Читать книгу Die Katze und der General - Nino Haratischwili - Страница 11

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2016/Die Krähe

Ich erwachte auf einer Bank, mitten im Viktoriapark. Ich befand mich in einem Vakuum. Ich fror. Ich fühlte mich wie aus Eis und Beton gegossen. Nur mein Hirn war weich und matschig. Ich wusste nicht mehr, wie ich dort hingekommen war. Dass ich die Nacht auf der Parkbank verbracht hatte, realisierte ich erst weitaus später. Mein Rücken war steinhart und verkrampft. Nach und nach kehrte die Erinnerung an das israelische Pärchen zurück, das ich an der U-Bahn-Station Yorckstraße kennengelernt hatte, in einem Kebab-Laden, wo unsere Odyssee begonnen hatte. Sie führte durch die Bars am Mehringdamm, mit Unmengen von bunten alkoholischen Getränken, die wir gierig durcheinandertranken, die gelbliche Pille, die mir Arie oder Ariel anbot, ich erinnere mich nicht mehr genau, wie der Mann hieß. Die anmutige, grazile Frau hatte ich deutlicher vor Augen. Auch den Kuss, den sie mir kichernd und aufgeregt auf die Lippen gedrückt hatte, als ihr Freund für eine riskante Weile auf der Toilette verschwunden war.

Es war kalt. Ich sollte nach Hause. Auch wenn mich dort nichts und niemand erwartete. Auch nicht die Reste meines eigenen Ichs, das ich so eifrig stückchenweise über Städte und Orte, Bars und Bänke verteilt hatte, dass ich mich nicht mehr zusammensetzen konnte. Trotzdem sollte ich … ich hatte heute Abend Schicht.

Ich zwang mich auf die Füße, sie pochten, ich konnte kaum gerade stehen, mir war schwindelig. Wieso dieser Park? Wieso diese Bank? Wo war meine grazile Sarah oder Rachel oder gar Salome geblieben? Und wo war ihr ganz und gar nicht biblischer Begleiter, der sich an bunte Pillen klammerte, da er Angst hatte vor einer Welt ohne Rausch? Meine Jacke war heil, ich begutachtete mich. Die Jeans hatte dunkle Flecken an den Knien.

Ich lief weiter, setzte mühsam einen Fuß vor den anderen, ließ mich bereitwillig von dem mir feindlich gesinnten Oktoberwind auspeitschen. Ein paar vereinzelte, genervte Menschen kamen mir entgegen. Ich humpelte weiter und versuchte den Rost an meinen Knochen zu ignorieren.

In der U-Bahn fiel mir ihr Name ein: Tova. Gab es eine biblische Tova? Und wenn ja, war sie fügsam und schicksalsergeben oder trotzig und rebellisch? Hatte sie die Männer zu ihrem Glück geführt oder in schwindelerregendes Unglück gestürzt? Und hätte mir jene Tova, die mir einen unschuldigen und für sie doch so mutigen Kuss auf die Lippen gedrückt hatte, auch Unglück gebracht, wäre ich bei ihr geblieben, länger als für den Kuss, länger als für die Nacht? Oder hatte sie sich von mir Rettung erhofft, einen Blick in eine vielversprechendere Kristallkugel, als ihr ihr Mitstreiter bieten konnte? Hatte sie mich hierhingeführt und als Strafe auf die Bank gelegt, sollte ich ein Opfer werden für ihren zornigen Gott? Ich schmunzelte bei der Vorstellung, etwas an diesem Bild erschien mir amüsant. An irgendjemanden hatte mich die elegante Tova erinnert, fiel mir jetzt wieder ein, bloß an wen?

Ich taute nach und nach auf. Es war ein schönes Gefühl, dass mich keiner beachtete, dieses In-Ruhe-gelassen-Werden. Das hielt mich hier, das hatte mich so lange nach ihr hier gehalten, hier, in dieser Stadt, hatte mir die einzige mir zustehende, einzige unbefleckte Verbundenheit mit Asphalt, Beton, mit muffigen U-Bahn-Zügen gegeben, eine ehrliche, eine unschuldige Verbundenheit.

Der Tag war noch frisch, zu frisch für meinen Geschmack, und versprach sich unnötig gemein in die Länge zu ziehen. Meine Schicht begann erst um Mitternacht. Also lief es darauf hinaus, mich zu verkriechen und den Tag über tot zu stellen. Ich wollte niemanden treffen und sprechen noch viel weniger. Ich wollte mich weiterhin so zerstreut und uneinheitlich fühlen, so nebulös und so unkonkret. Ich könnte weiterschlafen oder eine Runde World of Warcraft spielen, sollte beides nicht richtig funktionieren, würde ich einfach Zopiclon einwerfen und ins Delirium fallen.

Kurz vor dem Aussteigen aus der Bahn dachte ich an meine Mutter, daran, dass ich sie anrufen sollte, aber mir erschien diese Vorstellung so unzumutbar, dass ich die Idee sofort verwarf.

Ganz sicher: Tova hatte mich sentimental gemacht. Sie und ihre archaische Selbstverständlichkeit, oder zumindest glaubte ich diese in ihr zu erkennen, als ihre Lippen sich auf meine legten. In ihrer ganzen Fügsamkeit spürte ich die Sehnsucht nach mehr, mehr als das, was ihr das Leben versprach, was ihr ihr Freund bieten konnte, ihr Schicksal. Dieser winzige Riss in ihrer fröhlichen, fügsamen Welt, durch den ich hindurchgeblickt hatte letzte Nacht, hatte mich sentimental gestimmt, hatte mich berauscht, hatte mich ihr durch die Nacht und die Kälte folgen lassen. Dieser Riss hatte mich an eine Tür geführt, durch die ich seit Monaten nicht mehr gegangen war, eine Tür, die mich zu ihr führte. Ich aber wollte nicht mehr zurück, nicht wieder zu dem Felsen, an dem ich zerschellt war. Aber Tovas Sehnsucht hatte mich verführt, ich hatte mich mitreißen lassen, und ja, ich hatte mich wieder umgedreht, hatte nach meiner Eurydike geblickt … Aber dort war nur Dunkelheit.

Ich kaufte mir an einem Kiosk einen säuerlichen Kaffee aus der Thermoskanne und bog in die Wiener Straße ein. Ich beschloss, etwas zu essen und gleich darauf ins Bett zu fallen. Erstens würde die Zeit so schneller vergehen, und zweitens hätte ich weniger Möglichkeiten, die letzte Nacht und somit die damit verbundenen Empfindungen zu rekapitulieren.

Genau in dem Moment, als ich den Schlüssel aus der Jackentasche holen wollte, trafen sich unsere Blicke. Er hatte wohl schon die ganze Zeit am Straßenrand gestanden, und ich hatte seiner Silhouette nicht allzu viel Beachtung geschenkt, aber nun drehte er sich zu mir und fixierte mich mit seinen dunklen Augen. Ich hatte keine Möglichkeit mehr, ihm auszuweichen. Seine markante Nase und seine hagere, in die Länge gezogene Gestalt, sein schütteres blondes Haar, das auf eine baldige Glatze hinwies. Schon damals, in diesem anderen Jahrhundert, in dem ich wie Tova an eine gewisse Ordnung und an Gesetzmäßigkeiten geglaubt hatte, in jenem Leben, in dem auch dieser Mann eine Rolle gespielt hatte, erinnerte er mich an jemanden, dessen Lebensaufgabe darin besteht, Geheimnisse zu hüten, dunkle Mysterien zu bewahren. Auch jetzt weckte seine Erscheinung diese Assoziation in mir, wobei ich dieses Mal vielmehr an Charon denken musste, den alten, düsteren Fährmann, der die Toten in seinem Binsenboot über den Styx zu seinem allmächtigen Herrscher Hades brachte.

Ich hatte niemals verstanden, wieso sie solch warme Gefühle für diesen merkwürdigen und undurchschaubaren Mann hatte hegen können. Aber von der gesamten »Armada« ihres Vaters, wie sie seine Gefolgschaft zu nennen pflegte, hatte sie, neben ihrer Ziehmutter Asja, ausgerechnet ihn auserkoren, hatte es ausschließlich ihm gestattet, ihr nahezukommen. Sie hatte mit ihm keine Spiele gespielt, hatte ihn nicht an der Nase herumgeführt, sonst ihre Lieblingsbeschäftigung, wenn sie in die Welt ihres Vaters eintauchte. Ich hatte immer danach gesucht, nach diesem gewissen Etwas, das sie an ihm hätte interessieren, berühren können, aber nichts gefunden, ganz im Gegenteil: Aus seiner ganzen Entourage schien gerade dieser Mann mir am zwielichtigsten, derjenige, bei dem es einem am schwersten fiel, ihm Sympathie entgegenzubringen. Denn er bedurfte keiner Sympathie, dachte überhaupt nicht in solchen Kategorien.

Ich ging auf ihn zu. Seinen kalten Augen ausgesetzt, spürte ich erneut meinen Widerwillen, den ich schon früher empfunden hatte, immer wenn er in meine Nähe gekommen war.

– Hallo Onno, sagte er in seinem leicht süßlichen Deutsch. – Ich habe auf dich gewartet.

Ich versuchte, den Schauer, den mir seine Stimme über den Rücken jagte, zu überspielen, grinste unpassend und zuckte mit den Achseln, ohne zu wissen, warum. Seine eisblockkalte Höflichkeit war seit unserem letzten Aufeinandertreffen kein bisschen getaut.

– Hallo Schapiro, sagte ich und begann, mit der freien Hand nach meinem Schlüsselbund in der Jackentasche zu suchen. – Lange nicht gesehen, fügte ich ziemlich ungelenk hinzu.

Ich wusste nicht, mit welchen Worten ich mich an ihn zu wenden hatte. Nach all dem, was passiert war, tauchte er plötzlich aus der Versenkung auf, wie ein Relikt, ein Untoter aus einer anderen Ära, und seine Existenz in dieser neuen Zeitrechnung verstörte mich zutiefst.

– Ich würde dich, wenn du nichts dagegen hast, in die Wohnung begleiten und dir dort mein Anliegen unterbreiten.

Ich dachte an die ungewaschenen Teller in meiner Küche, an die Mausefalle im Flur, an die dreckige Wäsche im Bad, an die staubigen Bücherstapel im Schlafzimmer, an die Armeen leerer Flaschen in allen Räumen. Aber bevor ich verneinen konnte, wurde mir die Lächerlichkeit meines Widerstands klar: Ich hatte längst keine Geheimnisse mehr, schon gar nicht vor diesem Fährmann und seinem mächtigen Befehlshaber. Es war lächerlich, etwas von mir nicht preisgeben zu wollen, was sie längst in Erfahrung gebracht hatten. Da er bereits hier war, konnte ich davon ausgehen, dass er alles hatte, was er wissen musste, und ich nickte ihm zu. Er machte daraufhin ein kaum merkliches Handzeichen in Richtung der gegenüberliegenden Straßenseite, wo zwei Sicherheitsmänner in dunklen Anzügen vor einem schwarzen gepanzerten Audi auf ihren Chef warteten, die mir erst auffielen, als ich seiner Handbewegung mit dem Blick folgte.

Über den Hinterhof gelangten wir ins vollgesprayte Treppenhaus und dann in den vierten Stock, in dem meine Wohnung lag, die ich seit einem knappen Jahr gemietet hatte, nachdem mir die letzte unerträglich geworden war. Aber wahrscheinlich war ihm dieses Detail ebenfalls bekannt.

Der leicht modrige Geruch stieg einem in die Nase, sobald ich die Tür aufsperrte, aber er beherrschte die Regeln zu gut, um sich etwas anmerken zu lassen.

In der Küche fand ich noch eine saubere Tasse und bot ihm das einzige Getränk an, das ich zu Hause hatte und das er zufälligerweise auch als einziges literweise zu sich nahm: schwarzen Tee. Er bedankte sich höflich und bemühte sich, seinen starren, dennoch immer neugierigen Blick nicht umherschweifen zu lassen.

– Ich werde nicht viel von deiner Zeit beanspruchen. Ich komme gleich zur Sache und erläutere dir den Grund für meinen unerwarteten Besuch.

Manchmal, erinnerte ich mich plötzlich, hatte er mich durch seine merkwürdig umständliche Art zu reden und seine unerwartete Wortwahl überrascht, ja gar amüsiert, auch jetzt entlockte er mir ein unmerkliches Lächeln, ich merkte, wie sich die Anspannung in meinem Körper langsam löste.

– Alexander schickt mich, aber ich nehme an, das wirst du dir denken, begann er und beobachtete meine Hand ziemlich genau, wie sie den Teebeutel in die Tasse sinken ließ.

– Ja, das habe ich vermutet, sagte ich und unternahm einen Versuch zu lächeln. Auch dass er seinen Kommandeur als Einziger »Alexander« nannte und nicht, wie alle anderen um ihn herum, »General«, hatte mich schon damals vergnügt.

– Er möchte, dass ich dir ausrichte, er sei nun bereit, fuhr er fort und verharrte in einer abwartenden Stellung, wie ein Raubtier, das seine Beute fixiert.

– Bereit zu was?

Ich kippte ziemlich hastig das heiße Wasser in die Tasse.

– Er ist bereit, deinem Wunsch nachzukommen.

Ich war wirklich verwirrt, ich war keine Sekunde versucht anzunehmen, dass er sich bereit erklären würde, die Zeit zurückzudrehen, denn wenn er meinem Buch zustimmen würde, als dessen Hauptfigur er einst vorgesehen war, in dem die Wahrheit enthalten sein sollte, würde dies nichts weniger bedeuten, als: ein Zurückdrehen der unsichtbaren Uhrzeiger. Und das war nicht einmal dem allmächtigen General vergönnt. Ich sah Schapiro verwundert an, während er mit gespitzten Lippen auf die heiße Flüssigkeit blies.

– Ja, ja, setzte er erneut an, als hätte er meine Zweifel erraten. – Es geht um das Buch, um dein Buch.

– Aber …

– Lass mich ausreden!, schnitt er mir abrupt das Wort ab. – Du musst zuerst eine Person dazu bringen, Alexanders Wunsch zu erfüllen. Deine Überzeugungsgabe wirst du hoffentlich nicht verloren haben, fuhr er in sachlichem Ton fort und ließ dabei seinen starren Blick auf meinem Gesicht ruhen, und ich konnte das unausgesprochene »noch« durch seine Gedanken huschen sehen.

– Was für eine Person und bei welchem Wunsch?, versuchte ich ebenso sachlich zu antworten.

Und in ein paar nüchternen Sätzen, dabei fast geräuschlos seinen Tee trinkend, erläuterte er mir, dass der mächtige, unerschütterliche Alexander Orlow, von allen nur der General genannt oder in der westlichen Presse auch »der schwarze Papst« – dass der Mann, der mein Leben in Trümmer gelegt hatte, die »Wiederherstellung der Gerechtigkeit« in einer persönlichen Geschichte aus seiner sagenumwobenen Vergangenheit anstrebe, nein, nicht anstrebe, ersehne, ja, sogar unbeirrbar verfolge und diesbezüglich einen Plan habe, in dem für mich ebenfalls eine Rolle vorgesehen sei. Die des Beobachters, des Berichterstatters, diese Rolle habe ich doch stets gewollt, und, nun ja, damals habe mein Plan ja nicht funktioniert, aber diesmal gebe es einen Weg zur Erfüllung all meiner damaligen und hoffentlich auch jetzt noch bestehenden Träume, aber dafür müsse ich eben etwas tun, ich müsse für die Geschichte eine wichtige Figur aktivieren, deren Rolle für das ganze Vorhaben leider, oder zum Glück, äußerst wichtig sei, ohne die der Plan nicht aufgehen könne, und ohne den Plan würde es keine Geschichte geben, und ohne diese Geschichte wiederum sei mein Buch nicht denkbar. Das, wovon ich die Person überzeugen sollte, sei nichts Großes, überzeugen sei sogar falsch in diesem Zusammenhang, es sei vielmehr eine Motivation, eine Schauspielerin, ein junges Ding, talentiert zwar, aber eine mit »Osthintergrund«, ich wisse schon. Sie sei nun mal einer Frau aus Alexanders Vergangenheit, die in dieser sehr persönlichen Geschichte eine zentrale Rolle spiele, zum Verwechseln ähnlich und deswegen von solcher Wichtigkeit. Sie müsse nur zustimmen, in einem Video mitzuwirken, das dann an alle Beteiligten verschickt werde, um sie ebenfalls zu aktivieren, wenn ich die Metapher richtig verstünde.

Ich verstand ehrlich gesagt kaum etwas. Ich begriff nur, dass Begriffe wie »Plan« und »aktivieren« und »Figur« und »persönliche Geschichte« und »dein Buch« in Kombination mit Orlow nichts Gutes verhießen und schon gar nichts Einfaches. Ich begriff ebenfalls, dass dies nur die erste Bedingung war, die er mir stellen würde, um mir nur eine Halbwahrheit oder eine mehrdeutige Antwort vor die Füße zu werfen, auf die weitere folgen würden, aber ich konnte nicht anders, als eine gewisse Erregung zu verspüren, die meinen Körper in Beschlag nahm, mir ein paar Schweißtropfen auf die Stirn jagte und mir zum ersten Mal seit Jahrzehnten, so kam es mir vor, das Gefühl gab, wieder Teil von etwas Sinnvollem zu sein. Und dieses Gefühl wiederum erzeugte ein fernes Echo eines anderen Gefühls: das Gefühl, noch am Leben zu sein.

Er zeigte sich ein wenig gereizt, dass ich ihm nicht gleich dankbar um den Hals fiel. Ich fand es naiv, nahezu ärgerlich und seinen Kenntnissen der menschlichen Natur unangemessen, dass er ausgerechnet von mir Dankbarkeit zu erwarten schien.

Nach all dem, was zwischen dem Gestern und dem Heute lag – ein Abgrund ohne jegliche Aussicht auf eine Brücke. Als erwarte er ausgerechnet von mir die Demut eines aufgegriffenen Straßenköters, dem man kurz vor dem Ende eine zweite Chance und ein warmes, sättigendes Heim anbietet; das beleidigte mich nahezu.

Wie konnte er sich sicher sein, dass meine Träume noch immer dieselben waren, nachdem sie mich einmal so unwiderruflich in die Irre geführt hatten?

– Ich bin nicht mehr der, der ich einmal war, sagte ich und wunderte mich über meine Wortwahl. Er stellte die leere Tasse auf den Tisch und erhob sich.

– Davon bin ich ausgegangen, ja.

– Wenn es so ist, dann kannst du auch nicht erwarten, dass ich deinem Wunsch so leichtfertig entsprechen werde?

– Leichtfertig. Nein, daran habe ich keineswegs gedacht. Es gibt keinen Grund, leichtfertig zuzustimmen.

– Ich meine, überhaupt etwas zu machen, egal ob leichtfertig oder nicht. Ich bin draußen. Ich schreibe nicht mehr, das wird euch doch bekannt sein, ich möchte mich nicht wiederholen und deine kostbare Zeit damit stehlen, dir von meinem absolut banalen Leben zu erzählen …

– Dann stiehl nicht meine Zeit mit deinem Gerede. Wir alle ändern uns, zerstreuen uns in alle Himmelsrichtungen, fallen auseinander und setzen uns neu zusammen, ja, ja, das ist mir alles bekannt, aber unsere Träume, sie verfolgen uns, so hartnäckig und lästig sie auch sein mögen, sie lassen uns keine Ruhe.

– Ich bin nicht mehr erpressbar, ich habe, wie du selbst sehen kannst, ziemlich wenig zu verlieren.

– Hast du das Gefühl, dass ich diese Absicht habe?

– Ich weiß nicht, welche Absicht ihr mit mir verfolgt, Schapiro, aber ich bezweifele sehr, dass ich der Richtige dafür bin. Es gibt Hunderte von guten Autoren, die sich die Finger danach lecken würden, das Buch zu schreiben, wenn an dem Angebot wirklich etwas dran sein sollte. Ich könnte euch sogar welche empfehlen …

– Er will dich.

Er kam einen Schritt näher, er hielt die Diskussion für beendet und wollte mir dies deutlich zu verstehen geben. Ich spürte eine zähe, klebrige Wut in mir aufkommen, eine Art von Wut, die ich lange nicht mehr gespürt hatte, eine Wut, die Kraft erforderte. Ich staunte über mich selbst, aber ich erhob mich, nahm mir vor, seinen Besuch einfach zu vergessen, eine bessere Waffe gegen ihn besaß ich eh nicht. Vergessen, ignorieren, als wäre er nie da gewesen. Dort anknüpfen, wo ich aufgehört hatte: durchgefroren auf der Bank im Park, mit den Erinnerungsfetzen der vergangenen Nacht. Ich würde gegen dreiundzwanzig Uhr das Bett wieder verlassen, mir auf dem Weg zur U-Bahn etwas Fettiges holen, mir den Magen vollstopfen und dann zur Baustelle fahren, dort meine sinnlose Kontrollroute abgehen und mich später mit ein paar Zigaretten und einem Buch in mein Kabuff zurückziehen – den mir liebsten Ort auf Erden, wie mir jetzt schien.

Im dunklen Flur drehte sich Schapiro noch einmal zu mir um, sein Gesicht unangenehm nah an meinem, und sagte leise, fast flüsternd:

– Wenn der Plan aufgeht, wenn alles so läuft, wie er es möchte, bekommst du am Ende die Exklusivrechte. Nur du. Alle Informationen, die du willst, jedes Detail seines Lebens, alles wird dir zur Verfügung gestellt werden. Nur dir. Aber dafür hältst du dich an die verdammten Regeln.

Das Wort »verdammt« zischte er mir ins Gesicht, so dass ich zurückweichen musste.

– Er erwartet dich morgen. In der Gemäldegalerie, in der Skulpturensammlung, kurz nach der Schließung, und sei bitte pünktlich.

Ohne meine Antwort abzuwarten, verließ er die Wohnung. Ich blieb in der fleckig-feuchten Dunkelheit meines Flurs stehen. Als die Tür ins Schloss fiel, spürte ich meine Knie weich werden, ich rutschte an der Wand entlang zu Boden, suchte Halt auf den Holzdielen. Ich hatte auf einmal das Bild vor Augen, dieses Bild von ihr, das so sehr einem Traum glich, in ihrem italienischen Palazzo, lange nachdem ihre Kindlichkeit und Leichtigkeit verflogen waren.

Ich hatte dieses Bild vor Augen, schwankte, ob es eine sichere Erinnerung war oder eine Zusammensetzung verschiedener Realitätsausschnitte, die mein Bewusstsein mit den surrealen Bildern meiner Ängste und meiner Vorstellungen gepaart hatte.

Aber das Bild war da, so deutlich wie eine Szene aus einem Film: ihr Rücken vor einer Wand, oder war es ein Gemälde? Etwas Großflächiges, eine Wandmalerei. Die Grazilität, die sie immer ausgestrahlt hatte, das leicht Nervöse und Unruhige an ihr, was mich von Beginn an so irritiert hatte. Ihr Rücken im schummrigen Licht und er neben ihr, der General, sein wuchtiger Rumpf, seine starre Statur, die kerzengerade Haltung. Die Ähnlichkeit ihrer Glieder, nur dass sie die Selbstbeherrschung nicht besaß, die sein Körper so verinnerlicht hatte, ihre langen Hälse und wohlgeformten Köpfe, beide Schulter an Schulter nebeneinanderstehend und sich in der Malerei verlierend.

Ich wunderte mich über die Wirklichkeit des Bildes, schloss die Augen und vergrub meinen Kopf in den Händen. Es war falsch, die Vergangenheit so nah an sich herankommen zu lassen. Es war falsch, zurückzublicken, denn nicht nur Orpheus war es nicht vergönnt gewesen, mit dem Blick zurück sein Glück zu finden.

Ich wünschte mir in meinem Tagtraum, dass sie sich umdrehte, ich ihr Gesicht sehen könnte, aber da stellte sie sich auf die Zehenspitzen und flüsterte ihrem Vater etwas ins Ohr. Er tätschelte leicht ihre Schulter, beugte seinen Kopf herunter und sagte etwas zu ihr, das ich nicht hören konnte, das aber eine beängstigende Endgültigkeit zu besitzen schien.

Ich schüttelte den Kopf und erhob mich vom Boden, schleppte mich ins Bad, wo ich unter einem heißen Wasserstrahl die Kälte der vergangenen Stunden und die Tagträume von mir abwusch.

Nach dem Aufwachen musste ich mich zunächst darauf konzentrieren, die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden zu rekonstruieren, aus irgendeinem Grund schien mir Schapiros Besuch bloße Einbildung zu sein und Tova eine Figur aus meinen wirren Träumen. Und plötzlich war die Brücke da, plötzlich wusste ich, an wen sie mich erinnert hatte … Ivana!

Ivana führte mich in Sekundenschnelle nach Grömitz, meinen Geburtsort, und zu dem salzigen Geschmack der Ostsee auf meiner Zunge, dem aufregendsten Geschmack meiner Kindheit, der mir eine Ahnung davon gab, dass irgendwo da, wo das Wasser in den Horizont schnitt, die Welt auf mich wartete. Dass diese idyllische Einöde, in die ich hineingeboren war, nichts, aber auch gar nichts mit dem richtigen Leben zu tun hatte. Ja, ich ahnte damals nicht einmal ansatzweise, was das richtige Leben sein könnte, hatte aber dennoch die Gewissheit, dass es nicht im einstigen Fischerdorf Grömitz stattfand. Dort gab es meine Eltern, ein ehrliches, fleißiges Paar mit einer Pension mit Meerblick, mit viel Disziplin und Geduld aufgebaut und der ganze Stolz der beiden – natürlich neben meinem Bruder und mir, beide ebenfalls mit viel Disziplin und Geduld großgezogen. Es waren Männer und Frauen über fünfzig, die zu uns in die Pension kamen und sich nach etwas Aufregung und Abwechslung sehnten, am Ende doch in ihrer albtraumhaften Routine gefangen blieben. Paare, die sich weiterhin anschwiegen und mit leeren Blicken in die Ferne sahen, nur diesmal nicht in ihren Wohnzimmern, sondern auf der Terrasse des pensionseigenen Restaurants oder beim Wandern über den Lensterstrand oder auf dem Fahrrad auf dem Küstenradweg. Es gab die Schule, die keinerlei große Herausforderungen bereithielt und in der sowohl ich als auch mein Bruder ganz passable, absolut durchschnittliche Schüler abgaben; denn nichts war an diesem Ort verpönter, nichts wurde mehr verachtet, nichts mehr geschmäht als der Wunsch nach Andersartigkeit. Eine Doktrin, an die ich mich zumindest den Großteil meiner Kindheit hielt. Es gab Sportvereine und sogar Musikunterricht, auf den meine Mutter bestand, es gab Kinobesuche, Abende mit Risiko und Spiel des Lebens, Geburtstagsfeiern mit lauthals gesungenen Liedern und den Apfeltorten meiner Mutter, und es gab fast nie Urlaube – denn wir waren quasi im Dauerurlaub, nur dass wir tagein, tagaus den anderen beim Urlaub zusahen –, gelegentlich ein Ferienlager für mich und meinen Bruder. Es gab Bücher und Comic-Hefte und keinen Fernseher, es gab Schneeballschlachten und Weihnachtsmärkte, auf denen wir unseren hauseigenen Punsch verkauften. Es gab die Pflichtaushilfsstunden in der Pension und bei schlecht verrichteter Arbeit böse Blicke unseres Vaters und viel Tadel unserer Mutter. Die Eintönigkeit war groß und die Emotionen gedämpft, als befände sich unser ganzer Ort unter einer Glasglocke, als lebte man hier in Watte gepackt und in Sand eingebuddelt. Das Aufregendste, was meine Kindheit zu bieten hatte, waren ein, zwei Schlägereien auf dem Schulhof, die nach nur wenigen Minuten von den Lehrern beendet worden waren, und ein Feuer in der Bäckerei nebenan, das keinerlei tragische Folgen hatte; die Versicherung deckte den Schaden, und eine prächtig renovierte Bäckerei machte kurz danach wieder auf.

Da war aber noch dieser Wurm, wie ich das brennende, an mir nagende Gefühl nannte, ein Gedanke, der sich in meinen Kopf eingegraben hatte und mir keine Ruhe ließ; dieser Wurm, der von Jahr zu Jahr größer wurde, der mich dauernd daran denken ließ, dass alles, was mich hier umgab, eine Illusion war, eine Fassade – dieser Ferienort, diese herumspazierenden Menschen, diese idyllische Ruhe und diese putzigen Ferienhäuser, diese schläfrigen Urlauber in ihren Korbstühlen – all das war aus Seifenblasen gemacht, alles, bis auf das mächtige Meer. Der Wurm raubte mir bisweilen den Schlaf und ließ mich mitten in der Nacht, mit einer Taschenlampe ausgestattet, die Seekarten meines Vaters studieren und sehnsüchtig den Schiffen hinterherstarren. Ich malte mir aus, wie es andernorts aussah – nämlich da, wo alles real und wirklich war, bunt, laut und schmutzig, wo es echte Probleme gab und wo ich etwas weitaus Nützlicheres tun konnte, als die Frühstückstische der Urlauber abzuräumen.

Ivana, ihr Name löst heute noch ein Glücksgefühl in mir aus, denn sie und ihr Bruder waren es, die dieses Gefühl zum ersten Mal in mir wachriefen, nicht zu verwechseln mit Zufriedenheit oder mit Wohlbefinden; nein, das Glück, das sie mich spüren ließen, war etwas ganz anderes, nahezu schmerzlich war es, mit einer dunklen Färbung.

Ich war siebzehn, als die Geschwister Koncic zu uns in die Klasse kamen. Ein Zwillingspaar, auch wenn sie äußerlich keine Ähnlichkeiten aufwiesen, aber die tief verwurzelte Verbindung konnte man aus jeder Geste, jedem Blick und jedem Wort der beiden erraten. Sie kämen aus Kroatien, klärte uns unsere Klassenlehrerin auf, dort herrsche gerade Krieg, wie wir vielleicht wüssten, und wir sollten hilfsbereit und entgegenkommend zu den beiden sein, sie hätten viel Furchtbares erleiden müssen.

Sie waren scheu und argwöhnisch, hinter jeder freundlichen Geste vermuteten sie eine Hinterlist, sie taten sich schwer, zu anderen Jugendlichen Kontakt aufzubauen, und schämten sich ihres holprigen Deutschs. Stanko, der kleine und flinke, grimmig dreinschauende Bruder mit den spitzen Vampirzähnen und einem durchdringenden Blick, hatte die Rolle des Beschützers übernommen und beäugte jeden misstrauisch, der seiner Schwester zu nahe kam. Ivana dagegen war auf den ersten Blick freundlicher und zugewandter, ab und zu stellte sie eine Frage oder bemühte sich zumindest, den Anschein zu erwecken, sie interessiere sich für andere Jugendliche. Aber nach einer Weile erkannte ich, dass sie diejenige war, die das Zweiergespann lenkte und den Ton angab.

Ich machte es zu meiner Aufgabe, mich mit ihnen anzufreunden. Ein langer, zum Teil frustrierender und anstrengender Weg, aber Schritt für Schritt gelang es mir, ihr Vertrauen zu gewinnen. Ich interessierte mich aufrichtig für ihre Andersartigkeit, sie rochen nach einer anderen Welt, auch wenn diese Welt brutal und qualvoll gewesen war, so war sie doch anders, eine Welt, die mich magisch anzog und über die ich mehr erfahren wollte.

Ich las alles, was ich über den Balkankrieg in die Hände bekommen konnte, überzeugte meinen Bruder von einer gemeinsamen Protestaktion gegen unsere Eltern, damit sie ein Fernsehgerät kauften und wir die Erlaubnis bekämen, die täglichen Nachrichten im Fernsehen zu verfolgen.

Stanko und Ivana wohnten in einem Mehrfamilienhaus am Ortsrand, umgeben von Supermärkten und Getränkehallen. Dort hatte man sie und ihre zwei Geschwister mit den Eltern und dem Großvater einquartiert. Ich erinnere mich an meine Aufregung, als ich das erste Mal in die Wohnung eingeladen wurde – der größte Vertrauensbeweis bisher. Die Enge der kleinen Wohnung, die unbekannten Essensdüfte, der Großvater mit Goldzahn und einer Brille mit einem Gummiband. Ich war fasziniert und schämte mich zugleich, denn tief in meinem Inneren wusste ich, dass diese Menschen, die alles verloren hatten, nicht anders sein wollten, sie wollten angenommen werden, so sein wie alle.

Mit Stanko spielte ich Fußball, mit Ivana ging ich ins Kino. Ich versuchte zu erraten, was hinter ihren Augen verborgen lag, was das Geheimnis war, das sie mit niemandem teilen wollten und vielleicht gar zu vergessen versuchten. Insgeheim wünschte ich mir, derjenige zu sein, dem das alles widerfahren war, was auch immer das sein mochte, ich fantasierte, wie ich mit meiner Familie vor dem Feind flüchtete, wie ich meine Schwester beschützte. Ich ahnte damals noch nicht, was diese Sehnsucht war, welchen Namen sie trug, woher sie kam, ich spürte aber, dass sie merkwürdig war und keiner sie nachvollziehen können würde, zumindest keiner in Grömitz. Ich beneidete die beiden Geschwister um ihre Geschichte, obwohl sie eine grausame war, denn sie hatten etwas zu erzählen, besaßen ein Anrecht auf Besonderheit, hatten das Leben in seiner brutalsten Form und all seiner Nacktheit erlebt.

Ivana war es, die mir die Tür aufschloss zu dem, was hinter ihrem Blick verborgen lag. Wir hatten uns im Kino bei Alien 3 geküsst, und nun war das Band, das uns zusammenhielt, deutlich stärker, wir hatten ein Geheimnis, vor allem war es das erste Geheimnis, das sie vor ihrem Bruder hatte. Wir zogen uns in unsere Welt zurück, wanderten durch den feuchten Sand und sahen sehnsüchtig in die Ferne, wir kicherten und tauschten Albernheiten aus, küssten uns an jeder Straßenecke.

Im Nachhinein weiß ich bis heute nicht, wer im Recht und wer im Unrecht war, wenn ich an den Vorfall denke, der uns auseinanderriss, ob man mein Verhalten, wie Stanko es getan hatte, als »Verrat« abtun kann oder ob es nicht doch auf eine eigentümliche, vielleicht etwas krude Art richtig war.

Während ich mich anzog, dachte ich an Ivanas schmale Lippen, die großen, immer strengen und zugleich unsicher schauenden Augen. Ich erinnerte mich an den lauen Sommerabend, als wir im Auto, verborgen hinter den Dünen und dem Bootsankerplatz, unsere Ängste überlisteten und uns entkleideten. Wir küssten uns, und meine Hände tasteten sich vor zu ihren kleinen Brüsten, die so perfekt in meine Hände passten, meine Lippen wanderten zu ihren Brustwarzen, meine Zunge erkundete ihren Bauchnabel, und sie kicherte, auch daran erinnere ich mich – an ihr Kichern, das mich kurz aus dem Konzept brachte, da ich glaubte, etwas Falsches getan zu haben. Es war unbequem auf dem Rücksitz im Wagen meines Vaters, aber es störte uns nicht, wir waren erfinderisch, wir waren unermüdlich. Sie öffnete meine Hose, und ich glaubte, ohnmächtig zu werden vor Aufregung, vor Erwartung. Ich sah ihr in die Augen, als ich mich auf sie legte, sie passte sich mir an, sie war geschmeidig und gelenkig, als wäre sie aus Knetmasse.

Danach lag ich mit meinem Kopf auf ihrem Schoß, es war dunkel, wir konnten kaum unsere Umrisse erkennen, aber das Wissen um unsere Nacktheit machte den Moment zu etwas ganz Besonderem. Und da erzählte sie mir von den Männern, die in ihr Haus eingedrungen waren, von den Gewehrkolben, mit denen sie den Hund erschlagen hatten, erzählte von den Schreien aus den Nachbarhäusern, dem Feuer, das sie legten, sie erzählte von ihrer Cousine, die man an den Haaren aus dem Haus gezerrt und irgendwohin gebracht hatte, weil sie so schön und jung war, und die dann als alte, verbitterte Frau zurückgekehrt war, auch wenn nur einige Stunden verstrichen waren. Sie erzählte davon, wie sich Stanko eingenässt hatte, wie ihre Mutter geschrien hatte, man solle die Kinder nicht anrühren, wie die Oma drei Tage nach dem Überfall an einem Herzinfarkt gestorben war und sie dann hastig alles zusammengepackt hatten und beim Verlassen des Dorfes die Häuser brennen sahen, kleine rote Punkte am Horizont, wie Weihnachtsschmuck, ja, nahezu schön hatten sie in der Ferne ausgesehen, als sie aus dem Laster die Landschaft betrachtet hatte.

Ich schwieg, vor Ehrfurcht erstarrt oder vor etwas anderem, wofür ich noch kein Wort kannte und vielleicht auch nie eines kennen werde, egal wie oft ich seither solche brennenden Todeslandschaften beschrieben bekommen habe, egal wie oft ich solche Landschaften selbst gesehen habe. Die Faszination des Grauens ließ es nicht zu, den Blick abzuwenden. Genau dieses winzige Gefühl brachte mich in jenem Augenblick auf die Idee, dass ich so leben und solchen Geschichten folgen wollte. Dass ich sie erzählen wollte, auch wenn sie nicht meine waren. Ich lauschte Ivanas leiser, zögerlicher Stimme und sah mich bereits mit einem schweren Rucksack durchs Leben stolzieren, einem Rucksack voller Geschichten, die ich auf der ganzen Welt gesammelt hätte: angsteinflößende, furchtbare, blutige und doch zutiefst menschliche und wahre Geschichten.

Am Jahresende landete ich im Praktikumsmonat als Einziger aus meiner Klasse bei den Lübecker Nachrichten, die für Grömitzer Verhältnisse mindestens der New York Times gleichkam. Ich fuhr jeden Tag mit dem Zug nach Lübeck und beschnupperte die Redaktion. Ich kochte Kaffee und durfte kleine Archivarbeiten verrichten, ein paarmal nahm man mich zu einem Interview mit. Und eines Tages verkündete mir der Redakteur, man wolle einen Artikel von mir. Etwas »Persönliches, etwas Emotionales«, etwas, was die Leserherzen berühre. Ich musste nicht lange überlegen. Ich schrieb über die Koncics. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und konnte mich die ganze Nacht nicht vom Fleck rühren, wie angekettet an die alte Schreibmaschine meiner Mutter. Ich tippte und tippte und hatte das Gefühl, dass ich derjenige war, der damals dagestanden hatte, als die Uniformierten kamen und die Häuser in Brand setzten, dass ich mich eingenässt hatte, ich war derjenige, in dessen Netzhaut sich das lodernde Feuer eingebrannt hatte. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich wie ein Protagonist. Ich war kein Nebendarsteller mehr.

Die geänderten Namen halfen nichts: Jedem war klar, um wen es sich handeln musste. Mein Artikel erwies sich als so erfolgreich, dass die Zeitung sich gezwungen sah, ein Spendenkonto einzurichten, da die Leser der betroffenen Familie unbedingt helfen wollten. Die gesamte Redaktion, meine Lehrer, die Nachbarn, meine Eltern, sogar mein pubertärer Bruder lobten mich und mein Einfühlungsvermögen. Nur Ivanas Augen drückten pures Entsetzen aus, als ich auf dem Pausenhof auf sie zuging. Entsetzen, sich so in mir getäuscht zu haben. Und ihre Augen füllten sich mit Tränen, während ihre Unterlippe beleidigt nach vorne rutschte und zu zittern anfing.

– Du bist ein svinja! Ein gemeines Schwein!, schrie sie mich wütend an. Im gleichen Moment tauchte Stanko auf, und seine knallharte Faust traf mich in die Magengrube.

Kein Brief – und ich schrieb einige –, kein Versuch eines klärenden Gesprächs, keine Bitten halfen; Ivana brach den Kontakt zu mir ab, und ein Jahr später zog die Familie nach Kiel. Durch die Popularität der Koncic-Familie, die der Artikel hervorgerufen hatte, und die wachsende Sympathie in der Gemeinde sahen sich auch die Behörden zum Handeln gezwungen, und so erhielten die Eltern auf dem schnellsten Wege eine Aufenthaltsgenehmigung und eine Arbeitserlaubnis, der Vater bekam in Kiel eine Stelle als Kfz-Mechaniker angeboten. Ich jedoch sah sie nie wieder.

War es wirklich so falsch, was ich getan habe? War es nicht konsequent, die Geschichte ihres Leids den Menschen zugänglich zu machen, inmitten derer sie wohnten und die nichts über sie wussten? Der Erfolg des Artikels bestärkte mich jedenfalls, mich nach dem Schulabschluss an der Universität Bremen für Politikwissenschaften und Slawistik einzuschreiben, und ich machte auf Empfehlung des mir zugewandten Redakteurs aus Lübeck einige Praktika bei namhaften Zeitungen und Magazinen von Hamburg bis Frankfurt.

Ich bereiste das ehemalige Jugoslawien, folgte der unsichtbaren Fluchtroute Ivanas, ich berichtete über den omnipräsenten Krieg, der in den Köpfen und Körpern der Menschen weiterging, und jedes Mal, wenn ich darüber schrieb, sah ich alles um mich herum durch ihre Augen. Aber hier war ich mittendrin, ich musste nichts erfinden, was mein Dasein in ein hochkomplexes, unabdingbares, existenzielles Leben verwandelt hätte, ein Filmheld in einem schwarzweißen Epos, und als Soundtrack dazu die wütenden Streicher aus Vivaldis Winter. Ich war freier Mitarbeiter für einige Zeitungen, man bezahlte mich dafür, dass ich durch Krisengebiete wanderte und meinen Rucksack volllud mit den Tragödien und Tränen anderer. Ich hatte meine Existenzberechtigung: Ich war ein Geschichtenerzähler, eine männliche Scheherazade, die leben durfte, solange sie weiter berichtete.

Die Monate, die ich wegen der Hausarbeiten in meinem friedlichen Studentenwohnheim verbringen musste, erschienen mir elender als die Purgatorien, die ich im ehemaligen Jugoslawien hinter mir gelassen hatte.

Ich fühlte mich unendlich fremd, sobald ich auf diesen alternativen Partys mit einem ökologisch einwandfrei gebrauten Bier in der Hand herumstand und mich gezwungen sah, an dem Smalltalk teilzunehmen. Es war so beschämend, wenn die Leute wegen einer Trennung nach einer viermonatigen Beziehung zum Therapeuten rannten, um dort noch mehr in ihren eigenen Lebenslügen bekräftigt zu werden. Ich schämte mich für den peacig-linken Kulturclub, wo man über Politik und Kriege diskutierte und von einer Demonstration gegen die Waffenlobby sprach, und ich dabei den Geschmack im Mund nicht loswurde, den dieses Gespräch hinterließ: süßlich zum Erbrechen.

Ich lernte engagierte Männer kennen, die alle »irgendwas tun« wollten, etwas ändern, etwas machen, etwas in Gang setzen, lernte Frauen kennen, die so unbedingt couragiert sein wollten, so unbedingt anders, ich ging mit ihnen trinken, hörte mir ihre Thesen zur Verbesserung der Welt an, mit einigen von ihnen fing ich kurzweilige Liebschaften an, vermisste bei allen diesen grimmigen, misstrauischen und zugleich scheuen, alles durchdringenden Blick. Am Ende stand stets eine Enttäuschung, ich konnte ihre Verbitterung und ihren höflichen Zorn förmlich auf meiner Haut kribbeln spüren, in den Augenblicken, wo wir uns das Ende der Liaison eingestanden und ich aus der Tür ging, meine Sachen packte und weiterzog.

1998 kam ich das erste Mal nach Russland, kurz nachdem sich das Land für zahlungsunfähig erklärte, kurz nachdem die »Sieben Reiter« den zunehmend wirren Präsidenten mit seiner übermäßigen Passion für Wodka zur Wiederwahl verholfen hatten, um ihr unglaubliches Vermögen nun auch noch mit dem Besitz der Macht zu krönen.

Ein faszinierendes, gesetzloses El Dorado: Das sich über elf Zeitzonen erstreckende Urmonster war von einigen wenigen Männern aufgeteilt und verkauft worden. 1994 wurde die gesamte sowjetische Industrie mit gerade mal zwölf Milliarden bewertet – von der Gas- über die Metall- bis zur Ölindustrie –, während einzelne Unternehmen wie die US-Firma Kellogg’s einen weitaus höheren Marktwert besaßen.

Das Staatsvermögen wurde in Privatisierungen verschleudert und in Obligationen und Vouchers umgewandelt, auf mickrigen Auktionen an jeden verkauft, der ein paar Rubel aufzubringen imstande war. Diese Menschen, die vorher nichts besitzen durften, für die jegliches Kapital Teufelszeug war, verscherbelten diese Vouchers teilweise für eine Wodkaflasche auf dem Schwarzmarkt. Aber die Schlauen und Erfinderischen, jene, die jung genug waren, mit den gravierenden Änderungen Schritt zu halten, wussten, was für Schätze es zu heben gab. Man hatte noch keine Bezeichnung, kein Wort für all die Möglichkeiten, die jene Zeit in sich barg. Man überblickte nicht, was hinter den vielen Türen lag, die sich plötzlich öffneten. Aber einige waren überzeugt, dass es sich lohnte: Der Homo sovieticus wurde durch den Homo oligarchus abgelöst. Das russische Chaos wurde zu meiner Sucht, zu meinem Goldfieber, und der durchaus lebensgefährliche Drang, diese neue Gattung Mensch zu erforschen, ergriff in einem ungeahnten Ausmaß von mir Besitz.

Unten auf der Straße hatte ich meine Klarheit immer noch nicht wiedergewonnen. Ich aß einen Kebab an der Straßenecke und stieg in die U-Bahn. Es war kalt, und ich wunderte mich, dass ich mir letzte Nacht auf der Parkbank keine Lungenentzündung geholt hatte.

Mit schweren Schritten absolvierte ich meinen Rundgang auf der Baustelle. Zum Glück musste ich nur das Gelände um das Baumonster herum ablaufen und nicht in den hohlen Bauch des Dinosauriers vordringen. Mit der Taschenlampe leuchtete ich die Baumaschinen an, das Lager mit dem Material, sah nach dem Rechten, und als mir nichts Ungewöhnliches ins Auge sprang – wie nicht anders erwartet, denn die Baustelle war durch mehrere Kameras gesichert und meine Stelle eher eine Formalität, da es vor einem Jahr einen Einbruch durch eine Jugendbande gegeben hatte, die auf dem Gelände getrunken, randaliert und dann wild herumgetanzt hatte, und man hatte einen echten Wachmann zur Abschreckung eingestellt –, zog ich mich in mein enges, mit einem kleinen Heizlüfter notdürftig warmgehaltenes Kabuff zurück, in dem ich mich an guten Tagen wie ein Embryo im Uterus fühlte.

Den Job hatte ich seit sechs Monaten. Ich fühlte mich hier wohl, ich war der einsame König über ein einsames und nächtliches Königreich, ich regierte über Kräne und Betonmischer, über Metall und Zement, ich war der Herr über das monströse Skelett eines künftigen Hotels, das eines von vielen gesichtslosen, hässlichen, anonymen Großstadtdinosauriern werden würde. Vielleicht hing ich sogar auch etwas an diesem hässlichen Monstrum, weil es das Einzige war, wofür ich mich verantwortlich fühlte.

Ich las einen seichten Krimi, Anspruchsvolleres mied ich seit geraumer Zeit, trank den in einer Colaflasche heimlich reingeschmuggelten Wein, aber nichts half, ich fand nicht in die Gegenwart zurück. Ich hatte weiter Schapiros Worte im Ohr, erneut tauchte das Bild von ihr vor meinem inneren Auge auf, von ihr und ihrem Vater vor dem Gemälde. Konnte man einer Toten etwas schuldig bleiben? Reichte die Schuld über das Leben hinaus? Wem sollte es nutzen, diese Geschichte erneut aufzurollen?

Auf der Suche nach meiner Rolle in dieser Geschichte hatte ich viele Varianten durchprobiert, und die, die mir am ehrlichsten erschien, war die, die mir am wenigsten gefiel. Vielleicht hätte ich es auch jetzt stillschweigend hinnehmen müssen wie schon damals, bloß der Bote zu sein, die Krähe und nichts weiter.

An der säuerlich riechenden Plastikflasche nippend, musste ich an die Geschichte von Koronis denken. Daran, wie der allmächtige Apoll die Königstochter Koronis beim Baden erblickte und sich in der Liebe zu ihr verlor. Wie sie zusammenkamen und wie sie von ihm schwanger wurde, und da er als vielbeschäftigter Gott seinen göttlichen Geschäften nachgehen musste und es ihm nicht möglich war, immer in der Nähe seiner irdischen Geliebten zu weilen, stellte er ihr einen wunderschönen weißen Singvogel zur Seite. Der Vogel sollte über Koronis wachen und dem bis zum Wahnsinn verliebten Gott Bericht erstatten, was seine schwangere Geliebte in seiner Abwesenheit trieb. Aber der schönen Koronis wurde es auf Dauer zu langweilig, die göttliche Liebe allein war dann doch nicht ausreichend, und so zeigte sie sich nicht abgeneigt, als der Arkadier Ischys ihr Avancen machte. Sie betrog den allmächtigen Gott mit dem sterblichen Jüngling, denn er war da, er war echt, er war aus Fleisch und Blut. Und im Unterschied zu dem goldenen Käfig, in den die Liebe Apolls sie gesteckt hatte, machte die Liebe zu Ischys sie frei, leicht und unbekümmert. Apoll, geblendet von seinem Zorn und seinem Schmerz, verwandelte den Überbringer der schlechten Botschaft in ein schwarzes, hässliches Tier und verdammte es dazu, zu krächzen, statt zu singen, und fortan bevorstehendes Unheil anzuzeigen. Seither trägt dieser Vogel auch den Namen der Untreuen: Corvus corone corone – die Rabenkrähe.

Die Katze und der General

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