Читать книгу Ferkel fliegen nicht - Ninni Martin - Страница 7

3.

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Da war er nun, dieser Augenblick, wenn das Klingeln des Telefons zu einer Ahnung führt, die sich nicht in Worte fassen lässt: Tatsächlich, es klingelte! Jutta hatte die Nummer des Anschlusses nie eintragen lassen und alle ihre Verwandten, Bekannten, Freunde, Kollegen und wer sonst noch sie an diesem Samstag hätte sprechen wollen, wüssten sie doch längst in Rom. Denn dorthin war sie hingezogen, um ebenso wie Frieder zum Monatsbeginn eine neue Stelle anzutreten. Dorthin war sie die Karriereleiter hinaufgeklettert und auf einer Traumposition als teilhabende Partnerin in einer FAO-nahen PR-Agentur angelangt. Sie wagte den Wechsel, nicht um dort nur zu bleiben, sondern um zu lauern. Irgendwann, sicher bald, böte sich für sie ein erneuter Klimmzug auf eine Stufe in noch höheren Sphären der Karriere als lohnend an. Jutta war unersättlich. Die Gier nach Anerkennung durch Position verwandelte sie wie in eine Schlossherrin, die sich begehrenswert durch den jeweils zur Schau gestellten Prunk hält. Doch ihre Unersättlichkeit ließ sie auch wie zu einer kalten Festungskommandantin verkommen, die rücksichtslos alles einfordert, verbraucht und opfert, was zur Verteidigung des hinter Schutzwällen Zusammengerafften auch nur entfernt taugt. Jutta opferte dafür Vertrauen, Großmut, Achtung, Anstand, Freundschaft und all die anderen hehren Werte des guten, soweit nicht treuen Umgangs mit allen ihren Weggefährten. Es klingelte. Telefonvertreter würden wohl auch samstags anrufen, um in ihrem anonymen Gewerbe irgendwelchen Schund samt Knebelverträge an Kunden oder Opfer zu verkaufen, deren Telefonnummern zuvor ein Zufallsgenerator ausgeworfen hatte. Doch nicht ausgerechnet an diesem Wochenende! Das zumindest hoffte Frieder so sehr, dass sich das pure Wunschdenken bei ihm, der ungern mit dem Schlimmsten rechnet, wie selbstverständlich einstellte. Er ließ es weiter klingeln. Wer immer anrief, meinte kaum Jutta. War dieser Anruf dann für ihn selbst bestimmt? Doch Frieder konnte es sich nicht vorstellen, dass es außer Jutta jemanden gäbe, der wüsste, wo genau er sich gegenwärtig, und im Ungefähren bis vor Montag, aufhielte. Eben wegen dieser Ahnung schied Jutta für Frieder als Anruferin aus der Wahl des Möglichen aus. Was es zu regeln galt, hatten sie bereits vereinbart und was andernfalls noch zu besprechen wäre, hätte Zeit und keine Dringlichkeit. Wozu also noch weitere Worte? Jutta spräche erst wieder in zwei oder drei Wochen mit Frieder. Dann würde sie sich erkundigen, ob sich Interessenten oder bereits Käufer für das Apartment eingefunden hätten oder ob Rechnungen in ihren Briefkasten geworfen worden wären, die es zu begleichen galt. Jutta konnte sehr sachlich und nüchtern sein und sich völlig auf das Geschäftliche beschränken, vor allem Menschen gegenüber, von denen sie sich nach aller Intimität wieder distanzierte. Frieder wusste daher, dass sie ihn deshalb nie nach dem Verlauf und dem Erfolg seines beruflichen Neubeginns fragen würde. Es spielte für sie keine Rolle mehr, dass er als Nachfolger ihren ab Montag ehemaligen Arbeitsplatz einnehmen durfte und er diese Stelle nur durch ihr ureigenes, unermüdliches, zuweilen wohl auch intrigantes Betreiben erhalten hatte. Solche persönliche Anteilnahme erwartete Frieder von Jutta nicht. Aber auch seinerseits verbot sich ihm weitergehendes Interesse an ihr. Frieder versuchte gegenüber Jutta eine Haltung beizubehalten, die er sich als Ergebnis gelegentlicher schmerzlicher Erfahrung, blanker Vernunft und vielleicht insgeheim auch eigennütziger Überlegung bereits vor 20 Jahren für den absehbaren Fall schwindender Zuneigung zurechtgelegt hatte. Er wollte, wie bereits damals nicht, an ihr nicht zerbrechen.

Frieders Vorahnung ließ es auf einen Wartetest ankommen und hielt ihn davon ab, den Hörer abzunehmen. Schließlich verstummte das Klingeln. Die Ruhe im Apartment in einem überhaupt ruhigen Haus hatte für Frieder plötzlich etwas Bedrückendes. Diese Totenstille leitete sich aus der vollkommenen Anonymität ab, für die wohl der Wohnkomplex und überhaupt das gesamte Stadtviertel konstruiert worden waren. Frieder brauchte dringend ein Geräusch, das ihn ablenkte. Er konnte gar nicht anders, als wieder und wieder, wie in einer Litanei, vor sich hinzumurmeln:

»Morgen bleibe ich nur im Bett.« Frieder verlor dabei die Konzentration. Natürlich versuchte er erneut eine Vorstellung davon zu finden, wie er dann im Bette liegend auf alle denkbaren Herausforderungen des bevorstehenden beruflichen Neubeginns bereits vorab eine passende Verhaltensregel fände. Nun jedoch er war abgelenkt. Wer hatte eben angerufen? Eine beunruhigende Ahnung trieb ihn beinahe bis zur Gewissheit, dass nicht Jutta, sondern er damit gemeint war, und dass es Jutta ganz bestimmt nicht gewesen wäre, die ihn angerufen hätte. Dann drängte sich ihm eine andere, recht einfache Erklärung auf. Jemand hatte sich eben nur verwählt und würde im zweiten Anlauf die Richtige, somit nicht wieder Juttas Nummer wählen. Die Stille im Raum im Wechsel mit seinem Murmeln zog sich hin. Bislang blieb ein erneutes Klingeln aus, es kam kein weiterer Anruf bei ihm an. Seine Befürchtung, dass dieser Anruf etwas Unvorhergesehenes, Folgenreiches und für ihn ziemlich Unangenehmes bedeutete, schien sich nicht zu bewahrheiten. Davon zumindest ging Frieder fest aus.

Frieder lag bereits eine ganze Weile rücklings auf dem Bett und verspürte keinen weiteren Antrieb. Das Notebook lief im Ruhemodus und lud nicht zu weiteren Streifzügen durch das Netz ein. Es fing zu surren an und der Wasserhahn in der Küche begann, dazu in einem bemerkenswert eingängigen, ohrwurmverdächtigen Rhythmus zu tropfen. Nun, da er anfing, bewusst darauf zu achten und mit den Füßen im Takt dazu wippte, fiel ihm auf, dass es eine absolute Stille auch hier nicht wirklich gab. Es gab immer etwas zu hören, wenn er nur darauf achtete. Frieder richtete sich auf und saß etwas getrieben von innerer Unruhe krummbuckelig auf der Bettkante. So schien es ihm leichter, zu überlegen, wie er den Rest dieses Tages verbringen würde. Für heute hatte er es sich vorgenommen, das Apartment aufzuräumen und es besenrein zu hinterlassen. Denn schließlich sollte er es an Juttas Stelle und mit ihrer Vollmacht verkaufen und am besten bereits für dieses Wochenende per Inserat einen Käufer gefunden haben. Bisher hatte er aber gar nichts getan, gestern nicht inseriert, heute nicht gewischt, gekehrt, verkauft. Er war am Morgen kurz beim Bäcker und im Supermarkt gewesen und am Kiosk um die Ecke hatte er sich eine Zeitung gekauft. Den Rest des Vormittags füllte er mit Zeitunglesen aus, dann legte er sich hin und schlief und wachte und grübelte – bis eben das Telefon klingelte. Nach Putzen und Herausputzen einer Wohnung, die ihm nicht gehörte, war ihm nicht. Er hatte einfach keine Lust dazu. Bis vor etwa einem Monat hätte er für solche Aufgaben noch seine Hausangestellten angewiesen. Er wollte nur noch weg von hier. Die Dämmerung draußen offenbarte das Apartment als ein von Grund auf lichtarmes, beinahe jämmerlich dunkles Loch. Frieder blickte durch das Fenster zur Häuserzeile auf der anderen Straßenseite, deren Wohnungen beneidenswert noch von einem letzten warmen Abendlicht der bald untergehenden Sonne beschienen und in ihren Innern erhellt wurden. Er beobachtete dort zwei Nachbarinnen, die eine ziemlich dick und die andere nicht viel weniger, wie sie sich von Balkon zu nahem Fenster unterhielten, lachend und gestikulierend einander zunickten. Sie pflegten Nachbarschaft. Frieder fand solches für diesen Stadtteil so untypische menschliche Miteinander unglaublich. Er sah in den Straßen dieses Viertels für gewöhnlich die Menschen wortlos und vereinzelt in oder aus Hauseingängen huschen. Sie hetzten zur Straßenbahn, zum Bus oder geparktem Auto, so als wären alle, nicht nur er, und irgendwie und sowieso auf der Flucht. Er sah die Menschen nicht halten, nicht pausieren, um einander zu grüßen. Er sah sie nicht normal miteinander reden. Dafür ärgerte er sich über Mütter, die ihre unentwegt quengelnden Kinder ebenso unablässig kommandierten und maßregelten wie nicht anders die Hunde, die offenbar zum jedem Familienglück dazugehörten. Und gäbe es das Bedürfnis der Hunde und ihre Dressur auf Stubenreinheit nicht, dann fehlten auf den Straßen dieses Viertels abends und am Wochenende die Menschen völlig. Die vielen Schmierereien an Fassaden und in Treppenhäusern sowie der ganze Müll und Unrat überall wäre dann nur wie von Geisterhand dorthin geraten. Vereinzelung und Anonymität zählten wohl zu den Gründen, dass sich keiner um den ganzen Dreck scherte. Ohne unmittelbare und persönliche Betroffenheit lehnte sich hier niemand gegen Verfall und Niedergang, gegen Natürliches wie Übernatürliches auf. Dabei galt das Viertel ganz gewiss noch nicht als Arme-Leute-Gegend, in der Armut für gewöhnlich und noch viel eher mit resignierender Gleichgültigkeit einhergeht.

Frieder begann, seine persönlichen Sachen in eine Sporttasche zu packen. Er beabsichtigte, essen zu gehen in einem Restaurant, das er noch von früher kannte, als ihn immer wieder Dienstreisen aus Ägypten in diese Stadt geführt hatten. Er hatte sich dort mit Jutta, ihren Kollegen und Vorgesetzten wiederholt zu Arbeitsessen getroffen. Er nähme sich viel Zeit und würde ohne Hast und Eile die Speisekarte von oben bis unten durchprobieren und Ober und Koch die Vielfalt und Qualität ihres Angebots beweisen lassen. Er ließe sich zu den Gängen ein paar der vielleicht besten, mit Sicherheit teuersten Weine des Hauses servieren und sich von ihrem Geist und Gehalt das plumpe Gefühl der Sättigung benebeln und betäuben lassen. Am Ende der Völlerei würde er mit den Worten 'Beehren Sie uns bald wieder' im Ohr das Lokal verlassen und, wenn nicht gerade als anerkannter Feinschmecker, so doch als zahlungsfähiger und verfressener Kunde gegolten haben. Doch was sollte Frieder dann am weiteren Abend unternehmen: Kino, Theater, Konzert? Nein, dafür war er in dieser Stadt noch zu wenig angekommen. Sein Koffer war noch nicht ausgepackt und nur in einer Pension in Nachbarschaft des Restaurants abgestellt. Er hatte sich bislang noch nicht auf die Suche nach einer eigenen Wohnung und fester Adresse gemacht. So logierte er noch für einige Wochen in dieser Pension und pflegte eben ein paar Türen weiter wie ein Graf von Rotz zu speisen. Er würde erst nach und nach die Untiefen und Riffe des erwartet unruhigen beruflichen Neueinstiegs hinter sich gelassen haben. Im ruhigeren Fahrwasser einer sich einschleifenden Routine bekäme er später Zeit, die Stadt besser kennenzulernen. Erst dann hätte er sich für ein Zuhause einen ansprechenderen Platz auszusuchen und sein neues bürgerliches Leben zu festigen. Also ließe er sich nachher im Restaurant noch länger Zeit, um später umso müder, gesättigter und betrunkener im Zimmer der Pension für den Rest des Abends und für die Nacht Schlaf zu finden.

Frieder warf eine große Tagesdecke über das ungemachte Bett und schaute sich um. Die Dämmerung war inzwischen so weit vorangeschritten, dass er das Licht hätte anschalten müssen, um sich zu vergewissern, dass das Apartment nun leer und bis auf das Bett ausgeräumt war. Frieder nahm sich vor, gleich beim Verlassen der Wohnung den Schlüssel einfach unter die Matte vor der Türe zu legen. Am Montag wollte er telefonisch eine Maklerfirma mit der Reinigung und dem Verkauf des Apartments beauftragen. Makler einzuschalten, riet ihm Jutta aus Kostengründen unbedingt zu vermeiden. Jutta konnte nicht wissen, dass für Frieder Geldbeträge selbst in Höhe einer Maklerprovision noch keine wirkliche Belastung bedeuteten. Sonst hätte sie Frieder ungeniert gebeten, als Gegenleistung für ihr erfolgreiches Engagement seinetwegen im Stellenbesetzungsverfahren ihre Kosten für den Verkauf des Apartments durch gute, aber gesalzen teure Immobilienexperten zu übernehmen. Zu ungeschickt hantierte Frieder, als er den Schlüsselbund aus seiner Hosentasche hervorzuziehen versuchte. Die Schlüssel entglitten ihm und rutschten unter das Bett. Es war inzwischen zu dunkel geworden, als dass Frieder kniend und bis unter das Bett herabgebeugt nach dem Bund suchen konnte, sodass er sich aufrichtete und nahe dem Türrahmen das Licht anschaltete. Damit jedoch nahm jenes bereits von ihm geahnte und doch wieder verdrängte Unglück seinen Lauf. Als zwei billige Glühbirnen von der Decke herab das Apartment grell erleuchteten, hatte Frieder nicht den auch nur entferntesten Ansatz einer Vorstellung davon, dass er damit das Unheil geradewegs heraufbeschwor. Denn nur wenige Augenblicke später, als Frieder sich bückte und nach den Schlüsseln griff, begann das Telefon erneut zu klingeln. Sofort begriff Frieder, dass ihm gerade ein schwerer Fehler unterlaufen war. Er hatte sich verraten und war mit dem Anschalten des Lichts in eine Falle gelaufen. Er konnte seinem Schicksal kaum noch entrinnen. Frieder stand auf, nahm den Hörer ab und antwortete:

»Ja?«

»Johann?«, fragte eine ihm bekannte, akzentuierte Stimme etwas unsicher in das Rauschen der Leitung und in die Leere Frieders Sprachlosigkeit.

»Johann, ich weiß, dass Du am Apparat bist, ich weiß, wo Du bist und ich werde Dich finden, wo immer Du Dich verstecken wirst!« Dann folgte eine Pause und es herrschte nur ein Rauschen.

»Johann?«, bohrte die Stimme nach.

»Ja!« Mehr vermochte Frieder nicht hervorzubringen, denn die Luft blieb ihm weg. Er wankte und viel vornüber auf die Knie.

»Johann! Komm herunter, ich warte auf Dich auf der anderen Straßenseite vor dem Haus in einem blauen Lieferwagen. Lass uns reden!« Frieder schwieg, seine Knochen schmerzten. Er hätte bereits deswegen auch laut aufgeschrien und doch viel lauter noch aus Ärger und Verzweiflung.

»Komm schnell, Deine Zeit wird sonst knapp. Sie wird auch kurz für Friedemann!«, forderte die Stimme plötzlich mit bedrohlicher Bestimmtheit. Nicht die gänzliche Ungelegenheit dieses Anrufs, nicht die drohende Konfrontation, nicht die Gewissheit unter Druck zu geraten, sondern der Name 'Friedemann' traf Frieder wie ein Schlag. Er verlor völlig die Fassung. Aus unbändiger Wut und mit jäher Wucht schleuderte Frieder das Telefon so hart gegen die Wand, dass es in Stücke zerbarst.

Ferkel fliegen nicht

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