Читать книгу Vom Leben und Streben der Eissturmvögel - Ninni Martin - Страница 6

1.

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Das Eis war nicht dick genug und Schnee lag darüber. Bretterbohlen, die den Aushub für einen Fundamentsockel hätten abdecken müssen, stapelten sich meterweit daneben. Jeder Polier hätte sie wieder zurück an ihren Platz geschoben. Auf diesem Teil der Baustelle hatte sich seit Langem kein Vorarbeiter mehr sehen lassen. Überhaupt gab es kaum gelernte Fachkräfte um diese Jahreszeit. Die Wenigen, die das ganze Jahr über in dem Subunternehmen durchhielten, waren damit überfordert, immer neue Tagelöhner anzuweisen und zu beaufsichtigen. Der übergroße Termindruck und eine leichtfertige bis fahrlässige Bauaufsicht ließen kaum Vorkehrungen für den Arbeitsschutz zu. Jeden Tag ereigneten sich Unfälle. Ein Werkstattwagen brachte die Verunglückten fort. Wohin wusste niemand. An besonders schlimmen Tagen wurde ein kleiner Zuschlag auf den Lohn versprochen, damit die aufkommende Betroffenheit die Arbeitsmoral nicht schmälerte. Meistens blieb es bei dem Versprechen. Der strenge Frost der vergangenen Wochen hatte in den letzten Tagen nachgelassen. Dafür war über Nacht Schnee gefallen. Für Mahoud zeigte sich die Welt in einem für ihn noch unbekannten Kleid. Natürlich kannte er Winter aus dem Fernsehen. Jedoch konnte er sich nicht vorstellen, wie Schnee sich anfühlt oder riecht. Bislang hatte er gedacht, dass Niederschlag einen Geruch haben musste. Alles Feuchte, das er kannte, roch nach etwas. Besonders Trinkwasser aus den Leitungen, das oft viel zu stark mit Chlor versetzt war, hatte er je nach Herkunft am Gestank zu erkennen gelernt. Auch hier, in einem Land mit Wasser im Überfluss, bildete er sich ein, selbst den Regen noch riechen zu können. Nun bot Schnee ihm eine völlig neue Erfahrung, wenn auch eine schlechte. Mahoud brach durch das Eis. Im Loch stand das Wasser metertief und er konnte nicht schwimmen. Mit seinen dicken Handschuhen fand er am Rand des Eisbruchs keinen Halt und der mit Wasser vermischte Schnee wirkte wie Schmierseife. Sein Parka quoll auf, wurde schwer und drückte ihn hinunter. An einer Eisscholle zog er sich noch einige Male hoch, um kurz Luft zu holen, ehe er davon wieder abrutschte. Seine Kräfte schwanden und die Kälte lähmte ihn. Er hätte besser laut um Hilfe gerufen. Aus dem Gefühl, ohnehin nicht verstanden zu werden, gab Mahoud kaum einen Laut von sich. Soviel er wusste, war er der einzige Araber auf dieser Baustelle. Hingegen arbeiteten hier Pakistaner, Angolaner, Ghanaer und Liberianer sowie einige Kasachen und Usbeken. Kaum jemand verstand Deutsch oder Englisch und gewiss niemand Arabisch. Sein Trupp von Drahtbindern war viel zu weit entfernt und jeder darin allein mit sich selbst beschäftigt, der Kälte zu widerstehen. Niemand von ihnen sollte bemerkt haben, dass er verloren gegangen war. Mahoud verspürte keine Angst, nur Ärger. Er verfluchte seinen Cousin, der ihm geraten hatte, in dieses Land zu gehen. Vor Schnee, Frost und Winter hatte er ihn nicht gewarnt. Der Verwandte hatte keine Ahnung davon. Das Wasser trübte sich von aufgewirbeltem Schlamm und Lehm und er sah die Oberfläche über sich immer dunkler werden. Seltsame Gedanken, die sich niemals in Worte fassen ließen, gingen durch seinen Kopf. Allmählich schwebte er abwärts, obwohl er sich immer leichter fühlte, so als würde er fliegen. Er nahm noch verschwommen Gesichter wahr, die unendlich weit oben über den Rand der Baugrube erschienen. Dann fühlte er einen Stoß, so hart und durchbohrend wie ein Stich und verlor die Besinnung.

Mahoud hatte unglaubliches Glück. Ein Kranführer hätte ihn von weit oben nicht beinahe ertrinken gesehen, wenn ein Lastwagen mit den Armierungsmatten nicht in einen Graben abgerutscht wäre. So hatte sich der Entladetermin um einige Minuten verzögert. Der Mann auf dem Kran hätte in alle möglichen Richtungen blicken oder in seiner Gondel einen kleinen Fernsehapparat anschalten können, um die Wartezeit zu überbrücken. Ein vereinzelter Bauarbeiter, der ziemlich orientierungslos über ein Feld aus Eis und Schnee stolperte, wäre ihm kaum von Interesse gewesen. Dreißig Jahre Berufserfahrung ließen ihn das Unglück kommen sehen. Der Kranführer wartete geradezu darauf. Als es geschehen war, und Mahoud um sein Leben kämpfte, rief er über Funk um Hilfe und lotste die Heraneilenden heran. Einer der Männer stach mit einem Armierungseisen dem Versinkenden hinterher und bekam ihn an der Kapuze zu fassen. Mit Mühe und klammen Fingern zogen sie ihn aus dem Wasser und legten ihn auf den Rücken. Mit seinem ganzen Gewicht drückte ein Usbeke Mahoud einige Male auf den Brustkorb. Dann rollten sie ihn zur Seite. Wasser und Erbrochenes flossen aus seinem Mund und Nase und er begann wieder zu atmen. Zwei der Arbeiter packten ihn auf einen Karren. Die anderen wurden von einem Vorarbeiter wieder an ihre Arbeit gescheucht. In einem ungeheizten Baucontainer und auf einer Pritsche liegend fand er wieder zu sich. Er war allein. Jemand hatte eine Flasche Wodka vor ihm hingestellt. Er dachte zunächst nicht daran, den Alkohol anzurühren. Weil er noch immer in durchnässter Kleidung steckte und zu zittern begann, überlegte er, ob Wodka ein wenig helfen würde. Mahoud widerstand der Versuchung. Nichts war ihm wichtiger als trockene, warme Kleidung. Daran mangelte seine Versorgung ohnehin und überhaupt blieben auf der Baustelle Sauberkeit und Hygiene ohne Bedeutung. Tagelöhnern wie ihm standen keine heiße Dusche zu, nur Waschtröge mit bestenfalls lauwarmem Wasser. Mahoud sah sich um. Er befand sich in einem Gerätelager. Handtücher und warme Decken würde er hier nicht finden. Er wollte aufstehen und hinausgehen. Auf der entfernten anderen Seite der Baustelle befanden sich die Schlaf- und Wohncontainer. Dort hatte er in einer Sporttasche eine Garnitur Wäsche zum Wechseln verstaut. Doch seine Beine kamen ihn so wachsweich vor, dass er sich schnell wieder auf den Rand der Pritsche setzte. Dann hockte er einfach da, wartete und fror erbärmlich. Nach einer Weile kam ein Kraftfahrer in den Container, um ihn abzuholen. Sie stiegen in einen Kleintransporter. Mahoud sah auf der Rückbank bereits seine Tasche liegen. Über mehr Habseligkeiten verfügte er nicht und nichts würde er auf der Baustelle zurücklassen. Das Polster des Beifahrersitzes sog sich voll mit Wasser, das aus seiner Kleidung sickerte. Er lehnte sich vorwärts und ließ sich von dem Heißluftgebläse am Armaturenbrett, so gut es ging, wärmen. Als sie die Baustellenausfahrt durchquerten, fuhr ihnen eine Kolonne von Fahrzeugen des Zolls entgegen.

»Mann, hast Du ein Glück!«, stellte der Fahrer fest und nickte Mahoud zu. »Die filzen zurzeit jede Baustelle nach Schwarzarbeitern. Die würden Dich, wie alle anderen auch, festnehmen, schon morgen auswiesen und in ein Flugzeug setzen. Die Regierung greift durch und ihre Zöllner sind unerbittlich und machen vor nichts halt.«

Mahoud beherrschte die fremde Sprache noch wenig und doch verstand er, was der Fahrer ihm zu erklären versuchte. Seit Tagen gab es unter den Arbeitern kein anderes Thema. Ständig und eher mit Händen und Füßen erzählte einer von anderen, die auf Baustellen, in Restaurants oder Wäschereien festgenommen worden waren. Mahoud zweifelte, ob der Rat, die Ausweispapiere rechtzeitig zu vernichten, ein guter wäre. Zumindest konnte so die Ausweisung verzögert werden. Er dachte nicht daran, seine Identität zu verschleiern. Sobald er ausreichend Geld verdient haben würde, wollte er ohnehin weiterreisen und bis dahin durfte er sich eben nicht festnehmen lassen. Dieses Land gefiel ihm nicht und bei dem Gedanken, einen Fehler begangen zu haben, verfluchte er abermals seinen Cousin. Der Fahrer verfiel in Schweigen. Sie fuhren stundenlang auf einer Autobahn erst in die Dämmerung und dann in die Nacht hinein. Allmählich begann er etwas trockener zu werden, dafür beschlugen die Seitenscheiben des Transporters zunehmend mit Kondenswasser. Mahoud nickte ein. Als er aufwachte, stand der Transporter auf einem Autobahnrastplatz. Der Fahrer war bereits ausgestiegen und öffnete die Seitentür von außen. Kalte Luft zog in das Fahrzeug.

»Endstation!«, rief er und riss Mahoud so derb von seinem Sitz, dass er das Gleichgewicht verlor und auf den Asphalt fiel. Ungerührt stieg der Fahrer zurück in das Fahrzeug und fuhr davon. Nach etwa hundert Metern stoppte der Transporter. Die Seitentür schwang auf und Mahouds Tasche flog im hohen Bogen heraus. Dann fuhr der Wagen wieder an und verschwand endgültig. Auf einem ähnlichen Rastplatz war Mahoud vor mehr als drei Wochen abgeholt und zur Baustelle gebracht worden. Er hatte das Areal die ganze Zeit nicht verlassen und wo er sich befand, wusste er nicht. Es interessierte ihn auch nicht, denn er hatte jede Woche sein Geld in bar bekommen. Schnell lief Mahoud zu seiner Tasche, öffnete sie und wühlte tief hinein. Den Umschlag mit dem Geld fand er nicht. Einer der Tagelöhner musste ihn bestohlen haben. Vor einigen Tagen hatte er einen ertappt, wie dieser einem anderen Arbeiter das Geld aus der Tasche zog. Der Tagelöhner bot ihm davon etwas an, damit er ihn nicht verpetzen würde. Mahoud nahm nichts an, doch verraten hat er den Dieb nicht. Das war ein Fehler gewesen, wie er nun begreifen musste. Unter der Innensohle eines Turnschuhs hielt er eine Banknote versteckt. Erleichtert stellte er fest, dass ihm wenigstens dieses Geld und ebenso sein Ausweis noch geblieben waren. Er schulterte die Tasche und lief hinüber zu einem Restaurantgebäude. Im Eingangsbereich fand er eine Nische, die als Kiosk eingerichtet war. Er wechselte die Banknote in Kleingeld und kaufte Marken für Duschkabinen im Keller. Dort herrschte Betrieb. Viele Fernfahrer bereiteten sich für die Nacht vor und erledigten ihre Toilette. Im Umkleidebereich war die Luft verbraucht, dämpfig und stickig, zumindest war es warm. Mahoud genoss das heiße Wasser und die Zeituhr für den Duschautomaten schien es nicht eilig zu haben. Nach mehr als einer halben Stunde hatte er erst zwei Marken verbraucht. Dann kleidete er sich wieder an, soweit die trockene Unterwäsche reichte. Über Oberbekleidung zum Wechseln verfügte er nicht. Seine nasse Hose, den Pullover und den Parka klemmte er zwischen die Lamellen eines Heizkörpers und setzte sich davor. Die Fernfahrer sahen ihn misstrauisch an. Sie hielten ihn für einen Obdachlosen, der in ihrem Badezimmer nichts verloren hätte. Ihm wurde bewusst, dass er tatsächlich obdachlos war. Der Duschbereich leerte sich allmählich und Mahoud musste keine weiteren Anfeindungen fürchten. Er hoffte, die Nacht über vor der Heizung sitzen bleiben zu dürfen, doch dann erinnerte er sich an das Türschild mit den Öffnungszeiten. Spätestens ab Mitternacht würde er wieder auf die Straße geschickt werden. Ein Nachzügler betrat den Umkleideraum und grüßte ihn wortlos. Als der Fernfahrer unter der Dusche stand, begann dieser ein Lied vor sich hin zu trällern, das Mahoud kannte. Unentwegt wurde es im letzten Jahr in den Radiostationen vieler arabischer Länder gespielt. Er summte mit. Die Melodie erinnerte ihn an seine Heimat und an bessere Tage. Als der Fernfahrer aus der Dusche stieg und sich abtrocknete, bemerkte er, dass Mahoud mitsang.

»Woher kommst Du?«, fragte er ihn auf Arabisch.

»Aus Katar«, antwortete Mahoud.

»Was hast Du ausgefressen?«

Mahoud schwieg. Der Fernfahrer zog sich an und setzte sich neben ihn.

»Wenn Du aus Tunesien oder Marokko kommen würdest, wäre es nicht ungewöhnlich, Dich so erbärmlich zu sehen. Aber Du bist Araber eines reichen Lands. Bestimmt hast Du im Wohlstand gelebt. Wer ist hinter Dir her? Ein Emir persönlich?«

Mahoud fühlte sich berührt und bedrängt zugleich, denn der Fremde schätzte ihn ziemlich treffend ein. Was ginge ihn sein Leben an? Um nicht abweisend zu wirken, schenkte er dem Mann ein unverbindliches Lächeln. Er dachte zwar nicht daran, mit ihm über die Vergangenheit zu reden, doch würde er die Gelegenheit nur ungern verstreichen lassen, überhaupt mit einem Menschen zu sprechen. Seit Wochen suchte er ein Gespräch, und wenn es darin nur um Belangloses ginge. Manchmal meinte er, seine Sprache bereits verloren zu haben.

»Nimm mich mit!«, bat Mahoud den Fernfahrer unversehens, »ich kann hier nicht bleiben.« Ihm war es gleich, wohin der Mann ihn bringen würde. Er wollte nicht viel erklären, denn er fühlte sich durchschaut und seine Ziellosigkeit war ihm anzusehen.

»Gut«, sagte der Fernfahrer, »ich werde Dich ein Stück weit mitnehmen. Ich brauche ohnehin jemanden, der mir morgen beim Verladen helfen wird.« Er warf ihm ein gewinnendes Lächeln zu und fragte ihn, ob er Hunger habe. Mahoud nickte, während er sich seinen nicht mehr triefend nassen Pullover überstreifte. Gemeinsam stiegen sie aus dem Untergeschoss die Treppe hinauf und setzten sich in das Restaurant. Der Fernfahrer bestellte für ihn mit, ohne zu fragen, was er essen wolle. Ihm wurde ein schlichtes und preiswertes Gericht serviert, ohne dass der Fremde sich dafür verausgaben musste.

»Woher kommst Du?«, fragte Mahoud den Fernfahrer, der ihm dem Wesen nach einfach, offen und ehrlich zu sein schien. Er vermutete, dass sein Gastgeber genauso getrieben wurde, nur zu sprechen, um die Muttersprache nicht zu verlernen. Wie angenehm erschien es deshalb beiden, nicht in einer fremden Sprache nach Worten zu suchen, um am Ende doch nicht verstanden zu werden.

»Aus Marseille. Ich bin dort geboren. Von meiner Herkunft her bin ich Marokkaner. Ich besitze zwar einen französischen Pass und fühle mich dennoch nicht als Franzose. Französisch habe ich nie richtig gelernt, weil es in dem Viertel, in dem ich aufgewachsen bin, nicht nötig war«, erzählte der Fernfahrer, während er aß. Mahoud erkundigte sich, was den Marokkaner hierher geführt habe, zumal es sich in Südfrankreich um diese Jahreszeit erträglicher leben und arbeiten ließe. Die Unterhaltung kam in Gang und sein Gastgeber zeigte sich redselig. Er führe für eine französische Spedition vor allem Tiertransporte. Seine Touren reichten innerhalb Europas stets von einem Ort zum anderen, ohne dass Länder und Grenzen von Bedeutung seien. Allein die Auslastung des Fahrzeugs zähle sowie Umsatz und Gewinn. So reise er bereits seit Wochen ausschließlich in den Ländern Nord- und Osteuropas umher. Sein Disponent würde andere Fahrer für Einsätze in südlichen Regionen bevorzugen. Natürlich quäle ihn inzwischen das Heimweh. Bald jedoch würde er alles hinwerfen, endlich heiraten und sich eine andere Arbeit suchen.

Mahoud hörte zu und dachte zurück. Auch er hatte eine Frau gefunden und war davor gestanden, zu heiraten. Dafür hätten sie ihm den Kopf abgeschlagen. Mahoud verdrängte die Erinnerung und schenkte dem Kraftfahrer wieder seine Aufmerksamkeit. Der Marokkaner erzählte noch eine Weile von sich und beschrieb die Gegend um Fes, woher seine Eltern stammten und wohin er im Alter ziehen würde. Es gäbe keinen besseren Ort als dort, um in Ruhe alt zu werden. Marseille sei dann eine schöne Stadt, wenn sich auch Geld verdienen ließe, solange es überhaupt möglich sei, zu arbeiten. Für Alte, Kranke und für Einwanderer hätten die alt eingesessenen Franzosen dort nicht viel übrig. Die Bedienung erschien, um abzurechnen und um sie hinauszubitten. Der Service würde um Mitternacht schließen. Etwa 50 Kilometer die Autobahn entlang gäbe es jedoch eine weitere Raststätte, welche rund um Uhr geöffnet bliebe. Mahoud und der Fernfahrer verließen das Restaurant und gingen über den Parkplatz auf den Lastwagen mit Anhänger zu. Unter Planen waren die Ladeflächen voll mit Transportkisten, in denen Hühner dicht gedrängt eingeschlossen waren. An einer Seite hob der Fernfahrer die Plane an und kontrollierte mit einem flüchtigen Blick die Fracht. Dann fluchte er. Die Zahl der verendeten Tiere hatte deutlich zugenommen. Er hätte sein Ziel, den Schlachthof einer bekannten Handelskette, längst erreicht haben sollen, jedoch war er stundenlang in einem Stau hängen geblieben. Noch dazu hatte ihn eine Polizeistreife herausgewunken. Frachtpapiere und Fahrtenschreiber waren genau überprüft worden. Die Kontrolleure fanden nichts und suchten weiter nach dem Haar in der Suppe. Bei einem Reifen wurden sie fündig, bei dem das Profil zu sehr abgefahren war. Der Fernfahrer musste von einem Händler einen Ersatzreifen liefen lassen und montieren, ehe er weiter ziehen durfte. Das große Sterben unter den Hühnern hatte derweil längst begonnen, ohne dass die Kontrolleure sich daran störten. Mahoud wollte an der Beifahrerseite einsteigen.

»Du fährst!«, bestimmte der Fernfahrer kurz und nahm selbst auf dem Beifahrersitz Platz.

»Ich kann nicht fahren!«, versuchte Mahoud einzuwenden, »ich habe noch nicht einmal einen Führerschein.«

»Den brauchst Du auch nicht. Du musst nur einige hundert Kilometer geradeaus fahren. Alles andere regeln die Automatik und der Tempomat.« Der Fernfahrer gab ihm einige Anweisungen, um das Fahrzeug zu starten und anzufahren. Er achtete gerade noch darauf, dass er den Lastzug sicher auf der Autobahn einfädelte. Dort herrschte kaum Verkehr. Als Mahoud am Steuer sicherer wirkte, verkroch der Fernfahrer sich im hinteren Teil der Kabine in eine Koje. Bald hörte Mahoud ihn schnarchen. Alles kam ihm wie ein Traum vor. Auf den Golfplätzen war er als Heranwachsender mit Freunden nachts auf Trolleys um die Wette gefahren: steuern, Gas geben und bremsen. Auf ihn wirkte es beinahe unglaublich, dass ihm die dort erworbene Fahrkunst nun von Nutzen wurde. Er fühlte sich viel zu aufgeregt, um sich von der Müdigkeit des Fernfahrers anstecken zu lassen. Straßenschilder mit den Kilometerangaben tauchten im Scheinwerferlicht auf und zogen an ihm vorbei. Sie sagten ihm nichts. Er kannte die Städte nicht und das Ziel dieser Tour war ihm unbekannt, soweit für ihn der Weg nicht bereits das Ziel bedeutete. Für den Moment war Mahoud zufrieden. Er fror nicht und fühlte, dass seine Kleidung allmählich trockener wurde. Er brauchte nirgendwo ankommen und wäre noch Millionen Kilometer weiter gefahren. Dunkelheit und Eintönigkeit nahmen ihm das Zeitgefühl. In den frühen Morgenstunden passierte er eine Unfallstelle. Eine Zugmaschine wurde gerade von einem Autokran aufgerichtet. Die Wechselbrücke ragte noch umgestürzt aus der Böschung und unzählige Bierkästen lagen über die halbe Fahrbahn verstreut. Von den Lichtern und Geräuschen wurde der Fernfahrer wach. Er tippte Mahoud an und mahnte ihn, langsamer an der Unfallstelle vorbeizufahren. Als sie wieder Fahrt aufnahmen, fragte ihn der Fernfahrer, ob er sich mit Hühnern auskennen würde.

»Sollte ich? Gebe ich dafür den Anschein?«, antwortete er und abermals wunderte er sich darüber, wie gut ihn der Mann einschätzte. Als sie auf dem Parkplatz die Planen angehoben hatten, war diesem aufgefallen, dass er das Federvieh mit Verstand gemustert hatte.

»Ich habe Hühner und Tauben gehalten«, antwortete Mahoud und er hätte darüber mehr erzählt. Der Fernfahrer ließ ihn nicht weiter zu Wort kommen und mutmaßte:

»Sicher nicht der Eier wegen und auch nicht, um sie zu züchten.«

»Das stimmt«, bestätigte Mahoud. Offenbar beschäftigte den Fernfahrer bereits eine Ahnung, die nach Bestätigung drängte. Er kam der Nachfrage zuvor und fuhr fort:

»Ich bin Falkner«, sagte er stolz. »Mir dienten Küken und Tauben als Futter sowie als Lock- und Beutetiere für meine Vögel.«

Der marokkanische Fernfahrer blickte ihn prüfend an:

»Als Falkner in Katar warst Du bestimmt ein Künstler gewesen, ein geachteter und gemachter Mann. Hier hingegen bist Du nichts. Du musstest Dir dort eine goldene Nase verdient haben. Was hat Dich hierher getrieben? Du bist völlig am Ende. Was hast Du ausgefressen?«

»Du bist ziemlich neugierig«, entgegnete Mahoud widerstrebend, über seine Lebensgeschichte zu reden, soweit sie über die Falknerei hinausging.

»Nein, ich vermute nur, dass wir vielleicht eine ähnliche Vergangenheit haben«, erklärte der Marokkaner. »Sieh mich an! Ich bin kein Fernfahrer, sondern Goldschmied und habe in der Werkstatt meines Onkels gearbeitet. Einmal hat er nachgewogen und zwei Gramm Gold fehlten. Ich bekam keine Gelegenheit, den Verlust aus eigener Tasche auszugleichen. Er zeigte mich sofort wegen Diebstahls an.«

»Und deshalb fährst Du nun Tiertransporte?«, fragte Mahoud ungläubig.

»Vor Gericht konnte mein Onkel den Diebstahl nicht beweisen, und ich wurde frei gesprochen. Am Tag nach der Verhandlung habe ich von ihm eine Entschuldigung verlangt und dass er mich weiterbeschäftigen solle. Er hat mich ausgelacht. In der Wut habe ihn beinahe erschlagen und ihm die Knochen gebrochen. Dafür bin ich sieben Jahre im Gefängnis gesessen. Ich habe Schulden aus unbeglichenen Anwalts- und Gerichtskosten und zahle noch immer Schmerzensgeld. Jeden Tag weiß ich, warum ich Lastwagen fahre. Als Goldschmied war ich begabt, ein Meister, ein Künstler so wie Du wohl als Falkner. Ich hätte in Lyon oder in Paris mit einem eigenen Atelier Fuß fassen können und ein gutes Leben führen dürfen. Wenn mir heute Leute begegnen, die sich etwas zuschulden kommen ließen, kenne ich deren Last, denn ich kann ihnen nachfühlen. Dir jedoch erscheint meine Menschenkenntnis nur wie Neugierde!« Der Marokkaner versuchte Mahoud hervorzulocken, damit auch er über sich zu erzählen begänne.

»Ich habe die Nichte eines Ministers geschwängert«, gab Mahoud zu und dachte, dass ihn der Fernfahrer sofort mit zotigen Anspielungen aufziehen würde. Stattdessen schlug er ihm zunächst anerkennend auf die Schulter und erst nach einer langen Weile sagte er:

»Du siehst gut aus und beeindruckst! Sie hätten eben auf die Kleine gründlich aufpassen müssen.« Gut gelaunt verteilte der Marokkaner ein Kompliment und begann wie erwartet und doch verspätet über seinen Fehltritt zu witzeln. Bald lachten beide über verschiedene lustige Vorstellungen vom Aufpassen, obwohl Mahoud nicht wirklich zum Lachen zumute war. In dennoch guter Stimmung zog die Fahrt sich eine weitere Stunde hin. Bei Anbruch der Dämmerung fuhren sie auf einen Parkplatz am Straßenrand, um auszutreten. Danach übernahm der Fernfahrer selbst das Steuer. Wenig später erreichten sie eine Geflügelschlachterei in einem namenlosen Industriegebiet einer hässlichen mittelgroßen Stadt. Ein Mitarbeiter des Schlachthofs lotste sie auf einen abgelegenen Stellplatz fernab von den Betriebsgebäuden. Er besah die Fracht und ordnete in einem mürrischen Kasernenhofton das Umpacken der Hühner an. Damit hatte der Fernfahrer gerechnet. Mahoud staunte, als er von ihm angewiesen wurde, noch lebende gegen tote Hühner in den Kisten umzusetzen und nach diesem Muster die gesamte Ladung umzusortieren. Gemeinsam brauchten sie für das Umpacken eine gute Stunde. Am Ende waren lebende und tote Hühner sauber voneinander getrennt und kistenweise jeweils auf Lastwagen oder Anhänger verteilt. Den Hänger mit den verendeten Tieren ließen sie zurück, als sie zu gegebener Zeit mit der lebenden Fracht an die Laderampe gerufen wurden. Eine Schar von Tagelöhnern begann mit dem Entladen. Ein Amtstierarzt ging die Runde, begutachtete die Ware und füllte einen Kontrollbogen aus. Bald verschwand der Kontrolleur in seinem Büro. Diese Gelegenheit wurde genutzt, um von dem Fernfahrer auch den Anhänger an die Rampe fahren zu lassen. Nun wurden die toten Hühner entladen, sofort aus den Kisten entnommen und nach unten hängend auf die Transporthaken für die Schlachtstraße gesteckt. Alles musste zügig geschehen. Mahoud wurde von einem Vorarbeiter angeherrscht, nicht nur herumzustehen, sondern mitzuhelfen. Der Tierarzt schien sich mit seiner Pause besonders lange Zeit zu lassen. Möglicherweise wusste er, was vor sich ging. Sobald auch das letzte Huhn geköpft, ausgeblutet, federlos und ohne Innereien in die Zerlegestraße einmünden würde, ließe er sich wieder blicken. Erst dann würde er sich von der tadellosen Güte aller Schlachtkörper überzeugen. Mahoud arbeitete flink und geschickt und sah, wie der Fernfahrer sich mit dem Vorarbeiter besprach und sie mit Handschlag eine Verabredung trafen. Schließlich kam er auf ihn zu, um sich zu verabschieden.

»Leider kann ich Dich nicht weiter mitnehmen und wünsche Dir viel Glück«, sagte er und reichte ihm die Hand. Mahoud fiel es schwer, die Enttäuschung zu verbergen. Gern wäre er mit bis nach Frankreich gefahren, auch wenn es noch Wochen hätte dauern können, bis eine Frachtroute dorthin führte.

»Du kannst hier bleiben«, bot der Fernfahrer an. »Ich habe mit dem Vorarbeiter gesprochen und sie lassen Dich auch ohne Papiere arbeiten. Auf dem Betriebsgelände gibt es eine Unterkunft für die Arbeiter. Sie zahlen nicht schlecht. In ein paar Wochen wirst Du genug Geld beisammenhaben, um allein weiterzukommen.«

Mahoud nahm es als einen schwachen Trost. Er dankt dem Fernfahrer und wünschte ihm eine gute Fahrt. Den ganzen Vormittag arbeitete er an verschiedenen Stellen der Zerlegestraße, wodurch der Vorarbeiter seinen Einsatzwillen sowie Fingerfertigkeit und Auffassungsgabe beurteilen konnte. Er schien mit ihm als neuen Arbeiter zufrieden zu sein. In der Mittagspause führte er ihn zu den Unterkunftsräumen im Keller einer Lagerhalle. Ein gruftartiger Zugang unter einer Bodenklappe sollte nicht leicht zu finden sein und blieb tagsüber mit Verpackungskisten verstellt. Diese waren zunächst beiseite zu räumen, hätte jemand außer Plan die Unterkunft aufzusuchen. Mahoud ahnte, was auf ihn als Neuen zukommen würde, und das Kistenstapeln versprach, morgens und abends zu seiner täglichen Übung zu werden. Der Vorarbeiter wirkte nicht gerade freundlich und sprach recht gut Englisch. Er erklärte ihm die Verhaltensregeln. Vom Geld und der Höhe der Entlohnung sprach er nicht. Mahoud wagte es nicht, danach zu fragen. Für die restlichen Minuten der Mittagspause schickte der Vorarbeiter ihn zum Essen. Es gab Hühnersuppe und nichts anderes hätte er erwarten dürfen. Am Nachmittag kam ein weiterer Tiertransport an. Das Sortieren toter und lebender Tiere vollzog sich nach dem gleichen Muster wie am Morgen. Gegen Abend wurden die Arbeiter mit Hochdruckreinigern zum Säubern der Schlachträume und Hallen eingeteilt. Mahoud erhielt keinen Gehörschutz und das laute Zischen und Tosen des Wasserstrahls führte zu einem unerträglichen Lärm. So hörte er nicht den Warnruf des Vorarbeiters. Er bemerkte nicht, dass er allein mit einem Afrikaner, der ebenso taub wie er war, zwischen den Förderbändern herumstand. Unversehens stürmte eine Gruppe Uniformierter heran und packte zu. Ein Vollzugsbeamter redete auf ihn ein, ein anderer auf den Afrikaner. Dieser schien gut vorbereitet zu sein und spielte zunächst vor, als würde er nichts von alledem verstehen. Als ihm die vorgebliche Ahnungslosigkeit nicht länger weiterhalf und der Zöllner die Geduld mit ihm zu verlieren drohte, wechselte er plötzlich in ein einwandfreies Englisch. Wie ein Wundermittel zog der Afrikaner einen Studentenausweis aus der Tasche. Die Visitenkarte einer Anwaltskanzlei, die der unbestreitbare Studiosus gleich darauf nachreichte, beeindruckte den Zöllner weit tiefer. Offensichtlich ahnte der Beamte voraus, was ihm blühte, wenn er den Studenten nicht sofort laufen ließe. Mit einigen ermahnenden Worten kam der Afrikaner davon. Neidvoll erkannte Mahoud, dass er mit solchen überzeugenden Argumenten nicht aufzuwarten in der Lage war. Nun bereute er, sich allein darauf verlassen zu haben, niemals gefasst zu werden. Von zwei Beamten wurde er zu einem Kleintransporter geführt. Als sie an der Verladerampe vorbeikamen, sah er seine Sporttasche in einer Ecke liegen. Er bat die Zöllner, diese mitnehmen zu dürfen und die Beamten ließen die Bitte zu. Neugierig geworden überprüften sie den Inhalt. Dabei fanden sie seinen Ausweis und waren zufrieden, endlich einen Einwanderer aufgegriffen zu haben, dessen Identität sie ermitteln konnten. Ein Glücksgriff wie dieser schien ihnen in der Vergangenheit nicht oft gelungen zu sein. Die Beamten fuhren Mahoud in ein Untersuchungsgefängnis. Auf der Fahrt dorthin gingen ihm die vergangenen Wochen durch Kopf. Er hatte hart gearbeitet und sich geschunden. Gelohnt hatte sich die Mühe nicht. Beinahe wäre er ertrunken. Welcher große Fehler war ihm unterlaufen? Ihm lag es fern, sich selbst zu bemitleiden oder zu bedauern. Jedoch bereitete ihm die Ungewissheit darüber, wie es nun mit ihm weiterginge, Unruhe und Angst, denn die Rückweisung in sein Heimatland käme einem Todesurteil gleich. Mahoud wurde in eine Zelle gebracht. Ein Beamter erklärte ihm auf Englisch die Rechtslage und den Ablauf des kommenden Verfahrens. Für den nächsten Tag sei ein Dolmetscher für Arabisch bestellt. Allein in der Zelle setzte er sich auf die Pritsche. Bald stand er auf, ging hin und her und fühlte sich wie ein Tier im Käfig. Nur langsam wich die Angst und allmählich nahm ihn eine seltsame Gleichgültigkeit ein.

Vom Leben und Streben der Eissturmvögel

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