Читать книгу Vom Leben und Streben der Eissturmvögel - Ninni Martin - Страница 10
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ОглавлениеMahoud fragte sich, warum er mitten in der Nacht an der Pforte des Asylantenheims zu warten hatte. Es goss in Strömen und der Wachmann ließ ihn im Regen stehen. Gerne wäre er einfach über die Straße gegangen und hätte sich an der überdachten Bushaltestelle untergestellt. Doch der Wächter dachte nicht daran, das Tor zu öffnen. Fast schien es ihm, als würde sein Bewacher Spaß daran finden, ihn durchweichen zu sehen. Mahoud klopfte an die Scheibe und bat um ein weiteres Mal, hinausgelassen zu werden. Wieder winkte er mit dem Umschlag. Der Pförtner lächelte nur, während er sich kopfschüttelnd eine Tasse Kaffee eingoss. Es kam nicht oft vor, dass nachts an der Pforte etwas stattfand und aus Langeweile und Boshaftigkeit schlürfte er provozierend sein heißes Getränk. Für den Wachmann wäre nichts dabei gewesen, einen Pappbecher mit Kaffee durch die Luke zu reichen. Mahoud gab es auf, zu betteln, drehte der Pforte den Rücken und ging vor dem Tor auf und ab. Wieder einmal verfluchte er seinen Cousin, der vorgeben hatte, alles über dieses Land zu wissen. Von dem Regen hier, von den Menschen und der allgegenwärtigen Kälte hatte er nichts erwähnt. Der Umschlag mit dem Ausgangsschein und dem psychologischen Attest konnte der Nässe selbst in der Innentasche seines Parkas nicht länger standhalten. Wenn Mahoud die Papiere erneut dem Pförtner oder demjenigen, der ihn abholte, vorzuhalten hatte, hielte er nichts anderes als einen triefenden Papierklumpen in Händen. Würde er jemals diesen unsäglichen Ort als freier Mensch verlassen dürfen? Mahoud lachte bitter auf. Sein Leben hing an dem noch ausstehenden Ergebnis eines psychologischen Gutachtens. Die Untersuchung seines Seelenlebens war bislang die Abfolge einiger Sitzungen mit einem Psychologen gewesen, der selbst auf psychologische Hilfe angewiesen zu sein schien. Ein älterer Herr, schlecht gekleidet und übelriechend, hatte ihn zunächst in dem Besprechungszimmer des Heims besucht. Die stickige und überhitzte Luft in dem engen Raum war ihm bald unerträglich geworden. Eine Kreislaufschwäche des Psychologen, dem Anschein nach eher ein Nervenzusammenbruch, führte zur Verlegung der Sitzungen nach außerhalb in dessen Praxis. Mahoud erhielt die nötigen Ausgangsscheine. Ein Taxiunternehmen wurde beauftragt, ihn ausschließlich dorthin zu bringen und ihn von dort wieder abzuholen. Die Praxis des Dr. Jonathan Gutwein befand sich am Stadtrand in einem Plattenbau. Im 15. Stockwerk und in einer heruntergekommenen und renovierungsbedürftigen Vierzimmerwohnung hauste und heilte der Psychologe gleichermaßen. Mahoud war jedes Mal von einem Taxifahrer auftragsgemäß bis unmittelbar vor die Wohnungstür gebracht und in Dr. Gutweins Obhut übergeben worden. Nach etwa einer Stunde war er von demselben oder einem anderen Taxikollegen dann an gleicher Stelle in Empfang genommen worden. Dr. Gutwein musste sich nicht um den Zeitplan kümmern, denn nicht er bestimmte das Ende der Sitzungen, sondern der Termin- und Einsatzplan des Beförderungsunternehmens. Der Inhaber berechnete für die Eskortierungs- und Bewachungsaufgabe eine Zusatzgebühr. Er achtete darauf, den Sonderauftrag von den Angestellten tadellos ausführen zu lassen, wohl in der Hoffnung, so einen einträglichen Geschäftszweig auf Dauer hinzuzugewinnen. Wie Mahoud vermutete, wurden die Fahrer nicht nur eigens zu seiner Bewachung mit Elektroschockgeräten ausgerüstet. Beim ersten Auswärtstermin hatte er noch die Gelegenheit gesehen, zu flüchten und hatte sich vor der Wohnungstür des Psychologen von seinem Bewacher losgerissen. Er war das Treppenhaus hinuntergestürmt und hinaus und über die Straße gelaufen. Weiter war er nicht gekommen. Zwei Taxis waren unvermittelt herangeschossen und hatten ihn in eine Hecke abgedrängt und eingekeilt. Mahoud war von den Fahrern am Kragen gepackt und in eines der beiden Fahrzeuge gezerrt worden. Einer der Männer hatte ihm das Hemd aufgerissen. Dann war Mahoud so lange rücklings auf die Sitzbank niedergedrückt worden, bis der dritte Taxifahrer, von dem er sich losgerissen hatte, herbeigeeilt war. Er erinnerte sich an die kalten Elektroden, die ihm auf die Brust genau über dem Herzen aufgesetzt wurden und an den unvorstellbaren Schmerz kurz darauf. Das Nächste, das er wahrnahm, waren die leuchtenden, surrenden Geräte um ihn herum, als er in einem Notarztwagen wieder zur Besinnung fand. In ein Krankenhaus war er nicht gebracht worden. Die Bewacher hatten ihn in ein Taxi umgeladen und zurück in das Asylantenheim gefahren, so als wäre nichts geschehen. Natürlich hatte Mahoud seiner Anwältin davon am folgenden Tag berichtet. Er solle doch den Ball flach halten und den Vorfall nicht an die große Glocke hängen, hatte sie ihm geantwortet. Auf die für ihn als Fremden sonderbare Wortwahl der alten Dame konnte er sich im Nachhinein keinen Reim bilden. Zumindest hatte er es danach aufgegeben, Fluchtversuche zu unternehmen. Seitdem sah er die Besuche bei dem Psychologen und die Gespräche mit ihm als willkommene Abwechslung, auch wenn er nicht daran dachte, sich ihm zu öffnen. Verdacht auf Schizophrenie und Verfolgungswahn waren die Argumente Renate Wuttkes gewesen, seine Abschiebung im ersten Verfahrensschritt aussetzen zu lassen. Sie hatte im Vergleich mit der Widerspruchsbehörde Zeit zumindest für die Dauer der psychologischen Untersuchung gewonnen. Dr. Gutwein, als vom Gericht bestellter Gutachter, erwies sich für Mahoud und seine Anwältin als Glücksfall. Renate Wuttke hätte den Psychologen auch aus eigener Überlegung vorgeschlagen. Sie waren schon seit Langem miteinander bekannt und in einem vertraulichen Gespräch vor Beginn der Untersuchung hatte sie ihn schließlich für sich und Mahoud gewonnen. Daher verdienten die Sitzungen ihren Namen nicht. Für Dr. Gutwein gab es nichts zu untersuchen, sondern nur zu bestätigen, das im Sinne Renate Wuttkes lag. Er hätte sich dafür lange Zeit zu nehmen und möglichst viele Sitzungen anzusetzen. Im Gegenzug versprach sie, ihn in anderen Verfahren als Gutachter der ersten Wahl vorzuschlagen. Abgesehen davon bot sie an, ihn Schritt für Schritt wieder in die Gesellschaft einzuführen. Dr. Gutwein hatte die Trennung und Scheidung von seiner Frau nicht überwunden und als Freiberufler ziemlich schnell den Halt verloren. Er galt inzwischen als Alkoholiker und Tablettenabhängiger, der Termine regelmäßig platzen ließ und Gutachten schuldig blieb. Beruflich wurde er gemieden und auch sein privates Umfeld hatte sich inzwischen aufgelöst. Der Richter in Mahouds Verfahren schien Mitleid mit Jonathan Gutwein empfunden zu haben. Er wollte ihm wohl eine letzte Chance geben. Davon zumindest ging die Anwältin aus, als sie von dem Vorsitzenden der Kammer im Fahrstuhl des Gerichtsgebäudes einen dezenten Hinweis bekommen hatte. Sie hätte sich etwas um den Psychologen zu kümmern. Die erfahrene Juristin kannte natürlich das Gerücht, dem zufolge der Richter der Auslöser der Ehekrise bei den Gutweins gewesen wäre. Inzwischen wäre dieser der neue Lebensgefährte von Dr. Gutweins Ex-Frau. Zum Wohl Mahouds und, um das schlechte Gewissen des Richters austreiben zu helfen, kümmerte Renate Wuttke sich rührend um den Psychologen. Sie hatte ihn gebeten, sie zur kommenden Jagdgesellschaft derer von Mannwitz zu begleiten. Dort sollte er sich unter die Leute mischen und einen guten Eindruck von sich geben. Auftraggeber von Gutachten und mögliche Patienten begegneten ihm dort zuhauf und würden wieder auf ihn aufmerksam werden. Von all diesen sonderbaren Zusammenhängen hatte die Anwältin Mahoud erzählt und ihm zugesprochen, dass er sich als Hans im Glück fühlen dürfe. Mahoud wusste auch mit dieser Redewendung nichts anzufangen und hatte im Wörterbuch nachgeschlagen. Niemand hatte ihm geraten, dass ein Märchenbuch die bessere Wahl gewesen wäre. Weil er sich danach noch immer nicht vom Glück verfolgt sah, gab er es auf, weiterhin auf die für ihn unverständlichen Wortbilder zu hören. Er kannte bislang niemanden, der ihn einwies, wann er in dieser seltsam sonderbaren Sprache etwas wörtlich zu nehmen hätte und wann nicht.
Ein Fahrzeug näherte sich von fern. Die Scheinwerferlichter gaben den vielen Pfützen und Rinnsalen auf der Straße ein grelles Funkeln. Mahoud blieb davon geblendet, als der Wagen vor dem Tor zum Stehen kam. Eine männliche Gestalt stieg bei laufendem Motor aus und passierte die Drehtür am Pförtnerhaus. Schließlich packte der Mann ihn am Arm und zog ihn aus dem Lichtkegel der Scheinwerfer. Es war nicht der feste und schmerzende Griff, den Mahoud sonst von den Taxifahrern kannte, und auch nicht deren Zerren und Stoßen.
»Kommen Sie, Herr Benisad, steigen Sie ein!«, hörte er eine vertrauensvolle, fast schüchterne Stimme sagen. Er erkannte Dr. Gutwein. Eine zweite Person war an der Fahrerseite des Wagens ausgestiegen und zur Pförtnerloge gelaufen, wie Mahoud nun erst bemerkte. Offenbar wurde über seine Übergabe verhandelt. Es schien dabei nicht recht voranzugehen, bis die Person die Tonart wechselte und den Pförtner mit Gift und Galle anschrie und ihm juristische Schritte androhte. Renate Wuttke gab erneut ein Beispiel dafür, dass es sich nicht lohnte, mit ihr über Kreuz zu geraten. Deutlich eingeschüchtert betätigte der Pförtner die Entriegelung der Tür für die Drehrichtung nach draußen. Mahoud und Dr. Gutwein gelangten hindurch und stiegen in Renate Wuttkes Wagen. Unterdessen setzte die alte Anwältin ihrer Wut ein Ausrufezeichen hinterher. Sie kanzelte den Pförtner noch dafür ab, Mahoud ungeschützt der Nässe und Kälte ausgesetzt zu haben. Der Mann begriff, dass er in den kommenden Tagen um seinen Arbeitsplatz zu fürchten hatte. Sichtlich zufrieden stieg die Anwältin in ihren Wagen und setzte zurück. Über die Schulter und nach hinten gelehnt, gab sie Mahoud, ein aufmunterndes Lächeln:
»Heute werden wir das Unmögliche möglich machen. Sie werden sehen!«, sagte sie erwartungsfroh. Das Gesicht von Jonathan Gutwein ließ Mahoud hingegen ein ungutes Gefühl erahnen. Offenbar wusste der Psychologe bereits, worauf sie anspielte. Renate Wuttkes Zuversicht schien er allerdings nicht zu teilen. Die Fahrt verlief in Schweigen. Bald blieben die Lichter der Stadt zurück und nur vereinzelte Straßenlaternen, Ampelanlagen und beleuchtete Schilder wiesen für eine kurze Zeit die Richtung. Gegenverkehr gab es kaum. Von den Lichtkegeln der Scheinwerfer wurden längs der Straße immer dichter werdende Baumreihen und Spaliere aus Hecken und Gestrüpp angestrahlt. Mahoud folgerte daher, dass sie tief in eine bewaldete und entvölkerte Gegend hineinfuhren. Was ihn dort erwartete, blieb ihm vollkommen schleierhaft.
»Sie haben nichts davon erwähnt, dass ich als Treiber herhalten soll!«, polterte Jonathan Gutwein plötzlich los und ließ seinem angestauten Missmut freien Lauf. »Am Ende werde ich noch erschossen! Worauf habe ich mich mit Ihnen nur eingelassen?«
»Auf eine bessere Zukunft«, entgegnete Renate Wuttke kalt und behielt ihren Blick unbeirrt auf die Straße gerichtet. »Viele Chancen werden Sie nicht mehr bekommen. Für eine solch gute Gelegenheit würden andere, die in einer weit weniger hoffnungslosen Lage stecken als Sie, ohne zu zögern, ihr Leben riskieren. Was wollen Sie überhaupt? Seien Sie doch dankbar!«
»Ich war noch nie ein Treiber gewesen. Ich weiß nicht, was ich dabei zu tun habe«, verteidigte der Psychologe sich kleinlaut. Er schien über die Worte der Anwältin nachzudenken.
»Das werden Sie schon sehen, machen Sie sich keine Sorge. Vor allem aber werden Sie auf unseren Mandanten achtgeben.« Mahoud sah, wie Jonathan Gutwein verzweifelt seine Hände über dem Kopf zusammenschlug und in Selbstmitleid versank:
»Nie hätte ich mich darauf einlassen dürfen«, wimmerte er und blickte Mahoud unheilvoll in die Augen. Dass Treiber zu einer Jagd gehören, kannte Mahoud aus seiner Heimat, denn schließlich war er Falkner. Worin also lag das Problem des Psychologen? Dennoch verzichtete er darauf, nachzufragen. Er fürchtete, die an diesem frühen Morgen besonders kampfeslustige alte Dame damit gegen sich aufzubringen.
»Beruhigen Sie sich, Jonathan«, versuchte Renate Wuttke die Stimmung ihres Begleiters aufzuhellen, »ich hatte keine andere Wahl. Ich würde Sie nicht als zweiten Treiber brauchen, wenn mir Heinrich Beck nicht mitgeteilt hätte, dass er selbst ohne eigenen bleiben würde.« Mahoud dachte nach. Ebenso wie Gutwein wäre er als Treiber vorgesehen. Allmählich verstand er, warum er mit in den Wald genommen wurde. Auf Dr. Gutweins Attest für diesen frühen Ausflug stand als Begründung 'Stressbelastungstest in Verbindung mit Schlafentzug und Aussetzung der Tiefschlafphase' geschrieben. Mahoud wäre niemals darauf gekommen, dass der angebliche psychologische Untersuchungsgang sich für ihn als gewöhnlicher Jagdhelferdienst erweisen würde. Die Anwältin verlangsamte die Fahrt. Ihr Blick wurde suchend und unsicher, als ob sie eine Abzweigung bereits verpasst hätte. Beiläufig griff sie in eine Beuteltasche neben ihr auf dem Beifahrersitz und zog eine Falsche hochprozentigen Rum hervor. Ohne sich umzuwenden, reichte sie den Alkohol über ihre Schulter nach hinten.
»Was ist? Nun nehmen Sie schon!«, drängte sie ungeduldig und Mahoud war überrascht, dass sie mit dieser Aufforderung offenbar ihn ansprach. Er griff die Flasche und reichte sie zu Jonathan Gutwein weiter. Der Psychologe legte verweigernd die Hände auf die Brust und berichtigte:
»Der Rum ist für Sie.«
»Ich trinke keinen Alkohol«, entgegnete Mahoud verständnislos, »nicht im Leben habe ich Alkohol getrunken!« Er fühlte sich bedrängt und hilflos.
»Dann fangen Sie eben jetzt damit an!«, forderte Renate Wuttke garstig und entschloss sich nach einer Weile, auf seine Bedenken einzugehen:
»Sie dürfen trinken! Rum ist für Sie kein Alkohol, sondern Medizin. Wenn unser Doktor ein richtiger Arzt wäre, ein Psychiater und nicht nur eben ein Seelendeuter, dann könnten wir Morphium einsetzen. So jedoch müssen uns Alkohol, Schmerz- und Schlaftabletten dienen.« Renate Wuttkes Worte lagen ihm noch im Ohr, als der Psychologe aus seiner Hosentasche zwei verschiedene Schachteln mit Tabletten zog. Er drückte jeweils drei Kapslen aus der Plastikeinschweißung heraus. Dann hielt er ihm eine offene Hand mit den Medikamenten vor den Mund:
»Nun nehmen Sie schon!«, drängte er. »Vertrauen Sie uns! Spülen Sie nach, bis die Flasche halb leer ist. Den Rest des Rums brauchen wir noch zum Desinfizieren.« Die Sachlichkeit des Psychologen wirkte auf Mahoud trotz allen Unverständnisses ziemlich überzeugend. Dennoch zögerte er, die Pillen hinunterzuschlucken. In seinem ganzen Leben hatte er noch keine Tabletten genommen. Mahoud dachte nach. Auf keinen Fall wollte er eine Diskussion anfangen. Seinetwegen waren sie unterwegs. Er ahnte, dass der Anwältin die Jagd gleichgültig war. Sie unternahm gerade das Mögliche, um ihm die Haut zu retten. Alles würde er dafür einsetzen, sie nicht zu enttäuschen und sich für nichts zu verweigern. Morphium blendet Schmerzen aus und diese standen ihm bevor. Um nicht furchtbar zu leiden, würde er so viel Tabletten einnehmen und so viel Rum in sich hinein schütten, wie er nur konnte. Mahoud schluckte und trank, was ihm gereicht wurde.
»Das schätze ich an Ihnen, Herr Benisad, Sie wissen, worauf es im Leben ankommt«, stellte Renate Wuttke mit einem prüfenden Blick in den Rückspiegel fest. Sie zeigte sich sichtlich erleichtert, dass ihr eine entnervende Diskussion erspart bliebe. Allmählich setzte die Morgendämmerung ein. Renate Wuttke bog in einen Waldweg ab, auf den ein durchweichtes Pappschild am Straßenrand hinwies.
»Ich hätte den Weg auch blind gefunden«, spottete sie in einem Selbstgespräch, »seit Jahren laden die von Mannwitz zur selben Jagdhütte ein. Mehr als dieses Revier besitzen sie nicht.« Wohl aus dem trügerischen Gefühl überschätzter Ortskenntnis gab die alte Dame ziemlich Gas. Der Waldweg indes wurde enger, kurviger und holpriger. Ein Gefühl von Schwindel überkam Mahoud, als er zusammen mit dem Psychologen auf der Rückbank hin und her geworfen wurde. Ihm wurde übel.
»Nun kotzen Sie nicht gleich alles wieder aus!«, rief Jonathan Gutwein besorgt. Renate Wuttke verstand die Warnung und schaltete sofort. Ihre Fahrweise wurde übervorsichtig und half Mahoud für den Moment, das Gleichgewicht wiederzufinden. Zunehmend fühlte er sich enthoben und federleicht im Geist. Es drängte ihn, etwas zu sagen, doch er fand die Worte nicht. Mit Händen und Beinen versuchte er, sich auszudrücken. Bleischwer gehorchten sie nicht seinem Willen. Mahoud fühlte sich so sonderbar fremd in seinem Körper und fand Gefallen daran. Gierig nahm er einen weiteren großen Schluck aus der Flasche. Der Psychologe riss sie ihm weg und meinte, dass es wohl genug sei. Etwa hundert Meter voraus tauchten Konturen von einigen Männern auf, die einen Posten bildeten. Bis auf einen trugen sie grellrote Warnwesten.
»Mund halten dahinten und still sitzen!«, mahnte Renate Wuttke ihre Mitfahrer. Sie fuhr langsam an den Posten heran und ließ die Seitenscheibe hinunter:
»Guten Morgen, Herr Stadtdezernent Meinrichsfeld«, begrüßte sie den Mann ohne Warnweste. Dieser fungierte offensichtlich als Postenvorsteher, der über die kleine Schar von Helfern die Aufsicht führte. Auch an diesem Ort hatte alles einer hierarchischen Ordnung zu folgen, zu der natürlich gehörte, sich gegenseitig mit Amts- oder Adelstitel anzusprechen. Dass der Stadtdezernent Renate Wuttke im Gegenzug als Frau Vorsitzende begrüßte, lag darin begründet, dass sie vor Jahren kommissarisch und vorübergehend den Vorsitz der Anwaltskammer innehatte. Noch immer bestand sie darauf, von Mitgliedern der gehobenen Gesellschaft als eben solche angesprochen und gewürdigt zu werden.
»Ist Herr Beck bereits dazugestoßen?«, fragte sie den Stadtdezernenten. Meinrichsfeld rief einen Helfer hinzu, der Protokoll führte. Gemeinsam überflogen sie die zusammengehefteten Bögen der Teilnehmerliste.
»Ja, Herr Beck weilt schon unter uns«, stellte der Stadtdezernent fest, »allerdings ist er ohne den vorgeschriebenen Treiber gekommen. Hier ist jedoch ein Vermerk notiert, dass sein Helfer bei Ihnen zugestiegen wäre.« Prüfend wie einst als Mauergrenzer blickte Meinrichsfeld in das Wageninnere. Jonathan Gutwein schien von der Musterung wenig angetan zu sein. Er drehte sich verlegen zur Seite und wich den Blicken aus. Mahoud hingegen strahlte Meinrichsfeld an und lallte so freundlich, wie er konnte »Guten Morgen!« Die Sinnestrübung durch den Alkohol ließ ihn glauben, der Postenmensch drehte sich um ihn herum wie auf einem Karussell.
»Sie sehen, alles hat seine Ordnung«, bemerkte Renate Wuttke anbiedernd und versuchte die Aufmerksamkeit des Stadtdezernenten schnell auf sich zu lenken.
»Ist der Mann betrunken?«, fragte Meinrichsfeld besorgt. So leicht ließe er sich von seiner Kontrollaufgabe offenbar nicht abbringen.
»Nein überhaupt nicht! Er ist nur etwas verschlafen«, redete Renate Wuttke die durchaus zutreffende Einschätzung des Stadtdezernenten klein. Mit einem kalten Lächeln ließ sie die getönte Seitenscheibe per Knopfdruck nach oben. Ihr war Stadtdezernent Meinrichsfeld offenbar zutiefst zu wider. Zumindest las Mahoud die Erleichterung in ihrem Gesicht ab, als sie von dem Postenvorsteher durchgewunken wurde, und außer Sichtweite sie seinetwegen eine Miene des Ekels zog. Der Waldweg wurde nicht unbedingt schlechter, sein Zustand hingegen zunehmend wirrer. Weit vorne war eine Lichtung zu erkennen. Um eine umzäunte und beleuchtete Hütte reihte sich eine Anzahl geparkter Fahrzeuge. Renate Wuttke lenkte ihren Wagen nicht dorthin, sondern bog abrupt in einen Seitenweg ein, der einen dicht bewaldeten Abhang hinunterführte. Die Räder rutschten eher über Stock und Stein, als dass sie der Spur folgten.
»Wir werden hier nur mit einem Allradgetriebe und einer Seilwinde wieder hinaufkommen«, sah der Psychologe mit schlecht gespielter Fachkenntnis vorher. Offenbar vermied er es, deutlicher daran zu zweifeln, ob die Fahrerin nochmals festen Grund unter die Räder bekäme. Kritik an Renate Wuttkes Fahrweise stand ihm nicht zu.
»Im letzten Frühjahr war der Rückweg ohne Schwierigkeiten verlaufen«, antwortete sie gereizt. Sie hatte die Bemerkung von Jonathan Gutwein tatsächlich als Kritik verstanden. »Der Regen war sogar noch schlimmer als heute. Noch dazu hatte ich zwei erlegte Bachen im Kofferraum und fast die halbe Jagdgesellschaft im Wagen. Wir werden nur zu zweit sein und notfalls werden Sie schieben, Herr Dr. Gutwein.«
Weil Mahoud trotz aller Benommenheit noch einigermaßen klar hören konnte, schreckte er unvermittelt auf. Er rechnete nach. Die Summe stimmte nicht. Bald erreichten sie einen Bachlauf, an dem sie noch eine kurze Strecke entlang fuhren. Vor einer kleinen von dichten Büschen umrandeten Aue hielt die Anwältin an und stellte den Motor ab. Sie waren am Ziel angekommen. Mahoud rechnete erneut nach. Er kam nicht nur ins Wanken, als er aus dem Wagen gezogen wurde, sondern auch ins Grübeln. Die Rechnung ging einfach nicht auf. Sollte er nicht wieder zurückgefahren werden? Was hatten Frau Wuttke der Psychologe mit ihm an diesem Ort vor? Mahoud fühlte, wie er von Jonathan Gutwein auf der einen Seite unter dem Arm angehoben und auf der anderen von seiner Anwältin gestützt wurde. Die beiden brachten ihn in eine Vorwärtsbewegung, zu der er allein nicht mehr fähig war. Warum hätte er in dieser hilflosen Lage sich mit sonderbaren Rechenaufgaben zu belasten? Seine unversehens ausufernde Gleichgültigkeit verwunderte ihn. Ihm ging jedes Angstgefühl verloren, obwohl der letzte Funke der Vernunft ihm durchaus die Bedrohung anzeigte. Sie überquerten die Aue und hielten auf eine besonders struppige Hecke zu, hinter der sie eine Deckung suchten.
»Legen Sie sich hin und entspannen Sie sich«, flötete Renate Wuttke einfühlsam, »schließen Sie die Augen und versuchen Sie zu schlafen!«
Mahoud dachte nicht daran, sich hinzulegen. Er wollte eher auf und davon laufen. Stattdessen fiel er einfach zu Boden, kaum dass Jonathan Gutwein seinen Haltegriff gelöst hatte.
Wenige Augenblicke später hörte Mahoud einen lauten Knall. Dabei erlitt er einen glühend heißen Stich in sein Bein, der ihm fast die Besinnung nahm. Er schrie laut auf. Etwas wurde ihm in den Mund geschoben, dass ihm wie ein Wollknäuel, eine Socke oder ein Schal vorkam. Er rang nach Luft und bekam kaum noch Atem durch die Nase.
»Mein Gott, Sie bringen den Mann um!«, hörte Mahoud den Psychologen vor Schreck aufrufen. »Nur davon war die Rede gewesen, ihm einen harmlosen Streifschuss zu verpassen! Nun sehen Sie was Sie angerichtet haben. Sie haben dem armen Kerl die halbe Wade weggeschossen!« Jonathan Gutweins Stimme klang entsetzt. »Er wird verbluten!«, rief er immer wieder. Kurz bevor Mahoud endgültig das Bewusstsein verlor, vernahm er, wie Renate Wuttke diesem vollkommen mitleidlos entgegnete:
»Nun haben Sie sich nicht so, Sie Angsthase! Im Krieg hat eine Granate meinem Vater einen Arm zerfetzt und weggerissen. Er hat überlebt. Anstatt herumzujammern und die Leute aufzuschrecken, binden Sie ihm den Unterschenkel mit seinen Schnürsenkeln ab. Beeilen Sie sich! Wir müssen gehen!«