Читать книгу Ferkel fliegen nicht - Ninni Martin - Страница 11

7.

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Sie aß nicht, sie fraß. Über ihre lupendicken Brillengläser zogen Sahnetropfen fettige Schlieren. Während sie von ihrer Arbeit und ihrem Leben erzählte, dabei gleichzeitig dicke Happen einer Sahnetorte in ihrem bereits völlig überladenen Mund zu Brei vermalmte und nicht mit Kaffee hinunterspülte, wurde es Frieder übel. Er fragte sich, warum noch länger er seine Aufmerksamkeit an dieses schmatzende, schwitzende und formlos übergewichtige Monster mit Schwerbehindertenausweis verschwenden musste. Doch dafür gab es einen Grund. Er war ab diesem Tag ihr Vorgesetzter und der Dienstschluss seines ersten Arbeitstags als Referatsleiter für 'Sonderaufgaben im Tierschutz' war erst noch zu erreichen. Eine halbe Stunde fehlte ihm noch, um dann an seinem ersten Feierabend tief durchzuatmen und auf dem Nachhauseweg Bilanz zu ziehen. Jutta hatte ehedem das Referat für Tierschutz vollständig inne und Frieder nahm an, dass er in dem gesamten Funktionsbereich so auch zu ihrem Nachfolger bestellt wäre. Jutta hatte zwei Referenten und zwei Sachbearbeiter angeleitet und als Beigabe und Zugeständnis an die amtsinterne Behindertenquote diese Nervensäge beaufsichtigt, die laut Stellenplan für Registraturaufgaben und Terminierungen zuständig zu sein hatte. Gewiss war Dr. Friedemann Bronn ab diesem Montag hier im Ministerium Referatsleiter, so wie es zuvor Dr. Jutta von Lindenburg auch gewesen war. Zumindest das Türschild an seinem Büro bestätigte diesen Rang. Ganz neu enthielt das Schild allerdings auch einen entscheidenden Zusatz: Referat 3.2 bezeichnete es noch bei Jutta die organisatorische Einordnung, bei ihm hingegen stand Referat 3.2b. Das ebenso ab diesem Tag neu geschaffene Referat 3.2a, 'Grundsatzfragen im Tierschutz', belegte hingegen nicht ein, sondern gleich drei Dienstzimmer der Etagen und beschäftigte bis auf die Registraturhilfe Juttas gesamtes ehemaliges Personal. Folgerichtig wurde das Referat 3.2a so auch von einem der beiden Referenten nach einer Schnellbeförderung geleitet. Frieder musste sich mit Frau Grobschmidt, die ihm übrig gelassen wurde, ein Zimmer teilen, wohl die Besenkammer des Hauses und bisherige alleinige Residenz der Dame. Ihr Name stand für ein Programm. Sie war grobschlächtig und gewöhnlich und hatte es wohl längst aufgegeben, jemandem zu gefallen oder gefällig zu sein und am allerwenigsten ihren Vorgesetzten. Beamte waren versetzbar, Angestellte konnten entlassen oder ihre Zeitverträge nicht verlängert werden, jedoch Angestellte mit Schwerbehindertenausweis waren zumeist, wenn sie es denn darauf anlegten, wie Fußpilz, der sich chronisch festgesetzt hatte. Fräulein Dagmar Grobschmidt war gerade dabei, gegenüber Frieder der Härte genau dieser Spielregel volle Geltungskraft zu verleihen, gleich von Anfang an. Sie zweifelte offenbar nicht daran, dass sie seine Sympathie niemals gewänne, doch letzten Endes hatte er mir ihr und nicht sie mit ihm auszukommen. Sie war zuerst hier gewesen, und wenn es ihm nicht passte, dann sollte ihr neuer Chef sich eben versetzen lassen oder kündigen. Zudem war sie die beinahe auf Lebenszeit gewählte Behindertenvertreterin im Personalrat des Ministeriums. Wenn sie auch mit ihren fachlichen Aufgaben oft überfordert zu sein schien, so war sie dafür umso eher für alle Behinderten im Haus eine feste Institution. Sie erwies sich als eine sichere Bank, wann immer es darum ging, berechtigte Ansprüche ebenso geltend zu machen, wie darüber hinaus der Amtsleitung noch viel weitergehende Zugeständnisse abzuringen: Rehabilitationskuren, Treppenlifte, ergonomisches Sondermobiliar, Blindenschriftgeräte, Stehpulte, Ruheräume. Für alles, was den Arbeitsalltag behindertengerechter gestalten konnte, war sie eine verbissen kämpfende Schutzpatronin. Sie kannte sich in den arbeits-, beamten- und tarifrechtlichen Verwinkelungen mit einem unglaublichen Gespür für das zu äußerst Ausreizbare besser aus als jeder Jurist mit Prädikatsexamen. Für ihre Vorgesetzten und Fachkollegen war sie auch allein deshalb ein einziger Albtraum.

Das Stimmengewirr aus der Teeküche von nebenan schwoll durch die hellhörige Zwischenwand an und ab, je nach der aktuellen Informationslage über den Abteilungsleiter Dr. Gottlieb Schwarz. Im Augenblick schienen sich nahezu alle Mitarbeiter der Abteilung in den engen fensterlosen Raum hineingezwängt zu haben. Sie hofften, aus erster Hand von der Vorzimmerdame des Ministerialdirektors die neuste Ausformung einer offenbar dramatischen Entwicklung seiner psychischen Verfassung zu erfahren. Wann immer seine engste Mitarbeiterin die Türe öffnete, um das Vorzimmer zu verlassen, war in den Gängen des Stockwerks das Brüllen und Schreien des unentwegt von Tobsuchtsanfällen geschüttelten Abteilungsleiters deutlichst zu vernehmen. Dann wussten alle in der Etage, dass es wieder so weit war, in der Teeküche Neues zu erfahren. Offensichtlich hatte sich gerade ein jüngerer Abteilungsleiter aus einer anderen Etage in diesen Raum dazugesellt. Er wurde von den Mitarbeitern des Dr. Schwarz gedrängt, buchstäblich bedrängt, das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen und die Psychiatrie zu verständigen. Dr. Schwarz war nicht mehr Herr seiner selbst. Er bedeutete eine Gefahr für sich und seine Mitmenschen. Entschwände er in diesem fatalen Zustand unbeaufsichtigt in den Feierabend, wäre mit einer Katastrophe für das Ministerium nicht zuletzt in Form eines unheilvollen Echos in den Medien zu rechnen. Der hinzugerufene Abteilungsleiter, ein kompetenter wie beliebter Fachmann für Naturschutz, jedoch nur in der zweiten Reihe der ministerialen Führungsriege angesiedelt, dachte gar nicht daran, die Verantwortung auf sich alleine zu nehmen. Er ließ nach dem Pressesprecher rufen. Anderes Führungspersonal, einschließlich Minister und Staatssekretäre, war längst nicht mehr erreichbar und in irgendeiner vielleicht fadenscheinigen Form entschuldigt und auf und davon. Gemeinsam und unter dem Druck der Umstehenden berieten der Pressesprecher und der Naturschützer ein wenig hin und her, nahmen dann aber Abstand von der Idee eines beruhigenden Gespräches zwischen Dr. Schwarz und ihnen beiden. Stattdessen beorderten sie direkt die Herren mit der Zwangsjacke, denn schließlich dauerte es nicht mehr lange bis zum Ende der Kernarbeitszeit. Es schien durchaus ratsam, auf Nummer sicher zu gehen. Wenn sie Glück hatten, würde der wegen seiner Rachsüchtigkeit gefürchtete Gottlieb Schwarz nie erfahren, wem er seine Rettung an diesem so unglücklichen Tage zu verdanken hatte. Zumindest wurden alle in der Teeküche anwesenden Mitarbeiter konspirativ auf Verschwiegenheit in dieser delikaten Angelegenheit eingeschworen.

»Irgendetwas ist heute anders als sonst«, murmelte die Vorzimmerdame beunruhigt in Frieders Richtung, ohne ihn dabei anzusehen. »Der Kaffee schmeckt ihm nicht. Seit zwanzig Jahren koche ich Kaffee für ihn. Immer um viertel vor neun, wenn er in den Dienst kommt, serviere ich ihm ein Kännchen. Und wissen Sie, was er heute und gerade eben zu mir gesagt hat?« Die verunsicherte Frau, klein, knöchern, hager, um die Mitte fünfzig, starrte entgeistert ins Leere. Frieder war sich nicht sicher, ob sie wirklich mit ihm sprach.

»Ich soll zum Teufel damit. Warum ich ihn seit Jahren mit dieser Jauche quäle? Er hat das einfach so gesagt, mehr nicht. Etwas ist heute anders, aber mein Kaffee ist doch so wie sonst immer?«

Frieder hatte nie zuvor die Möglichkeit, zu vergleichen zwischen 'sonst' und 'anders' in den Gebräuchen des Kaffee-Machens für den Abteilungsleiter. Als er an diesem Montagmorgen zur bestellten Zeit vor dem Büro des Ministerialdirektors Dr. Gottlieb Schwarz eintraf, um seinen Dienst anzutreten, war es für ihn jedoch vollkommen verständlich, dass nun etwas anders sein musste. Im Grunde war Frieder überrascht, dass Dr. Schwarz überhaupt anwesend war und sich nicht krankgemeldet hatte. Frieder saß noch einige Minuten wartend im Vorzimmer und wusste nicht, wie er sich mit einer Sekretärin unterhalten sollte, die bereits etwas die Fassung verloren hatte. Auf die Minute pünktlich um neun rief der Ministerialdirektor mit einer denkbar knappen Anweisung über die Gegensprechanlage Frieder zu sich. Es gab keine lange Begrüßung, kein einführendes Gespräch, das Vorgesetzten und Untergebenen auf einer menschlichen Ebene näher gebracht hätte. Frieder erhielt von ihm keine Einweisung in seinen neuen Arbeitsbereich, noch weniger bekundete Dr. Schwarz in irgendeiner Form Freude über den Zugewinn seines Neuzugangs. Es war vielmehr Gleichgültigkeit und Desinteresse, das Frieder entgegenschlug. Damit wurde ihm bewusst, dass, wenn dieser Montag wirklich nur ein Tag wie 'sonst' gewesen wäre, er auch nichts Besseres zur Begrüßung zu erwarten gehabt hätte. Der Druck, den Jutta auf Gottlieb Schwarz für Frieders Einstellung ausgeübt hatte, war offensichtlich sehr groß und unangenehm gewesen. Als lang ersehntes Wunschkind hätte sich Frieder hier im Ministerium offenbar nicht zu fühlen. Bereits im Verlauf seines ersten Arbeitstages stellte Frieder diese Haltung nicht nur bei seinem Vorgesetzten, sondern so ziemlich bei jedem fest, mit dem er in Kontakt kam. Er wurde von keinem nach einer Einstandsfeier gefragt, von der er erwartet hatte, sie stattfinden lassen zu müssen. Alles, was zur Einstellung zu regeln war, vollzog Dr. Schwarz an diesem Morgen in nahezu wortloser Nüchternheit und ließ Frieder die Eidesformel auf die Landesverfassung sprechen und den Arbeitsvertrag unterschreiben. Als ob er selbst nichts damit zu tun hätte, verwies der Ministerialdirektor auf Frau Grobschmidt, die er angewiesen hatte, Frieder eine Einführung in seinen neuen Aufgabenbereich und in alles, was das Organisatorische betrifft, zu geben. Zudem wären für Frieder sämtliche Arbeitsvorschriften, Zeichnungsregelungen sowie persönliche Formulare und Fragebögen für Versicherungen und Verfassungsschutz draußen im Vorzimmer erhältlich. Für weitere Fragen bezüglich irgendwelcher Unklarheiten wäre dann von Dr. Friedemann Bronn zunächst einmal seine Sekretärin oder Frau Grobschmidt anzusprechen. Deshalb saß Frieder bereits nach weniger als fünf Minuten wieder im Vorzimmer und wartete, bis mit Mühe die nun ziemlich konfuse Sekretärin seine Unterlagen zusammen gestapelt hatte. Dieser kurze und herzlose Einstand für sich genommen entsprach also dem 'sonst', genauso wie der alltäglich zubereitete Kaffee auch. Das 'anders' in bestimmten Einzelheiten war dennoch, und wohl nur für Frieder so unverkennbar. Das linke Auge von Gottlieb Schwarz war blutunterlaufen, die Unterlippe im Mundwinkel deutlich geschwollen und zwei teils verschorfte, teils noch nässende Kratzspuren zogen vom linken Hinterohr über die Halsschlagader bis hinunter unter den Hemdkragen. Er wäre beim sonntäglichen Radfahren eben gestürzt oder vom Weg abgekommen in eine Hecke gefallen sein, würde Dr. Schwarz als Erklärung für jeden sofort parat haben, der ihn auf seine Verletzungen anspräche. Oder er fände eine ähnliche Ausrede, wie von der Leiter gestürzt oder die Treppe hinunter gefallen sein, da war sich Frieder ganz sicher. Und diese Sicherheit vermittelte ihm die Tageszeitung, die Frieder aufgeschlagen auf einem Beistelltisch in Dr. Schwarz Dienstzimmer bemerkt hatte. Gottlieb Schwarz hatte also darin soeben noch gelesen, so wie Frieder die Zeitung in der Straßenbahn auf der Fahrt zum Ministerium ebenfalls gelesen hatte. Die Hand des Abteilungsleiters zitterte, als er Frieder einen Kugelschreiber zum Unterschreiben des Vertrags reichte. Es war nicht wieder jene ruhige Hand, die noch am späten Samstagabend einen Zigarillo gelassen an den Mund dieses Herren führte. Sein Vorgesetzter hatte Mühe, zu sprechen. Selbst bei den wenigen Worten versagte die Stimme bereits im Ansatz. Sein Kopf war hochrot und an den Schläfen perlte Schweiß. Dr. Gottlieb Schwarz war innerlich zerbrochen, als er wenige Minuten zuvor die Schlagzeilen des Lokalteils der Zeitung überflogen hatte. Frieder wusste auch genau warum. Denn Gottlieb Schwarz war in der Nacht vom Samstag auf Sonntag in eine aussichtslose Lage geraten. Den ganzen Sonntag lang blieb er viel zu erschüttert, um das Geschehene zu begreifen. Bis zu diesem Morgen waren alle seine Kräfte aufgebraucht, die Tat in Anbetracht einer reißerisch aufdringlichen Schlagzeile länger noch zu verdrängen.

Ständig abgelenkt, weil allerlei durch die Wand sickerndes Gemurmel und zudem das Nuscheln der Grobschmidt im Ohr, versuchte sich Frieder in den noch verbleibenden Minuten bis zum Dienstschluss auf seine Arbeit zu konzentrieren. Im Ganzen betrachtet fand er seinen Aufgabenbereich überschaubar und dürftig. Genau genommen bestand er derzeit aus einer einzigen Akte, aus einem einzigen Vorgang. Frau Grobschmidt hatte Frieder am Vormittag, nachdem er bei ihr eingezogen war, zunächst in einer umfangreichen Ausführung erklärt, was nicht seine Aufgaben waren. Der Referatsleiter für 'Sonderaufgaben im Tierschutz' durfte keine Referentenentwürfe für Richtlinien, Verordnungen und Gesetzesvorhaben ausarbeiten, die beispielsweise das Halten von Zirkustieren, Kampfhunden und Zierkarpfen oder das Verfahren bei Tiertransporten zum Gegenstand hatten. Er sollte nicht bei der Abstimmung solcher Regelwerke auf die Übereinstimmung mit internationalen Vereinbarungen hinwirken oder darin neuste wissenschaftliche Erkenntnisse einfließen lassen. Er hatte keinen interministeriellen Kommissionen oder Arbeitsgruppen anzugehören. Er durfte keine Kampagnen anstoßen, nicht die Öffentlichkeit informieren. Der Leiter dieses Referats sollte sich vor allem aus allem heraushalten, was das Alltägliche in der Gestaltung und behördlichen Gewährleistung des Tierschutzes betraf. Nach gut zwei Stunden bis kurz vor die Mittagspause war Frieder hingegen bestens über den Aufgabenbereich seiner Kollegen von Referat 3.2a informiert. Dass er dennoch pünktlich zu Mittag auch über seine Verantwortlichkeiten vollständig Kenntnis erlangte, lag daran, dass er aus einem Gefühl der Ungeduld heraus seine Mitarbeiterin aufforderte, nun endlich auf den Kern zu kommen. Dagmar Grobschmidt hatte dann mit einigem Achselzucken nicht viel Konkretes zu sagen. Die Regale im Zimmer waren vollgestellt mit Altpapier, gebündelt in unzähligen Ordnern, die nichts als Vergangenes, zumeist Überkommenes archivierten. Es war wirklich schwer, darüber Worte zu finden. Offenbar allein eine einzige Akte, welche für ihn auf seinem sonst freigeräumten Schreibtisch bereitlag, stellte einen Bezug zur Gegenwart her. Damit verbunden war dem neuen Referatsleiter für 'Sonderaufgaben im Tierschutz' auch seine Funktion zugewiesen: Er war bestenfalls ein Notnagel, ein Lückenbüßer. Er hatte Aufgaben zu erwarten, mit denen andere im Hause nichts anzufangen wussten oder mit denen sonst niemand belastet werden wollte, weil sie für die Karriere fördernde Profilierung zu wenig hergaben.

Überhaupt spielte Profilierung im Ministerium eine wichtige Rolle. Das begriff Frieder, als er die Mittagspause mit seinem Amtsbruder von Referat 3.2a in der Kantine verbrachte. Dieses Milchgesicht, Sven Detlev Nackenhart, das die 30 noch nicht erreicht hatte, gab mächtig an. Er brüstete sich bereits als stolzer zweifacher Familienvater, Bauherr eines schmucken Einfamilienhauses in einer bevorzugen Neubausiedlung der Vorstadt, als verdienter höherrangiger Parteifunktionär und als engagiertes Mitglied im Rothaarig-Club. Seine ab diesem Tag wirksame Beförderung zum Referatsleiter nahm er an als Selbstverständlichkeit an und tat sie ab als Randnotiz. Er hätte bis auf Weiteres nun weniger Zeit, weil er heute damit begonnen habe, neben seinen Dienstgeschäften und ohne Abstriche von seinem, wie er es ausdrückte, bürgerschaftlichen Einsatzes, an einer Doktorarbeit zu schreiben. Jedoch könne er sich voll und ganz auf seine Mitarbeiter verlassen, die als eingespielte Mannschaft ihm alle Unterstützung zu geben hätten, die er brauchte. Frieder dachte, ob nicht gerechterweise auch die beiden Sachbearbeiter und insbesondere der bei der Beförderung übergangene Referentenkollege gleich mit ihm zusammen promoviert werden müssten. Er verwarf den Gedanken sogleich: Nein, denn diese Menschen waren Fußvolk und eben keine berufenen Mitglieder in Partei und Klub. Die Unterhaltung mit dem Karrieristen bei Tisch verlief oberflächlich. Die sonderbaren Ereignisse um Dr. Schwarz' heftiger werdende Wutausbrüche blieben als Thema ebenso ausgespart wie die Perspektiven der zukünftigen Zusammenarbeit zwischen ihnen beiden. Ob es in Afrika wirklich so heiß sei, gab sich Nackenhart interessiert zu erfahren, und natürlich habe er in seiner Jugend 'Tod auf dem Nil' gelesen. Es verschlug Frieder die Sprache, wie ein vermeintlich gebildeter Mensch so ungehemmt einen einfältigen Schwachsinn an ihn heranredete. Lustlos und mit vergangenem Appetit stocherte Frieder in seinem Salat herum, wortlos bemüht um halbwegs gute Mine zum bösen Spiel. Denn die Botschaft, die Nackenhart ihm unterbreitete, konnte kaum anders verstanden werden, als dass Nackenhart alleine sich als Herr am Platze des ministerialen Tierschutzes sah. Frieder hatte für ihn keine Bedeutung zu erlangen, erst recht nicht als ernst zu nehmender Experte und Kollege. Nur er, und nicht Dr. Friedemann Bronn, hatte als allmächtige Kompetenz im ministerialen Tierschutz zu gelten. Dann wurde der Kollege formell und forderte Frieder auf, die Gelegenheit zu nutzen, aufzustehen und sich den übrigen Mitarbeitern im Ministerium persönlich vorzustellen. Frieder wollte nicht so recht. Warum gerade bei der Mahlzeit? Doch sogleich erhob sein Tischgenosse ankündigend das Wort und wies Frieder zu einem kleinen Podest nahe der Ablage für das gebrauchte Geschirr. Ruhe kehrte in der Kantine kaum ein und Frieder bekam wenig Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl er mit lauter, deutlicher und eingeübter Stimme eine kleine Rede zu seiner Person hielt. Er spulte dafür einen Inhalt ab, den er sich am Vortag genau für diesen zu erwartenden Anlass ausgedacht hatte. Still wurde es in der Kantine erst dann, als einer der beiden Staatssekretäre zum Essen kam. Dieser schien Frieder gar nicht zu bemerken und fragte scheinheilig in die Runde, ob er eben etwas verpasst habe. Frieder sah, dass nicht wenige, darunter auch sein Amtsbruder, nur den Kopf schüttelten. Ziemlich betreten brach Frieder seine Rede ab, trat vom Podium und verließ die Kantine. Er verbrachte den Rest seiner ersten Mittagspause allein bei einem Bier an einem Imbissstand unweit, doch weit genug entfernt vom Ministerium.

Jene Akte, die Frieder seit dem Nachmittag beschäftigte und in die er sich umso tiefer hineinlas, je jämmerlicher Dagmar Grobschmidt über ihre im Laufe der Jahre ausbleibenden Beförderung wehklagte, behandelte einen sonderbaren Vorgang. Es bestand ein indirekter Zusammenhang mit demselben Forschungsprojekt, in das auch Frieder seinerzeit in Ägypten eingebunden war. Ein Bauer namens Schurr bekam Schwierigkeiten mit seinen Schweinen. Frieder kannte Schurr. Die Adresse des Betriebs erinnerte Frieder daran, dass dieser Bauer nicht nur Schweine, sondern auch Hühner hielt. Schurrs Geflügelhaltung stellte eine der 15 internationalen Referenzhaltungen des Forschungsprojektes dar, zu denen auch die Hühnerhaltung der Versuchsstation des Dr. Johann Bogarts nahe Luxor zählte. Die Ergebnisse und Vorkommnisse aller Referenzbetriebe wurden in halbjährlichen Zwischenberichten zusammenfassend dokumentiert und fortlaufend allen den am Forschungsprojekt Mitwirkenden zur Verfügung gestellt. Bauer Schurr, im Eigentlichen aber dessen Sohn, der den Versuchsaufbau im Rahmen einer Doktorarbeit betreute, war für Frieder daher kein Unbekannter. Ebenso wie für Dr. Bogarts Versuchshaltung wurde auch für Schurrs Betrieb mögliche Wechselwirkungen mit einer räumlich nahen Schweinehaltung im Index der Zwischenberichte ausgewiesen. In dem Forschungsprojekt ging es nicht um Schweine, sondern allein um Hühner, um die Fleischmast ebenso wie um die Legehaltung. Der Klimawandel der vergangenen Jahrzehnte nährte die Erwartung, dass zukünftig mit extremer werdenden Klimaschwankungen zu rechnen wäre. Von allen im industriellen Maßstab gehaltenen Nutztieren besitzt Geflügel die geringste Fähigkeit, sich physiologisch auf plötzlich eintretende Temperatur- und Luftfeuchtigkeitsunterschiede einzustellen. Einbrüche in der Legeleistung, plötzlicher Herztod bei bis zu einem Fünftel des Bestandes und grassierender Kannibalismus waren in den Sommermonaten der vergangenen Jahre bereits in gemäßigten Klimazonen zu alarmierenden Symptomen unzulänglich gewordener Haltungssysteme geworden. Die Versorgungssicherheit der Bevölkerung mit Eiern und Hühnerfleisch drohte für die Zukunft nicht länger gewährleistet zu sein. Durch haltungstechnische Anpassungen sowie durch Manipulation der hormonellen Stressbewältigung des Geflügels wurden in den Universitäten des Bundeslandes einige für die Praxis erfolgsversprechende Ansätze entwickelt. Diese mussten anschließend in den 15 Referenzbetrieben, die weltweit in unterschiedlichen Klimazonen ausgesucht worden waren, mittels standardisierter Verfahren und praxisnah überprüft werden. An diesem Projekt beteiligte sich zudem ein Pharmakonzern, um sich den zukünftigen Markt für hormonaktive Substanzen in der Futtermittel- und Tiergesundheitsbranche zu öffnen. Das Unternehmen lieferte den Versuchsstationen vorgegebene sowie gewünschte Mengen genau definierter und hochwirksamer Glukokortikoide. Bei seinen Versuchen konnte Frieder zwar nicht feststellen, dass diese Präparate gerade bei Hühnern die Stressresistenz signifikant erhöhten. Der hingegen zweckentfremdete Einsatz einer ganz bestimmten Substanz aus dieser Wirkstoffgruppe führte jedoch bei seinen Schweinen zu wundersamen Ergebnissen. Wurde die betreffende Substanz nämlich tragenden Zuchtsauen in der letzten Trächtigkeitswoche verabreicht, so entwickelten daraufhin die meisten Ferkel des Wurfes das etwa Anderthalbfache des normalen Geburtsgewichts. Anschließend zeigten die Ferkel in den ersten vier Lebenswochen enorme Zuwachsraten. Das gesamte Ferkelwachstum verlief demnach intensiver und schneller. Die zügige Verwertung der Jungtiere als frühreife Schlachttiere war wirtschaftlich ausgesprochen verlockend. Dieses heimliche Schweinedoping, das Frieder in Ägypten in einem letztendlich großen und ausgefeilten Maßstab sowie mit viel Erfolg in der Vermarktung praktizierte, wurde natürlich in keinem der Forschungsberichte dokumentiert. Wozu auch? Schließlich wurde offiziell ausschließlich an Hühnern geforscht. Einen Fehler hatte jedoch die Hormonbehandlung der Zuchtsauen: Regelmäßig kam es bei einem Teil der Ferkel eines Wurfes immer auch zu Missbildungen. Meistens waren bei den betroffenen Tieren die Extremitäten abgestorben, innere Organe, insbesondere die Leber, wurden hingegen hyperplastisch und gaben dem gesamten Ferkelkörper eine aufgeblähte, sackförmige Gestalt. Solche deformierten Ferkel waren nicht lebensfähig und wurden zumeist tot geboren. Gerade wegen solcher Fehlbildungen fiel Bauer Schurr auf. Ein Nachbar beobachtete, dass Schurr die Ferkelkadaver in einer Grube auf seinem Hofgelände verscharrte und nicht der Tierkörperverwertung übergab. Entsetzt von den hässlichen Deformationen verständigte der Nachbar die Veterinärüberwachung, die daraufhin Bauer Schurrs gesamten Betrieb genauestens überprüfte. Bauer Schurr und sein Sohn gaben sich vollkommen unwissend: Nein, sie konnten sich die Häufung der Missbildungen nicht erklären. Jedoch auch die Laboruntersuchungen der Behörden erbrachten keine Hinweise, vor allem weil niemand so genau wusste, wonach im Besonderen als Ursache zu suchen wäre. Die Schurrs stritten jeden Zusammenhang zwischen ihrer Schweinehaltung und dem Hühnerforschungsprojekt ab. Dennoch wurde die Akte, weil es die Beamten der untergeordneten Ausführungsbehörden nicht besser handhabten, auf dem Dienstweg bis hin zu Dr. Jutta von Lindenburg durchgereicht. Sie war letzten Endes im Ministerium federführend mit der Organisation dieses Forschungsvorhabens und dessen Kontrolle betraut. Natürlich wäre das Projekt aus fachlicher Sicht und von Beginn an in anderen Referaten des Ministeriums besser angesiedelt gewesen, etwa bei der 'Veterinärüberwachung' oder bei der 'Tierproduktion'. Dessen ungeachtete blieb die Stressforschung an Hühnern allein Juttas Projekt. Wäre sie nicht Frieder vor gut zweieinhalb Jahren aus purem Zufall und während einer Urlaubsreise in Luxor buchstäblich über den Weg gelaufen, wäre dieses Forschungsvorhaben auch nie angestoßen worden. Weder Jutta noch ihre Referenten wollten die Zusammenhänge rund um die Missbildungen bei den Schweinen sachgerecht beurteilen, anders hingegen, als wenn es zu Missbildungen bei den Hühnern gekommen wäre. Hätten sich hingegen im Ministerium die Fachleute der 'Veterinärüberwachung' dem Fall zugewandt, so wäre das Schweinedoping der Schurrs ziemlich sicher aufgeflogen. Die Akte lag deshalb bereits seit einigen Wochen unbearbeitet auf Wiedervorlage im Tierschutzreferat herum und wartete offenbar nur darauf, um von Frieder angenommen und abschließend verantwortlich geprüft zu werden. Doch Frieder dachte gar nicht daran, die Akte zu schließen und mit einem kleinen Kommentar und seinem Namenskürzel die annehmbare Zusammenhangslosigkeit des Forschungsprojektes an Hühnern mit den Deformationen bei Ferkeln zu bestätigen. Frieder ahnte nicht, was die Schurrs trieben, er wusste es bereits. Er brauchte nur dem ministeriellen Untersuchungslabor einen Hinweis geben, und so ließen sich durch gezielte Analysen Hormonspuren und verräterische Stoffwechselnebenprodukte in den Proben der gefundenen Ferkelkadaver nachweisen.

»Aber halt, nicht so voreilig!«, kam es Frieder in den Sinn. Warum sollte er mit einem bloßen Federstrich sich seiner einzigen Arbeit berauben? Dann bliebe ihm am nächsten Tag nichts anderes noch übrig, als am Schreibtisch sitzend sich von Dagmar Grobschmidt die Welt aus ihrer Sicht erklären zu lassen? Inzwischen war seine Mitarbeiterin, verirrt in einem unablässigen Redeschwall, bei ihren Reisen angekommen. Sie war reisesüchtig. Auf allen Kontinenten war sie bereits gewesen und hatte alle die Länder besucht, die ein Pauschaltourist üblicherweise zu bereisen pflegt. Dabei schloss sie sich ausschließlich Reisegesellschaften auf geführten Campingtouren an, einfach, ohne Komfort und Stil, vor allem billig. Allzu offensichtlich war es für Frau Grobschmidt jedoch nicht der günstige Preis, der Pauschalcampingtouren mit Bussen für sie so begehrenswert werden ließ, sondern die sozialen Kontakte, die sie sich damit erkaufen konnte. Ein Mensch wie sie, der spürte, dass er von anderen Menschen ständig gemieden wurde, suchte eben besondere Wege, die es anderen Menschen unmöglich machte, ihm auszuweichen. Dagmar Grobschmidt drängte das unbändige Bedürfnis, sich mitzuteilen. Sie war ein einsamer, frustrierter und verletzter Mensch. Die Touren versprachen ihr stundenlange Busfahrten mit wechselnden Nebensitzern, abendliches Lageraufbauen in der Gruppe und gemeinsames Kochen und Geschirrabwaschen. Besonders ergiebig hinsichtlich erzwungen zwischenmenschlichen Miteinanders erwies sich bei tagelangem Regen enges Aufeinandersitzen in den Zelten. Wenn dann einer der anderen Reiseteilnehmer Dagmar Grobschmidt unerträglich fand, ihr zu entgehen gelang ihm dann dennoch nicht. Vielleicht hatte einer der Mitreisenden deshalb sogar versucht, nachträglich beim Veranstalter eine Preisminderung wegen Grobschmidts nervenaufreibendes Gerede und ungepflegten Benehmens durchzusetzen. Frieder konnte es sich angesichts seiner zukünftigen Zusammenarbeit mit dieser Frau bereits mit Unbehagen vorstellen. So empfand er es für den Moment nur allzu gerecht, falls er wegen ihr zusätzlich zu seinem Gehalt eine Erschwerniszulage einfordern würde.

Es war bereits wenige Minuten vor dem Ende der Kernarbeitszeit, als vom Flur her hektische Schritte sowie rollende und schleifende Geräusche zu vernehmen waren und das Gemurmel aus der Teeküche verebbte. Das psychiatrisch-medizinische Fachpersonal war angekommen. Der Trupp eilte mit einer rollbaren Bare und einem Rollstuhl, mit Zwangsjacken, Erste-Hilfe- und Arztkoffer sowie mit einer Professionalität, mit der sonst Automechaniker Reifen wechseln, zum Dienstzimmer des Dr. Schwarz. Wie wäre es, dachte Frieder, wenn er die Grobschmidt jetzt einfach vor die Türe setzte. Zumal seine Mitarbeiterin ebenso gut in das Beuteschema dieser psychologisch geschulten Häscher passte, bestünde vielleicht die Hoffnung, dass sie auf dem Rückweg gleich mit ins Irrenhaus genommen werden würde. Doch Frieder besann sich eines Besseren und füllte einen Dienstreiseantrag aus. Am Ende seines ersten Arbeitstages hatte er genug von Frau Grobschmidt, genug von den Kollegen seiner Abteilung und überhaupt genug von seinem neuen Arbeitsplatz. Der Einstand verlief eben nicht besser, als wie er es erwartet und, wenn er offen zu sich selbst war, er es auch befürchtet hatte. Dieser erste Tag konnte jedoch nicht bereits den Übergang in einen geachteten Beruf und in die anständige Bürgerlichkeit geebnet haben. Monate standen noch wie eine Mauer bevor, die Frieder erst nach und nach abtragen oder überwinden musste. In der Annahme solcher von vornherein bestehenden Schwierigkeiten resümierte Frieder eigentlich nicht unzufrieden, dass er sich für den Anfang doch recht gut geschlagen hatte. Wie bereits die erste Runde eines Boxkampfes immer mit einer Pause endet, so hatte nun auf Frieders Einstand bereits der folgende Tag im Außendienst ebenso als erste Auszeit und redlich verdiente Pause zu folgen.

Frieder schob das ausgefüllte Antragsformular über die beiden einander gegenüberstehenden Schreibtische zu Dagmar Grobschmidt hinüber. Seine Mitarbeiterin, die gerade dabei war, ihre Tasche zu packen, verzog das Gesicht.

»Was ist das?«, brummte sie.

»Arbeit«, entgegnete Frieder knapp, der nun seinerseits sich anschickte, seinen Tisch zu räumen, aufzustehen, um sich den Mantel anzuziehen.

»Das geht aber nicht!«, protestierte die Grobschmidt, die dem vorliegenden Antrag nichtsdestoweniger und gar nicht so flüchtig ihre volle Aufmerksamkeit zu schenken hatte und dabei bemerkte, dass dieser einen Verfügungsvermerk enthielt. Dadurch war sie von Frieder angewiesen, für den nächsten Tag einen Dienstwagen für sieben Uhr in der Frühe zu organisieren und Straßenkarten bereitzustellen, die Frieder zum Bauernhof der Schurrs führten. Zudem erhielt sie die Anweisung, unverzüglich sämtliche Unterlagen des besagten Forschungsprojektes bereitzulegen und einen Besprechungstermin mit einem Vertreter des Pharmakonzerns für die kommende Woche zu vereinbaren.

»Das ist ganz unmöglich!« Dagmar Grobschmidt wagte bockig Widerspruch. »Sie haben erst heute hier angefangen und möchten morgen bereits auf Dienstreise gehen. So etwas gibt es nicht! Das Stressprojekt ist unter Kontrolle der Kollegen von 3.2a. Alle Akten, bis auf die Ihnen vorliegende, habe ich erst am Freitag dem Referenten dort übergeben. Die Personalstelle des Hauses schließt in einigen Minuten. Den Genehmigungsstempel für den Außendienst werde ich dort kaum noch bekommen und schon gar nicht bei der Fahrdienststelle einen Wagen für morgen. Und ich werde mindestens eine halbe Stunde dafür brauchen, um an die Karten zu gelangen. Das geht also ganz und gar nicht!«

»Liebe Frau Grobschmidt«, sagte Frieder mit einem falsch freundlichen Schmunzeln, »weil ich das so will und Sie sich beeilen werden, geht das. Oder Sie werden gehen!«

Frieder verließ das Haus und nickte dem Pförtner so flüchtig wie gerade noch aufmerksam zu. Als neuer Mitarbeiter gehörte er für den Mann in der Loge noch nicht zum Stammpersonal, sondern wirkte auf ihn wohl eher wie ein Firmenvertreter für Büromaterial. Frieder mochte sich den künftig alltäglichen Gang durch diese Pforte noch nicht vorstellen. Die Hoffnung tröstete ihn, den kommenden Tag überwiegend im Außendienst und weit weg vom Ministerium zu verbringen, sofern Dagmar Grobschmidt seine Drohung ernst zu nehmen gedachte und ihre Arbeit noch an diesem Nachmittag erledigte. Eigentlich dachte er, nach einem Taxi zu winken, das ihn zu seiner Pension brächte. Doch was sollte er dort so früh am Abend? Müde war er nicht und sein geringer Appetit trieb ihn so schnell noch nicht in sein Stammlokal nebenan. Gerade hielt gegenüber an der Haltestelle die Straßenbahn in Richtung Stadtzentrum. Es traf sich gut. Frieder suchte Zerstreuung. Er stieg ein und war sogar ein wenig gespannt darauf, was ihm glasbespiegelte Kaufhäuser, marmorgetäfelte Einkaufspassagen und die Vorzeigebars der Innenstadt bieten konnten. Ruckelfrei und schwebesanft fuhr die Straßenbahn an und bog um die Hausecke des Ministeriums ab in eine andere Straße. Frieder blickte, wie einige seiner Mitfahrer auch, für einen kurzen Augenblick in die seitliche Hofeinfahrt der Behörde. Er sah einen Notarzt- und einen Krankenwagen mit weit offenen Türen, eine knöcherne, gebeugte ältere Frau, aschfahl etwas abseits in einem Rollstuhl fixiert und eine wild zuckende, mumienartig verhüllte Gestalt. Ministerialdirektor Dr. Gottlieb Schwarz war auf einer Bahre festgezurrt und wurde von einer Mannschaft uniformierter Sanitäter und Ärzte herumgebeutelt. Frieder und den anderen Fahrgästen bot sich ein sekundenkurzes Schauspiel, das dennoch lange genug dauerte, um davon gebannt zu werden.

Alis Opfer Nummer drei und vier, rechnete Frieder zusammen und zählte Schwarz' Liebhaber auf Nummer zwei und sich zuerst auf Nummer eins gleich mit dazu. Am Vortag, als er Ali in Juttas Apartment traf, begann er zu begreifen, was in der Nacht zuvor geschehen war. Sein ehemaliger Freund sprach darüber mehr in Andeutungen. Vieles dachte Frieder sich selbst. Ali verließ die Döner-Stube, um den ihm unbekannten älteren Herren, der in Begleitung eines Prostituierten war, zu folgen. Was das Paar bald in der Nähe, irgendwo in einer dunklen Straßenecke miteinander vorhatte, konnte Ali leicht erahnen. Ein Fotoapparat, am besten eine Digitalkamera, war ihm bestimmt von Nutzen. Mit einem Pflasterstein warf Ali die Schaufensterscheibe des Fotoladens ein und deckte seinen Bedarf mit einem wählerischen Griff. Ali ließ die beiden nicht aus den Augen, verharrte ein wenig und schlich mit etwas größerem Abstand wieder hinter ihnen her. Dann wartete er einige Minuten, weil das Paar in einem nahezu schrottreifen und zwischen Mülltonnen platzierten Wohnwagen verschwand. Auch Schäferstunden dieser Art brauchen ihre Zeit. Nach einer Weile erhob sich Ali zum Herrn des Geschehens. Denn in gleicher Weise wie gerade zuvor zerschlug er die Heckscheibe des Wohnwagens und blitzte kaum einen Augenblick später mit der Kamera wahllos in den dunklen Raum hinein. Das Bild, das Ali ihm gestern auf seinem Notebook zeigte, bestach durch Motiv und Schärfe und mehr noch, es war eindeutig. Ali meinte, dass man über die abgelichtete Begebenheit wohl nicht weiter reden müsse. Johann – Frieder war noch immer darüber erleichtert, dass Ali ihn ebenso fälschlich wie felsenfest für Johann hielt – möge daher sein Versteckspiel mit ihm aufgeben. Ali gab sich sicher, bald wie von selbst zu erfahren, wer jener ältere Herr war. Daraufhin fände er heraus, was Frieder mit diesem Menschen verband und damit Kenntnis über Frieders neues Umfeld und über seine Zukunftspläne erlangen. Für Ali war Johann schachmatt, er liefe ihm nicht davon, war wieder in seiner Hand und Johann bliebe sein Werkzeug. Frieder widerstrebte es, mit Ali zu sprechen und vor ihm sein neues Leben auszuschütten. Er blieb für die Dauer des Besuchs einsilbig und betrachtete sprachlos das bloßstellende und kompromittierende Bild. Was gab Ali nur so viel Sicherheit? Wenn es Frieder am späten Sonntag Nachmittag bereits vermutete, Gewissheit erlangte er an diesem Morgen, als er in der Straßenbahn auf der Fahrt zum Ministerium die Schlagzeilen des Lokalteils der Tageszeitung überflog. Wenig später, bei seinem Dienstantritt, lieferte das geschundene Gesicht von Dr. Gottlieb Schwarz ihm eine weitere Bestätigung: Ali half nach! In der Erkenntnis abgelichtet und damit erpressbar geworden zu sein, erstarrte Dr. Schwarz erst vor Schreck und dann blind vor Wut. Er vermutete, von dem Prostituierten und einem Komplizen in eine Falle gelockt worden zu sein. Schwarz schlug auf den Jungen ein und richtete ihn mit brutaler Gewalt übel zu. Doch der Junge wehrte sich, schlug und kratzte so lange zurück, bis seine Kräfte schwanden, er benommen wurde und sich vor Gottlieb Schwarz Schlägen nicht länger schützen konnte. Unterdessen wartete Ali in der Nähe irgendwo zurückgezogen zwischen den Mülltonnen und ließ dem Gewaltausbruch des alten Freiers freien Lauf. Angesichts der plötzlichen Leblosigkeit des Jungen, in den er eben zuvor noch und noch eingeschlagen und getreten hatte, verfiel Dr. Gottlieb Schwarz in Panik und nahm Reißaus. Dann jedoch vollendete der Ägypter das, was jener bemerkenswert sonderbare, von Angst und Trieben übermannte Herr in schicksalshafter Weise angefangen hatte. Ali schlich in den Wohnwagen und schlug dem wehr- und besinnungslosen Kerl den Schädel ein, mit der festen Absicht, ihn umzubringen. Denn mit Sicherheit nur tot käme das Opfer in die Schlagzeilen und führte zu einer über Tage und Wochen anhaltenden Berichterstattung. Unter den wachen Augen der Medien musste die Strafverfolgung einen Täter suchen. Im Zuge der Ermittlungen würde dieser edle Herr bestimmt gefunden und nicht nur der Gerechtigkeit zugeführt, sondern auch der Presse zum Fraß vorgeworfen werden. Die eigene Fotografie aus dem Inneren des Wohnwagens noch einer Redaktion zuzuspielen und damit selbst Spuren zu hinterlassen, hatte Ali nicht mehr nötig.

Passanten fanden den Jungen am Sonntagmorgen, so stand es in der Zeitung, mit lebensgefährlichen Verletzungen. Die Ärzte sagten nicht vorher, ob er je wieder aus dem Koma erwachen würde und auch nicht, ob die Notoperation überhaupt einen Erfolg hatte. Offenbar war es diese nagende Ungewissheit infolge der morgendlichen Zeitungslektüre, die den ministerialen Dr. Schwarz in seinem Dienstzimmer vollends in den Wahnsinn trieb. Am Sonntag konnte der Ministerialdirektor noch hoffen. Vielleicht erwiese sich alles als halb so schlimm. Sicher, er hatte den Jungen ordentlich verprügelt. Aber auch Boxer, die blutig geschlagen werden und ohnmächtig auf die Bretter gehen, stehen bald wieder auf und das Leben geht weiter. Er bekäme, so nahm er wahrscheinlich an, in Kürze ein erpresserisches Bildduplikat zugespielt. Gottlieb Schwarz fand sich unentschieden, ob er es fürchten oder darauf hoffen sollte. Schließlich nahm er sich vor, Schweigegeld in jeder Höhe zu bezahlen. Genau darauf hoffte er, denn so brauchte er nicht mit einer Anzeige rechnen und alles ließe sich unter dem Mantel der Verschwiegenheit in einer für ihn noch hinnehmbaren Art und Weise regeln. An diesem Morgen jedoch machte die Schlagzeile der Zeitung Gottlieb Schwarz' Hoffnung zunichte. Übertrieben voreilig suchten sie bereits einen Mörder und der Ministerialdirektor hätte sich selbst für den Totschläger zu halten. Würde der Junge erwachen, wäre er sofort der Beschuldigte. Und wenn nicht? Die Reste seiner Haut unter den Fingernägeln des Getöteten gaben als Quelle genetischen Codes ein unwiderlegbares Indiz seiner Täterschaft. Zudem hinterließ er am Tatort Blutspuren. Damit ließe sich labormedizinisch ermitteln, dass nicht nur Opfer, sondern auch Täter an Aids erkrankt waren. Gab es nicht längst Melderegister für diese Seuche, die genetischen Fingerabdruck mit Namen und Identität verbinden? Wie verlässlich ist in Anbetracht eines Kapitalverbrechens die ärztliche Schweigepflicht?

Noch ehe die Straßenbahn das Stadtzentrum erreichte und Frieder sich aus einer Auswahl interessant klingender Haltestellen für die wohl verheißungsvollste entschied, rechnete er erneut zusammen. Ali hatte in wenigen Tagen bereits drei Leben zerstört: seines, das des Jungen und das seines Vorgesetzten, Dr. Gottlieb Schwarz. Nicht vier, sondern nur drei Opfer gingen demnach auf Alis Konto. Der erste Feierabend in der Stadt versprach Verdrängung und stimmte Frieder für die Neuberechnung etwas milder. Die Vorzimmerdame des Ministerialdirektors galt für ihn nicht länger das vierte Opfer. Was sie dadurch erlitt, während der Ministerialdirektor seine unbändige Wut an ihr abließ, kam Frieder vergleichsweise verschmerzbar vor.

Ferkel fliegen nicht

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