Читать книгу Vom Leben und Streben der Eissturmvögel - Ninni Martin - Страница 7
2.
ОглавлениеOberregierungsrat Beck saß an seinem Schreibtisch, sah aus dem Fenster und gönnte sich eine Pause. Der Schneefall war am Vormittag in Regen übergegangen und übertünchte die schmucklose Fassade auf der gegenüberliegenden Seite des Innenhofs mit einem düsteren Grau. Obwohl es auf die Mittagszeit zuging, blieb es draußen noch so dunkel, dass in etlichen Büros das Licht brannte. Einige unbeleuchtete Zimmer erinnerten Heinrich daran, dass nicht wenige seiner Kollegen die Faschingswoche für einen Skiurlaub nutzten. Er hätte sich besser ebenso freigenommen, um auf der Baustelle nach dem Rechten zu sehen. In diesem Jahr gab es kaum Brückentage. So sah er sich gezwungen, mit dem Urlaub hauszuhalten, denn in den Sommermonaten würde er viel freie Zeit für eigene Renovierungsarbeiten zu opfern haben. Heinrich kämpfte mit dem Entschluss, noch vor der Mittagspause mit der Bearbeitung einer neuen Akte zu beginnen. Eine leichte Arbeitswoche erwartete ihn. Zwischen Aschermittwoch und dem Wochenende standen nur drei Verhandlungstermine auf dem Plan. Die jeweiligen Stellungnahmen hatte er bereits in der Vorwoche verfasst und er kannte Richter und Anwältin, auf die er jedes Mal von Neuem treffen würde. Ebenso war er ihnen nicht fremd. Überraschungen sollte es für niemanden geben. Heinrich Beck galt ohnehin nicht als ein Mensch, der sich zu unerwarteten oder gar außerordentlichen Aktionen hinreißen ließe. Seine Vorgesetzten schätzten an ihm diese Berechenbarkeit im Mittelmaß. Bei Kollegen hingegen galt er als Langweiler und Aktenfresser sowie bei Richtern und Rechtsanwälten als seelenloser Bürokrat. Wann immer ein Entgegenkommen notwendig wurde und Verfahren mit Vergleichen abgeschlossen werden sollten, handelte Heinrich stets nach dem gleichen Muster: Einmal festgezurrte Grundsätze hatten für die Ewigkeit zu bestehen. Seit fünfzehn Jahren, länger als jeder andere Kollege, ging er dieser Arbeit nach. Sie bereitete ihm keine Freude, bot ihm keine Herausforderungen, sorgte nicht für Abwechslung, führte nicht zu Erfolgserlebnissen und brachte ihm wenig, eigentlich keine Bestätigung seiner selbst. Das Gemenge an Trostlosem kümmerte ihn kaum, denn nach dem Besonderen suchte er nicht. Er war damit zufrieden, als Jurist in seinem gelernten Beruf zu arbeiten und dafür ein sicheres, regelmäßiges und angemessenes Gehalt zu erhalten. Heinrich kannte Studienkollegen von früher, die als Notare, Wirtschaftsprüfer, Steueranwälte oder Geschäftsführer ein Vielfaches verdienten. Sie besaßen Ferienhäuser und Jachten und hielten sich in Zweitwohnungen Geliebte wie bescheidenere Normalverdiener Kanarienvögel. Kehrseitig erfuhr Heinrich von zwei Studienfreunden, die sich umgebracht hatten. Er hingegen verstand es, mit der Mittelmäßigkeit gut zu leben. Anfangs und in einer kurzen Ehrgeizphase war ihm der berufliche Aufstieg noch leicht gefallen und hatte ihn mit allen Verheißungen des gesellschaftlichen Vorteils gelockt. Bald verloren die Verlockungen ihren Reiz und Heinrich hatte mit der Karriereleiter nichts weiter anzufangen gewusst. Warum und wozu hätte er sich für einen andauernden Gipfelsturm schinden oder verstellen sollen? Sicherlich begünstigte eine ausgeprägte Antriebslosigkeit seinen eher steten, wenn gleich nicht unüblichen Entwicklungsweg. Er wurde zu einem Menschen, der andere weder um ihr Glück beneidete noch um ihr Unglück bedauerte. Offenbar zeichnete gerade diese Eigenheit ihn für die Arbeit als Jurist in einer höheren Ausländerbehörde besonders aus. Persönliche Gefühle oder gar Anteilnahme am Schicksal anderer wären hierbei nur hinderlich. Im Tagesgeschäft des Ausweisens, Abschiebens, Duldens oder Anerkennens zählten vor allem Routine und Berechenbarkeit. Heinrich Beck blieb es verborgen, dass ihm bereits vor Jahren ein damaliger Vorgesetzter Gefühlsblindheit und emotionale Führungsschwäche attestiert hatte. Ein entsprechender Vermerk war in die Personalakte nicht eingegangen. So lag es wohl an dieser geheimen Beurteilung, die dazu führte, dass Heinrich Beck niemals für eine Beförderung zum Ressortleiter vorgeschlagen wurde. Allerdings hatte er sich nicht nach einem Aufstieg in eine Führungsposition gesehnt. Ihn plagte kein Misstrauen, weil er sich längst hätte übergangen fühlen müssen, und er sah keinen Grund, Nachforschungen anzustellen. Heinrich blickte hinüber zu seinem Kollegen und beobachtete, wie der junge Assessor sich mit einer abschließenden Textpassage mühte. Ihm fehlten eindeutig Erfahrung und etwa zwei Dutzend Textbausteine, über die hingegen Heinrich wie ein Jongleur verfügte. Im Handumdrehen konnte er juristische Standardphrasen auf nahezu jeden nur denkbaren Einzelfall anpassen. Ottmar von Mannwitz hieß der Nachwuchsbeamte. Er hatte im letzten halben Jahr, seitdem er in das Ressort versetzt worden war, kaum ein Verfahren für sich entscheiden können. Bei den Richtern galt er als eloquentes, wenngleich auch als ziemlich unfähiges Großmaul. Die Anwaltschaft begann, auf von Mannwitz herabzusehen, und kaum würde er den Respekt der Anwälte wiedererlangen. Vor Wochen hatte der Abteilungsleiter Heinrich gedrängt, den Assessor unter die Arme zu greifen und ihn für die Dienstprüfung besser vorzubereiten. Die Hilfe hatte nicht viel gebracht, außer eine Art von Alibi, und Ottmar von Mannwitz erwies sich noch immer als vollkommen unbelehrbar. Ungeachtet seiner unzureichenden Eignung für den Staatsdienst sollte der Nachwuchsbeamte am frühen Nachmittag in einer kleinen Feierstunde zum Regierungsrat ernannt werden. Dieser offizielle Akt würde anschließend in eine amtsinterne Rosenmontagsfestlichkeit mit ausgiebigem Umtrunk übergehen, wovor es Heinrich bereits grauste.
»Lust auf einen Kurzen?« Der Assessor zerknüllte das Blatt mit seinem Textentwurf und warf es mit sportlicher Leichtigkeit zielsicher in den gemeinsamen Papierkorb. Übung machte den Meister. Dann holte er aus einer Schublade zwei Whiskeyfläschchen hervor und warf eines davon Heinrich zu, der es mit sicherer Hand fing. Auch hier machte Übung den Meister. Sie prosteten einander zu und tranken den Whiskey in einem Zug.
»Putz Dir nachher die Zähne und nimm Mundwasser!«, mahnte Heinrich den Assessor. »Der Regierungspräsident ist empfindlich. Als trockener Alkoholiker befindet er sich gerade auf einem Kreuzzug gegen Suchtgefahren im Amt. Anstatt Dir die Ernennungsurkunde zu überreichen, wird er Dich in eine Therapie schicken.«
Ottmar von Mannwitz lachte unbekümmert über seinen Rat, obwohl er einzuordnen hätte, dass die Warnung durchaus nicht als Witz gemeint war. Heinrich lächelte milde zurück. Mehr konnte er für seinen Schützling nicht bewirken und beinahe bedauerte er, dass er ihn bald als Zimmergenossen verlieren würde. Heinrich hatte längst aufgehört, die Nachwuchskräfte zu zählen, die an ihm vorbei in die Beamtenlaufbahn der höheren Ränge weit nach oben geschleust wurden. Er vermutete, dass er Ottmar nach einem halben Jahr vergessen haben würde und ihm dessen Stimme oder Gesicht entfallen wären. Nach einem Jahr legte er sich auch auf den Namen nicht mehr fest. Er käme eher auf Edgar von Gallwitz oder auf einen ähnlichen Namen, wenn er auf den ehemaligen Kollegen angesprochen werden würde. Am Morgen hatte ihm der Assessor ein Rundschreiben herübergereicht, in dem auf eine Ausschreibung für die Besetzung einer freien Position im Baurechtsamt hingewiesen wurde. Warum er sich nicht ebenfalls darauf bewerben möchte, hatte ihn von Mannwitz gefragt. Nach fünfzehn Jahren Ausländerbehörde müsse schließlich jeder den Wunsch nach einer beruflichen Veränderung hegen. Sicher bestünden für ihn beste Aussichten, für die Baurechtsstelle berücksichtigt zu werden. Heinrich schüttelte über den Vorschlag den Kopf und sagte nichts dazu. Er schätzte, dass diese Position dem werdenden Regierungsrat von Mannwitz längst zugeschoben war. Nichtsdestominder würde dieser auch dort jämmerlich versagen. Heinrich wünschte von Mannwitz einen Mentor, der ihn wenigstens vor dem gröbsten Unfug bewahrte. Er hingegen brauchte nur aus dem Fenster zu blicken, um sich bestätigt zu fühlen, dass berufliche Veränderungen für ihn einen Alptraum bedeuteten. Über nasse Baustellen zu waten, sich beinahe die Füße abzufrieren, mit abgehobenen Architekten und verschlagenen Bauherren zu streiten, widerstrebte ihm zutiefst. Es ginge stets um viel Geld und er hätte sich mit erstklassigen Rechtsanwälten herumzuschlagen. Im Vergleich dazu schien ihm der Umgang mit Asylanten ein Kinderspiel. Die Anwälte, mit denen er sich auseinandersetzen musste, hielt er zumeist für Idealisten und Gutmenschen, die nicht viel auf Streitwert und außerordentliche Honorarabrechnungen gaben. Aus Mangel an Gier blieben sie zahnlos. Sie bissen ihn nicht und Oberregierungsrat Heinrich Beck lernte, sein Arbeitsumfeld in jedem Fall von Neuem zu schätzen. Der Whiskey wärmte ihn von innen auf. Ottmar von Mannwitz schlug eine zweite Runde vor, die aus Heinrichs Schubladenvorrat bestritten werden sollte. Heinrich lehnte ab und sah auf die Uhr. Er würde noch eine halbe Stunde warten müssen, bis er in die Mittagspause gehen durfte. Dennoch räumte er seinen Schreibtisch leer, stand auf und griff an der Garderobe nach seinem Mantel. Heinrich hatte es eilig. Bis zur Mittagsstunde war er mit der Anwältin der drei aktuellen Fälle für ein kurzes Gespräch in einem Café verabredet. Anschließend hatte er vor, einen Bankberater von seinen Plänen zu überzeugen.
»Wir sehen uns auf Deiner Ernennungsfeier. Wenn jemand nach mir sucht, sage einfach, ich wäre auf der Toilette«, bat Heinrich den Assessor um eine Ausrede. Verstohlen warf er einen prüfenden Blick in den Stockwerksgang, denn niemand sollte bemerken, dass er ging. Er verließ das Gebäude des Präsidiums an einem Seitenflügel durch einen Notausgang, den die meisten Bediensteten im Haus für fest verschlossen hielten. Nur wenigen Mitarbeiter war diese Möglichkeit geläufig, die elektronische Zeiterfassung an der Pforte zu umgehen.
Im Café wartete die Anwältin bereits auf Heinrich. Ihr schien wie üblich die Zeit zu drängen. Heinrich kannte sonst keinen Anwalt, der wie sie den Terminkalender überfrachtete. Die Dame war weit über sechzig und hatte es im Grunde nicht mehr nötig, zu arbeiten. Innere Unruhe und wohl die Angst vor Bedeutungslosigkeit trieben sie unentwegt an, auch die hoffnungslosesten Fälle anzunehmen. Um den Verdienst ging es ihr eher nicht und gerade deshalb fand Heinrich sie recht sympathisch. Mit keinem anderen Anwalt hätte er sich außerhalb des Präsidiums oder des Gerichtsgebäudes für ein Gespräch getroffen. Zudem war sie die Taufpatin seines Sohns und die Schwester seiner Schwiegermutter. Ungeachtet der verwandtschaftlichen Verbindung und Nähe wahrten sie einander eine förmliche Distanz und blieben beim 'Sie'. Es hätte an ihr gelegen, Heinrich das Du anzubieten. Hauptsächlich aus beruflichen Gründen dachte sie nicht daran, und auch persönlich vermied sie es unverkennbar, mit ihm vertraulich zu werden. Überhaupt hatte Heinrich früh den Eindruck gewonnen, dass die Verwandtschaft seiner Frau nicht viel von ihm hielt und am aller wenigstens seine Schwiegermutter. Bei der Beerdigung von Marlenes Vater nur wenige Monate nach der Hochzeit hätte er der trauernden Witwe so gut wie kein Mitgefühl gezeigt, so der Vorwurf. Auch Marlene hatte ihm vorgehalten, am Grab kalt und teilnahmslos gewirkt zu haben, und er hatte somit ihre erste Ehekrise heraufbeschworen. Die Schwiegermutter begann, ihn zu hassen und äußerte sich unter vorgehaltener Hand abfällig über seine Arbeit. Außer Hörweite bezeichnete sie ihn fortan als Inquisitor, Hexenverbrenner, Scharfrichter oder Henker. Schließlich bekleidete sie den Vorsitz der lokalen Sektion einer internationalen Menschenrechtsbewegung und war um jedes Feindbild dankbar. Heinrich konnte den moralischen Wertevorstellungen von Mutter und Tochter niemals gerecht werden. Als er Marlene den Antrag machte, konnte er es kaum fassen, dass sie ihn als Ehemann annahm. Sie willigte wohl ein, um wenigstens ein einziges Mal der Dominanz ihrer Mutter getrotzt zu haben. Aus deren Sicht wäre für ihre Tochter nur ein Mann mit überragendem moralischen Anspruch infrage gekommen. Weil Heinrich jedoch als höherer Beamter für eine gesicherte Zukunft zu sorgen versprach, gab sich Marlenes Mutter, wenn auch nur oberflächlich, mit ihm zufrieden.
Mit einem verkrampften Handschlag begrüßte Heinrich die Anwältin und setzte sich zu ihr an den Tisch.
»Renate, schön Sie zu sehen!«, sagte Heinrich und versuchte lockerer zu wirken. »Leider bleibt mir nur wenig Zeit, denn wegen eines weiteren Termins heute Mittag bin ich in Eile«, entschuldigte er sich im Voraus.
»Auf der Bank?«, fragte Renate Wuttke spitz und Heinrich ärgerte sich darüber, dass Marlene die Angelegenheit bei ihrer Mutter bereits ausgeplaudert hatte. Offenbar war die vermeintliche Sensation inzwischen in der gesamten Verwandtschaft verbreitet worden. »Ich hätte nie von Ihnen gedacht, dass Sie solch ein Träumer sind«, stichelte Renate Wuttke weiter, als sie sah, dass Heinrich mit einer Antwort kämpfte.
»Ich bin von mir selbst überrascht«, bestätigte Heinrich mit leichter Ironie, um unversehens das Thema zu wechseln. »Was führt uns diesmal hier zusammen?«
Der Anwältin ging es um jene drei Fälle, die im Laufe der Woche zu verhandeln waren. Sie hatte ihn um ein Gespräch gebeten, das einem längst eingeschliffenen Ablauf folgen würde. Einer aus drei, galt die Regel, zu der Heinrich von Marlene einst gedrängt worden war. Um den Ehefrieden zu wahren, hatte er sich daran zu halten. Seit Jahren musste er immer in einem von drei Fällen der Tante seiner Ehefrau entgegenkommen. Damit die Absprache vor Gericht und bei den Mandanten nicht auffiel, fanden er und Renate Wuttke jeweils einige Tage im Voraus zu Treffen wie diesem zusammen.
»Zwei Iraner und einer aus Sri Lanka«, erinnerte Heinrich und ließ viel Zeit verstreichen, um nachzudenken. So zeigte er der Anwältin, dass er sich bereits mit den Möglichkeiten eines Entgegenkommens befasst hatte und einen Vorschlag im Sinn hielt. Renate Wuttke ahnte wohl, dass Heinrichs Angebot nicht in ihre Vorstellung passen würde, und kam ihm mit einem eigenen Lösungsvorschlag zuvor:
»Die beiden Iraner befinden sich noch in Ausbildung. Ein unbekannter Gönner würde für sie eine Art von Schmerzensgeld an den Geschädigten zahlen und zudem einen angemessenen Betrag an eine gemeinnützige Organisation spenden. Die Bedingung wäre, dass die jungen Männer bis zum Abschluss der Ausbildung noch geduldet werden würden«, erklärte die Anwältin beflissen. Heinrich erkannte, auf welche Lösung sie zusteuerte und sah sich sogleich bestätigt. »Insgesamt wäre es für das Gemeinwohl am vorteilhaftesten, wenn die Iraner bleiben dürften«, versuchte sie ihn schließlich zu überzeugen.
»Die Regel heißt einer und nicht zwei aus drei«, widersprach Heinrich leicht verärgert. »Sie bekommen nur einen, und zwar den aus Sri Lanka«, entschied er und unterstrich mit einer bedauernden Handbewegung, dass er sich auf keine Diskussion einzulassen gedachte. Er käme ihr mit dem Tamilen weit genug entgegen, den er nach Aktenlage für einen Rebellenhauptmann hielt. Mit der Abschiebung zurück in die Bürgerkriegsregion würde Heinrich den Rädelsführer nur dorthin befördern, wo diesen ein gerechtes und landestypisches Schicksal ereilen musste. Je eher die Kriegsherren sich dort unten gegenseitig massakrierten, so dachte er pragmatisch, je seltener hätten hierzulande Asylbewerber das Gemeinwohl mit Sozialkosten zu belasten. Heinrich wog den Fall der beiden Iraner dagegen. Eine hohe Geldspende, die an eine gemeinnützige Organisation flösse, beeindruckte ihn wenig. Er wunderte sich, warum Renate Wuttke ihn ausgerechnet mit diesem Anreiz locken wollte. Sie musste aus der Erfahrung gelernt haben, dass er in Fällen, in denen in auch Drogenvergehen eine Rolle spielten, kein Entgegenkommen zeigte. Niemals würde er sich von seiner harten und toleranzlosen Haltung abbringen lassen. Er kannte die Strafprozessakten der Iraner. Nur auf den ersten Blick schienen sie kleine Fische im Drogenhandel zu sein. Über einen langen Zeitraum hatten sie tagsüber in Berufsschulen und abends in Diskotheken nicht unerhebliche Mengen synthetischer Drogen und Heroin angeboten und verkauft. Nach einer Schlägerei, bei der sie einen Mitschüler schwer verletzt hatten, wurden sie festgenommen und angeklagt. Zumal die Iraner noch nicht volljährig waren, bestand die Aussicht, dass der Richter ihre Ausweisung aussetzen würde. Einer Duldung würde Heinrich jedoch mit Nachdruck entgegenwirken. Deshalb hakte er bei den Strafermittlern nach und erhielt vorab Hinweise, welche die beiden Asylbewerber in einem noch schlechteren Licht erscheinen ließen. Bis Ende der Woche erwartete er von den Kollegen belastende Ermittlungsergebnisse, mit denen er dem Richter seine ablehnende Haltung begründen konnte. Demnach stellen die jungen Männer durchaus feste Größen in einem gut durchorganisierten Händlerring dar. Heinrich brauchte nicht zu raten, um davon auszugehen, dass der unbekannte Gönner sicher einer der örtlichen Drogenbarone wäre. Überhaupt käme das Geld, das dieser Hinterhofpate spendete, vorwiegend aus den denkbar schmutzigsten Quellen, nämlich aus Drogengeschäften in Schulen.
»Gestalten wie diese haben Floh hineingerissen!«, bekundete Heinrich knapp und ging nicht weiter auf die jungen Drogenhändler ein. Beim Gedanken an Florian fühlte er Wut und Ohnmacht. »Hat Ihnen Marlene davon nichts erzählt?«, fragte er die Anwältin verzweifelt. Renate Wuttke zeigte sich überrascht. Sie schien nichts davon zu wissen. Zwar würde sie ihren Patensohn Florian nicht als Musterknaben kennen, dass er inzwischen weit abgerutscht war, entsetzte sie offensichtlich.
»Ich erinnere mich, dass es vor zwei oder drei Jahren bei ihm zu sehr bedenklichen Vorfällen mit Alkohol gekommen war«, bestätigte sie. »Marlene ließ mich glauben, dass sie Florians Sucht wieder in den Griff bekommen hat.« Renate Wuttke wurde nachdenklich. »Wie schlimm steht es um ihn?«, fragte sie betroffen. Hätte sie von Florians Drogenproblemen geahnt, wäre sie im Fall der beiden Iraner sicher nicht auf Heinrich zugegangen.
»Alkohol ist ihm nicht mehr schick genug. Er ist im letzten Jahr ehrgeiziger geworden und will nach dem Abitur Medizin studieren. Dafür braucht er gute Noten, die er mit seiner mittelmäßigen Begabung kaum erreichen kann. Jedenfalls scheint er von Alkohol über Ecstasy auf Kokain übergegangen zu sein und hat wohl auch Geschmack an Metamphetamin gefunden. Vor drei Wochen war er nachts vor einer Diskothek zusammengebrochen. Er lag einige Tage auf der Intensivstation und war nicht ansprechbar. Dafür sprachen die Ergebnisse der Bluttests Bände und die Ärzte haben uns eindringlich auf seinen ernsten Zustand hingewiesen. Marlene und ich dachten, dass wir Florian wieder auf einen guten Weg gebracht hätten. Dennoch habe ich befürchtet, dass nach den Alkoholexzessen der Vorjahre bei Floh die Entzugstherapie nicht dauerhaft anschlagen würde.«
»Sollte ich einmal mit Florian reden?«, bot Renate Wuttke sich an, »ich bin schließlich seine Patin.«
Heinrich dachte über ihren Vorschlag nur zögerlich nach. Ablehnen durfte er das Hilfsangebot nicht. Zu Florian fühlte er schon seit Monaten, den Zugang zu verlieren. Wenn er seinem Sohn nicht mehr helfen konnte, dann hätte es einen Wert, wenn die Patin an seine Stelle treten würde.
»Ja, sicherlich nützt ein offenes Wort von Ihnen«, willigte Heinrich ein und schob die Verantwortung von sich, »bitte sprechen Sie sich vorher mit Marlene ab. Sie ist empfindlich, wenn jemand sich ungefragt in ihre Angelegenheiten einmischt.« Er hingegen hatte es aufgegeben, ihr Ratschläge zu erteilen, denn beinahe alles, das er bemerkte, fasste sie als maßlose Kritik auf. Im Café wurde es unruhiger und lauter. Zur Mittagspause erschienen viele Gäste, die vor allem Schutz vor dem Regen suchten. Wortlos saßen Heinrich und Renate Wuttke noch einige Minuten beisammen und tranken Kaffee. Schließlich endete ihr Treffen mit der Verabredung eines Vergleichs im Fall des Tamilen. Heinrich versprach, ein Gutachten über die gegenwärtige Lage in Sri Lanka anzufordern, aus der er eine tatsächliche Bedrohung des Flüchtlings vermutlich würde nicht herauslesen können. Ungeachtet, zu welchem Schluss der Experte darin wirklich käme, schlösse das Gutachten dann die Akte im Zweifel für den Tamilen. Im Fall der beiden Iraner hingegen hätten sie sich ordentlich vor dem Richter zu streiten und das Urteil abzuwarten.
Der Weg zur Bank führte Heinrich durch eine überdachte Einkaufspassage. Draußen regnete es noch immer in Strömen. Er nutzte die Gelegenheit, im Trockenen, wenn auch im hastigen Gehen, zu telefonieren. Zunächst versuchte er, Marlene zu erreichen. Sie hatte ihr Mobiltelefon ausgeschaltet. Offenbar befand sie sich gerade in der Vorstellungsrunde. Heinrich wertete die Serviceansage der Telefongesellschaft, dass der Gesprächsteilnehmer vorübergehend nicht erreichbar sei, als ein gutes Zeichen. Dennoch ließ seine Unruhe nicht nach. Marlene konnte sich inzwischen bei Florian gemeldet haben. Heinrich wählte über eine Kurzwahltaste die Mobilfunknummer seines Sohns. Zu Hause auf dem Festnetz brauchte er ihn nicht anzurufen. Florian kam nur noch selten mittags heim. Wenn nicht spät in der Nacht kehrte er oft überhaupt nicht mehr zurück und trieb sich tagelang bei Freunden herum. Wohl wegen der Faschingsferien blieb er seit Tagen unauffindbar. In wenigen Monaten würde er volljährig werden und an der Aufsicht und Kontrolle seines Sohns wollte Heinrich sich nicht mehr aufreiben. Nach dem Abitur, sofern er die Prüfungen bestünde, zöge er ohnehin fort. Als Student würde er in einer anderen Stadt ein vor seinen Eltern vollends verschlossenes Leben führen. Das Einzige, das Florian mit ihm dann noch verbände, wäre die monatliche Banküberweisung. Mit Unbehagen hörte Heinrich das Freizeichen. Er musste lange warten, bis sein Sohn das Gespräch annahm.
»Heini, was ist?«, antwortete Florian merklich gestört und in einem pampigen Ton.
»Sag nicht immer Heini zu mir, ich bin Dein Vater!«, platzte Heinrich wütend heraus. Einige Passanten in der Einkaufspassage drehten sich verwundert nach ihm um. Er erhöhte das Schritttempo, denn seine Unbeherrschtheit war ihm peinlich und er wollte nicht erkannt werden. Papa, und nicht Mama, war das erste Wort, das Florian zu sprechen gelernt hatte. Heinrich hatte sich wie ein König gefühlt. Mit 'Paps' musste er sich abfinden, als Florian aus dem Kindergarten kam und eingeschult wurde. Als Achtklässler, nach dem Landschulheim, hörte er Florian Heinrich zu ihm sagen. Seitdem blieb ihm nur noch übrig, die schleichende Entfremdung zwischen Vater und Sohn hinzunehmen. Seit einigen Monaten ließ Florian ihn deutlich spüren, dass er ihn wirklich für einen Heini hielt.
»Hat Deine Mutter sich bei Dir gemeldet?«, fragte Heinrich ungeduldig, nachdem er sich etwas gefasst hatte.
»Ja, vorgestern. Warum?«, entgegnete Florian ungerührt. Heinrich gab seinem Sohn keine Antwort und beendete das Gespräch, indem er das Gerät ausschaltete. Beinahe hätte er es vor Wut in den nächsten Abfalleimer geworfen. Gleich würde er auf die Knie fallen und auf der Bank um den Kredit zu betteln haben.
Missmutig saß Heinrich in einem Besprechungszimmer der Bank. Sein Finanzberater hatte sich bereits auf den Weg in die Mittagspause begeben, obwohl er gerade noch pünktlich zum verabredeten Termin erschienen war. Die heftige Beschwerde beim Filialleiter zeigte Wirkung und ein Auszubildender im Clownskostüm wurde dem Mitarbeiter hinterhergeschickt, um ihn zurückzuholen. Ein anderer, als Biene Maya verkleidet, servierte ihm eine Tasse Kaffee. Nach einer Weile erschien der Mitarbeiter und übertraf Heinrich an Übellaunigkeit. Er holte die Antragsunterlagen hervor und warf sie lustlos auf den Schreibtisch.
»Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass wir Ihren Kreditantrag ablehnen werden«, erklärte der Berater nüchtern. Für ihn war das Beratungsgespräch damit abgeschlossen.
»Ich verstehe nicht!«, haderte Heinrich, »Sie sagten doch, dass meine Chancen nicht schlecht stünden. Bitte berücksichtigen Sie, dass meine Frau bald mit einem eigenen und sicheren Einkommen dazu beisteuern kann, den Kredit zu bedienen.« Heinrich log. Die Zusage für die Stelle hatte Marlene offenbar noch nicht erhalten. Andernfalls hätte sie ihn sofort angerufen. Falls sie bald über ein eigenes Einkommen verfügte, wollte sie gewiss nichts zu der Renovierung beisteuern, denn von Anfang an war sie dagegen.
»Mögliche Finanzierungsleistungen Ihrer Frau sind leider nicht die entscheidenden Kriterien, nach denen wir uns richten«, antwortete der Finanzberater kalt. »Wir haben inzwischen das Gutachten erhalten. Das Objekt ist nicht viel wert. Selbst das Grundstück taugt nicht als Sicherheit für einen Hypothekenkredit. Es ist zu klein, zur Hälfte von einem Friedhof umgeben und grenzt mit einem Viertel an ein Sumpfgebiet. Für einen erweiterten Neubau würde auch auf lange Sicht keine Baugenehmigung erteilt werden.« Der Bankangestellte schüttelte verständnislos mit dem Kopf. »Wie konnten Sie sich nur auf ein solches Objekt eingelassen haben? Das werden Sie niemals wieder los!«
Heinrich dachte nicht daran, seine Erwerbung jemals abzugeben. Gerade deshalb brauchte er dringend den Hypothekenkredit mit einem günstigen Zinssatz.
»Ich bin ein langjähriger Kunde dieser Bank. Was hielten Sie davon, wenn ich mich zukünftig für ein anderes, zuvorkommenderes Institut entscheiden würde«, drohte Heinrich angespannt. Schließlich warb die Bank damit, dass bei ihr der Kunde König sei. Er wollte sehen, was geschähe, wenn er laut darüber nachdachte, einem anderen Geldinstitut seine königliche Gunst zu schenken. Der Berater blieb unbeeindruckt und lachte ihn aus:
»Ein solches müssten Sie zunächst einmal finden. Keine Bank wird Ihnen für diese Ruine ein Hypothekendarlehen anbieten. Wie bei uns bekämen Sie auch an anderer Stelle nur einen marktüblichen Privatkredit mit höherem Zinssatz. Wir können Ihnen hierfür ein gutes Angebot unterbreiten und das Darlehen auf Ihre Bedürfnisse zuschneiden. Zumal Ihre Frau bald dazuverdienen wird, sollten Sie den Privatkredit ebenso anstandslos bedienen können wie ein Hypothekendarlehen.« Der Finanzberater schlug einen freundlicheren Ton an, denn er witterte einen einträglichen Abschluss, bei dem er Heinrich als Bankkunden nicht verlöre. Nichtsdestoweniger hatte er ihn als König soeben gestürzt. »Sie sind Beamter. Wir wissen Ihre sichere und berechenbare Einkommenslage durchaus zu schätzen«, endete der Berater überlegen und wies ihn zum Ausgang. Beim Hinausgehen zögerte Heinrich, denn er musste eine Entscheidung treffen. Letztendlich wäre er vor dem Berater auch auf die Knie gesunken.
Heinrich schlich auf demselben Weg in das Präsidiumsgebäude hinein, auf dem er es verlassen hatte. Im Foyer gesellte er sich zu seinen Kollegen. Jedoch dachte er nicht daran, mit ihnen in der Kantine zu Mittag zu essen. Der Appetit war ihm vergangen. Was für ein Narr war er gewesen. Er hatte den Kreditvertrag unterschrieben. Zinslast und Tilgung nähmen ihm für die kommenden Jahre jeden Spielraum. Wie lange noch würde sein alter Mercedes halten? Weite und häufige Wege standen dem Fahrzeug bevor. Eine Neuanschaffung musste er sich auf absehbare Zeit aus dem Kopf schlagen. Sollte er am Nachmittag versuchen, den Vertrag zu widerrufen? Schließlich war es Rosenmontag und deshalb ein Tag, an dem auch die größten Dummheiten verzeihlich schienen. Dann allerdings konnte jeder daher kommen und um Vergebung bitten. Wo er sich umblickte, sah Heinrich nur Narren. Eine Narrheit bedeutete es, am Nachmittag Ottmar von Mannwitz zum Regierungsrat zu ernennen. Im Zweijahresrhythmus würde dieser Versager fortan befördert werden und die Karriereleiter hinauffallen. Millionenschwere Bauprojekte, für die der Jungbeamte unweigerlich zum Hemmschuh zu werden drohte, warteten auf ihn. Menschen, die über von Mannwitz wachten, mussten wohl um ihre Fehlentscheidung wissen. Nur an einem Rosenmontag durften sie ungestraft einen Untauglichen wie ihn in ihren Kreis aufnehmen. Die sichere Erkenntnis, von keiner Gunst bevorteilt worden zu sein, tröstete Heinrich, während er unschlüssig vor einem Getränkeautomaten stand. Schließlich überwand er seine Abneigung gegen lauwarmen und zu dünnen Kaffee. Mit einem halb vollen Becher bestieg er einen bereits überfüllten Aufzug. Einer fragte ihn, ob er auch zum Rosenmontagsfest käme. Mit einem nur kurzen und wortlosen Nicken bestätigte Heinrich seine Teilnahme, weil von wollen nicht die Rede sein konnte. Er durfte nicht fehlen. Andernfalls würde noch mehr über ihn geredet werden. Er ahnte, dass hinter seinem Rücken heftig und bösartig über ihn gespottet wurde. Nun war es Rosenmontag. Jemand im Aufzug wagte sich offen vor, ihn vor den Kollegen ins Lächerliche zu ziehen.
»Als was verkleiden Sie sich?«, fragte er scheinheilig und schob gleich darauf einen als Witz gemeinten Vorschlag nach: »Wie wäre es als Mönch oder als schwarzer Abt?«
»Als Glöckner von Notre Dame«, witzelte ein anderer, den Heinrich im dichten Gedränge nicht ausmachen konnte.
»Als Leuchtturmwärter!«, rief ein weiterer dazwischen. Alle bogen sich vor Lachen. Heinrich wandte sich ab und stand wie erstarrt vor der Kabinentür in der Hoffnung, der Aufzug erreichte schneller als sonst das Stockwerk seines Büros.
»Halt, halt!«, tat sich ein Naseweis hervor, »vergesst nicht die Kleiderordnung! Am Rosenmontag darf niemand als das kommen, was er ist. Unser Oberregierungsrat Beck wird daher in einer völlig anderen Verkleidung erscheinen, die mit allem, das er sonst noch ist, nichts gemein hat!« Ein neidvoller und giftiger Unterton in der Bemerkung des Kollegen rief im Gedränge zunächst beipflichtendes Gemurmel hervor. Danach herrschte bedrückende Stille. Aus Ärger über den unverhohlenen Spott schluckte Heinrich so laut, dass alle mithörten. Sollen sie doch lästern, redete er sich ein und entschloss sich, Rosenmontagsfeierlichkeiten ab kommendem Jahr für immer zu meiden.
Als Heinrich Beck das Präsidium durch die Hauptpforte verließ und seine Anwesenheitsdauer am Zeiterfassungsgerät verbuchte, war es bereits dunkel geworden. Er hätte noch länger bleiben und den ausgelassenen Teil der Rosenmontagsfeier miterleben können. Wie jedes Jahr würden ihm die Kollegen am nächsten Morgen darüber berichten, wer als Erstes die Kontrolle verloren habe. Er kannte welche, die im alkoholisierten Überschwang dazu neigten, den Damen an die Brüste zu grapschen oder Vorgesetzte zu beleidigen. Auf dem Weg zur U-Bahnstation ließ der Regen nach und nur die Schuhe wurden nass. Der Bahnsteig war von Berufspendlern und Narren überfüllt. In der Stadt hatte es einen Umzug gegeben. Kostümierte und betrunkene Heimkehrer quetschten sich in immer neuen Anläufen in die hoffnungslos überfüllten Wagons. Heinrich hastete heran, als vor ihm ein Sitzplatz frei wurde. Er dachte nicht daran, einer älteren Frau den Platz zu überlassen. Sein Glück währte nur kurz und er sah im Gesicht dieser die Schadenfreude, als eine betrunkene Biene Maya sich über ihm erbrach. Ihm kam der junge Mann bekannt vor, als wäre er ihm erst wenigen Stunden zuvor begegnet. Was der Regen nicht erreichte, glich das Bienenmännchen mit einem massiven und übel riechenden Schwall aus. Heinrich schrie wütend auf und fing dafür die Faust eines Unbekannten ein, die ihn nur einen Augenblick später hart im Gesicht traf. Er blieb benommen sitzen, als Sicherheitspersonal durch das Gedränge den Weg zu ihm bahnte. Die frische Luft an einer verlassenen Vororthaltestelle, an der als vermeintlicher Unruhestifter aus dem Zug gestoßen wurde, brachte ihn allmählich wieder zur Besinnung. Seine Lippe war geschwollen, aufgeplatzt und Blut rann ihm in den Hals. Heinrich wusste genau, warum er Karneval hasste und dass ihm als Frohsinnsverweigerer geradezu ein Unglück widerfahren musste. Zwei einsame Taxis standen auf dem Vorplatz. Die Fahrer wärmten sich an einem Kiosk mit Kaffee auf. Er winkte zu ihnen hinüber. Einer von beiden kam und fragte, ob er ihn in ein Krankenhaus fahren solle. Heinrich wollte nach Hause. Die Verletzung sah nur schlimm aus und nicht das erste Mal war ihm in der U-Bahn auf den Mund geschlagen worden. Während der Fahrt senkte der Fahrer die Seitenscheiben herunter. Der Gestank von Erbrochenem war ihm so unerträglich geworden, dass er zu schimpfen begann. Im Anschluss an die Fahrt müsse er den Wagen einer Vollreinigung unterziehen, klagte er. Vor dem Wohnblock angekommen, zahlte Heinrich den exakten Betrag und gab kein Trinkgeld.
»Du stinkender Geizkragen!«, rief ihm der Taxifahrer wütend zu, ehe er davonfuhr. An einem Rosenmontag braucht der Chauffeur von keinem Fahrgast eine Beleidigungsklage fürchten. Heinrich blickte an dem Hochhaus hinauf, bis er über der Kante den Sternenhimmel funkeln sah. Er wohnte in einem der größten Gebäude des Stadtbezirks, das Platz für nahezu 350 Wohneinheiten bot. Mit seiner Familie hatte er sich in eines der beiden Dachapartments eingemietet, für deren sieben Zimmer eine stattliche Miete einen guten Teil seines Monatsgehaltes aufzehrte. Die Aussicht war ihm den Preis wert. Fast wie im Himmel hatte er sich gefühlt, als er vor beinahe 20 Jahren mit Marlene darin eingezogen war. In den Anfangsjahren hatte sie nach dem Studium als Berufsanfängerin noch dazuverdient. Nach der Geburt von Florian wurde sie Hausfrau und fand danach nicht mehr in ihren Beruf zurück. Sie arbeitete zwar hin und wieder freiberuflich, im Wesentlichen war Heinrich der Alleinverdiener geblieben. Marlene hatte ihn oft gedrängt, fortzuziehen und für die Familie eine billigere Wohnung auf dem Land zu nehmen. Er wollte nicht fort, zumindest bislang nicht. In den letzten Jahren hatte sich die Gegend stark verändert. Immer neue Gewerbegebiete und Wohnanlagen waren in der Umgebung aus dem Boden gestampft worden. Wenn er früher am Fenster gestanden war und seine Blicke über Wiesen und Wälder hatte streifen lassen, so er sah seit Neuem über öde Dachlandschaften. Vor Fabrikhallen und Einkaufscentern erstreckten sich betonversiegelte Parkplätze mit Flutlichtanlagen. Nachts war es so hell geworden wie tagsüber und nirgendwo herrschte noch Dunkelheit. Um nach den Sternen zu blicken, hatte er seinen Kopf weit in den Nacken zu strecken. Heinrich fühlte sich nicht mehr frei und entrückt, sondern ruhelos und getrieben. In den Anfangsjahren hatte er noch viele der Bewohner, die ihm im Aufzug begegneten, gekannt. Nachbarschaftliche Gespräche gab es seit Langem nicht mehr. Er hatte es aufgegeben, sich die Gesichter von Menschen zu merken, die auf ihn fremd wirkten. Er wurde unsicher, ob der Zufall es so wollte und er bald Mitbewohner würde abschieben müssen. In ihrer Rastlosigkeit schienen die meisten Bewohner nur noch auf der Durchreise zu sein. Überall im Gebäude nagte der Zahn der Zeit. Wirtschaftlich war Haus abgeschrieben, aufgegeben und dem allmählichen Verfall überlassen. Lange würde er Marlenes Drängen nicht mehr standhalten. Er dachte an den Kredit und daran, dass er ein Luxusappartement nicht endlos sich zu leisten imstande war.
Heinrich betrat in seine Wohnung und sah aus dem Esszimmer den Lichtschein von Kerzen. Marlene war zu Hause und er rief nach ihr. Er bekam keine Antwort. Im Esszimmer fand er den Tisch für drei Personen gedeckt. Marlene musste einen Lieferservice bestellt haben, denn Besteck und Geschirr kamen ihm fremd vor. Eine Tortenhaube und eine Salatschüssel überdeckten die Teller an den Plätzen, an denen er und Florian für gewöhnlich saßen. Marlenes Teller war bereits zur Hälfte leer gegessen. Die Essensreste darauf schienen kalt geworden zu sein und der überbackene Käse auf der Lasagne erstarrt und verkrustet. Neben einer leeren Weinflasche stand eine angebrochene Flasche Grappa. Erneut rief er nach Marlene, nun mit einem unguten Gefühl, weil er ahnte, was ihn erwarten würde. Er ging zum Badezimmer. Die Tür war nicht verschlossen. Sie lag in der Wanne und glotzte ihn an. Ihr Kopf ragte gerade noch aus dem Schaum heraus. Ein ätherischer Melissenduft in Schwaden von Dampf erfüllte den Raum. Neben der Wanne sah Heinrich eine weitere Flasche Wein, aus der seine Frau unmittelbar und ohne Glas die Hälfte getrunken hatte.
»Warum hast Du nicht angerufen!«, schrie er Marlene an und bereute seine Unbeherrschtheit sogleich. Sie tat ihm leid. Er wusste, dass er mit ihr in diesem Zustand nicht streiten sollte. Marlene sah wütend zu ihm hinauf. Sie suchte nach Worten. Mehr als ein müdes, enttäuschtes Lallen brachte sie nicht hervor. Dennoch verstand Heinrich, was sie meinte. Sie hatte ihn angerufen, immer und immer wieder am Nachmittag und am Abend. In seinem Büro war er nicht erreichbar gewesen und sein Mobiltelefon hatte er abgestellt. Sie hätte ihm eine gute Nachricht mitgeteilt, weil sie die Pfarrstelle bekommen hatte, und endlich durfte sie Pfarrerin werden. Seine Frau hatte sich darauf gefreut, deshalb mit ihm und Florian zu feiern und hatte sich den Lieferservice einiges kosten lassen. Am Ende war sie allein am Tisch gesessen, vor einem teuren Essen, das allmählich kalt wurde. Sie hatte gewartet und noch einige Male vergeblich ihnen hinterhertelefoniert. Dann war für sie die Entscheidung gefallen. Marlene feierte eben für sich. Sie hatte sich früher hin und wieder betrunken, in den letzten beiden Jahren mehrmals wöchentlich. Marlene lallte weiter vor sich hin und begriff, dass sie mit Erklärungen nicht weit zurande kam. Erneut griff sie nach der Flasche neben der Wanne. Heinrich kam ihr zuvor, nahm sie ihr aus der Hand und trank den Rest in einem Zug aus. Die leichte Säure des Weins brannte in der Wunde seiner aufgeplatzten Lippe. Dann beugte er sich herab und küsste sie. Er musste ihr seine Zuneigung zeigen. Mehr empfand er für sie nicht und verlieren durfte er sie nicht, denn was sollte er ohne sie nur anfangen?
»Ich muss ein Bad nehmen«, erklärte Heinrich ihr, »und ich brauche frische Wäsche.« Marlene schien mit Absicht darüber hinwegzusehen, wie jämmerlich er aussah. Sie ließ sich Zeit und badete genüsslich weiter. Heinrich ging ins Wohnzimmer. Auf der Anrichte lag Post, die Marlene am Nachmittag mit in die Wohnung gebracht hatte. Montags gab es zumeist Werbepost. Auf den ersten Blick entsprach das Sortiment der Briefe dem Üblichen. Ein juristischer Fachverlag warb für einige Neuerscheinungen und ein Autohaus für eine Frühjahrsinspektion im Paket mit Schlussverkaufsrabatte auf Winterreifen. Ein Mobilfunkunternehmen, das er bisher nur aus der Werbung kannte, hatte ihn mit Namen angeschrieben. Der Brief steckte in einem neutralen Umschlag. Woher kannten sie seinen Namen? Heinrich ärgerte sich darüber, dass offenbar ein Adressenhändler seine Daten ungefragt weitergegeben hatte. Von nun an würde er mit Prospekten dieser Firma unentwegt bombardiert werden. Der unauffällige Umschlag widersprach dieser Vorahnung. Was wollten sie von ihm? Er war neugierig geworden. Anstatt den Brief ungelesen in den Abfall zu werfen, öffnete er ihn. Er las das Schreiben unter dem Schein einer Stehlampe, deren Trittschalter er mit dem Fuß betätigte. Tamara Balkov, eine Regionalbeauftragte für technische Dienste des Unternehmens, bat um Aufmerksamkeit für ein interessantes Angebot, das sie ihm mit den folgenden Zeilen unterbreiten würde. Sie habe erfahren, dass er zum Eigentümer eines Objektes geworden sei, das sich als Standort für eine Mobilfunksendeanlage hervorragend eignete. Die Erlaubnis, auf dem Gebäude eine Antennenanlage zu errichten und zu betreiben, würde das Unternehmen zu attraktiven Konditionen vergüten. Tamara Balkov warb mit einer Reihe weiterer Vorzüge, die das Angebot für ihn als Neueigentümer mit sich brächte. Schließlich bat sie um einen Gesprächstermin vor Ort, bei dem sie ihm die Einzelheiten persönlich darlegen würde. In Gegenwart eines Fernmeldeingenieurs und eines Baustatikers sollte dann die konkrete Eignung des Objektes geprüft werden. Heinrich blickte auf und dachte nach. Er wusste nicht recht, was er davon zu halten hatte. Eine Antwort hätte Zeit und keinesfalls voreilig dachte er, zu einer Entscheidung zu finden. Marlene stand plötzlich hinter ihm, und in einen Bademantel eingehüllt lehnte sie sich gegen den Türrahmen.
»Du kannst ins Bad«, sagte sie. Im Schein der Lampe bemerkte sie Heinrichs blutverschmiertes Gesicht.
»Haben Dir Deine Opfer wieder aufgelauert und Rache genommen!«, spottete sie. Heinrich kannte sie nicht anders, wenn sie betrunken war. Sobald sie nüchtern sein würde, zeigte sie ihm, wie sehr ihr dieses ewige Gestichel leid tat. Gleichwohl würde sie ihn wieder darum bitten, sich endlich eine andere Arbeit zu suchen.