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1995/Malisch

Heiß wallt dein Herz bei schauerlichem Werk. Er wiederholte den Satz lautlos, lutschte die Worte auf seiner Zunge wie ein Sauerdornbonbon, sauer und köstlich zugleich. Er hatte das dünne, bald auseinanderfallende Büchlein mit anderen, solider wirkenden Büchern in den moosgrünen Seesack gepackt, den seine Mutter ihm für seine Abreise aus Moskau bereitgelegt hatte.

Sie hatte ihm den Sack kommentarlos auf das Sofa im Wohnzimmer gelegt, mit allerlei Leckereien und sentimentalem Zeugs, die Hälfte hatte er heimlich nachts in seinem Zimmer, nur wenige Stunden vor der Abreise, wieder herausgenommen, um sich nicht den Anfeindungen auszusetzen, die solche mütterlichen Geschenke unweigerlich nach sich ziehen. Und Anfeindungen gäbe es ohnehin.

Aber er konnte sich nicht verkneifen, ein paar Bücher aus seinem Bücherregal mitzunehmen, ohne auf die Auswahl zu achten, sich dem Zufall überlassend. Hauptsache, ein paar Bücher begleiteten ihn in diese ungewisse und erschreckende Dimension, die den Namen »Krieg« trug und von der er niemals angenommen hätte, dass sie jemals mit seinem Leben zu tun haben würde. Diese beiläufig getroffene Auswahl im abgenutzten Seesack seines toten Übervaters war der einzig erprobte Gefährte auf seinem gefährlichen Weg. Klar, Bücher zählten in dieser Dimension nichts, im Gegenteil, sie stellten einen bloß, markierten einen als Schwächling, in dieser Dimension galten andere Gesetze, das hatte er während seiner abgebrochenen Militärausbildung gelernt, sie würden seine ohnehin wenig beneidenswerte Position noch lächerlicher machen, aber er konnte Moskau nicht ohne sie verlassen, wenigstens ein paar von ihnen mussten mit.

Er hatte nichts zu dem Seesack gesagt, und auch seine Mutter hatte geschwiegen, Worte wären in dem Augenblick sinnlos gewesen. Natürlich beabsichtigte sie, damit ein Zeichen zu setzen. Er konnte es förmlich spüren, welche Aufforderungen und Erwartungen auf dessen Boden lagerten und ihn um viele Kilos schwerer machten.

Er sah sie vor sich, wie sie den alten Seesack seines Vaters aus dem hintersten Winkel des schweren, nach abgestandener Luft und nach etwas anderem, Unaussprechlichem riechenden Eichenschrank ihres Schlafzimmers hervorholte, wo auch Vaters Armeeabzeichen, seine Medaillen, das Bündel seiner Briefe an sie aus der Zeit in Afghanistan und seine Pfeife aufbewahrt wurden, und wie sie ihre Gebete und ihre Hoffnungen in ihn hineinlegte, die mindestens genauso schwer wogen wie die Bücher. Für sie waren diese Reliquien aus dem wuchtigen Eichenschrank heilig. Und der Seesack war vermutlich der Heilige Gral. Dieser Sack hatte seinen Vater überallhin begleitet, durch karge Berge und staubtrockene Wüstenlandschaften, durch Stürme und Kugelhagel, durch Bombardements und Schreie, begleitet auf dem langen, nach Eisen riechenden Weg. Sie hatte immer diesen bestimmten Gesichtsausdruck, wenn sie von seinen Heldentaten berichtete, was sie in seiner Kindheit nahezu unermüdlich getan hatte, als hätte sie einen Eid abgelegt, nach seinem Tod nur noch dafür zu leben, den Hinterbliebenen und vor allem dem einzigen Sohn zu erzählen, welch ein Titan er war, auf die Welt gekommen, um mindestens die Menschheit zu retten, die in Afghanistan aber gar nicht gerettet werden wollte.

Zunächst hatte er all diese Geschichten geliebt, als kleiner Junge immer wieder nachgefragt, jedes Detail wissen wollen. Ob Papa auch die Strelka-2 ausprobieren durfte, ob Papa seinen Tapferkeitsorden im Tajbeg-Palast überreicht bekommen hatte? Ob Gorbatschow damals auch dort war oder ihm erst in Moskau gratuliert hatte? Besessen sog er jedes Detail dieser vergangenen, geheimnisvollen Welt in sich auf. Aber mit den Jahren wurde dieses Bedürfnis von einer nahezu unerträglichen Sehnsucht abgelöst: diese Welt so fern wie möglich von sich zu halten, nichts mehr über Afghanistan zu hören, nichts von der Operation Storm-333, über Mohammed Nadschibullāh, über das Genfer Abkommen und die fiesen US-Propagandabücher über den Heiligen Krieg, die an die afghanischen Kinder verteilt wurden und in deren Illustrationen den Feinden die Gesichter fehlten.

Aber zum Glück verblassten die Geschichten im Laufe der Zeit, auch der Krieg mit der Sowjetunion fand ein Ende, beziehungsweise die ganze Sowjetunion fiel eines Tages wie ein todkranker und uralter Elefant einfach um und hörte auf zu existieren, wie auch ihre glorreiche sowjetische Armee, für die er als kleiner Junge Tapferkeitsmedaillen verdienen und sein Leben opfern wollte.

Seine Bewunderung für seinen verstorbenen Heldenvater war umgeschlagen in eine unterdrückte Aggression. Er fing an, für die Welt, in der er so heimisch gewesen war und die seine Mutter tagein, tagaus lobpries, eine frostige Verachtung zu empfinden, vor allem, als ihm immer deutlicher bewusst wurde, welchen Preis seine Mutter dafür zu zahlen hatte als Witwe eines Helden. Des Mannes, »dem sogar Gorbatschow persönlich gedankt hat«. Wie es war, mit einem Geist verheiratet zu bleiben und das eigene Zuhause, in dem sie mit ihrem einzigen Kind zusammen lebte, zu einem Mausoleum umzugestalten, in dem die Uhren rückwärtszulaufen schienen. In dem die Ikonen in einem schweren Eichenschrank lagen, der nach Mottenpapier roch, nach einer Spur Kindheit, die irgendwo auf einem Baum hängen geblieben war, wie eine Plastiktüte vom Wind verweht, nach vielen ungesagten Worten und nach unerwartet erstickter Liebe. Ikonen in Form von Erinnerungsstücken, Bruchstücken von etwas zu früh zu Ende Gegangenem, Spuren eines toten Mannes, dem er als Vater und Götze zu huldigen hatte und den er das letzte Mal mit zwölf Jahren gesehen hatte. Und auch in den zwölf Jahren zuvor hatte er den Namen des Vaters eher mit Abwesenheit und mit Krieg assoziiert als mit einem echten Menschen aus Fleisch und Blut.

Er fing an, diese Welt mit einer brennenden inneren Glut zu verachten, ja, so fühlte sich diese Verachtung an, als würde man ihm heiße Lava in die Innereien gießen, und die er immer dann spürte, wenn sich seine Mutter in die längst vergangene und nicht mehr existierende Zeit zurückwünschte und nicht mehr mit der Realität Schritt hielt; die Realität, in der sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Staatlichen Forschungsinstitut für Virologie arbeitete, in der sie kaum noch Freunde hatte und in der es seit Jahren keinen Mann mehr gab. Sie zog sich immer mehr in sich zurück, und ihre frühere Zärtlichkeit wie auch ihre Sanftmut wichen unabwendbar der Verbitterung und Galligkeit. Zwar trat ihr übereifriger, ambitionierter, stets mit ihrem Mann konkurrierender, zweimal geschiedener, kinderloser älterer Bruder Leonid Nikolaewitsch wieder stärker in ihr Leben, mit dem sie vor ihrer Heirat eine merkwürdige, für alle befremdliche symbiotische Beziehung geführt hatte, in der er die Rollen von Vater, Mutter, Bruder und Kind in einem übernommen und darauf geachtet hatte, ihr möglichst viele Probleme vom Hals zu schaffen und sie vor allem finanziell zu unterstützen. Doch auch dies änderte nichts an ihrer unaufhaltsamen Verwandlung.

Die enge Beziehung zu Leonid Nikolaewitsch hatte durch ihre Heirat ein jähes Ende gefunden; die Männer hatten sich gar nicht gut vertragen – beides Alphatiere, beides Angeber, beide karriereorientiert bis ins Mark und auf Anerkennung der Frauen aus. Leonid Nikolaewitsch hatte es sich auf der Beerdigung seines Schwagers nicht verkneifen können, nahezu frohlockend seiner Schwester zuzuflüstern: »Jetzt kann ich mich endlich wieder anständig um dich kümmern, Lydenka, ganz wie du es verdienst, ganz wie Mama und Papa das von mir erwarten würden, wären sie noch bei uns.«

Leonid Nikolaewitsch arbeitete beim Goskom, dem Städtischen Komitee für Wohnungsbau, und seit neuestem war er in die Aufsichtskommission für die seit 1988 legalen und wie Pilze aus dem Boden schießenden Kooperativen berufen worden – was wiederum viele svjazy, Kontakte, und ziemliche Bestechungssummen garantierte, und somit auch seiner Mutter und ihm das Leben zumindest finanziell wesentlich erleichterte, denn Mutters Gehalt und die Kriegswitwenrente reichten seit der Perestroika nicht mehr zum Überleben. Die Schattenökonomie, die seit der Breschnew-Ära herrschte und in den achtziger Jahren zu ungekannter Größe aufgeblüht war, erforderte ganz anderes Geschick, das weder Lydia Nikolaewna noch er selbst besaß.

Aber die einstige Nähe zwischen den Geschwistern hatte sich verflüchtigt wie ein Rauchfaden aus lauwarmer Asche. Und vielleicht war der Riss durch ihre Beziehung nicht nur den Jahren geschuldet, in denen Lydia mit ihrem Mann ein gänzlich anderes, von ihrem Bruder unabhängiges Leben gelebt hatte, sondern war auch eine Folge davon, dass er von ihrer Militärbesessenheit nichts wissen wollte und auch ihren Wunsch, ihr Sohn möge den Pfad seines Vaters einschlagen, nicht guthieß. Aber auch der mächtige Leonid Nikolaewitsch konnte ihm nicht helfen, und so nahm das Brennen immer mehr zu, verbrannte ihm den Rachen und die Kehle, immer dann, wenn er sich der Rolle bewusst wurde, die ihm als Sohn seines Vaters zugeteilt worden war. Wie sehr er doch wünschte, es hätte diesen Vater nicht gegeben, nie, nie, nie, er wäre lieber der Sohn eines bomjen, eines Penners, oder gar eines Anonymen, gerne hätte er den Nachnamen seiner Mutter getragen und in der Schule hinter seinem Rücken das Wort »Bastard« zugeflüstert bekommen, er hätte sich wenig drum geschert. Hätte nicht ständig aufgesetzt grinsen müssen, wenn Leute ihn nur deswegen anhielten, um sich zu vergewissern, ob er wirklich der einzige offizielle Thronfolger des berühmten Sergei Alexandrowitsch war.

Oder zumindest jemanden zu haben, mit dem er sich das Leid hätte teilen können – wie oft er sich das gewünscht hatte. Wenigstens einen Bruder oder eine Schwester hätte dieser Held mit seiner Mutter zeugen können in den wenigen Monaten, die er zu Hause an der Seite seiner angebeteten Frau verbracht hatte. Und mit etwas mehr Mühe hätte er seiner Frau und seinem Sohn mehr Bedeutung beimessen können als dem Kampf gegen den Mudschahed.

Aber so, so war er gefangen in der Festung aus Andenken und Anbetung, in einer anderen Zeit, und dazu verdammt, dabei zuzusehen, wie seine Mutter die Gegenwart, wie auch immer sie aussehen mochte, mit ihren eigenen Händen im Keim erstickte, ertränkte wie ein Kätzchen, dem es nicht bestimmt ist zu leben, weil es zu schwach geraten ist für die Welt. Vielleicht war sie selbst das arme, missratene Tierchen, das zu schwach war für die Zeit, in der es nun mal zu leben hatte. Zu schwach, ohne irgendwelche Medaillen und Heldentaten, die ihr als Schutzschild vor der Wirklichkeit hätten dienen können. Zu schwach für all die Änderungen, die seit dem Tod ihres Mannes erst über sie und dann über das ganze Land hereingebrochen waren. Es war auch nicht weiter verwunderlich. Schließlich war das ganze Königreich, dem ihr Mann sein Leben geopfert hatte, zusammengebrochen, was würde schon der Zusammenbruch einer gewissen Lydia Nikolaewna ausmachen, einer ehemals passionierten Biologin und mittlerweile nur noch Witwe, der Mutter eines Jungen, der es nicht einmal schaffte, seiner Mutter die Wahrheit ins Gesicht zu brüllen und sich und somit auch ihr dadurch ein Stück Erlösung zu verschaffen. Endlich das Unaussprechliche aussprechen, obwohl beide längst Bescheid wussten, dass die einzige Wahrheit, die sie hätte ein Stück heilen, ein Stück lebensfähiger machen können, lauten musste, dass er niemals zum Militär gehen, dass er niemals den Spuren eines Toten hätte folgen dürfen. Dass sein Scheitern – und er wusste, dass sie es als solches empfand, denn egal, was er tat, zählte nicht, wenn es nicht der Entzündung und der Erhaltung des ewigen Feuers auf dem Grabe seines Vaters galt – seiner Unfähigkeit entsprang, seinen eigenen Wünschen zu folgen und zu erkennen, dass der Weg, den sie für ihn vorsah, über dieses Schattenreich direkt in die Hölle führte. Er hätte diesen Totenkult zerschlagen, sie dazu zwingen müssen, dem Leben endlich die Stirn zu bieten, und ihr diesen ins Ungewisse gerichteten, leeren Blick abgewöhnen müssen, wenn sie abends im Dunkeln in eine Decke oder einen Schal gehüllt versunken im Sessel saß wie eine Grabfigur aus Stein auf einem verwilderten, von allen vergessenen Friedhof.

Wie oft hatte er nachts wach gelegen und sich vorgenommen, ihr das alles zu sagen, und war dann erschöpft zurück auf sein Kissen gefallen und hatte sich in die zusammengeballte Faust gebissen, um nicht loszubrüllen. Denn vor seinem inneren Auge erschien ihr enttäuschtes Gesicht, die große Enttäuschung, als er ihr mitteilte, dass er nicht zur Aufnahmeprüfung für die Militärakademie gegangen war, wo er doch dank ihres großen Einsatzes und ihrer unzähligen Anrufe bei den »höchsten Männern der sowjetischen Armee« – noch waren es keine russischen Streitkräfte – mit »ausgebreiteten Armen« erwartet wurde, um in die Fußstapfen des großen Sergei Alexandrowitsch zu treten und eine Offiziersausbildung zu beginnen, die er natürlich mit Bravour abschließen würde.

Er sah ihr entsetztes Gesicht vor sich, die schreckliche Art, wie sie ihn ansah, als hätte er ihr einen Messerstich in die Mutterbrust versetzt. Monate habe sie darauf verwandt, um wegen der Empfehlungen ehemalige Kollegen seines Vaters ausfindig zu machen, um das für die älteste Militärakademie in Moskau nötige Gesundheitszeugnis zu beschaffen. Aber er dachte nur daran, wie er aus diesem maroden Land, das nach Fäulnis stank, herauskommen, ins Ausland ziehen könnte, oder etwas studieren, etwas lernen, was mit ihm zu tun hatte, was ihn im besten Fall vervollständigen, seine Umtriebigkeit ein wenig stillen, ihm eine Richtung weisen könnte. Für das eine Mal hatte er es geschafft, Zeit zu schinden, die ekelerregende Zukunft um einige Monate zu vertagen – denn die Zulassung für die nächste Prüfung würde er erst wieder im kommenden Jahr erhalten.

Er erhielt Aufschub, hatte damals gerade die Schule absolviert und sich als Gaststudent für Kunst- und Literaturwissenschaften bei einer Universität eingeschrieben, nebenbei noch Literaturseminare belegt, wo er zum ersten Mal den Geschmack der Selbstbestimmung mit der Zungenspitze zu ertasten begann, doch die Mutter malträtierte ihn mit lästigen Fragen: Wann er sich auf die Prüfung vorbereiten, sich »in Form« bringen wolle, er vernachlässige ja seinen Körper, sie könne nicht mehr so viele wichtige Leute belästigen, er müsse sich auch Mühe geben, sie könne ja nicht stellvertretend für ihn …

Im nächsten Jahr wiederholte er die gleiche Prozedur, indem er vorgab, ernsthaft krank zu sein, und behauptete, es sei eine Lungenentzündung, was zu einem heftigen Streit mit seiner Mutter führte, nachdem sie einen Arzt geholt und dieser ihn für kerngesund erklärt hatte.

Er verlängerte sein Gaststudium um ein Jahr, und als die Zeit der nächsten Aufnahmeprüfung näher rückte, fuhr er einfach mit einigen Kommilitonen auf »Bildungsreise« nach Leningrad. Daraufhin weigerte sich Lydia Nikolaewna zwei Wochen lang, mit ihrem Sohn auch nur ein Wort zu wechseln, und kommunizierte mit ihm mittels kleiner Zettel, die sie an den Kühlschrank heftete. (Etwas, was er keineswegs als eine Strafe empfand, wie von ihr beabsichtigt, im Gegenteil, er war endlich sein eigener Herr und genoss das Fehlen von Vorwürfen und Drohungen.)

Im kommenden Mai meldete er sich, nachdem seine Mutter aufs Neue ein paar hektische Telefonate getätigt und ihm ein falsches Attest besorgt hatte, erneut zur Aufnahmeprüfung in der auf Lenins Anordnung hin gegründeten Allgemeinen Militärakademie in Moskau an und fiel durch. Und Lydia Nikolaewna schloss sich vierundzwanzig Stunden in ihrem Schlafzimmer ein und hielt eine makabre Totenmesse, bei der sie sich mit ihrem verstorbenen Gatten unterhielt und ihm ihr Leid klagte, ihn um Rat fragte.

Diesmal erschütterte ihn ihr entsetztes Gesicht schon weniger. Er rannte erleichtert in den strömenden Regen hinaus, Grund für seine Euphorie war sein Herz, das Purzelbäume schlug, seine zittrigen Knie und sein trockener Mund, und all das wegen Sonja – er war zum ersten Mal in seinem Leben bis zur Atemlosigkeit verliebt! Verliebt in ein verwunschenes und wunderliches Mädchen, das in keine Schablone passte und das keinerlei Regeln zu kennen schien, dafür einem Feuerwerk an Grobheit und Direktheit glich, in ihrer Impulsivität, in ihrer Verachtung jedweder Feingeistigkeit, auf die seine Mutter so viel Wert legte. In ihrem unstillbaren Wunsch, das Leben in all seiner Derbheit und Schönheit feiern zu wollen, hätte sie ihn allen Naturgesetzen und sozialen Regeln gemäß niemals beachten, nicht einmal in ihre Nähe lassen dürfen. Aber sie tat es und sorgte für die größte und freudigste Wendung seines Lebens.

Sonja wohnte im dritten Stock des Nachbarwohnblocks und verbrachte die meiste Zeit im Hof, dem Dvor. Malisch und Sonja kannten sich seit Kindertagen, aber wie für die meisten Kinder des Hofes war er für sie viele Jahre lang unsichtbar, jemand, durch den man bestenfalls hindurchsah und über den man schlimmstenfalls lachte.

Wie sie die Schalen der Sonnenblumenkerne ausspuckte, konnte man nur als vulgär bezeichnen, und immer hatte sie einen derben Spruch parat, den sie ihm hinterherschicken konnte. Aber niemals war dieser Spruch verletzend, niemals war er mit derselben Verachtung hinausposaunt, wie es die anderen im Hof taten, vor allem die »Kassiererbande«, die seit Jahren keine Gelegenheit ausließ, ihn zu beleidigen, zu demütigen oder zu erpressen.

Sonjas Sprüche waren trotz der heftigen Wortwahl, die jeden Seemann beeindruckt hätte, auf eine ihr sehr eigene Art und Weise liebevoll. Manchmal hatte er das Gefühl, als streichelte sie ihn mit Sätzen wie »Na, du kleiner Pimmel, wie geht’s dir so heute?« oder »Oh, der Bettnässer ist heute ohne Mama unterwegs, mutig, mutig!«.

Aber eines Tages änderte sich etwas. Aus irgendeinem Grund sprach sie ihn an jenem Tag am Eingang zu seinem Treppenhaus an, sie war mit ihrem typisch schleppenden Gang, mit eingefallenen Schultern und sturen Schritten um ihn herumgeschlichen, dann am Treppenabsatz stehen geblieben, als hinderte eine unsichtbare Macht sie daran, weiterzugehen. Und er hatte sich zu ihr umgedreht. Seit seiner Kindheit war er es gewöhnt, so zu tun, als wäre er durchsichtig, wenn er an Gleichaltrigen im Dvor vorbeilief, wenn er vom Schachspiel, vom Literaturzirkel oder vom Deutschunterricht der Jugendförderung kam, den er freiwillig belegt hatte, um möglichst wenig Zeit zu Hause zu verbringen. Er blieb nicht stehen, egal, was sie ihm nachriefen.

Aber an jenem Tag im Treppenhaus, da blieb er stehen, dieser Impuls war physisch spürbar, etwas zog ihn zu ihr hin, obwohl er bereits im Begriff war, die Stufen möglichst schnell hinter sich zu bringen, um ihr und ihrem Zigarettenqualm zu entkommen, den sie unverschämt demonstrativ ausblies, seit sie vierzehn war. Und dann sagte sie, er habe ziemlich »geile« Augen und solle sie nicht verstecken. Und er spürte, wie dieser Satz ihm Gänsehaut bereitete.

In der Folge hielt er nach ihr Ausschau, wenn er in den Hof kam. Seit ihrer Begegnung im Treppenhaus schienen sie ein Geheimnis miteinander zu teilen. Wenn sie von anderen Jugendlichen der Nachbarschaft umringt war – denn sie alle schienen ihre Autorität zu akzeptieren –, dann gab es nur einen kurzen Blick zu ihm, einen vorsichtigen, kaum merklichen, den er jedoch auf der Haut spürte wie ein Kribbeln oder den Flügelschlag eines Schmetterlings, aber keine Kommentare mehr, keine Witze auf seine Kosten. Und als der mächtige Petja, der selbst ernannte Zar des Hofs, den man nur den Kassierer nannte, weil er seit frühster Kindheit die anderen Kinder im Hof um beeindruckende Beträge erpresste – eine Fähigkeit, die er später erfolgreich auf professioneller Ebene einsetzen sollte –, ihm einmal etwas Widerliches zurief, hörte er nur noch Sonjas lauten Aufschrei und dann einen dumpfen Schlag.

Sie behielt nur noch wenige Wochen das Exklusivrecht auf neckende Beleidigungen auf seine Kosten. Danach war es zumindest auf dem Hof vorbei mit »Kleinpimmel« oder »Tittennuckler«. Seiner jahrelangen Pein hatte sie auf solch eine kurze und schmerzlose Weise ein Ende bereitet. Aber das war bereits zu einer Zeit, in der sie, die Sonderschulabgängerin, und er, der mit dem »roten Diplom« ausgestattete Gaststudent, anfingen, sich heimlich zu verabreden, und kurz bevor sie ihre vollen, nach Tabak und nach der Bonbonmarke »Mischka im Norden« und nach etwas sündig Begehrenswertem schmeckenden Lippen auf seine drückte.

Er begab sich bereitwillig in ihre Hände, die gleichzeitig zärtlich und brutal sein konnten. Er stürzte kopfüber in sie hinein wie in einen Wasserfall. Sie nahm ihn in Beschlag, als hätte sie einen Zauber über ihn verhängt. Nichts mehr zählte, nur noch die allabendlichen Streifzüge durch die düsteren Gassen und versteckten Höfe, durch die sie ihn führte wie durch ein geheimes Labyrinth. Durch sie lernte er sein Viertel völlig neu kennen. Es gab geheime Küsse in den Treppenhäusern und Autowracks, denen sie allen einen Namen verliehen. Endlich war da eine, die stark genug war, seine Wünsche aufzufangen, ohne unter deren Last zusammenzubrechen. Jemand, der ihm durch die endlosen Weiten seiner Fantasie folgte, die keine Grenzen anerkennen wollte. Jemand, der verrückt genug war, ihn noch mehr anzufeuern.

Sonja, die nichts hatte und nichts fürchtete. Ihr Vater trank Wodka wie ein Baby Muttermilch, und wenn die klare Flüssigkeit sein Hirn in einen Matschhaufen verwandelt hatte, ging er auf seine Familie los. Und ihre Mutter, die die Nase gestrichen voll hatte von diesem Leben und der ununterbrochenen Arbeit, blieb oft tagelang verschwunden – wie man munkelte, ging sie zu einem verheirateten Direktor eines Gastronoms. Nur ihre ältere Schwester Olga versuchte inmitten dieses Trümmerhaufens ein einigermaßen geordnetes Leben für sich und ihre kleine Schwester zu organisieren, was ihr hin und wieder gelang.

Wahrscheinlich wäre er in einem dieser Autowracks namens Artjom oder Maria mit seiner wilden Freundin für immer sitzen geblieben, mit der ersten und einzigen, mit dem Wirbelsturm, der in ihm wütete und den Sonja etwas mitleidsvoll als »ziemliches Verknalltsein« diagnostizierte, bis sie eine vollständige Skizze ihrer gemeinsamen Zukunft entworfen hätten, bis er jede Stelle ihres Körper ausgekundschaftet hätte – aber seine Mutter schaffte es, ihm auch dieses Glück zu entreißen.

Nachdem er eines Nachts in die Wohnung zurückkam, entdeckte er sie, ein Häufchen Elend zitternd auf dem Boden liegend, apathisch, mit leerem Blick. Der herbeigerufene junge Notfallarzt bescheinigte einen Nervenzusammenbruch, sie musste für einige Tage ins Krankenhaus, wo Malisch täglich mit frischem Obst und einer von Sonjas Schwester zubereiteten Rinderbrühe ausgestattet für einige Stunden an ihrem Bett Wache hielt.

Jede Aufregung wäre fatal für sie und äußerst gefährlich, warnte ihn Mutters einzig noch verbliebene Freundin Zina Matveevna, die gefürchtete Zahnärztin von der Bezirksklinik für Zahnmedizin. Mit Tränen in den Augen drang sie auf ihn ein, dass es nun an ihm liege, ein »Mustersohn« zu sein, weil in dieser Situation jedes nicht ihrem Willen entsprechende Handeln dazu führen würde, dass sich in ihrem Kopf ein Blutgerinnsel bilde, und was das für Folgen haben könne, nun, daran wolle man jetzt gar nicht erst denken.

Beim vierten Anlauf blieb ihm nichts mehr anderes übrig, als die Aufnahmeprüfung für die Militärakademie zu bestehen – dank leerer Worte und Fürsprachen ihm vollkommen fremder Männer in Uniform, die seinem Vater wohl noch einen Gefallen schuldeten. Begleitet vom Jubelgeschrei Lydia Nikolaewnas, Krimsektschaum auf seinen Hosenbeinen und einem Loch im Herzen hatte er seine Ausbildung angetreten, um sie anderthalb Jahre später, ohne jeglichen Rang und Titel mitten im Strategieunterricht abzubrechen, indem er einfach aufstand und hinausspazierte, weil er plötzlich mit erschreckender Klarheit begriff, dass er vor Selbsthass auf der Stelle tot umfallen würde, würde er auch nur eine Sekunde weiter hier sitzen bleiben und so tun, als wäre er jemand, der er nicht war. Dass er außerdem auf den Fähnrich einschlug, der ihm nachrannte und ihn zur Umkehr aufforderte, und allen ein »Fickt euch!« entgegenbrüllte, machte die Sache keineswegs besser. Als Schwächling und Beschmutzer der Ehre Sergei Alexandrowitschs verließ er die Akademie und kehrte zu seiner ihn nun mit blankem Horror im Gesicht anstarrenden Mutter zurück.

Und jetzt, da er den Seesack seines Vaters packen musste, wurde ihm vor Grauen übel bei dem Gedanken, was ihm bevorstand, denn dieses Mal war das Grauen real, er wusste, wie es aussah, wie es sich anfühlte, wie allumfassend es sein konnte und dass er dagegen nicht gewappnet war.

Den Armeesack, den man ihm im Kommissariat bei der Anmeldung ausgehändigt hatte, hatte sie ihm kommentarlos abgenommen. Bei der Anmeldung hatte sie hinter ihm gestanden und über seine Schulter geschaut; dieses Mal gab es keinen Stolz in ihrem Gesicht, es gab nur noch stoische Leere, denn was er da tat, war nur eine Wiedergutmachung, eine logische Fortsetzung dessen, was er vor ein paar Jahren so würdelos abgebrochen hatte, seine einzige Chance auf Wiederherstellung der Familienehre, die er so unverzeihlich beschmutzt hatte.

Jetzt bekam er eine letzte Chance für die Aussöhnung mit der Vergangenheit, und es schien einerlei, wie hoch der Preis dafür sein würde: als Sohn seines Vaters hatte er ihn nun mal zu zahlen. Diese freiwillige Meldung zum militärischen Dienst in den – nun mittlerweile – russischen Streitkräften war seine letzte Möglichkeit, und das hatte sie ihm unmissverständlich klargemacht, indem sie ihm eines Tages eine Bescheinigung auf den Tisch legte, eine erbettelte Bestätigung der Militärakademie, dass er seine Grundausbildung zum Soldaten erfolgreich abgeleistet hatte.

– Und was soll ich jetzt damit?, hatte er sie gefragt, hatte größte Lust, den Zettel vor ihren Augen in kleine Fetzen zu zerreißen, oder noch besser, ihn sich in den Mund zu stopfen, ihn zu zerkauen und die Reste schlussendlich als Papierklumpen vor ihre Füße zu kotzen.

Damals gab sie ihm keine Antwort. Als er einige Tage danach von der russischen »Intervention in Tschetschenien« las, gefror ihm das Blut in den Adern. Fünf Wochen nach Kriegsbeginn stand er mit ihr im Militärkommissariat und meldete sich als einfacher Soldat zur Aufnahme in die Armee – natürlich mit der Aussicht auf Heldentaten und darauffolgende Orden und militärische Ränge – und somit für die Front im Nordkaukasus.

Was seine Mutter nicht ahnte – seine Mutter, die in diesem Krieg eine Chance für ihren Sohn sah, genauso wie sie nicht begriff, dass ihr Sohn mehr als alles andere ein Mädchen liebte, das er trotz seiner Anstrengungen nicht vor sich selbst zu retten vermochte –, war die Tatsache, dass er ihr nur aus einem einzigen Grund nicht widersprach und sich erneut in ihre nach Mottenschutzmitteln riechende Schattenwelt begab: weil eben dieses Mädchen aus seinem Leben verschwunden war und seine letzte Hoffnung darin bestand, dass der Krieg und die Sorge um ihn ihr Herz erweichen würden und sie dazu bringen könnten, zu ihm zurückzukehren, denn die Aussicht auf ein Leben ohne Sonja kam für ihn ewiger Finsternis gleich.

Den Seesack musste er gut hüten, denn mit seinen Büchern beherbergte er einen Schatz. In diesem Moment, den Inhalt des Sacks erneut prüfend, wunderte er sich, wie der Sophokles in seiner Bücherauswahl gelandet war. Das Büchlein musste irgendwo zwischen den anderen Büchern gesteckt haben, die er hastig aus dem Regal gezogen hatte. Er blätterte das Drama über die aufmüpfige und rebellische Königstochter durch. Und nun klebte dieser Satz an seinen Lippen, wie die Reste des Kakaos, den er als Kind so gern getrunken hatte und den er noch lange danach in den Mundwinkeln schmecken konnte.

Die Katze und der General

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