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Gestern noch harmonierte die Leere in der bis auf das Bett ausgeräumten Kleinwohnung so verträglich mit der Leere in Frieders Gefühlsleben. Sollte dieser Einklang ein Vorbote gewesen sein für einen erfolgreichen Neubeginn, losgelöst von den Fehlern der Vergangenheit? Es klang wie der Startschuss für eine normale, anständige und tadellose berufliche Entwicklung sowie für eine grundsolide Lebensplanung. Frieder suchte nach einem Leben ohne lästige Anhaftungen von Blut, Urin, Kot, Eiter, Abszessen und Geschwüren, ohne Tritte von Pferden und Rindern, ohne Bisse von Hunden und Katzen und ohne den Gestank von Schweinen. Frieder mochte sich zudem die Unsicherheit ersparen, welche die Selbstständigkeit als praktizierender Tierarzt ebenso mit sich brächte wie die als Geschäftsmann, der er in den letzten Jahren hauptsächlich gewesen war. Dann ähnelten auch die kahlen Wände mit ihren nicht vergrauten Flecken an Stellen ehemaliger Bilder und Poster den weiten offenen Toren in Rennen um risikolose Pöstchen und Posten. Als Lohn und Siegprämie würde ihn angemessenes gesellschaftliches Ansehen und Festgehalt erwarten, ohne dass er vom Letzteren wirklich leben musste. Wie ein Pokal bliebe es für ihn eher nur von ideellem Wert. Der von der Zimmerdecke, den Wänden und vom Boden erzeugte Widerhall seiner gelegentlichen Selbstgespräche kam ihm vor wie das Johlen und Toben anfeuernder Zuschauer. Kein Sportler hätte Zeit, die Rufe im Einzelnen wahrzunehmen. Frieder hingegen nähme sich gerne die Zeit, aus den bunt gerufenen Fetzen von Spott, Hohn, Lob und Bewunderung einer gesichtslosen Masse sich den ureigenen Ansporn für den langen Weg zum Ziel zurechtzuzimmern. Dass Frieder alleine und vielleicht auch einsam war, schien passend zu einem Athleten zu sein, der ebenfalls als Letzter an den Start ging. Ebenso wie dieser würde er seine Gegner und Mitstreiter längst auf und davon eilen sehen. Aber es kümmerte ihn nicht, weil er voraussah, dass seine härtesten Gegner letztendlich allein die Zeit und die eigene Überwindung wären. Frieder dachte nicht, dass er der Letzte bliebe, nur weil er als Letzter in den Wettkampf ginge. Er glaubte sogar, dass er bisher noch keine Zeit verloren hatte. Im Gegenteil. Er hatte die Zeit bekommen, viele andere Rennen und Wettkämpfe zu bestreiten, die er mal verloren und mal gewonnen hatte. Daher sah er sich umso besser gewappnet, in dem kommenden Wettkampf das Feld nun eben von hinten aufzurollen. Er hatte ohnehin nur gegen diejenigen anzutreten, die sich in ihren vorgezeichneten und geplanten Karrierewegen bislang immer nur in einer einzigen Richtung bewegten. Doch wenn er bestehen wollte, das wusste Frieder genau, dann musste er jetzt und nicht später, und schon gar nicht in Etappen, seine Vergangenheit hinter sich lassen. Er hatte mit allem abzuschließen und ohne Ansatz den Fuß auf einen neuen Startblock zu setzen. Er hatte alle Momente von Siegen oder Niederlagen, welche er bisher im Leben durchlebt hatte, zu bloßen, vielleicht gerade noch lehrreichen Erinnerungen verblassen zu lassen. Er war auf einem guten Weg. Das Apartment war so leer, wie Frieder sich fühlte und er fühlte sich gut.

»Morgen bleibe ich einfach nur im Bett«, murmelte Frieder immer und immer wieder vor sich hin, »morgen ist Sonntag und der Monatsletzte und ab Montag beginnt ein neues Leben.« Genau genommen bedeutete es nicht ein neues Leben, das Frieder bevorstand. Vielmehr sollte die Wiederaufnahme seines alten Lebens stattfinden, für das er sich vor ungefähr 18 Jahren ziemlich unbeabsichtigt die Freiheit nahm, es auf unbestimmte Zeit ruhen zu lassen. Diese Unbestimmtheit blieb für Frieder wichtig. Er war so frei (nicht ganz, denn schließlich saß er damals gerade im Gefängnis) seine Identität auf lange Dauer zu wechseln. Und doch behielt er sich all die Jahre insgeheim die Wahl vor, was immer auch geschehen mochte, seinen alten Lebensweg irgendwann einmal wiederaufzunehmen und dort fortzusetzen, wo er ihn unterbrochen hatte. Aber wo genau lag das damalige Ende seines ersten Werdeganges und wie konnte er nun wieder daran anknüpfen? Darüber grübelte Frieder bereits seit Langem nach, aber er kam zu keinem Ergebnis. Vielleicht dachte er deshalb daran, morgen nur im Bett liegen zu bleiben und noch einmal fest an die Zeit vor 18 Jahren zurückzudenken. Er suchte gewissermaßen wie auf einem Tonband genau die Stelle zu finden, auf der das vorangegangene Lied mit dem Schlussakkord endet und der Ton für kurz in ein unbestimmtes Rauschen übergeht. Exakt dort war die Schere anzusetzen und die folgenden Jahre wie die nächsten Liedstücke einfach wegzuschneiden und damit zu löschen. Dabei kam es ihm gar nicht so sehr auf das Äußerliche oder Dingliche an. Es schien ihm nicht wichtig, wieder die Frisur oder den Bart zu haben, den er damals noch trug. Es war natürlich nicht wichtig, sich ab Montag wieder so zu kleiden, wie er es zu jener Zeit eben pflegte. Es war noch nicht einmal wichtig, erneut die gleiche Musik gut zu finden, die er damals mochte, oder wieder eine bestimmte Art von Büchern oder Zeitschriften zu lesen. Er hatte auch überhaupt nicht daran gedacht, alte Freundschaften aufleben zu lassen oder an Orte von damals zurückzukehren. Was Frieder wünschte, war etwas anderes: seine Skrupel. Er brauchte wieder ein Urteilsvermögen wie genau zu jener damaligen Zeit, seine Vorsicht, die Unbedarftheit, seinen Anstand und den Glauben an Gerechtigkeit. Er suchte wieder die Neugier an allem, was ihm heute eher belanglos erschiene, seinen Ehrgeiz auch im Kleinen, den Hunger nach Anerkennung und den Drang zum bürgerlichen, bescheidenen Aufstieg. Wenn Frieder ab Montag bestehen wollte, dann musste er bis Sonntag sein bereinigtes leeres Innenleben wieder mit den Werten aus jener Zeit aufgefüllt haben. Frieder spielte mit der Ironie. Er war als erfahrener Mediziner sich durchaus über die Schwere dieses, wie ihm schien, wohl nur im Bett zu ertragenden Eingriffs bewusst. Operativ gesprochen käme es einer Ektomie mit anschließender Transplantation gleich. Blutverluste gäbe es dabei zwar nicht. Wohl jedoch heftige Abwehrreaktionen ausgelöst von Verlust- und Versagensängsten einerseits und andererseits von inzwischen zu viel fremd Gewordenem in einem Umfeld, aus dem er ausgestiegen war und nun wohl nicht wieder auf Anhieb zurückfände. Aus medizinischer wie ironischer Sicht wäre es sogar höchst interessant herauszufinden, ab wann die Seelenwelt eines selbstbewussten Organismus auf sich selbst allergisch, eben auch fremd reagiert. Frieder war in den vergangenen Jahren mitunter zu einem hervorragenden Experimentator gereift und hatte mit aberwitzigen tiermedizinischen Versuchen verblüffende Ergebnisse erzielt. Vielleicht sah er sich in dieser Hinsicht einem seiner Versuchsferkel nicht unähnlich. Jedoch betrachtete er diesen nun anstehenden Wandel tiefgründiger, als ein Sinneswandel je sein kann und deshalb ganz und gar nicht als Experiment. Denn morgen hatte er, wie er nicht daran zweifelte, ein allerletztes Mal die Gelegenheit, die Option auf die Unbestimmtheit seiner Zweitidentität einzulösen und deren notwendiges Ende zu bereiten.

Ferkel fliegen nicht

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