Читать книгу Ferkel fliegen nicht - Ninni Martin - Страница 10
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ОглавлениеDie kleine Kora-Lisa, neunjährige Prinzessin der Achmadis und von augenscheinlich sanfter, ängstlicher Wesensart, ließ sich von der resoluten Privatlehrerin noch beeindrucken und blieb an ihrer Hand. Nicht so ihr Bruder, der elfjährige Sylvain, dessen tägliche Ritalin-Dosis seit Kurzem nicht weiter ausreichte, um die zusätzliche und überschäumende Unruhe beginnender Pubertät zu bremsen. In einem Anfall von Jähzorn riss er sich schreiend, schlagend und stauchend von seiner Lehrerin los und stürmte den Landcruiser so gekonnt, dass auch ein kampferprobter Elitekämpfer von ihm noch einiges hätte lernen können. Voller Missmut grub sich Sylvain tief in das Lederpolster der Rückbank ein. Sie hätten ihn ausräuchern müssen, um ihn von dort wieder zu entfernen.
»Ich will mit!«, schrie er, »ich will mit zu Papa!« Aber Sylvain durfte nicht mitkommen. Maria begriff sehr wohl, dass sie ihm dieses Verbot nicht erklären konnte, und er es nicht verstünde, wenn sie es dennoch versuchte. Ein Kindheitstrauma fräße sich in seine Seele. Maria war wütend auf den Fahrer, der in Gegenwart ihrer Kinder den Mund nicht hielt. Sie würde ihn entlassen, ihn vorher jedoch noch richtig fertigmachen. Dass er ihr die Türe zur Beifahrerseite aufhielt, quittierte sie mit einem vernichtenden Blick und statt einzusteigen, schrie sie in den Fond des Wagens:
»Du Scheißkerl kommst aufs Internat!«
In die Psychiatrie wäre besser, dachte Fatima Siniola und war froh, bislang über Familienplanung noch nicht allzu viel nachgedacht zu haben. Doch als Zeugin dieses Zwischenergebnisses wohlbehüteter Erziehung fasste sie auf der Stelle den Entschluss, wenn überhaupt, dann ganz besonders gründlich darüber nachzudenken. Sylvain zeigte, dass er zumindest als Rüpel einen Ruf zur verteidigen hatte. Er spuckte seiner Mutter ins Gesicht und schlug mit einer Wasserflasche so wild umeinander, dass diese am Innendach des Landcruisers in Scherben zerbrach. Vollkommen wie gewollt zerfetzte er dann mit dem scharfkantigen Flaschenhals Sitze und Polster. Er machte den Wagen von innen heraus zu Schrott.
»Kinder!«, stöhnte Maria und fasste Fatima Siniola am Arm, »kommen Sie, wir nehmen die Pferde.«
Das Anwesen von Maria Achmadi-Bogart gründete auf einer ehemaligen Karawanserei etwa 40 km flussabwärts von Luxor auf der westlichen Seite des Nils in einer Einöde außerhalb des grünen Bandes des Flusstals. Um einen Quelltrichter herum maß das modernisierte Areal nahezu im Quadrat etwa 16 ha und bestand aus einer großzügigen Villa und zu den Seiten aus drei Bereichen unterschiedlicher Stallungen. Die Ställe für das Gestüt waren eindeutig durch die umgebenden Koppeln bestimmbar, die Geflügelställe auf der gegenüberliegenden Seite waren von technisch passender, neuester Bauart und hatten einige hochragende Kraftfuttersilos. Gegenüber des Wohnhauses, bereits weiter entfernt und jenseits des bewässerten, parkartig begrünten Hofs, befanden sich die historischen Bauten der Karawanserei. Dass diese ebenfalls als Ställe, genau genommen als Schweineställe, genutzt wurden, bemerkte die Journalistin bereits am Geruch, als sie ihr Weg bei der Ankunft daran vorbeiführte. Gestern Abend ließ Mohamad Achmadi sie hierher bringen, nachdem er noch während des Flugs mit seiner Tochter telefoniert und den Besuch der jungen Pferdefreundin angekündigt hatte. Er selbst hätte noch Geschäftliches in seinem Büro in Luxor zu erledigen. Nichtsdestoweniger lud er Fatima Siniola für den folgenden Tag zu einem Abendessen im Kreis der Familie Achmadi in deren Stadtresidenz ein. Maria freute sich wohl auf Fatima Siniolas Besuch, denn alles, was ihr ein wenig Ablenkung versprach und den großen Druck von Anspannung und Ungewissheit nahm, schien ihr willkommen. Zudem empfand sie die Journalistin, die gute zehn Jahre jünger war als sie, vom ersten Moment der Begegnung an als sehr sympathisch. Noch spät am Abend hatte sie ihr das Gästehaus herrichten lassen und Dienstpersonal bereitgestellt. Sie begrüßte sie bei ihrer Ankunft mit einer freundlichen Umarmung. Es blieb bei diesem Zeichen der Gastfreundschaft. Denn Fatima Siniola war viel zu betrunken und Maria noch zu erschüttert von einer schlechten, wenn auch erwarteten Nachricht des Nachmittags. Es wäre beiden schwergefallen, weiter Worte zu finden, als sich eine gute Nacht zu wünschen und für den nächsten Morgen eine Verabredung zu treffen. Maria wäre in einer sehr privaten Angelegenheit zunächst alleine gefahren, ohne ihren neuen Besuch, den sie kaum kannte. Doch dann, als der Tag begann, mischte sich Bedrückung in ihre Ungewissheit. Sie wollte nicht in ihre Rolle als Gutsherrin zurückgeworfen sein, die sich nüchtern auf den Weg begab, die Leiche ihres vermissten Ehemanns zu suchen, so als führe sie zu einem beliebigen Geschäftstermin. Deshalb schickte sie Fatima Siniola noch vor dem gemeinsamen Frühstück eine Einladung, mitzufahren und wozu, das würde sie auf der Fahrt noch erfahren. Maria ließ ihre unbedingte Bitte an sie ausrichten, keine Kamera oder sonstiges journalistisches Gerät mitzunehmen. Die Journalistin hatte keine Vorstellung davon, um welchen Anlass es sich dabei handelte. Sie folgte Marias Bitte, denn alles, was diente, dem Besuch einen privaten und keinen beruflichen Anschein zu verleihen, konnte ihr gerade in der frühen Phase des Kennenlernens nur von Nutzen sein.
Nachdem die beiden Frauen zu einem Tor an einem der Pferdeställe gegangen waren, standen sie wortlos, ziemlich verlegen nebeneinander und warteten, bis Bedienstete zwei herrliche, temperamentvolle und doch disziplinierte Araberpferde aufgesattelt hatten. Fatima Siniola fühlte sich unsicher. Sie hatte gestern mit ihrer angeblichen Reitkunst vor Marias Vater geprahlt und viel zu dick aufgetragen. Natürlich würde sie das Reiten nicht verlernt haben, doch bliebe sie in Marias Einschätzung wirklich eine geübte Turnierreiterin? Wie zum Glück hatte sie in den vergangenen Jahren hin und wieder ziemlich unbedeutende Amateurturniere als Zuschauerin besucht, bei denen Maria als meisterhafte Reiterin wohl niemals selbst teilgenommen haben würde, da diese weit unter ihrem Niveau lagen. Fatima Siniola hätte eben für diese Turniere ihre aktive Teilnahme zu behaupten. Im Übrigen gäbe sie Rückenschmerzen als Vorwand für ihre für derzeit recht bescheidene Reitkunst vor. Wie selbstverständlich verfluchte sie Marias Sohn Sylvain insgeheim, denn Fahren statt Reiten wäre ihr alle Mal besser zupassgekommen. Es roch nach Verbranntem und eine schwarze Rauchsäule stieg vom Vorplatz des Wohnhauses auf, Geschrei von Mitarbeitern und dazwischen, ganz zart vernehmbar, der Gesang eines Mädchens. Deswegen hatte es Maria jedoch nicht eilig, denn sie wartete, bis auch Fatima Siniola sicher im Sattel saß. Dann ritten beide im zügigen Trab los, mitten durch den Park im Innern der Karawanserei, hinaus in das Gelände aus Wüste und Stein, durch das sich ein ausgetretener Pfad hinab in das Flusstal zog. Als die Journalistin zurückblickte, sah sie den Landcruiser in einem Feuerball. Ein Kindermädchen jagte den flinken Sylvain in beeindruckender und doch nicht ausreichender Sportlichkeit über den Hof. Eine Gruppe Männer mühte sich mit einem einfachen Gartenschlauch und dünnem Wasserstrahl im Kampf um das brennende Wrack. Der Fahrer saß im Schneidersitz in sicherer Entfernung und tat gar nichts, weil er um seine Entlassung wusste. Und Kora-Lisa tanzte um ihn herum, frohlockend und singend.
»Sylvain?«, fragte Fatima Siniola.
»Nein, meine Tochter«, antwortete Maria, »vermutlich und zumindest leidvoller Erfahrung nach.« Erst nach einer Weile und im parallelen Ritt eher beiläufig fügte Maria eine Erklärung hinzu: Kora-Lisa durchlebte bereits seit einiger Zeit eine schwierige Entwicklungsphase. Sie neigte zur Pyromanie. Immer wieder hatten sie ihr Streichhölzer und Feuerzeuge abgenommen. Doch keine Schränke oder Schubladen schienen vor der Kleinen sicher, aus denen sie sich offenbar mit Leichtigkeit immer wieder von Neuem bediente. Anfangs noch waren die Schäden gering, schlimmstenfalls angesengte Haare oder Brandlöcher in ihren Kleidern. Erst vor wenigen Wochen jedoch gingen in einem Nebengebäude der Villa die Arbeitsräume von Marias Ehemann in Flammen auf. Viele geschäftliche wie wissenschaftliche Unterlagen, aber auch wichtige persönliche Dokumente, verbrannten vollständig. Der private und wissenschaftliche Bereich des Anwesens blieb durch eine Mauer von den übrigen Anlagen der Karawanserei abgesondert und wurde durch einen Sicherheitsdienst ständig personell und elektronisch überwacht. Der Zutritt durch Unbefugte war daher ebenso auszuschließen wie auch eine technische Ursache. Nach einer gründlichen Untersuchung und Befragung aller zur Unglückszeit in der Villa Anwesenden blieb für den Brand schließlich Kora-Lisa als allein infrage kommende Tatverdächtige übrig.
»Kinder, auch neunjährige Mädchen, machen mitunter große Dummheiten. Damit müssen Eltern eben leben und den Preis dafür bezahlen«, stellte Maria fest und fügte traurig hinzu, »aber das Schlimmste ist, dass sie dich schon im Kindesalter schamlos anlügen. Kora-Lisa bestreitet bis heute alles und behauptet felsenfest, nichts angestellt zu haben.«
Sylvain, fuhr Maria fort, wäre hoffentlich bald so weit, um auf einem englischen Internat aufgenommen zu werden. Im letzten Jahr verfehlte er den Eignungstest, nicht aus Mangel an Begabung, sondern weil die Aufnahmekommission bei ihm einen Entwicklungsrückstand feststellte. Die Kommission empfahl eine psychotherapeutische Behandlung, worauf dann der kleine Sylvain im Laufe eines Jahres einmal wöchentlich von Luxor aus zu einer einstündigen Sitzung bei einem Kinderpsychologen nach London geflogen wurde. Die Behandlung schien angeschlagen zu haben, denn Sylvain wurde im Verlauf dieser einjährigen Therapie wesentlich ruhiger, einsichtiger und im Besonderen umgänglicher. Bei solch eindrucksvollem Erfolg in der Entwicklung des Sohnes hatte sich die Familie unter dem wachsenden Eindruck der von der Tochter verursachten Brandschäden entschieden, nächstens auch Kora-Lisa die Segnungen moderner englischer Kinderpsychologie angedeihen zu lassen. Sobald sie denn mit ausreichenden Sprachkenntnissen dafür empfänglich wäre. Eine Tracht Prügel würden Kinder auch ohne Sprachkenntnisse verstehen, mutmaßte Fatima Siniola im Stillen. Da sie jedoch selbst keine Kinder hatte - und für den Moment mit Sicherheit auch keine wollte - unterließ sie irgendwelche Kommentare. Sie hörte Maria nur aufmerksam zu und schenkte der geplagten Mutter eben ihr Ohr, doch Verständnis für sie aufbringen, konnte sie nicht.
Nach einigen Kilometern ließen die Reiterinnen die Wüste hinter sich und erreichten den mit dichter Vegetation bewachsenen und landwirtschaftlich intensiv genutzten Saum des Nils. Ihr Weg führte sie durch Olivenhaine, Spaliere von Dattelpalmen, vorbei an Gemüsefeldern und Zuckerrohrplantagen tief in ein Gelände hinein, das von Bewässerungskanälen netzartig durchzogen wurde. Die Kanäle waren teils geflutet, teils lagen sie in böschungstiefen Einschnitten trocken. Entlang eines der breiteren Kanäle ritten die beiden Frauen dann auf einem ausgebauten Wirtschaftsweg in einer schnelleren Gangart. Fatima Siniola erkannte den Termindruck Marias und ahnte, dass der Anlass ihres Ausrittes nicht beliebiger Natur, sondern nur ein Treffen zu bestimmter Zeit und an einem bestimmten Ort sein konnte. Tatsächlich trieb die Ungeduld Maria voran.
»Vielleicht finde ich heute meinen Ehemann«, rief sie Fatima Siniola zu, die zunehmend Mühe und immer weniger Kraft hatte, ihr im schnellen Ritt zu folgen. »Vor einem Monat ist er spurlos verschwunden und ich muss mit dem Schlimmsten rechnen.« Als Maria bemerkte, dass die Journalistin nicht weiter mithielt, verlangsamte sie. Fatima Siniola holte sie wieder ein.
»Ihr Gatte ist Amerikaner?«, fragte die Journalistin und hatte flüchtig und scherzhaft einen Mann im Sinn, der in Gestalt Humphrey Bogart vielleicht nicht einmal unähnlich sah. Im Ernst jedoch ahnte sie bereits etwas von der wahren Herkunft Bogarts. Die Journalistin erinnerte sich an den Namen und an Tom Greenwoods Fotos aus der maltesischen Polizeiakte.
»Nein, mein Ehemann kam aus Deutschland«, erwiderte Maria. Es klang befremdlich, dass sie von ihm bereits in der Vergangenheitsform sprach. »Seine Herkunft war für ihn nie wichtig. Zumindest bemühte er sich, wie ein Ägypter zu sein.«
Als Maria einsah, dass sie trotz der Langsamkeit Fatima Siniolas dennoch beizeiten ihr Ziel erreichten, fand sie Zeit, der Journalistin von dem Verschwinden ihres Mannes und der gestrigen Nachricht zu erzählen. Sie sagte offen, was sie bei dem Termin erwartete. Viele der Bewässerungskanäle dieser Gegend lagen für gewöhnlich die meiste Zeit des Jahres trocken und wurden je nach Bewirtschaftung nur zu bestimmten und planmäßigen Zeiten geflutet. So war auch der Kanal, an dem sie gerade entlangritten, bis noch vor wenigen Tagen nichts anderes als eine tiefe und an den Böschungen mit unwegsamem Gestrüpp verwucherte Furche. Als der Kanal aber Wasser führte, entdeckten Bauern in seinem Unterlauf Schweinehälften, die dann und wann vorbeitrieben, die teils bereits verwest, teils auch angekohlt waren. Obwohl staatliche Gesetze in Ägypten die Schweinehaltung bislang nicht gänzlich verboten, wäre kein nach dem Islam Ungläubiger in diesem Land so verwegen, offen mit Schweinen umzugehen - vielleicht niemand außer Dr. Johann Bogart. Dr. Bogart im engeren und die Achmadis im weiteren Sinne waren dafür bekannt, dass sie dennoch Schweine hielten, jedoch ausschließlich, wie sie immer betonten und abwiegelten, zu wissenschaftlichen Zwecken. Sie hielten sich allerdings darüber bedeckt, worauf der wissenschaftliche Anspruch gründete. Die Bauern meldeten die Schweinefunde den Behörden, die daraufhin schnell einen Zusammenhang zu der bereits seit einem Monat bestehenden Vermisstenmeldung Dr. Bogarts herstellten. Ein Suchtrupp wurde organisiert, der das Dickicht an den Seiten und das schlammige Wasser im Kanalbett abstocherte. Immer mehr Kadaver tauchten auf, bis schließlich an einer tiefen und gar nicht so trüben Stelle das mutmaßlich Wrack eines Lieferwagens aufgespürt wurde. Da Zeugen zuletzt Dr. Bogart in einem Lieferwagen die Karawanserei verlassen gesehen hatten, konnte der Fund durchaus in einem engen Zusammenhang mit dem Vermissten stehen. Die Behörde organisierte für die Bergung einen Kran samt Taucher und bat Maria Achmadi-Bogart, sich am Fundort zu einer besagten Zeit einzufinden. Sie sollte an Ort und Stelle die Identifizierung des Fahrzeugs und aller Erwartung nach auch des Leichnams ihres Ehemanns vornehmen.
Die beiden Reiterinnen passierten durch bloßes Durchwinken einen Polizeiposten, der angesichts einer davor angehäuften und aufgeregten Menschenansammlung bemüht, aber überfordert war, den Weg zum Fundort vollständig abzusperren. Fatima Siniola und Maria sahen in nicht allzu weiter Entfernung einen über den Kanal ausgefahrenen Kranausleger und hörten das aufgeregte Stimmgewirr eines Tumultes. Als sie schließlich am Bergungsort ankamen, wurden sie in ein Gemenge aus Polizisten in Uniform und Zivil sowie aus einer Schar von Kindern, Jugendlichen, schaulustigen alten Männern und Frauen eingeschlossen. Dazwischen standen oder gingen Arbeiter der Bergungsfirma, islamische Eiferer im Gefolge geistlicher Würdenträger und eine Gruppe Taucher, die hitzig miteinander debattierten. Mohamad Achmadi war ebenfalls erschienen. Er eilte zusammen mit einigen seiner Angestellten scheinbar planlos in der Menge umher. Um was der ganze Aufruhr aufkochte, begriffen Maria und Fatima Siniola recht schnell. Die Bauern, offenbar auch solche, die als Verwandtschaft von weiter her angereist kamen, rotteten sich zusammen und gaben sich wütend, weil sie ihre Gärten und Felder mit unreinem Wasser belasten würden. Sie verlangten Schadenersatz, da sie durch die Schweinekadaver ihre Ernte vernichtet sahen. Die Geistlichen standen ihnen bei und stachelten sie auf. Endlich bekamen sie Gelegenheit, den religiösen Frevel der Schweinehaltung an einem ganz und gar ans Licht gekommenen Fall anzuprangern. Sie triumphierten darüber, dass ihre Verdächtigungen auf Schweinefleischhandel, den sie den Achmadis immer schon angehängt hatten, schließlich bewiesen wurden. Von dem Unmut der Bauern ließen sich die Taucher verleiten. Sie debattierten darüber, ob sie als Moslems zwischen Schweinekadavern umherzutauchen hätten. Dieser Umstand wäre ihnen bei ihrer Beauftragung verschwiegen worden. Sie suchten nach einer Lösung, wie sie Verdienstausfall und Reisekosten am schnellsten ersetzt bekamen. Der ganze Rest der Menge, bis auf Mohamad Achmadi und seine Mitarbeiter, war einfach nur ungemein guter Laune. Ihnen wurde ein spannendes und filmreifes Schauspiel dargeboten, das sie nicht besser vor dem Fernseher miterlebt hätten. Mohamad Achmadi betrieb angestrengt eine nicht landesunübliche Form von Scheckbuchdiplomatie. Die scheinbare Planlosigkeit, mit der er mal den einen, mal den anderen unter den Anwesenden in ein Gespräch verwickelte, hatte Methode. Allmählich bröckelte die Front der Bauern und ein Gutteil von ihnen behauptete am Ende, dass nur die Neugierde sie an diesen schaurigen Ort getrieben hätte. Die Geistlichen sahen plötzlich ein, dass sie allein mit Schüren von Verdächtigungen größere Aufmerksamkeit auf sich zögen, als sie bekämen, wenn sie sich in Zukunft auf das tatsächlich Miterlebte zu beziehen hätten. Und so verschwanden sie heimlich und rechtzeitig vom Ort des Ereignisses, um nicht selbst zu Zeugen des Geschehens zu werden. Die Eiferer, die noch blieben, ereiferten sich danach nicht mehr ganz so eifrig. Nur bei den Tauchern, der scheinbar geringsten Hürde, hatte Mohamad Achmadi wenig Erfolg. Aus Prinzipientreue blieb er ihnen gegenüber kompromisslos: In den Bauern sah er freie Geschäftsleute, wie er selbst Geschäftsmann war. Die Mullahs und ihre tobende Anhängerschaft waren für ihn nicht religiöse, sondern politische Gegner, die er respektierte. Die Taucher aber bedeuteten für ihn nicht mehr als bloße Lohnabhängige. Er hätte ihnen den vergleichsweise geringsten Überzeugungspreis nur zahlen müssen, und sie hätten dann sehr wohl ihre Arbeit ausgeführt. Doch mit Abhängigen verhandelte er nicht. Er hatte ihnen bei der Beauftragung den ebenbürtigen Lohn geboten, den auf Malta Werftarbeiter bei Firmen verdienten, an denen er als Hauptanteilseigner beteiligt war. Für ägyptische Verhältnisse entsprach diese Vergütung eine von Grund auf gute Entlohnung. Besseres brauchte er den Tauchern nicht bezahlen. Über ihre Argumente lachte er sie aus. Wäre ein treuer Glaubensbruder in einen Pfuhl verwesender Schweinekadaver gefallen und ertrunken, so hätte doch kein ebenso Gläubiger sich verweigert, dessen Leichnam zu bergen, anstatt ihn zwischen den Kadavern verfaulen zu lassen. Weil Johann Bogart kein Moslem gewesen war, hätte er, der Kopte, für die Bergung und würdigere Bestattung seines Schwiegersohns einen Aufpreis zu bezahlen? Niemals! Die Situation wirkte festgefahren. Es gab keine Verhandlungen mehr und die Geistlichen, die den Tauchern gut hätten zureden sollen, fehlten. Das aufgeregte Hin und Her der Menge erstarrte, die Stimmen wurden leiser, verstummten und jeder wartete gespannt, bis Mohamad Achmadi und die Gruppe der Taucher aufeinander zugehen und sich einigen würden, was aber nicht geschah. Dann kam es doch noch zu einer Wendung: Maria schaltete sich ein, die von allen am meisten Grund hatte, ungeduldig zu werden und eine schnelle Lösung des Problems herbeizuführen. Maria stieg vom Pferd, um dem Wortführer der Taucher ein Bündel Geldscheine zu reichen. Doch ihr Vater stellte sich dazwischen. Maria wusste, dass sie nicht weiter gehen durfte, um die Autorität ihres Vaters öffentlich zu untergraben. Also zog sie sich ihre Jacke und Stiefel aus, nahm kräftig Anlauf und sprang über die Böschung hinweg in den Kanal. Fatima Siniola, die nur selten an ihrem Gefühl für günstige Gelegenheiten zweifelte, tat es ihr gleich und stürzte sich Maria hinterher ebenfalls ins Wasser. Gemeinsam fingen die beiden Frauen ein Kabel auf, das ihnen ein Arbeiter zuwarf. Sie schwammen damit über die Fundstelle des Wracks und tauchten hinab. Der Kranausleger schwenkte genau über diese Stelle. Ein dickes Drahtseil mit einem Eisenhaken baumelte dicht über dem Wasser hin und her, in einer Gleichmäßigkeit, die alle Umstehenden in Bann zu ziehen schien. Eine Minute verging. Erst tauchten einige Schweinehälften auf, aufgegast und löchrig zerfressen, und dann dazwischen die beiden Frauen. Sie legten die Ösen des Kabels in den über ihnen baumelnden Haken ein. Bevor der Kran anzog, schwammen Maria und Fatima Siniola zurück an das Ufer, wo ihnen viele helfende Hände entgegengereicht wurden, sie ergriffen und in Sicherheit an Land zogen. Dort atmeten sie tief durch und zitterten vor Erregung. Das Kabel hatten sie unter Wasser um die Dachholme der Frontseite des Wagens geschlungen. Als das Wrack aus dem Wasser schwebte, schlug die Heckklappe krachend nach unten auf und gab den ganzen stinkenden Rest verwesenden Schweinefleisches frei. Das faule Fleisch klatschte zurück aufs Wasser. Gleich gab es einen ebenso wütenden wie einhelligen Aufschrei der Bauern und der Eiferer. Mohamad Achmadi hatte sich also darauf einzustellen, dass er den gerade neu entstehenden Allianzen gegen ihn bald mit weitaus kostspieligeren Nachverhandlungen begegnen würde. Die vorderen Teile des Lieferwagens, besonders Motorraum und Fahrgastzelle, waren stark eingedrückt und ausgebrannt. Eine der Seitentüren fehlte, so auch der in dem Wrack vermutete Leichnam. Fatima Siniola erinnerte sich daran, dass sie unter Wasser im Innern des Wracks wohl das Zündschloss, nicht aber einen darin steckenden Schlüssel erkennen konnte. Bis auf diesen Umstand schien ihr der mutmaßliche Hergang eines offensichtlichen Unfalls einleuchtend. Dr. Johann Bogart, der mit seinem Lieferwagen bei Nacht und Nebel Schweinefleisch zu Kunden ausfuhr, geriet auf diesem Schleichweg aus irgendwelchen Gründen aus der Spur. Er raste über die dicht bewachsene Böschung und überschlug sich vornüber in das trockene Kanalbett. Dabei wurde Johann Bogart und ein Teil seiner Fracht aus dem Wagen geschleudert. Der Motorraum fing zunächst Feuer. Das Fahrzeug brannte dann aber doch nicht vollständig aus. Das Wrack blieb für nahezu einen Monat unentdeckt. Als vor wenigen Tagen die Schleusen geöffnet wurden und der Kanal wieder Wasser führte, wurde die Leiche von den Fluten mitgerissen und, mit nun nahezu sicherer Annahme, bis hinab in den Nil gespült. Johann Bogart bliebe wohl für immer unauffindbar. Ein Widerspruch blieb der Journalistin ungeklärt. Niemand, der gerade im Begriff ist, sich das Genick zu brechen oder zu verbrennen, stellte vorher noch aus reiner Macht der Gewohnheit den Motor seines Fahrzeugs ab und zöge den Schlüssel aus dem Zündschloss. Fatima Siniola hatte wenig Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn Maria schlang ihre Arme um sie und drückte sie von ganzem Herzen. Sie dankte ihr für ihre Hilfe und ihren selbstlosen Einsatz. Sie zeigte trotz der Trauer um den vermisst gebliebenen Ehemann ihre aufrichtige Freude, in der Journalistin eine wahre Freundin gefunden zu haben. Fatima Siniola bekam ein ungutes Gefühl, ob ihr Einsatz um Gunst und Vertrauen Marias vielleicht doch zu hoch gewesen war. Bilharziose ist eine typische und häufige Erkrankung in Ägypten. Die Journalistin fragte vorsichtig, ob Maria bei ihrem Sprung in das Wasser nicht die Gefahr der Infektion mit den Larven des Schistosoma Egels bedacht habe.
»Eigentlich nicht«, erwiderte Maria etwas erstaunt, »ich bin bereits daran erkrankt, chronisch, bereits seit meiner Kindheit.« Nach einer kleinen Pause und mit betroffener Mine blickte Maria zu ihrer vermeintlichen Freundin: »Ich hoffe, Dir bleibt so etwas erspart.