Читать книгу Ferkel fliegen nicht - Ninni Martin - Страница 8

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Die junge Journalistin Fatima Siniola, Mitte zwanzig, gertenschlank, Rehaugen, Schmollmund, langes schwarzes Haar gebändigt in einer reizenden Hochsteckfrisur, saß unruhig mit übereinandergeschlagenen und wippenden Beinen auf einer Stuhlkante. Sie wartete im schmucklosen Vorzimmer eines Büros in einem Geschäftsgebäude irgendwo in der Altstadt Vallettas. Das Kleid rutschte ihr immer wieder über die Knie und verriet am rechten Oberschenkel einen bereits gelblich-grünen Bluterguss, den sie sich vor ein paar Tagen bei einem Reitunfall zugezogen hatte. Sonst jedoch war ihre Erscheinung makellos. Dessen war sie sich auch voll bewusst und dass sie im gleich folgenden Interview allein durch ihre Ausstrahlung auf ihren Gesprächspartner einen souveränen und professionellen Eindruck machen würde. Und das war wichtig. Nach Universitätsstudium und Volontariat bei einem italienischen Fernsehsender sowie anschließender freier Mitarbeit bei verschiedenen namhaften Zeitungen übernahm sie erst vor Kurzem für ein Nachrichtenmagazin die Korrespondenz für Südost-Europa und den Nahen Osten. Dieser Einsatz hier war für sie die erste Gelegenheit und auch Verpflichtung, ihrem neuen Arbeitgeber ihr journalistisches Talent zu beweisen. Sie hatte für die nächste Ausgabe des Magazins ein Interview für drei Seiten und sieben Spalten mit dazugehörender Bildstrecke zu liefern. Für das geforderte Bildmaterial stand Fatima Siniola der Fotoreporter ihres römischen Redaktionsbüros zur Seite. Er saß neben ihr und nutzte die Sitzfläche des Stuhls in ganzer Breite und mit der Routine eines langen Reporterlebens gerade einfach so für eine Schlummerpause. Tom Greenwood, alt ergraut, ein Brite und weltgereistes Urgestein der Branche, war eingenickt und schien seinem Ruhestand entgegenzudämmern, in den er in letzter Zeit des Öfteren vorgab, bald einzutreten. Die Journalistin dachte, wie längst jeder in der Redaktion, dass Tom selbst noch bei seiner eigenen Beerdigung seiner Berufung verbunden bliebe und aus dem Sarg heraus die an seinem Grab versammelte Trauergemeinde fotografieren würde. Kultur war Fatimas Siniolas Sache nicht, soweit sie es allerdings nur vertrauten Kollegen hin und wieder andeutete. Viel lieber lagen ihr Themen aus Politik und Wirtschaft, mit denen sie durch zahlreiche Beiträge ungeachtet ihrer noch jungen Jahre in der Medienbranche bereits hatte aufhorchen lassen. Im Besonderen wegen ihrer unbestechlichen und genauen Analysen über die sozialen und ökonomischen Entwicklungen in den Ländern des Maghreb und Ägyptens wurde sie bereits von den Wortführern der Medienzunft beinahe einhellig als aufstrebendes Talent beachtet. Mit Brecht jedoch, und überhaupt mit ins Arabische übersetztem epischen Theater, fing Fatima Siniola von Grund auf nichts an. Doch war es der Wille der Redaktions- und sicher auch der obersten Verlagsleitung, den Lesern einen der prominentesten Förderer arabischer Literatur und zudem noch bekennenden Bewunderer von Brecht vorzustellen. Die vorbereitende Recherche für das Gespräch mit Mohamad Achmadi bereitete ihr Mühe. Das Ergebnis bestand stichwortartig zusammengefasst aus wenigen Blättern, die in einer Dokumentenmappe auf ihrem Schoß enthalten waren. Der Anlass für das Gespräch ergab sich aus dem Zusammentreffen aktueller Ereignisse, die ohne das enorme finanzielle Engagement des ägyptischen Mäzens völlig undenkbar geblieben wären. Zum einen förderte er das überraschend erfolgreich durchgeführte Brecht Festival in Kairo mit in Arabisch aufgeführter Dreigroschenoper und einigen anderen Stücken von Brecht. Zum anderen ermöglichte der Ägypter das seit einigen Jahren mit wachsendem Zulauf in Tunis stattfindende Max-Frisch-Seminar zur Ausbildung junger ägyptischer und nordafrikanischer Schauspieler. Nun sollten die Schüler des Seminars sowie die Ensembles des Festivals in den kommenden Wochen auf Tournee durch West-Europa geführt werden. Das Ziel bestand darin, jugendliche Nachkommen maghrebinisch stämmiger Migranten zur Reflexion und schöpferischen Auseinandersetzung über ihre Lebenssituation in der westlichen Gesellschaft anzuregen. Die Journalistin öffnete ihre Mappe und nutzte die Wartezeit, um ihr Material und die notierten Fragen, die auf einem Blatt ganz oben lagen, noch einmal zu überfliegen. Interessanter als Fragen, die unmittelbar auf diese Kulturereignisse und die Gründe zu deren Förderung abzielten, schienen ihr Ansätze, die den bemerkenswerten Hintergrund des Mäzens ausleuchten sollten. Er war kein Moslem, sondern Christ und engagiertes Mitglied der orthodox-koptischen Kirche Ägyptens. Seine Herkunft aus einer Kaufmannsfamilie des Mittelstandes, seine Ausbildung zum Bauingenieur mit Promotion auf Hochschulen der DDR und Ehe mit einer ostdeutschen Ärztin waren für sich alleine bereits berichtenswert. Sein kometenhafter geschäftlicher Aufstieg vom lokalansässigen Schrotthändler in Ägypten bis hin zum weltweit tätigen Stahlgroßhändler, Reeder und Immobilienmogul gäbe zudem Stoff für eine Hofberichterstattung. Er ließ seine Familie vermutlich zu einer der reichsten in Ägypten werden. Für Fatima Siniola von besonderem Interesse galt jedoch der weitreichende Einfluss ihres Interviewpartners durch Mitgliedschaft in unzähligen Bei- und Aufsichtsräten vielfältiger ägyptischer, libanesischer, französischer, italienischer, englischer, deutscher und überhaupt internationaler Unternehmen und Wirtschaftsorganisationen. Wer immer sich eine fundierte Meinung über die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Ländern der Europäischen Gemeinschaft und denen des Nahen Ostens und Nord-Afrikas erlaubte, sollte dafür auch Mohamad Achmadi zitieren. Am besten sollte jeder, der sich auf ihn berief, ihn auch selbst kennengelernt haben. So war sie dankbar für diese einmalige Gelegenheit zum Interview, wenn auch um den Preis einer glücklich seltsamen Fügung, ausgerechnet über Kultur mit ihm in einen persönlichen Kontakt zu kommen. Ihre Neugier an dem Ägypter beschränkte sich jedoch nicht allein auf Wirtschaft und Kultur. Am weitaus interessantesten schienen ihr einige vielleicht unangenehme Fragen an den Mäzen, die sie sich auf einem gesonderten und weit nach unten geschobenen Blatt notiert hatte. Es ging ihr nicht um Klatsch von der Sorte, die auch in jedem beliebigen Friseursalon kursierte. Dabei galt ihr Gesprächspartner alles andere als skandalumwittert. Es gab ungewöhnlich wenig für einen Menschen solcher Bedeutung, dass bisher über sein Privatleben berichtet worden war. Das, wodurch er bei ihrer Recherche besonders auffiel, war im Tenor der Gesamtheit aller veröffentlichter und verfügbarer Quellen seine Unauffälligkeit. Jeder hätte demnach auch meinen können, dieser Ägypter wäre wie ein netter, alter Herr von nebenan. Er galt als liebevoller Ehemann und treu sorgender Vater von vier erwachsenen Kindern und Großvater einer kleinen Schar von Enkeln. Sein Privatleben hätte die Journalistin trotz allen professionellen journalistischen Gespürs nicht im Mindesten interessiert, arbeitete sie nicht, wie sie glaubte, zufällig für diesen Auftrag mit Tom Greenwood zusammen. Der Bildreporter war vor beinahe 20 Jahren für eine Berichterstattung über einen Justizskandal auf Malta eingesetzt gewesen. Der Sohn eines ägyptischen Industriellen, eben einer der drei Söhne ihres Interviewpartners, war wegen Verdachts auf groß angelegten Drogenhandel inhaftiert worden. Doch es kam zu keinem Prozess. Es wurde noch nicht einmal Anklage gegen ihn erhoben. Stattdessen wurde er gegen Zahlung einer Kaution aus angeblich unbekannter Quelle und in nie veröffentlichter Höhe zusammen mit einem mutmaßlichen Komplizen, einem Deutschen namens Bogart, noch in derselben Nacht wieder auf freien Fuß gesetzt. Dem Sohn und dessen Begleiter gelang es, Malta auf unbekanntem Weg rechtzeitig zu verlassen, noch ehe am Folgetag nach einer juristischen Überprüfung des Verfahrens die Freisetzung auf Kaution revidiert werden sollte. Es drohte, ein Skandal daraus zu werden. Denn bereits nach wenigen Tagen wurden die Ermittlungen gegen die mutmaßlichen Drogenhändler gänzlich fallen gelassen, so als wäre nie etwas geschehen. Die Vermutung, dass der ausländische Industrielle mit Schmiergeld und Unterdrucksetzung auf die maltesische Justiz in seinem Sinne eingewirkt habe, war viel zu aufdringlich gewesen, um nicht darüber vielerorts zu berichten. Doch erwies sich das Medienecho des Skandals im Ganzen als ausgesprochen dünn und zurückhaltend. Der leise Verdacht auf Verwicklungen des Industriellen selbst in den internationalen Drogenhandel, genährt durch nicht unplausible Gerüchte auf Grundlage auch nicht völlig unglaubwürdiger Zeugen, blieb in den Medien bis auf eine beiläufige Randnotiz vollkommen ausgespart. Tom Greenwood fand es zwar merkwürdig, allerdings gemessen an seinen langjährigen Erfahrungen als Reporter auch nicht völlig überraschend, dass die Polizeifotos von der Festnahme offiziell nie an die Presse weitergegeben wurden. Doch was der Industrielle scheinbar im großen Stil hinter den staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kulissen beeinflussen und schmieren konnte, das vermochte Tom Greenwood im Rahmen seiner Möglichkeiten ebenso. Er besorgte sich die Aufnahmen im inoffiziellen Gestrüpp journalistischer Informationsbeschaffung. Eben diese Fotos steckten nun in Fatima Siniolas Dokumentenmappe unter all den anderen Blättern und Notizen ganz zuunterst. Tief im Innern von der Versuchung angespannt, folgte die Journalistin dennoch der Vernunft, ihrem Interviewpartner niemals Fragen zu jenem damaligen doch sehr persönlichen und familiären Vorfall zu stellen. Zumindest nicht bei ihrer ersten Begegnung mit ihm wollte sie so weit gehen.

Die Tür zum Büro schwang auf. Eine kleine Gruppe asiatischer, vielleicht chinesisch anmutender Geschäftsleute zwängte sich leise murmelnd durch den Türrahmen und füllte im Gefolge zweier Mitarbeiter des Hausherrn das Vorzimmer.

»Herr Dr. Achmadi bittet Sie nun zum Interview«, sagte eher beiläufig einer der beiden Sekretäre und schenkte der Journalistin und ihrem soeben erwachten Begleiter kaum Beachtung. Mit ungleich größerer Aufmerksamkeit versorgte er hingegen die wohl erhofft zukünftigen chinesischen Partner mit allerlei bunten Informationsbroschüren. Diese wussten sich daraufhin ihrerseits mit noch viel bunteren und bestimmt erwartungsvoller werbenden Präsenten zu revanchieren. 'Joint Venture' würde Tom Greenwood ein Foto dieses Kammerspiels untertiteln, ginge es ihn im Moment nur etwas an.

In dem repräsentativer gestalteten Raum kamen die beiden Journalisten und Mohamad Achmadi freundlich aufeinander zu. Sie begrüßten sich geschäftsmäßig, begaben sich zu einer Gruppe schwerer Ledersessel in der Nähe des Balkons und nahmen Platz. Sie einigten sich auf Englisch als Interviewsprache mit Rücksicht auf Tom Greenwood. Fatima Siniola hatte zwar eine tunesische Mutter und nicht das Italienische, sondern das Arabische wäre ihre Muttersprache, wäre sie nicht in Italien, Frankreich und in Deutschland aufgewachsen. Bedingt durch ihren Vater, ein prominenter und erfolgreicher italienischer Fernsehkorrespondent, war sie Italienerin. Die meiste Zeit ihrer Jugend verbrachte sie in Rom. Bis auf Arabisch hätte Tom Greenwood ebenso auf Italienisch, Spanisch, Französisch, Portugiesisch oder Deutsch mitreden können, was ihm jedoch von keinem der beiden polyglotten anderen zugetraut, und erst recht nicht zugestanden worden wäre. Mohamad Achmadi entschuldigte sich, dass er die Journalisten warten ließ, und dafür, dass ihm für das Interview durch einen dringenden familiären Termin noch am Abend in Luxor unversehens weniger Zeit zur Verfügung stünde. Er wäre dankbar, wenn Fatima Siniola ihm einen Teil der Fragen schriftlich überließe. So hätte er in den nächsten Tagen weiter Gelegenheit, darüber nachzudenken und ihr ausführlichere Antworten zu übersenden. Etwas enttäuscht ging Fatima Siniola auf den Vorschlag ein. Sie bat den Ägypter jedoch, ihr für die Fragen, die ihr besonders am Herzen lagen, wenigstens für eine halbe Stunde Zeit zu finden. Das gäbe ihr die Möglichkeit, für die Leser des Magazins viel von seiner Ausstrahlung und seiner Wesensart authentisch einzufangen. Ihre Bitte konnte und wollte der geschmeichelte Mäzen nicht abschlagen. Die Journalistin erfuhr, dass ihm während seines Studiums in Dresden in den 50er Jahren das Mitspielen in einem Studententheater einen glücklichen und weiten Zugang zum Marxismus geöffnet habe. Von Brecht gelernt zu haben, bedeutete für ihn gleichsam, Kraft getankt zu haben, um über den eigenen Horizont hinauszugehen, die Gesellschaft von anderer Seite zu betrachten, zu erkennen, wie sie ist, um sie zu verändern. Er sei überzeugter Marxist und tiefgläubiger Christ und sähe in einer klassenlosen Gesellschaft und in einem weltweit organisierten Gemeineigentum die beste Antwort auf die kapitalistische Ausbeutung von Mensch und Natur. Die Journalistin warf ein, dass er doch selbst ein nicht unbedeutender Vertreter des Kapitals sei und sein offenbar großes Vermögen ihm weder vererbt noch wie Manna vom Himmel zugefallen sei. Sie schätze seine Haltung, aber verstehen würde sie diese dennoch nicht. Mohamad Achmadi holte aus: Sie dürfe nicht Marxismus mit Sozialismus verwechseln. Gemeineigentum an Produktionsmitteln sei das Zukunftsideal, nicht die Gegenwart. Das naheliegende, erreichbare Ziel sei durchaus, in Verantwortung um das Gemeinwohl Kapital und Produktion zunächst in die Hände der Besten, der Gebildetsten, der Fähigsten zu legen. Es gäbe überdies noch kein staatliches oder internationales System, dass die weltweite Produktion für eine umfassende und menschenwürdige Bedarfsdeckung lenken könne. Es gäbe noch nicht einmal ein weltweit leistungsfähiges Bildungssystem. Mit der Zerschlagung des Sozialismus nahezu überall auf der Welt durch die scheinbare Überlegenheit westlicher Gesellschaftsformen sei die Chance auf gleiche Bildungschance und existenzielle Grundsicherung der Menschheit vernichtet worden. Der Westen habe einen Pyrrhussieg erzielt und habe anstelle des unterlegenen Sozialismus ein Vakuum erschaffen, das von dem radikalen Islamismus mit dem Zulauf enttäuschter, verarmter und ausgebeuteter Massen nach und nach wieder aufgefüllt werde. Er begreife es mit großer Sorge, wenn folglich immer mehr Menschen, die im Diesseits keine Perspektive fänden, diese eben im Jenseits suchten. Es sei daher geradezu eine Pflicht, mit gesellschaftlicher Bildung für den Wandel ungenügender Verhältnisse in eine gerechtere Welt zu kämpfen. Der radikale Islamismus der Gegenwart hätte ebenso wie der Sozialismus der Sowjetunion bereits seine Untauglichkeit vor allem wegen der Unfähigkeit ihrer geistigen Führer bewiesen. Was seinen vermeintlichen Reichtum beträfe, gäbe es keinen Widerspruch zu seinem gesellschaftlichen und kulturellen Mäzenatentum. Er habe für sich persönlich und für die Familie niemals mehr als 30 Mitarbeiter beschäftigt. Er habe immer hohe Leistungen von seinem Personal abverlangt, es dafür jedoch anständig entlohnt. Er erinnere sich nicht an einen einzigen Fall, bei dem ein Mitarbeiter wegen Unzufriedenheit über die Bezahlung sich von ihm getrennt habe. Er sei vor allem ein erfolgreicher Kaufmann, mit einem offenbar guten Gespür für den Markt. Er und seine Angehörigen pflögen gewiss keinen anmaßend überzogenen und aufwendigen Lebensstil. Kulturelles und soziales Engagement seien für alle Mitglieder der Achmadis nicht nur angetragene Verpflichtung, sondern auch von Herzen bestimmte Lebensaufgabe. Seine beiden Söhne, Karl und Friedrich, verdienten sich als Gelehrte. Karl lehre als Professor für Gefäßchirurgie an der Universität von Kairo. Friedrich forsche als Mathematiker sowie Entwicklungsleiter und Teilhaber an einer Firma für biologische Kybernetik und Analytik in Dublin, Irland. Nach seinem Tod ginge der größte Teil des Geschäftsvermögens in eine Stiftung über. In karitativen und kulturellen Bereichen würde die Stiftung von seiner Frau Anna, den beiden Söhnen sowie von seiner Tochter Maria repräsentiert werden. Fatima Siniola notierte auf einem Block bei laufendem Diktiergerät die sinnzusammenhängenden Stichworte. Sie bekam dabei das ungute Gefühl, weder zum Kern des Themas hinsichtlich der geplanten Theatertournee noch zum persönlichen Wesenszug des Ägypters vorzudringen. Mit politischer Phrasendrescherei, Traumtänzerei und Selbstbeweihräucherung mochte sie sich nicht zufriedenzugeben. Sie ahnte bereits, dass sie auch durch die schriftlich ausgearbeiteten Antworten Achmadis kaum wirklich Bedeutsameres über den Mäzen erführe. Sollte sie die verbleibenden wenigen Minuten nutzen, um schärfer nachzufragen? Der auf Malta einst festgenommene Sohn Achmadis hieß Ali. Warum erwähnte der Industrielle diesen Sohn mit keinem Wort? Es wirkte sonderbar, interessant, fragwürdig, doch leider fiele ihre Nachfrage nach Ali vollkommen aus dem vorab verabredeten Gesprächsrahmen. Tom Greenwood schien nicht an solche Hintergründe zu denken. Er saß nur gelangweilt im Sessel und blickte wiederholt auf die Uhr. Tom hatte es wohl aufgegeben, das festgefahrene, unausgewogene Frage- und Antwortspiel der beiden mitzuverfolgen. Vielleicht war er bereits bei der Assoziation von Achmadis ideologischer Schönfärberei mit John Lennons 'Imagine' hängen geblieben. Es verwunderte einen Althippie wie ihn, wie jemand nicht nur als heroinsüchtiger Popstar sondern auch als harter, profitorientierter Geschäftsmann - und auch als beides - scheinbar im Marxismus ein kleidsames Mäntelchen so einfach fände. Der Bildreporter unterbrach die Konversation, nein, den Monolog des Mäzens, und fragte, ob er für eine bessere Belichtung der Fotos die abgedunkelte Balkontüre einen Spalt weit öffnen dürfe. Natürlich durfte er, doch nach dem zustimmenden Nicken blieb Mohamad Achmadi still. Er war aus dem Konzept gebracht, hatte den Faden verloren und auch die Journalistin wusste nicht so recht, wie nun weiter. So setzten sich beide wortlos, mit gespielt guter Mine in Pose und überließen dem Fotografen die Arbeit. Ein angenehm kühler Luftzug säuselte durch den offenen Balkon in das Büro und kräuselte Fatima Siniolas Kleid weit über ihre Oberschenkel. Mit geschwungener Hand hätte die junge Frau noch so schnell ihre Knie wieder bedecken können, und doch hätte sie damit dem schnellen Blick des alten Herrn nichts verborgen.

»Haben Sie Schmerzen? Sie sollten zu einem Arzt«, gab sich Mohamad Achmadi besorgt und bekundete in einer zwanglosen Manier, dass er der Unterhaltung nun eine ganz andere Richtung zu geben gedachte.

»Das Hämatom?«, fragte Fatima Siniola deutlicher verlegen als überrascht. Sie verstand genau, dass Dr. Achmadi genau daraufhin anspielte. »Nein, das ist weder schmerzhaft noch tragisch und wird bald ausgeheilt sein. Es war nur ein kleiner Reitunfall. Mein Pferd hat beim Aufsatteln ausgeschlagen und mich leider unglücklich getroffen. So etwas passiert immer wieder, wenn sich ein neues Pferd an mich und an die Umgebung eines noch fremden Stalls erst noch gewöhnen muss.«

»Sie reiten?«, fragte der Ägypter entzückt. Pferde, Reiten. Damit war mit einem Mal ein neues, ein einziges Gesprächsthema gefunden, und nichts davon würden die Leser des Magazins je erfahren. Angeregt und doch entspannt, ohne Druck und völlig zeitvergessen unterhielten sich Mohamad Achmadi und Fatima Siniola über alles, worin sie diese gemeinsame Leidenschaft teilten. Es vergingen eine halbe Stunde, eine Stunde und eine noch längere Dauer, bis hinein in die Dämmerung. Sie gab sich als eine erfahrene, begeisterte Reiterin, die mit ihren zwei eigenen Holsteiner Pferden, einem Hengst und einem Wallach, an Amateurspringturnieren teilnahm. Sie glänzte als Turnierreiterin, wo immer es die Zeit und ein Wettkampfort irgendwo in Europa zu ließen. Der Mäzen erzählte von seiner Tochter, Maria, die sich der gleichen Leidenschaft hingab. Sie galt ebenfalls als eine erfolgreiche Springreiterin. Sicher wären seine Tochter und Fatima Siniola sich bei dem einen oder anderen Turnier über den Weg gelaufen, ohne wohl aufeinander aufmerksam geworden zu sein. Er war ein besessener Pferdezüchter, vernarrt in Vollblutaraber und Hannoveraner. Bereits der Familienehre halber sollte seine Tochter bei den Turnieren nur mit dem besten Material aufwarten. Er und seine Tochter betrieben ein eigenes Gestüt unweit Luxors. Es wäre eine große Freude für ihn, wenn er auf diesem, wie auch auf jedem weiteren seiner ägyptischen Anwesen, Fatima Siniola bald einmal als Gast empfangen dürfe. Warum nicht schon gleich? Es wäre für ihn eine Ehre, wenn die junge Reiterin seine Gastfreundschaft annähme, ihn noch am Abend auf seinem Privatflug nach Luxor begleiten und Gast im Hause seiner Familie sein wollte. Natürlich brächte nach ihrem geschätzten Aufenthalt eines seiner Flugzeuge sie zurück nach Malta oder Rom, so wie es ihr beliebte und wann immer sie es wünschte. Die Journalistin überlegte kurz und entrückte für einen Moment aus ihrer Schwelgerei. Sie blickte sich nach Tom Greenwood um, der jedoch längst gegangen war. Sie erinnerte sich kaum noch daran, dass, als von draußen noch das Sonnenlicht hereinschien, Tom gefragt hatte, ob er noch gebraucht werden würde und daraufhin mit einem leisen Gruß das Büro verlassen hatte. Sie erinnere sich daran, dass später einer der beiden Sekretäre Kaffee und sehr süßes Gebäck serviert und die Kerzen eines wundervollen Kristallleuchters angesteckt hatte. Dessen warmer, voller Schein nahm dem Raum die Kälte des Geschäftlichen und gab ihm die entspannte Atmosphäre eines Salons. Und sie erinnerte sich daran, dass der alte, sympathische, einnehmende Pferdenarr ihr einige der unglaublich alt gelagerten, sündhaft teuren Cognacs einschenkte, die sie sich in ihrem ganzen Leben niemals würde leisten können. Fatima Siniola ahnte, dass sie bereits seit einigen ausgetrunkenen Kognakgläsern ziemlich betrunken war, zumal sie ihren Redefluss über Pferde, Sport und Reiterei nur noch mit Mühe in Zaum hielt.

»Ja, sehr gerne. Ich nehme Ihre Einladung an, Herr Dr. Achmadi. Ich freue mich darauf, Ihre Tochter persönlich kennenzulernen und morgen vielleicht sogar mit ihr ausreiten zu dürfen«, stimmte Fatima Siniola ihm mit einem von ungespielter Freude umstrahlten Lächeln zu. Genau in diesem Moment, völlig klar und unvernebelt vom Alkohol, sah sich die Journalistin darin bestätigt, dass der Ägypter sie im Grunde für ein dummes Huhn hielt. Die Einladung bedeutete nicht nur eine Verabredung für zwei oder drei Tage pferdesportlichen Miteinanders, sondern öffnete zudem sehr wohl einen Schlupf, um hinter die Fassade der Achmadis zu gelangen. Er schien nicht zu begreifen, dass sie ihr Handwerk eigentlich verstehen sollte. Überdies ritt sie nur gelegentlich, hatte überhaupt keine eigenen Pferde und nahm an Turnieren, wenn überhaupt, nur zuschauend teil. Bis die Achmadis das Trugbild, das sie von sich gezeichnet hatte, bemerkten, wäre sie längst wieder in Rom, um mit einem demaskierenden Bericht über Mohamad Achmadi die Spalten des Magazins zu füllen.

Ferkel fliegen nicht

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