

»Mona Mickwitz.«

Er lauschte dem Klang ihrer Stimme und versuchte festzustellen, ob sie bereits von Bettinas Tod wußte. Klang sie anders als sonst?

»Hallo? Wer ist denn da? Ich höre doch, daß da jemand ist. Melden Sie sich bitte!«

Nein, entschied er, ihre Stimme klang nicht aufgeregt und auch nicht traurig. Ganz sanft hängte er den Hörer ein und verließ die Telefonzelle wieder. Er mußte eine Entscheidung treffen, das wurde ihm auf einmal bewußt. Und diese Entscheidung würde Auswirkungen auf sein ganzes weiteres Leben haben.

Merkwürdig, dachte er, daß er auf einmal alles so anders sah als noch vor wenigen Stunden. Aber da hatte ja auch noch die Panik sein Handeln bestimmt, während er offenbar jetzt endlich wieder imstande war, richtig nachzudenken.

Langsam machte er sich auf den Rückweg. Er sollte besser keine weitere Zeit vergeuden. Doch er überlegte es sich noch einmal anders. Er kehrte in die Telefonzelle zurück und wählte dieselbe Nummer wie zuvor.

*

»Du meinst also, wenn ich dich richtig verstanden habe, Frau Wördemann hat gar nicht selbst am Steuer gesessen?« fragte Julia stirnrunzelnd. »Ich muß gestehen, Adrian, daß ich ja von Anfang an das Gefühl hatte, etwas würde nicht stimmen in diesem Fall – aber das ist doch wirklich eine ziemlich gewagte Theorie.«

Er nickte, zählte ihr aber dann noch einmal alles auf, was für seine Vermutung sprach. Er schloß mit den Worten: »Die Polizei glaubt im übrigen auch, daß sie etwas verschweigt.« Er hatte mittlerweile von dem defekten Gurt auf der Beifahrerseite erfahren.

»Dann muß sie diesen Mann aber sehr lieben«, meinte Julia. »Oder warum lügt sie sonst für ihn?«

»Muß wohl Liebe sein«, brummte Adrian. »Oder Dummheit. Ich kann es dir auch nicht sagen, Julia.«

»Herr Dr. Winter?« Wolf Mickwitz stand plötzlich vor ihnen. »Sie wollten doch hören, was wir bei Bettina in Erfahrung bringen konnten. Meine Schwester mußte schon nach Hause fahren, deshalb bin ich allein noch einmal gekommen.«

»Julia, das ist Herr Mickwitz, von dem ich dir bereits erzählt habe, ein Freund von unserer Patientin Bettina Wördemann. Setzen Sie sich zu uns, Herr Mickwitz, dies ist meine Kollegin Dr. Martensen, wir beide haben Frau Wördemann gestern abend hier untersucht. Wir haben eben über den Fall gesprochen. Also, was haben Sie uns zu sagen?«

»Sie lügt, glaube ich«, sagte Wolf ganz offen. »Ich kann es nicht beweisen, aber ich glaube es. Alles andere ergibt überhaupt keinen Sinn.«

Julia beugte sich interessiert vor. »Sie nehmen also auch an, daß nicht Frau Wördemann selbst am Steuer gesessen hat?«

»Ich bin fast sicher«, antwortete er. »Sie hat meine Schwester angerufen, bevor sie losfahren wollten. Und da hat ihr Freund neben ihr gestanden. Meine Schwester und ich haben noch einmal da­rüber gesprochen, sie ist ganz sicher, daß sie ihn gehört hat. Er hat etwas zu Bettina gesagt, im Hintergrund. Und da wollten sie gerade losfahren. Es ist sehr unwahrscheinlich, finde ich, daß sie sich genau in der Minute noch so zerstritten haben, daß Bettina allein losgefahren ist. Außerdem rast Bettina nicht – aber dieser Jens offenbar.«

»Ach, Sie kennen ihn gar nicht?«

Der gutaussehende junge Mann mit dem verschlossenen Gesicht schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe eine Zeitlang im Ausland gearbeitet und hatte auch Bettina lange nicht gesehen. Wir kennen uns von früher, wir sind praktisch zusammen großgeworden. Ich… also, ich hatte mich sehr auf dieses Wiedersehen gefreut.«

»Trinkt dieser Jens gelegentlich?« erkundigte sich Adrian Winter.

»Es scheint so«, antwortete Wolf Mickwitz zurückhaltend.

»Wenn das alles stimmt«, meinte Julia zögernd und wiederholte damit einen Gedanken, den sie zuvor schon geäußert hatte, »dann muß die Liebe aber wirklich sehr groß sein, wenn Frau Wördemann ihren Freund unter diesen Umständen bereit ist zu decken.«

In dem verschlossenen Gesicht des jungen Mannes zuckte es verdächtig. »Ja«, sagte er beherrscht, »so sehe ich das auch.« Er stand auf. »Bitte, entschuldigen Sie mich jetzt.«

Er schüttelte beiden die Hand und verließ die Notaufnahme.

»Er liebt sie«, stellte Julia hellsichtig fest, und zu ihrem größten Erstaunen stimmte Adrian ihr zu. »Ja, das tut er. Und er leidet wie ein armer Hund unter der ganzen Angelegenheit.«

»Das hast du also auch bemerkt.« Ihre Augen blickten forschend in sein Gesicht. »Ich wußte gar nicht, Adrian, daß du ein Experte in Liebesdingen bist.«

Er wurde verlegen, schaffte es aber dennoch, ihr eine schlagfertige Antwort zu geben, die sie vorerst verstummen ließ. »Ein Experte vielleicht nicht, liebste Julia, aber ich arbeite diesbezüglich an mir.«

*

Wolf fuhr von der Kurfürsten-Klinik aus nicht direkt nach Hause zu Mona. Er brauchte Zeit für sich, er mußte darüber nachdenken, was die Entdeckung für ihn bedeutete, daß er Bettina nach wie vor liebte.

Aber er wußte die Antwort eigentlich schon jetzt. Er würde schneller wieder abreisen, als er geplant hatte, das bedeutete es. Mona hatte zwar gesagt, Bettina liebe ihren Freund nicht mehr, weil sie ihn endlich durchschaut habe, aber offenbar hatte sie sich getäuscht. Nichts als Liebe sprach aus Bettinas eigensinnigem Verhalten. Auch Frau Dr. Martensen hatte das so gesehen.

Er lief blind und taub für seine Umwelt durch die Straßen. Wie hatte er sich auf Berlin gefreut und darauf, Bettina nach all den Jahren endlich wiederzusehen! Hatte er nicht gewußt, daß er sie immer noch liebte? Hatte er nicht geahnt, was dieses Wiedersehen in ihm auslösen würde?

Er sah ihr zerschundenes Gesicht vor sich und hätte am liebsten laut aufgeschrien vor Verzweiflung – aber auch vor ohnmächtigem Zorn. Bettina schützte den Mann, der für ihre Verletzungen verantwortlich war, sie klagte ihn nicht einmal an. Statt dessen ließ sie es sogar zu, daß man sie selbst an seiner Stelle beschuldigte, wie eine Wahnsinnige gefahren zu sein und andere in Gefahr gebracht zu haben. Es war völlig klar, was das zu bedeuten hatte. Mona hatte sich in ihrer Einschätzung über Bettina geirrt.

Er blieb stehen und sah sich um. Es dauerte einige Augenblicke, bis er sich orientiert hatte und wußte, wo er war. Langsam drehte er sich um und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Es war Zeit, zu Mona zu fahren, sie wartete sicher schon auf ihn. Mona hatte immer gewußt, was in ihm vorging, kein Wunder, daß er sie nicht hatte täuschen können, so wie er sich selbst lange Zeit getäuscht hatte.

Er würde seiner Liebe kein Ende bereiten können, aber er mußte ihr zumindest aus dem Weg gehen, so aussichtslos wie sie war. Er wollte nicht in Bettinas Nähe sein, wo ihn seine Gefühle noch mehr quälten als sonst. Wenn viele tausend Kilometer zwischen ihnen lagen, dann gelang es ihm zumindest zwischendurch immer wieder, sich einzubilden, er werde sie eines Tages vergessen können.

Niemals, hämmerte es in seinem Kopf. Du wirst sie niemals vergessen, und das weißt du jetzt auch.

*

Bettina verstand sich selbst nicht mehr. Sie hatte begriffen, was Jens getan hatte, aber es war ihr gleichgültig. Oder zumindest fast gleichgültig. Sie brachte es einfach nicht fertig, richtig böse auf ihn zu sein. Wie war das nur möglich? Was er getan hatte, war schrecklich und absolut unverzeihlich. Warum also blieb sie jetzt so gelassen?

Die Erkenntnis darüber traf sie wie ein Hammer. Sie blieb deshalb so ruhig, weil Jens ihr gleichgültig geworden war. Sie wußte nicht mehr, wann sie aufgehört hatte, ihn zu lieben, aber sie ahnte, daß es schon vor längerer Zeit geschehen sein mußte, ohne daß es ihr bewußt geworden war.

Aber jetzt sah sie auf einmal ganz klar. Sie erkannte deutlich, daß sie eigentlich nie füreinander dagewesen waren. Vielmehr hatte Jens sie stets ausgenutzt, sie war vermutlich unglaublich bequem für ihn gewesen. Aber darüber durfte sie sich nicht beklagen, sie hatte es ja nicht anders gewollt. Schließlich war sie erwachsen und selbst für sich und das Leben, das sie führte, verantwortlich.

Aber mußte erst ein so schrecklicher Unfall geschehen, um ihr die Augen zu öffnen? Sie hätte sich längst von Jens trennen sollen. Schließlich wußte sie schon lange, daß er ein unreifer großer Junge war, der nur an sich dachte und stets versuchte, auf möglichst einfache Art und Weise durchs Leben zu kommen.

Und warum dann jetzt auf einmal diese Klarheit? grübelte sie weiter. Was hatte sich denn nun für sie geändert? Auch das wußte sie, stellte sie erstaunt fest. Es war der Anblick von Wolf gewesen, der so plötzlich an ihrem Bett gestanden und vertraut und fremd zugleich gewesen war. Wie oft hatte sie dieses Gesicht gesehen, ohne daß es etwas Besonderes für sie gewesen war? Ihr ›großer Bruder‹, so alltäglich wie die Mahlzeiten zu Hause und der Gang zur Schule. Was war jetzt plötzlich so anders geworden?

Sie konnte es nicht sagen, aber sie fühlte, daß ihr Herz laut und schmerzhaft gegen die Rippen pochte, und sie wünschte sich ein paar Jahre zurück. Damals war Wolf noch schrecklich in sie verliebt gewesen, und sie hatte überhaupt nicht verstanden, wie er auch nur auf die Idee hatte kommen können, sie werde seine Gefühle jemals erwidern.

Wie dumm bin ich doch damals gewesen, dachte sie, wie unglaublich dumm.

*

Jens Banter fühlte sich unsicher. Ständig blickte er sich um, aber er wußte eigentlich gar nicht genau, warum er das tat. Er rechnete nicht damit, daß ihn jemand verfolgte, trotzdem hatte er ein flaues Gefühl im Magen.

Er hatte sich erkundigt und wußte, wohin er gehen mußte. Niemand hatte ihn merkwürdig angesehen oder gefragt, ob er überhaupt das Recht hätte, hier zu sein. Nur ich, dachte er, nur ich weiß, daß ich dieses Recht nicht habe. Daß ich eigentlich ganz woanders sein sollte.

Das Gespräch mit Mona war schrecklich gewesen. Sie hatte ihm zunächst gar nichts sagen wollen, sondern nur geweint und ihn angeschrien, als sie seine Stimme erkannt hatte. Aber schließlich hatte er doch erfahren, daß Bettina den Unfall überlebt hatte. Das hatte ihm einen Schlag versetzt.

Natürlich war er froh darüber, daß sie lebte, aber es machte sein eigenes Handeln nur noch schlimmer, als es ohnehin gewesen war. Er hätte ihr helfen können, helfen müssen und hatte es demnach nicht getan.

Ich bin völlig durcheinander, dachte er, während er durch die langen Gänge lief. Alles habe ich falsch gemacht. Endlich hatte er das Zimmer gefunden, das er suchte. Eine Schwester blickte ihn fragend an, er sagte ihr, was er wollte, und sie nickte nur. Dann öffnete sie die Tür und sagte in den Raum hinein: »Frau Wördemann, hier ist Besuch für Sie.« Zu Jens gewandt, fügte sie hinzu: »Aber nicht länger als zehn Minuten, Frau Wördemann braucht noch viel Ruhe.«

Zögernd betrat Jens das Zimmer und lief auf das Bett zu, in dem Bettina lag. Sie sah ihm entgegen, und ihm stockte der Atem. Ihr Gesicht war über und über mit kleinen und kleinsten Wunden bedeckt, die ihr offenbar unzählige Glassplitter zugefügt hatten. Sie war ja aus dem Wagen geschleudert worden. Er hatte sich alles Mögliche vorgestellt, aber bestimmt nicht das.

»Hallo, Jens«, sagte sie so ruhig, daß ihm ohne jede Vorwarnung Tränen in die Augen stiegen. Wieso sprach sie so? Wieso warf sie ihn nicht sofort aus dem Zimmer?

»Ich dachte, du wärst tot«, stammelte er. »Ehrlich, ich dachte, du wärst tot, sonst wäre ich bestimmt dageblieben und hätte…« Er unterbrach sich und ließ den Kopf hängen. »Ich war betrunken und völlig durcheinander, Tina! Kannst du mir jemals verzeihen, was ich getan habe?«

»Schon passiert«, sagte sie leise. »Ehrlich, Jens.«

Er kam näher und setzte sich an ihr Bett, während er vorsichtig nach ihrer Hand griff. »Aber wieso?« fragte er unsicher. »Was ich getan habe, kann man nicht einfach verzeihen. Ich verstehe mich selbst nicht mehr. Ich meine, ich weiß, daß ich ein Egoist bin und überhaupt kein guter Mensch – aber…«

»Schon gut«, sagte sie. »Ich habe nachgedacht, Jens. Ich liebe dich nicht, und du liebst mich auch nicht. Das stimmt doch, oder?«

Er versuchte, seine Betroffenheit über diese Worte nicht zu zeigen. Wenn er ein anderer Mensch werden wollte, dann würde er das nicht allein schaffen, er brauchte Hilfe dabei. Aber noch während er das dachte, wurde ihm bewußt, daß er sich bereits wieder verhielt wie immer. Er dachte nur an sich.

»Ja«, gab er endlich zu, »das stimmt wohl. Bei dir kann ich es nicht beurteilen, aber wenn ich dich geliebt hätte, dann wäre ich bei dir geblieben, als du da draußen lagst. Nein, falsch. Ich wäre gar nicht erst betrunken Auto gefahren. Ich hätte alles anders gemacht, glaube ich. Aber das kann ich nicht mehr ändern. Die Vergangenheit, meine ich.«

»Nein«, bestätigte sie, »das kannst du nicht.«

»Sucht mich die Polizei schon?« fragte er.

»Alle denken, ich hätte den Wagen gefahren«, erklärte sie. »Das heißt, es sind Zweifel aufgetaucht, aber bisher habe ich nicht gesagt, daß du gefahren bist.«

Das hatte Mona ihm nicht erzählt. Er starrte Bettina an. »Warum hast du das getan?« fragte er mit heiserer Stimme. »Um mich zu schützen?«

Sie dachte einen Augenblick nach. »Ich weiß es nicht«, sagte sie schließlich ehrlich. »Ich wußte am Anfang ja gar nicht, was los war. Und ich konnte mir nicht vorstellen, daß du mich einfach im Stich gelassen hattest. Also habe ich vorsichtshalber nichts gesagt.«

»Du konntest dir nicht vorstellen, daß ich dich im Stich lassen würde?« Seine Stimme klang heiser, und er stützte den Kopf in beide Hände. »Was habe ich da nur getan, Tina?«

»Du warst betrunken«, stellte sie sachlich fest. »Am besten, du gehst jetzt gleich zur Polizei, Jens. Vielleicht wirkt sich das irgendwie zu deinen Gunsten aus.«

»Ich kann es immer noch nicht glauben, daß du mir keine Vorwürfe machst«, sagte er stockend. »Daß du mich nicht einfach hinauswirfst. Ich hab’ das nicht verdient, Tina!«

»Nein«, sagte sie freimütig, »das hast du wirklich nicht. Aber ich sehe doch, daß es dir leid tut. Außerdem fühle ich mich merkwürdigerweise wie befreit.«

»Von mir?« fragte er zutiefst bestürzt.

»Wenn du es so willst. Ja, auch von dir. Ich habe mir selbst etwas vorgemacht, und das ist nun vorbei. Ich bin dir nicht böse, Jens, wirklich nicht.«

»Ich bin ein Idiot!« sagte er heftig. »Ich habe es mir selbst zuzuschreiben, daß ich dich verloren habe.«

»Ja, das hast du«, gab sie zu. »Aber du liebst mich ja nicht, Jens. Du bist jetzt nur unglücklich, weil du die schwere Zeit, die vor dir liegt, allein durchstehen mußt.«

Er machte ein betroffenes Gesicht, aber er wußte, daß sie recht hatte. Doch das machte es eigentlich nur noch schlimmer. Wieder wurden seine Augen feucht. »Ich weiß nicht, wie ich das machen soll«, sagte er leise. »Du bist immer für mich dagewesen, Tina.«

Ihre Augen blickten sanft, aber ihre Stimme klang sehr klar und energisch, als sie sagte: »Jetzt nicht mehr, Jens. Das ist vorbei, ein- für allemal.«

*

»Was sagst du da? Dieser Kerl hat gewagt, bei dir anzurufen, und du hast ihm auch noch Auskunft gegeben, anstatt sofort die Polizei zu benachrichtigen?« Wolf Mickwitz war außer sich und rannte in Monas Wohnzimmer wie ein gefangenes Raubtier hin und her.

»Jetzt laß mich doch erst einmal ausreden«, bat Mona, doch Wolf war dafür viel zu aufgeregt.

»Ich kann es gar nicht glauben«, schimpfte er weiter. »Was hast du ihm denn sonst noch gesagt – außer, daß Bettina am Leben ist?«

»Ich habe ihm gesagt, daß sie in der Kurfürsten-Klinik liegt«, antwortete Mona wahrheitsgemäß, und mit dieser Antwort brachte sie ihren Bruder dazu, schlagartig stehenzubleiben.

»Du hast ihm…« Er starrte sie fassungslos an. »Bitte, sag mir, daß das nicht stimmt«, bat er.

»Es stimmt!« beharrte Mona. »Und wenn du mir jetzt nicht endlich ruhig zuhörst, ohne mich ständig zu unterbrechen, dann sage ich kein einziges Wort mehr, Wolf.«

Er blieb stumm, blickte sie nur an. Seufzend nahm sie ihren Bericht wieder auf. »Ich habe zuerst genauso reagiert wie du, ich war wirklich völlig außer mir darüber, daß er gewagt hat, hier anzurufen. Aber dann habe ich gemerkt, daß er wirklich durcheinander war. Er war betrunken, als der Unfall passiert ist, und er konnte sich nicht mehr genau an alles erinnern. Er hat gedacht, Bettina sei tot, und da ist er voller Panik losgerannt. Er hat jemanden gefunden, der ihn mitgenommen hat nach Berlin. Dann ist er zu einem Freund gefahren, der ihn aber praktisch rausgeworfen hat, als er die Geschichte gehört hat. Anschließend ist er nach Hause gefahren, hat ein paar Sachen gepackt und ist an die Ostsee gefahren. Die ganze Zeit hat er gewissermaßen wie unter Zwang gehandelt. Und als er dann endlich ein Zimmer genommen hatte und am Strand entlanggelaufen war, ist er endlich halbwegs zu Bewußtsein gekommen. Da war er auch wieder nüchtern, und er hat endlich kapiert, daß er alles falsch gemacht hat.«

»Reichlich spät«, brummte Wolf, aber er hörte jetzt wenigstens zu und rannte nicht mehr nervös hin und her.

»Ja«, gab Mona zu, »reichlich spät, das sieht er auch so. Aber du kannst mir glauben, daß er völlig durcheinander war. Ich mußte ihm keine Vorwürfe mehr machen, das hatte er schon selbst getan. Und wenn er sich der Polizei stellt, dann wird es noch sehr unangenehm für ihn werden, das weiß er auch. Aber vorher wollte er eben unbedingt mit Bettina reden – wer bin ich denn, daß ich sage, das dürfe er nicht? Wenn sie ihn nicht sehen und nicht mit ihm sprechen will, dann wird sie ihm das schon sagen. Oder die Ärzte lassen ihn gar nicht zu ihr.«

»Die Ärzte werden überhaupt nicht erfahren, daß er bei ihr ist«, meinte Wolf. »Es sei denn, er gibt sich als ihr Verlobter aus.«

»Das geht uns nichts an, Wolf«, sagte Mona ruhig. »Es ist Bettinas Entscheidung, wie sie sich Jens gegenüber verhält, nicht deine oder meine. Und wenn sie ihm verzeiht, was er getan hat, dann ist das auch ihre Sache.«

Er preßte die Lippen ganz fest zusammen, um nicht lauthals zu fluchen. Sie hatte recht, und er wußte es. Das war das Allerschlimmste an der ganzen Sache. Bettina würde dem Kerl verzeihen – und niemand konnte das verhindern.

*

Dr. Adrian Winter wollte noch einmal nach Bettina Wördemann sehen. Ihr Fall ließ ihm einfach keine Ruhe. Je länger er darüber nachdachte, desto rätselhafter erschien ihm ihr Verhalten. Auf dem Weg zur Intensivstation traf er die beiden ihm nun schon bekannten Polizeibeamten und begrüßte sie höflich, aber ohne sein Erstaunen zu verbergen. »So spät noch im Dienst, meine Herren?«

»Ja«, antwortete einer der beiden. Adrian wußte nicht, welcher es war, sie sahen sich einfach zu ähnlich. »Wir müssen noch einmal mit Frau Wördemann sprechen. Wir sind mittlerweile sicher, daß sie den Wagen nicht gefahren hat. Also verbirgt sie etwas vor uns. Und es ist immerhin möglich, daß sie eine Straftat deckt.«

»An was für eine Straftat denken Sie?« erkundigte sich Adrian.

Doch er erhielt keine Antwort. Der Beamte sagte steif: »Darüber können wir leider keine Auskunft geben, Herr Dr. Winter. Glauben Sie mir, uns macht es auch keinen Spaß, eine schwerverletzte Frau zu verhören.«

Adrian nickte, das konnte er sich gut vorstellen. »Dann verschiebe ich meinen Besuch bei Frau Wördemann besser auf später«, meinte er nachdenklich. »Ich störe ja nur, wenn Sie sie verhören wollen.«

»Kommen Sie ruhig mit. Sie können ja zuerst ein wenig mit ihr reden und uns dann mit ihr allein lassen.«

Adrian überlegte, warum der Beamte das wohl gesagt hatte. Wollte er, daß der Arzt der Patientin das Mißtrauen gegen die Polizeibeamten nahm? Er zuckte mit den Schultern und beschloß, das Angebot anzunehmen. Zumindest konnte er auf diese Weise feststellen, ob Bettina Wördemanns Gesundheitszustand weiterhin zufriedenstellend war. Das offene Gespräch mit ihr würde er auf jeden Fall ein anderes Mal führen müssen.

Sie hatten das Zimmer der Patientin erreicht und betraten es nach kurzem Anklopfen. Zu ihrem größten Erstaunen saß ein unbekannter Mann an Bettina Wördemanns Bett. Er stand sofort auf, als er die drei Männer hereinkommen sah. Adrian hatte den Eindruck, daß er blaß wurde, aber das konnte auch an der Beleuchtung im Zimmer liegen.

Der Mann sah die beiden Beamten an, schluckte und sagte: »Ich bin froh, daß Sie da sind, als nächstes wäre ich nämlich zu Ihnen gekommen. Mein Name ist Jens Banter, ich habe den Unfallwagen gefahren. Ich war betrunken. Alles, was geschehen ist, ist meine Schuld.«

*

Am nächsten Tag erwachte

Adrian erst am späten Nachmittag, er hatte so gut geschlafen wie schon lange nicht mehr. Genüßlich dehnte und streckte er sich in seinem Bett und dachte darüber nach, daß sich die Rätsel um Bettina Wördemann nun also gelöst hatten. Die beiden Beamten waren am Abend zuvor ebenso verblüfft gewesen wie er über das unerwartete Geständnis von Jens Banter. Bettina Wördemann hatte ihm offenbar verziehen, denn zwischen den beiden herrschte großes Einvernehmen, wie er sofort festgestellt hatte.

Schade, dachte er, denn er fand Wolf Mickwitz sehr sympathisch, und dieser hätte auch, seiner Meinung nach, viel besser zu Bettina Wördemann gepaßt. Aber offenbar hatte er keine Chance bei ihr. Die Liebe ließ sich nun einmal nicht zwingen, das wußte er selbst schließlich nur zu gut. Flüchtig tauchte ein schönes Gesicht mit violetten Augen, umrahmt von dichten blonden Locken, vor ihm auf, aber er wischte diese Vision rasch beiseite. Er wollte jetzt nicht an die Frau denken, um die seine Gedanken oft genug kreisten. Stefanie Wagner…

Mit einem Satz sprang er aus dem Bett und ging sofort unter die Dusche. Frisch und munter klingelte er eine halbe Stunde später bei Frau Senftleben. Als seine Nachbarin ihm öffnete, hob er eine Tüte in die Höhe und sagte: »Frische Brötchen und eine Zimtschnecke, Frau Senftleben.«

»Brötchen am Nachmittag brauche ich nicht, aber mit der Zimtschnecke können Sie mich locken, und ich nehme meinen Nachmittagskaffee.«

Das ließ er sich nicht zweimal sagen, und wenig später saßen sie einander, wie so oft, in Frau Senftlebens Küche gegenüber. »Was gibt’s Neues?« erkundigte sie sich.

»Die Patientin, von der ich Ihnen neulich erzählt habe, hat ihren Wagen tatsächlich nicht selbst gefahren.« Er erzählte ihr die Geschichte in groben Zügen, und wie immer hörte ihm seine Nachbarin aufmerksam zu.

»Dann kann die Polizei ja jetzt zufrieden sein«, bemerkte sie, als er schließlich schwieg. »Und der junge Mann hat hoffentlich eine Lektion fürs Leben gelernt und macht so etwas niemals wieder.« Nach einigem Nachdenken fügte sie hinzu: »Obwohl mir etwas nicht ganz gefällt an der Geschichte.«

»Und was?« fragte Adrian interessiert. Frau Senftleben bemerkte oft unscheinbare Dinge, die anderen verborgen blieben.

»Auch wenn er betrunken war, als er das alles getan hat, eine Entschuldigung ist das nicht. Er kann sie nicht wirklich lieben, sonst wäre er bei ihr geblieben – ob er sie nun für tot gehalten hat oder nicht.«

»Das denke ich auch«, gab Adrian zu. »Und ich muß sagen, daß ich ziemlich verwirrt war, als ich festgestellt habe, daß die Patientin offenbar keine Schwierigkeiten hatte, ihm zu verzeihen. Aber die beiden waren ein Herz und eine Seele. Ich habe keine Spur einer Spannung zwischen ihnen entdecken können.«

»Und wie sind Sie miteinander umgegangen?« erkundigte sich Frau Senftleben aufmerksam. »Liebevoll? Zärtlich?«

Adrian zögerte. »So genau weiß ich das nicht, aber ich würde sagen. Ja, durchaus. Ich finde es jedenfalls schade, daß dieser andere junge Mann, der Bruder ihrer Freundin, offenbar keine Chance bei ihr hat.«

Frau Senftleben lächelte weise. »Ich wäre da nicht so sicher an Ihrer Stelle, Adrian. Vielleicht erleben Sie in dieser Sache noch eine Überraschung.«

Er machte ein verdutztes Gesicht. »Eine Überraschung? In welcher Hinsicht, Frau Senftleben?«

Sie lachte vergnügt. »Das verrate ich Ihnen doch nicht, Sie Schlaumeier. Dann wäre es ja keine Überraschung mehr.«

*

»Ich verstehe dich nicht, Wolf«, sagte Mona unglücklich. »Warum willst du denn auf einmal so schnell wieder weg? Du warst so lange nicht in Berlin und wolltest eigentlich ein paar Monate bleiben, und jetzt kann es dir plötzlich nicht schnell genug gehen…«

»Ich muß weg, Mona«, sagte Wolf mit zusammengebissenen Zähnen. »Glaub mir bitte, ich weiß, was ich tue.«

»Aber du fährst doch noch einmal in der Klinik vorbei, um dich von Bettina zu verabschieden?« fragte sie.

Er zögerte, nickte dann aber. »Ja, sicher«, antwortete er mit verschlossenem Gesicht. »Das mache ich auf dem Weg. Guck doch nicht so unglücklich, Mona.«

»Ich bin unglücklich«, sagte sie leise, und jetzt hatte sie Tränen in den Augen. »Wundert dich das etwa? Wir haben uns so lange nicht gesehen, und es gibt so vieles, das ich mit dir zusammen machen wollte. Und jetzt…?« Sie ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen.

»Ja, jetzt ist alles anders«, sagte er, und diesmal klang seine Stimme hart. Er mußte versuchen, seine Haut zu retten, und Mona wußte das auch. Sie redete nicht dar­über, aber sie wußte, warum er so schnell wieder abreisen wollte.

Er konnte nicht in Bettinas Nähe bleiben und zusehen, wie sie mit einem anderen Mann glücklich war. Einem Mann zudem, der die Schuld an ihrem schrecklichen Unfall trug. Nein, das war zuviel verlangt. Er würde sich von ihr verabschieden, und dann würde er versuchen, sich auf eine Baustelle versetzen zu lassen, die möglichst am anderen Ende der Welt lag. Er hoffte, daß ihm das gelingen würde.

Seine Sachen waren bereits im Auto. Er umarmte seine Schwester und küßte sie liebevoll. »Danke für alles, Mona. Ich melde mich, sobald ich weiß, wie es weitergeht. Paß auf dich auf, hörst du? Und – auf Bettina auch.«

Er drehte sich um und rannte fast nach draußen. Aber er war nicht schnell genug gewesen, sie hatte den Ausdruck auf seinem Gesicht gesehen, als er Bettinas Namen ausgesprochen hatte.

*

Bettina war allein und dachte nach, als es klopfte. Sie rief »Herein!« und blickte erwartungsvoll zur Tür. Als sie den Besucher erkannte, machte ihr Herz wie schon einmal diesen verrückten kleinen Satz, und auf einmal war sie ganz atemlos vor Freude. »Wolf!« rief sie. »Wie schön, daß du kommst.«

Er kam lächelnd näher, strich ihr zur Begrüßung liebevoll und ganz zart über eine Wange und setzte sich. »Ich komme, um mich zu verabschieden«, sagte er ruhig.

Er sah den Schrecken in ihren Augen und fragte sich verwirrt, was das wohl zu bedeuten hatte. War es ihr denn nicht gleichgültig, ob er da war oder nicht? Mit neunundzwanzig Jahren brauchte man doch seinen großen Bruder nicht mehr ständig in der Nähe zu haben.

»Du willst abreisen?« fragte sie tonlos. »Aber ich dachte, du bleibst länger dieses Mal.«

»Das wollte ich eigentlich auch, aber meine Pläne haben sich inzwischen geändert. Doch ich wollte nicht fahren, ohne dich noch einmal gesehen zu haben, Bettina.«

Sie rang um ihre Fassung. Er fuhr wieder ab, und sie hatte keine Möglichkeit, ihm zu sagen… ihm zu sagen…

»Bettina!« rief er bestürzt. »Warum weinst du denn?«

»Weil du wegfährst«, schluchzte sie. »Jetzt, wo ich endlich weiß, daß du gar nicht wie ein Bruder für mich bist, und wie dumm ich war, daß ich das nicht schon längst begriffen habe. Mit Jens und mir, das ist vorbei, Wolf. Ich habe ihm ganz leicht verzeihen können, was er getan hat, weil er mir wirklich gleichgültig ist, kannst du das verstehen? Es hat mich nicht mehr berührt, er muß jetzt selbst zusehen, wie er mit seinem Leben fertig wird. Und seit mir das klargeworden ist, fühle ich mich wie ein neuer Mensch, obwohl ich hier im Bett liege und mich nicht rühren kann. Wahrscheinlich sehe ich ja auch schrecklich aus, aber wenn du jetzt fährst, dann kann ich überhaupt nicht mehr versuchen, dich davon zu überzeugen, daß ich vielleicht doch die richtige Frau für dich bin. Früher hast du das immer geglaubt, weißt du das noch?«

Zu ihrem größten Erstaunen lachte er, und sein sonst so verschlossenes Gesicht veränderte sich dadurch völlig. Er sah auf einmal viel jünger aus, seine dunklen Augen blitzten, und unzählige Fältchen umrahmten sie. »Das glaube ich immer noch, Bettina. Ich dachte nur, du würdest dich dieser Ansicht niemals mehr anschließen, und deshalb wollte ich abreisen. Ich dachte, du und Jens, das sei eine ganz feste Sache.«

»Meinetwegen wolltest du abfahren, Wolf?« Jetzt flüsterte sie. »Wenn ich jetzt nichts gesagt hätte, dann wärst du einfach gefahren?«

Er beugte sich über sie und gab ihr einen Kuß – ganz zart nur, weil er Angst hatte, ihr weh zu tun. »Vielleicht hätte ich es ja doch nicht geschafft«, gestand er, »ohne dich noch einmal zu fragen, ob du nicht endlich einen Mann in mir sehen möchtest und nicht länger nur einen großen Bruder.«

Sie schloß die Augen. »Daß Glück und Unglück so nah beieinander liegen können«, sagte sie leise, »das habe ich nicht gewußt.«

»Ich liebe dich, Bettina«, sagte er, und jetzt klang er fast feierlich. »Ich habe gedacht, es sei mir gelungen, dich zu vergessen, aber als ich dich wiedersah, wußte ich sofort, daß das ein Irrtum gewesen ist.«

»Ich liebe dich auch«, erwiderte sie voller Staunen. »Wirklich, Wolf, ich liebe dich. Und ich frage mich, ob ich das nicht vielleicht schon sehr lange tue, ohne es gemerkt zu haben.«

»Ja, ja«, neckte er sie, »in dieser Hinsicht bist du möglicherweise nicht ganz so klug wie sonst.«

Sie lachte glücklich, und wieder küßte er sie zärtlich und voller Liebe. »Mona wird sich wundern, wenn ich nachher mit meinem ganzen Gepäck wieder auftauche«, murmelte er.

»Sie wird sich wundern, und dann wird sie überglücklich sein«, prophezeite Bettina. »Sie ist meine beste Freundin und wird meine Schwägerin. Ach, Wolf. So glücklich war ich noch nie in meinem ganzen Leben.«

»Mal sehen, ob wir das in Zukunft nicht noch steigern können«, meinte er ernsthaft, und dann lachten sie beide.

*

»Ich glaube«, sagte Dr. Julia Martensen am nächsten Abend zu Beginn des Nachtdienstes zu ihrem Kollegen Dr. Adrian Winter, »daß du doch noch kein Experte in Liebesdingen bist.«

»Wieso nicht?« erkundigte er sich erstaunt. »Habe ich etwas übersehen?«

»Hast du mir nicht gestern noch voller Bedauern erzählt, daß Wolf Mickwitz bei Bettina Wördemann leider keine Chancen hätte, weil sie diesem Jens Banter leichten Herzens all seine Untaten verziehen hat?«

»Ja, und?« fragte Adrian.

»Frau Wördemann und Herr Mickwitz werden heiraten, sobald es der Zustand unserer Patientin zuläßt«, berichtete Julia trocken. »Du mußt da etwas übersehen haben, Adrian.«

»Tatsächlich?« murmelte er. »Aber es sah doch wirklich so aus, als sei sie sich mit diesem Herrn Banter völlig einig.«

»Völlig einig, daß sie sich trennen, ja«, sagte Julia und bedachte ihn mit einem liebevoll-spöttischen Blick. »Wie gesagt, du mußt noch ein bißchen üben, Adrian.«

»Mach’ ich«, versprach er geistesabwesend und ging, ohne es selbst richtig zu bemerken, zum Telefon. Er hatte die schöne Stefanie Wagner schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr gesehen. Zwei Wochen waren seitdem mindestens vergangen. Am besten, er würde sie jetzt gleich einmal anrufen.

Als er wenige Minuten später zu seiner Kollegin zurückkehrte, strahlte er über das ganze Gesicht, aber sie tat, als bemerke sie es nicht. Er brauchte eben ab und zu einen kleinen Anstoß, wie die meisten Männer.

Kurfürstenklinik Paket 1 – Arztroman

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